Ich, er und die Liebe von Maginisha ================================================================================ Kapitel 26: Von unangenehmen Einsichten und ungewohnten Aussichten ------------------------------------------------------------------ Jetzt mal eben Hand hoch. Wer von euch hat gedacht, dass ich Julius bereits in meiner Nachricht gestanden habe, dass Manuel auf so unrühmliche Weise mit mir Schluss gemacht hat – wenn man das denn so nennen wollte, weil ich mir nicht mal sicher war, ob man das jetzt eigentlich als „zusammen sein“ bezeichnen konnte, was wir da gehabt hatten. Aha. Du, du und du also auch. Mhm, tja … also ich muss euch sagen, euer Vertrauen in allen Ehren, aber dazu war ich leider zu feige. Ich konnte selbst nicht so genau sagen, warum ich ihm das verschwieg. Vielleicht, weil ich nicht wollte, dass er mich mit der Nase zuerst auf die Tatsache stieß, dass mir in Manuels Fall wohl mein Verstand ziemlich zwischen die Beine gerutscht war. Wir erinnern uns mal daran, dass ich mir eigentlich was darauf einbildete, nicht so ganz doof zu sein. Ja? Okay. Dann könnt ihr vielleicht verstehen, warum mir diese Einsicht nicht so wirklich gefiel. Es Julius gegenüber auch noch zugeben zu müssen, machte meine eigene Dummheit nur noch realer. Andererseits machte es mich wütend, dass Julius da so blasiert war, weil … weil es eben auch verdammt schön gewesen war. Ich … also das hört sich jetzt sicher dämlich an bei meinen mehr als spärlichen Erfahrungen, aber … ich mochte Sex. Ich wollte welchen. Und ich wollte mich dafür nicht entschuldigen müssen. Julius gab mir jedoch das Gefühl, dass ich genau das tun musste, und das gefiel mir nicht. Nichtsdestotrotz saß ich gerade unter einem Baum auf dem großen Vorplatz des Kinos und wartete auf ihn. Wobei groß jetzt relativ ist. Der Platz hatte etwa die Ausmaße unseres Pausenhofs und war mit ebenso roten Steinen gepflastert. Dazwischen standen in ausgesparten Vierecken ein gutes Dutzend Bäume, unter denen wiederum Bänke platziert worden waren. Vermutlich um müden Spaziergängern einen Platz zum Ausruhen zu bieten oder irgendwas in der Art. So wirklich zu funktionieren schien es jedoch nicht, denn außer einer Oma, die entweder ein Nachmittagsnickerchen hielt oder beim Warten auf den Bus friedlich von uns gegangen war, war hier niemand außer mir. Somit bestand meine einzige Beschäftigung darin, das bunte Plakat am Laternenpfahl gegenüber anzustarren, auf dem groß und breit die Eröffnung des alljährlich stattfindenden Jahrmarkts angekündigt wurde. „Da hätte ich mit Manuel hingehen können“, murmelte ich halblaut vor mich hin und hätte mich im nächsten Moment gleich doppelt ohrfeigen können. Erstens, weil mir diese Erkenntnis so gar nicht half, und zweitens, weil Manuel sich vermutlich sowieso über unseren Jahrmarkt kaputtgelacht hätte. Er kam immerhin aus Hamburg. Die hatten da doch dreimal im Jahr den riesigen „Dom“ und außerdem ein richtiges Nachtleben und was weiß ich was noch. Da konnte Popel-Kleinstadt mit Popel-Benedikt halt nicht mithalten. Kein Wunder, dass er hier nicht hatte bleiben wollen. Du weißt genau, dass das so nicht stimmt, gab meine Vernunft aka Anton bekannt. Er hat sich die Verlegung ja nicht ausgesucht. Dann hätte er sich eben verdammt nochmal zusammenreißen sollen, meckerte ich zurück. Wenn er sich an die Regeln gehalten und sich ein bisschen angestrengt hätte, wäre er jetzt noch hier und ich würde mit ihm ins Kino gehen. Und auf den Jahrmarkt nächstes Wochenende. Rumknutschen in der Geisterbahn oder was weiß ich. Man. Das war doch kacke! Ich kickte einen unschuldigen Stein durch die Gegend und scheuchte damit eine fette Stadttaube auf, die wohl ebenso wie die alte Dame ein Schläfchen gehalten hatte. Ich wusste natürlich, dass ich ungerecht war, aber ich kam mir halt gerade ziemlich arm dran vor. (Und wenn mir jetzt einer mit „besser als Arm ab“ kommt, dann hau ich den. Doll!) Das Gefühl blieb, obwohl ich mir wirklich Mühe gab zu sehen, dass ich an einem schönen, sonnigen Nachmittag in der Innenstadt saß und eine Verabredung hatte. Allerdings halt mit Julius, in dessen Augen ich vermutlich ein dummer, kleiner Junge war, der sich wegen ein bisschen Herzschmerz, an dem er auch noch selber schuld war, hemmungslos im Schlamm suhlte. Ich musste echt damit aufhören. Vielleicht konnte man sich ja kryonisieren und nach der Pubertät wieder auftauen lassen? Das wäre doch mal was. Oder künstliches Koma, bis man nicht mehr so viel Schwachsinn im Kopf hatte. Die Idee hatte bestimmt Potenzial. Tausende Eltern würden mir vermutlich vor lauter Dankbarkeit die Bude einrennen, wenn das in Serie ging. Aber wo sollte man die ganzen Hirntoten derweil lagern? Das musste ich noch sorgfältiger planen. Während ich gerade überlegte, in welchem Alter man sich wohl am besten wieder erwecken ließ – alles vor 21 war vermutlich zu riskant – rief auf einmal jemand meinen Namen. Julius. Wer auch sonst. Er kam auf mich zu und ich musste zugeben, dass ich etwas erstaunt war über seinen Aufzug. Er hatte wieder diese bordeauxfarbene Hose an und dazu ein weißes Hemd. Ein Hemd! Ich trug ein ganz normales T-Shirt und Jeans. Halt das, was ich schon den ganzen Tag angehabt hatte, weil ich einfach nach der Schule in der Stadt geblieben war. Ich kam mir, ehrlich gesagt, ein bisschen underdressed vor. „Hey“, grüßte ich trotzdem tapfer zurück und erhob mich. Julius lächelte mich an und sah sich im nächsten Moment suchend um. „Bist du allein?“ „Mhm, so ziemlich“, brummte ich. „Also ja. Manuel kommt nicht. Er … wir haben Schluss gemacht.“ Okay, das war jetzt so ziemlich die falscheste Version der Geschichte, die es gab, aber was hätte ich denn sagen sollen? Er hat mich sitzen lassen? Das klang nach verlassener Ehefrau mit drei Kindern. Nicht cool. „Oh“, war alles, was Julius dazu sagte. Ich drehte den Kopf zur Seite, um ihn nicht ansehen zu müssen. „Tja, na ja, isso.“ „Willst du drüber reden?“ „Nein.“ „Sicher?“ „Ja.“ Ich wollte es nicht hören. Wollte nicht hören, dass es meine eigene Schuld war, weil ich mich auf so eine Flachpfeife eingelassen hatte. Das würde er doch bestimmt jetzt gleich sagen. Oder „ich hab’s dir gleich gesagt“. Irgendwas in der Art halt. Aber er tat es nicht. Stattdessen kam er noch ein Stückchen näher und hob die Hand, bevor er sich stoppte und sie langsam wieder zurückzog. „Hey, ich … tut mir leid. Ich hatte wirklich gehofft, dass ich mich geirrt habe.“ Ich sah auf. Julius musterte mich ernst. Er machte sich Sorgen um mich. Hatte er ja selbst gesagt. Und ich … ich wollte irgendwie nicht, dass er sich Sorgen machte. Er konnte ja auch nichts dafür, dass ich mich mal wieder ausgerechnet in den falschen Typen verknallen musste. Obwohl ich mir inzwischen, wie gesagt, nicht mehr sicher war, ob das nicht doch einfach nur ein bisschen übersteigerte Geilheit gewesen war. Also ja, ich hatte Manuel gemocht, war gerne mit ihm zusammen gewesen, aber … mal ehrlich. Wie lange hätte das denn gut gehen sollen? Wir waren ohnehin viel zu verschieden. Es war total albern, ihm nachzuweinen. „Schon okay, ich komm klar.“ Julius schüttelte den Kopf. „Du musst das nicht machen.“ „Was?“ „Es verstecken. Wenn es wehtut, darf man das zeigen. Ist besser, als es in sich reinzufressen. Es ist okay, schwach zu sein. Es ist okay, Angst zu haben.“ „Du klingst wie ne Selbsthilfegruppe.“ Er sah mich mit so einem „Ach wirklich“-Ausdruck im Gesicht an und ich verstand „Oh, ich … tut mir leid, das wollte ich nicht … also … ich … äh …“ Julius lachte auf. „Hey, nun brich dir mal keinen ab. Hier geht’s schließlich nicht um mich sondern um dich. Also, was machen wir jetzt? Worauf hast du Lust?“ „Kino?“ Das mit dem Kino hatte ich Julius eigentlich nur vorgeschlagen, weil ich gedacht hatte, dass ich so um das unangenehme Gespräch herumkam. Aber jetzt, wo das wohl gar nicht stattfinden würde, hatte ich nicht so recht eine Idee, was wir sonst machen sollten. Warum also nicht Kino? Wir gingen das letzte Stück Weg nebeneinander her, ohne dass jemand ein Wort sagte. Ich schielte zwar mal kurz zu Julius, aber der schien ebenso in Gedanken versunken wie ich. Woran er wohl dachte? Ich hätte ihn fragen können, aber ich wollte nicht aufdringlich sein. Was, wenn er an seinen blöden Exfreund denken musste. Der war immerhin noch viel arschiger gewesen als Manuel, dieser feige Widerling. „Und? Was willst du gucken?“, fragte Julius unvermittelt und ich blinzelte überrascht. Waren wir echt schon da? Ups. Na dann schauen wir mal. Was lief denn? Als erstes sprang mir das Plakat eines Horrorfilms ins Auge. Okay, damit wäre wohl klar, was ich mit Manuel hätte gucken müssen. Für einen winzigen Augenblick war ich sehr froh, dass er es nicht war, mit dem ich hier stand, als mir auffiel, dass der Film nachmittags gar keine Vorstellung hatte. Das Kino war nicht besonders groß, nur vier Säle, da musste sich das Programm eben ein bisschen dem Publikum anpassen. Ich übersah zwei ausgesprochene Kinderfilme, die aus verständlichen Gründen ebenfalls ausfielen, bevor mein Blick auf ein Poster fiel, auf dem ein Mann in einem rotgoldenenen Kostüm abgebildet war. Sofort war ich wie hypnotisiert. Zu dem Film hatte ich den Trailer gesehen und so gelacht. Ein Junge erhielt von einem alten Zauberer die Fähigkeit, sich in einen Superhelden zu verwandeln. Im Gegenzug musste er natürlich die Welt retten, was sich allerdings als gar nicht so einfach herausstellte, weil er nämlich innendrin immer noch derselbe peinliche Präpubertierer war wie vorher. Wenn ich nur ein bisschen jünger gewesen wäre, hätte ich jetzt vermutlich mit der Nase an der Scheibe geklebt und geröchelt, dass ich den Film unbedingt sehen musste. Aber mit meiner jetzigen Begleitung ging das natürlich nicht. Okay, ganz ruhig, Brauner. Jetzt komm mal wieder runter. Du kannst nicht – wiederhole das: n i c h t – mit Julius in diesen Film gehen. Der hält dich für vollkommen unterbelichtet, wenn du ihm jetzt auch noch mit Humor für Zwölfjährige kommst. Zum Glück lief der letzte Teil der großen Comichelden-Saga noch nicht, sonst wäre Julius ohne Wenn und Aber fällig gewesen. Jetzt jedoch brauchte ich erst mal einen Film, in den ich auch mit ihm gehen konnte, ohne dass er sich endlangweilte. Julius stand derweil neben mir und schien recht uninteressiert von den ganzen Aushängen. Zumindest sah er sich keinen davon wirklich an. Ob das mit dem Kino wohl doch eine schlechte Idee gewesen war? Vielleicht mochte er das gar nicht. Vielleicht ging er lieber ins Theater oder auf Konzerte oder so. Musicals. Vernissagen. Erwachsenenkram halt. Was weiß ich denn? Ich öffnete gerade den Mund, um ihm zu sagen, dass wir gerne auch was anderes machen konnten, als ich es sah. Das Plakat, das er ganz offenbar mit ziemlicher Anstrengung nicht anzusehen versuchte. Darauf war eine Frau abgebildet, die ein rotes Tuch über den nahezu schwarzen Haaren trug und dem Schmuck nach zu urteilen aus Indien stammte. Ein Blick auf das Kleingedruckte verriet mir, dass ich recht hatte. Plötzlich begann ich zu grinsen. „Hey, wie wäre es mit dem da?“ „Mit welchem?“ „Na dem da.“ Ich wies auf das Plakat und Julius Augen wurden sichtbar größer. „Der gefällt dir bestimmt nicht“, platzte er sofort heraus. „Glaube ich nicht.“ „Er ist kitschig.“ „Das weißt du doch gar nicht.“ „Indische Filme sind immer kitschig.“ „Das will ich sehen.“ „Nein, willst du nicht.“ „Doch.“ „Nein.“ „Doch.“ „Nein!“ Ich unterbrach dieses sinnlose Gespräch und holte tief Luft. „Julius, ich möchte wirklich gerne mit dir in diesen Film. Und das ist mein voller Ernst.“ Also, um ehrlich zu sein, ging es mir dabei nicht unbedingt um den Film, auch wenn man ja immer offen für Neues sein soll. Aber mir war zu hundert Prozent klar, dass Julius ihn gerne sehen wollte und ich … ich wollte, dass Julius sich freute. Er hatte schon so viel für mich getan und hier war endlich mal meine Gelegenheit, mich zu revanchieren. Zumal ich bezweifelte, dass irgendjemand anderes den Film mit ihm gucken würde. Höchstens seine Mutter, aber wer ging denn bitte mit seiner Mutter ins Kino? „Ich wollte den Film eigentlich mit meiner Mutter schauen.“ Ha, seht ihr? Hab ich doch gesagt. „Ach, ihr findet bestimmt was anderes. Außerdem läuft der bestimmt nicht mehr lange. Guck mal, es gibt nur noch am Wochenende nachmittags Vorstellungen.“ Ich sah, wie Julius zögerte. Keine Ahnung, warum. Vielleicht war es ihm peinlich, dass er auf solche Filme stand? Als wenn das so viel peinlicher gewesen wäre als meine Leidenschaft für Harry Potter und Co, auch wenn er von der natürlich nichts wusste. War doch eigentlich auch egal. Hauptsache es machte Spaß. Und ich würde mir schon keinen abbrechen, nur weil ich mit ihm irgendeine indische Schnulze schaute. Ich hatte schließlich sogar einen Zombie-Liebesfilm geguckt und lebte immer noch. „Na los“, drängelte ich daher. „Gib dir einen Ruck und komm mit. Sonst gehe ich nämlich allein.“ „Das würdest du nicht tun.“ „Oh doch. Sieh nur. Ich laufe schon los, um mir eine Karte zu kaufen.“ Tatsächlich machte ich Anstalten, in Richtung Eingang zu stolzieren, während ich Julius über die Schulter hinweg auffordernde Blicke zuwarf. Er lachte und schüttelte den Kopf. „Na gut, ich komme. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“ „Ist recht..“ Drinnen erstanden wir in einem vollkommen verwaisten Kino zwei Karten von einer ziemlich erstaunten Kassendame, sowie eine große Portion Popcorn und eine Cola. Um einige Euronen ärmer, dafür aber reich bepackt, stapften wir an der Trulla vorbei, die die Karten abriss, und fanden uns kurz darauf in einem ziemlich kleinen und ziemlich leeren Kinosaal wieder. „Guck mal, freie Platzwahl“, verkündete ich und steuerte die letzte Reihe an. „Aber wir haben doch nur für Parkett bezahlt.“ „Glaubst du wirklich, dass hier noch jemand kommt?“ Julius seufzte. „Na schön. Aber wenn wir Ärger kriegen, schiebe ich alles auf dich.“ „Geht klar.“ Ich grinste, lümmelte mich in den Kinositz und nahm einen großen Schluck von der Cola. Fragend guckte ich zu Julius hoch, der immer noch im Gang stand und mich betrachtete. „Was?“, nuschelte ich um den Strohhalm herum. „Ich … ach egal. Vergiss es.“ Er schüttelte schon wieder den Kopf und setzte sich neben mich. Ich reichte ihm das Popcorn, aber er lehnte ab. Zwar zwickte mich der verführerische Duft schon die ganze Zeit in die Nase, aber ich wollte nicht verfressen wirken, daher stellte ich die Tüte neben mich auf den Sitz und wartete darauf, dass der Film anfing. „Wie war die Arbeit gestern?“, fragte ich nach einer Weile, in der nichts passierte war, außer dass Julius und ich uns angeschwiegen hatten und es nach Popcorn duftete. „Gut. Viel zu tun. Und bei dir?“ „Auch so. Ist ganz schön anstrengend dieses Verkäuferleben. Und was da für Leute reinkommen. Unfassbar. Sogar ein Kollege meiner Mutter war dabei. Ich kann den Typ nicht leiden. Das ist so ein typischer Beamter. Total pingelig und von oben herab.“ „Oh, solche kenne ich. Meine Mutter schimpft auch immer über die.“ „Kann ich verstehen.“ Wieder sagte eine Weile lang niemand mehr etwas. Wann fing denn der Film endlich an? Hier so zu sitzen war ganz schön komisch, aber mir fiel nichts mehr ein, was ich Julius erzählen oder fragen konnte. Und wieso schwieg er eigentlich ausgerechnet heute wie ein Grab? Der war doch sonst nicht auf den Mund gefallen? Fand er es doch doof, mit mir hier zu sitzen? Aber die Alternative wäre Kino mit seiner Mutter gewesen und das konnte ihm doch nicht wirklich lieber sein. Oder etwa doch? Schließlich zog ich mein Handy hervor, um auf die Uhr zu sehen, als mir eine Nachricht auf meinem Messenger angezeigt wurde. Sofort fing mein Kopf an, Mätzchen zu machen. Von wem konnte die sein? Ob Manuel …? Nein. Natürlich nicht. Die Nachricht war von Julius. Er hatte mir vorhin irgendwann geschrieben, dass er fünf Minuten später kam. Ich schnaubte. Wer sagte denn wegen so einer Kleinigkeit extra Bescheid? „Was ist?“, wollte Julius wissen. „Ich hab grade deine Nachricht gelesen. Dass du später kommst.“ „Ja, ich wollte nicht, dass ihr auf mich …“ Er unterbrach sich. „Oh, tut mir leid.“ Ich seufzte und ließ das Handy sinken. Anscheinend war ich doch noch nicht so fertig mit der Sache, wie ich gedacht hatte. Allein meine Reaktion sprach ja Bände. Das war doch Mist. „Er hat mich blockiert“, sagte ich plötzlich und sah Julius dabei nicht an. „Wir hatten doch letzten Samstag dieses Date und … na ja. Kurz nachdem wir uns verabschiedet hatten, hat er mich blockiert. Dabei hatten wir gerade … Und ich Idiot hab sogar erst noch gedacht, er hätte nur sein Handy nicht geladen oder irgendwas. Hab mir zig Entschuldigungen ausgedacht, warum er sich nicht meldet, aber dann … dann bin ich irgendwann hingegangen. Zu seinem Wohnheim, meine ich. Aber er war nicht mehr da. Er war bereits seit ein paar Tagen ausgezogen. Versetzt. In eine andere Einrichtung. Und er hat es mir nicht mal gesagt. Er war einfach so weg.“ Ich musste mir auf die Lippe beißen, um das Kribbeln in meiner Nase unter Kontrolle zu halten. Fuck. Ich wusste doch inzwischen, was Sache war. Ich sollte mich damit abgefunden haben. Aber jetzt, wo ich die Erinnerung nochmal rauskramte, tat es wieder genauso weh. Dass er mich zurückgelassen hatte ohne ein Wort. Ohne Erklärung. Dass ich ihm nicht mal einen richtigen Abschied wert gewesen war. „Hey.“ Julius’ Stimme war leise. So leise, dass ich sie kaum hören konnte, weil es in meinen Ohren so rauschte. „Es ist nicht deine Schuld, okay? Sein Verhalten ist einfach nur unreif und verletzend und zeigt, was für ein unsensibler Klotz er ist. Das hat nichts mit dir zu tun.“ „Aber ich …“, begann ich und hasste es, wie meine Stimme dabei zitterte. „Vielleicht, wenn ich …“ „Stopp.“ Julius war jetzt lauter geworden. Er fasste mich an den Schultern und drehte mich zu sich herum. „Der Typ hat dich verarscht, Benedikt. Und es ist mir auch egal, was er für eine schwere Kindheit hatte oder ob ihn irgendwelche Aliens dazu gezwungen haben. Er hat dich benutzt wie ein Taschentuch. Erst reinwichsen, dann wegschmeißen. Und sag mir jetzt nicht, dass das nicht stimmt. Dass er woanders hinkommt, wusste er doch nicht erst seit gestern.“ Ich wollte den Mund öffnen und protestieren, aber ich konnte nicht. Denn Julius hatte recht. Manuel hatte genau gewusst, dass er nicht mehr lange da sein würde, als wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Ich meine, ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn er es mir gesagt hätte. Wirklich nicht. Vielleicht hätte ich es trotzdem getan, obwohl er wegmusste. Vielleicht gerade deswegen. Aber Fakt war nun mal, das er mir diese Wahl nicht gelassen hatte. Vermutlich um sicherzugehen, dass er bekam, was er wollte. Vielleicht hatte er sogar ein schlechtes Gewissen gehabt und sich deswegen so viel Mühe gegeben. Das alles änderte aber nichts an der Tatsache, dass er es trotzdem getan und somit einfach über meinen Kopf hinweg entschieden hatte. Und dann war er einfach so verschwunden. Wie es mir damit ging, hatte er nicht berücksichtigt. Weil es ihm egal gewesen war. „Ich komme mir dumm vor“, sagte ich leise. „Ich … ich hab halt wirklich gedacht, dass ich ihm was bedeute. Dass ich was Besonderes für ihn bin.“ „Hey.“ Ich spürte eine Berührung an meiner Hand, als Julius sie in seine nahm. „Wenn es nicht so war, ist er ein noch viel größerer Idiot, als ich gedacht habe. Du bist … du bist toll, Benedikt. Ganz ehrlich. Und ich … es gibt sicherlich eine Menge Männer da draußen, die glücklich wären, wenn du … Also was ich sagen will, ist … dass ich … dass du …“ Julius’ Gestammel wurde plötzlich von einem ohrenbetäubenden Fanfarenstoß übertönt. Wir zuckten zusammen und schauten uns an wie die Hasen, als wie aus dem Nichts das riesige THX-Logo auf der Leinwand aufflammte und eine Stimme aus dem Off irgendwas über die Vorzüge des Dolby Surround Systems in diesem Kino von sich gab. Nach einigen weiteren, verblüfften Augenblicken fingen wir beide gleichzeitig an loszuprusten. Wir konnten gar nicht wieder aufhören zu lachen und verpassten so die komplette Werbung. Die Autohausbesitzer und Eishersteller wären sicherlich entsetzt gewesen, das sie ihr schönes Budget an uns vollkommen verschwendet hatten. „Oh man.“ Irgendwann nach dem schier endlosen Lachanfall, von dem mir schon der Bauch wehtat, wischte ich mir die Tränen aus den Augen. „Wir sind beide echt bekloppt.“ Ich griff mir die Cola und nahm einen tiefen Schluck, um endlich wieder zu Atem zu kommen. Über uns liefen die ersten Trailer über die Leinwand. Julius saß neben mir und hatte immer noch ein leichtes Grinsen auf dem Gesicht, das im jetzt herrschenden Halbdunkel nur noch schemenhaft zu erkennen war. Plötzlich packte mich wohl der Schalk im Nacken, denn ich lehnte mich zu ihm rüber und raunte ihm zu: „Du hast übrigens vorhin ein schlimmes Wort gesagt.“ „Was denn für ein Wort?“ Ich kam noch näher und flüsterte ihm ins Ohr: „Wichsen.“ Der Schauer, der danach durch seinen Körper lief, war deutlich spürbar. Ebenso wie die Faust, die mich im nächsten Moment höchst unjuliuslike an der Schulter traf. „Ey!“, machte ich und rieb mir die malträtierte Stelle. „Nicht lustig.“ „Aber verdient“, murrte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich grinste, schnappte mir das Popcorn und hielt es ihm großzügig unter die Nase. Ich wollte nicht, dass er böse auf mich war. Immerhin saßen wir seinetwegen in dieser kitschigen Romanze. Julius musterte mich noch einen Augenblick lang finster, bevor er mit einem Seufzen zugriff. Ich lächelte und ließ mich noch ein bisschen tiefer in den Sitz sinken. Dann wollten wir doch mal sehen, was die Leute vom anderen Ende der Welt so für Filme produzierten. Schlimmer als Rosamunde Pilcher konnte das schließlich auch nicht sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)