Zum Inhalt der Seite

Ich, er und die Liebe

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Von angeknacksten Egos und ersten Arbeitstagen

Ganz ehrlich? Verlassen werden ist scheiße. Es tut weh wie Sau. So sehr, dass man die Welt anschreien möchte, dass sie sich gefälligst verpissen und den Rest des Universums gleich mitnehmen soll. Wofür tut man sich diesen Mist eigentlich an? Für die Liebe? Alles Humbug, sag ich euch. Liebe ist nicht toll, sie ist gefährlich. Sie lässt Leute vor Laternenpfähle laufen und sich ihr Herz rausreißen, damit andere darauf herumtrampeln können. Sie leiden unter Gesichtslähmung und Stielaugen, bekommen heiße Ohren und kalte Füße, werden um den Finger gewickelt, zerbrechen sich die Köpfe, riskieren eine dicke Lippe, haben irgendwelche ominösen Schmetterlinge im Bauch oder machen sich gleich vollkommen zum Affen. Die Liebe ist eine einzige Diagnose, für die keine Krankenkasse der Welt aufkommen würde, weil sie binnen einer Woche pleite wäre. Trotzdem hechelt die halbe Menschheit dieser Liebe hinterher, während die andere dem Wahn verfallen ist, sie bereits gefunden zu haben. Was für ein Riesenkäse.

 

Im Nachhinein musste ich wohl froh sein, dass mich Jens wenigstens über die Fakten aufgeklärt hatte. Manuel war weg und würde auch nicht wiederkommen. Ich würde also nicht Tag für Tag wie ein Idiot vor seiner Tür stehen und klingeln, ohne dass mir jemand aufmachte. Oder mein Handy anstarren und darauf warten, dass sich dort etwas tat. Das war gegessen, abgehakt, Geschichte. Trotzdem blieb da dieses kleine, nagende Warum, das drohte sich in mein Gehirn zu fressen und sich dort breitzumachen. Warum hatte er mir nicht gesagt, dass er weggehen würde? Hatte er mir nicht genug vertraut? Hatte ich ihn wirklich genervt? War ich den Stress vielleicht nicht wert gewesen? Einfach mitnehmen, was ging, und dann nichts wie weg? Und wenn das stimmte, stellte sich mir die Frage: Hätte ich anders gehandelt, wenn ich es gewusst hätte?

 

Das Dumme war, dass ich genau das nicht so wirklich sagen konnte. Ich meine, ich hatte mich auf ihn eingelassen. Es war ja nicht so, dass er mir ewige Treue und Liebe bis ans Ende aller Tage versprochen hatte. Er hatte immer ziemlich deutlich gemacht, was er wollte. Und wir hatten das Spiel mitgespielt, ich und mein innerer Höhlenmensch. War ich dann nicht irgendwie mit schuld an der Situation, in der ich mich befand? Ich hätte ja nur Nein sagen müssen, doch das hatte ich nicht gewollt. Nur … lag das jetzt daran, dass ich mir „mehr“ von der Sache versprochen hatte oder einfach nur daran, dass es geil gewesen war?

 

„Oh man, ich muss aufhören, so viel zu denken“, beschloss ich und trat schneller in die Pedale, um die letzten Meter zur Schule zurückzulegen. Ein Gutes hatte die Aktion wenigstens gehabt. Ich hatte gestern noch für die Physikarbeit gelernt, meine Englisch-Vokabeln gepaukt, die Chemie-Hausaufgaben erledigt und „Unterm Rad“ durchgelesen, bevor ich irgendwann mitten in der Nacht ins Bett gefallen war. Das Buch wurde zum Ende hin zwar nicht besser oder gar spannender, aber jetzt war ich wenigstens durch damit. Ein neuer Pluspunkt auf meiner Liste gegen die Liebe. Von dem Rotz konnte man sich eh nichts kaufen; ein Abi mit Einskomma dagegen hatte Bestand. Aber so was von.

 

„Hey Anton!“, grüßte ich und ließ mich neben ihn fallen.

 

Er musterte mich über den Rand seiner Brille hinweg. Ob er so überhaupt was sehen konnte? Und war er eigentlich kurz- oder weitsichtig? Ich hatte nie gefragt.
 

„Hast du dein Problem lösen können?“, wollte er wissen.

„Hä?“

„Mit dem Handy.“

„Ach so, ja. War doch blockiert.“

 

Anton betrachtete mich noch einen Augenblick länger, bevor er sich wieder dem Wälzer in seinem Schoß zuwandte. Vom Umfang her musste das mindestens Krieg und Frieden sein.
 

Im ersten Moment war ich enttäuscht. Eigentlich hätte ich jetzt gerne noch ein bisschen gelästert. Darüber wie scheiße Manuel sich verhalten hatte und dass ich von Glück sagen konnte, dass ich ihn los war. Was man halt so von sich gab, um nicht sagen zu müssen, wie es wirklich in einem aussah. Andererseits konnte ich Anton leider nichts von all dem erzählen. Wenn es darum ging, gab es im Grunde genommen nur eine Person, bei der ich mich hätte ausheulen können, und ausgerechnet der gegenüber hatte ich die ganze Geschichte bisher verschwiegen. Weil ich mich halt doch ein bisschen schämte zuzugeben, dass ich tatsächlich so dämlich gewesen war, wie Julius vorausgesagt hatte. Er hatte Recht gehabt und ich Unrecht und das würde er mir garantiert unter die Nase reiben. Mit Anlauf.

 

Während ich so in der Gegend herumguckte, fiel mein Blick auf T. Oder Theo, wie ich beschlossen hatte, ihn von jetzt an zu nennen. Er unterhielt sich gerade mit ein paar der anderen Jungs. Dabei lachte er, fuhr sich durch die Haare, machte eine Bemerkung, die die Runde zum Lachen brachte. Er hatte Spaß, freute sich am Leben. Und plötzlich kam mir mein Plan, ihn heute Nachmittag bloßzustellen, dumm vor. Was hatte er denn getan? Er hatte nicht vor versammelter Mannschaft „hier“ geschrien, als es darum ging, mit irgendeinem Typen aus seiner Klasse, den er kaum kannte, in einem Zelt zu schlafen. Warum hätte er das auch tun sollen? Weil der Typ schwul war und auf ihn stand? Das wäre für ihn wohl eher ein Argument gewesen, demjenigen möglichst fernzubleiben. Wir erinnern uns mal eben alle daran, dass er keinerlei Interesse in diese Richtung hatte.

 

Außerdem gab es da noch einen Grund. Der Grund saß neben Theo und amüsierte sich offenbar prächtig. Jo war Theos bester Freund. Mit ziemlicher Sicherheit hatten die beiden schon vorher abgemacht, in einem Zelt zu schlafen. Sollte er jetzt also seinen engsten Vertrauten mit dem Klassenidioten alleine lassen, nur um mir beizustehen? Vermutlich war es sogar besser, wenn er das nicht tat. Wer wusste schon, was Oliver Jo sonst noch für Blödsinn in den Kopf setzte. Und dafür wollte ich Theo nun bestrafen? Dafür, dass er zu seinem Freund gehalten hatte? Das konnte man ihm wohl kaum vorwerfen. Außerdem hatte mich ja die Nerd-Armee gerettet. Kein Grund zur Beunruhigung also.

 

Ich seufzte und erhob mich, weil unser Englischlehrer am Ende des Flurs aufgetaucht war. Zeit, mich dem Ernst des Lebens zu widmen. Schule, Tests, Klassenarbeiten, jede Menge unnützes Wissen auf dem Weg zu Ruhm, Reichtum und Reihenhaus. Eine furchtbare Vorstellung, die hoffentlich noch sehr lange auf sich warten ließ. Zumindest der letzte Teil davon. Ich war jung. Ich hatte mein Leben noch vor mir, wie es immer so schön hieß. Warum sollte ich es damit verbringen, jemand anderem seines schwerzumachen? Das war doch ein dämlicher Plan. Oliver-Niveau. Da stand ich doch drüber.

 

 

So kam es, dass ich nach der letzten Stunde die Turnschuhe in die Hand nahm und Theo nachstürzte, der den Chemieraum bereits mit dem ersten Ton des Läutens verlassen hatte. Ich fing ihn kurz vor dem Ausgang ab.
 

„Hey, Theo, warte mal!“

 

Er hatte bereits den langen Metallgriff der Seitentür in der Hand, als er stehenblieb und mich ziemlich ungehalten ansah.

 

„Was ist? Ich muss zur Arbeit.“

„Ja, ich weiß. Ich komme mit.“

„Wie bitte?“

 

„Ich komme mit“, wiederholte ich und trat neben ihn, um die Tür zu öffnen. „Hab meine Mutter doch noch überredet bekommen. Du sollst mich gleich einarbeiten.“

 

Für einen kurzen Augenblick bildete ich mir ein, dass da ein Lächeln war. Eines, das vielleicht nicht nur daher rührte, dass er froh war, irgendeinen Kerl als Unterstützung im Boot zu haben. Dass dieses kleine Lächeln vielleicht mir galt, ganz speziell mir, weil ich gerade so nahe vor ihm stand, dass wir uns fast berührten. Was merkwürdig okay war und mir nicht wieder diese dämlichen Nackenschauer verpasste, wie es das vielleicht noch vor ein paar Wochen getan hätte. Zumindest nicht bis zu dem Moment, wo ich darüber nachdachte und mich doch lieber schnell an ihm vorbeischob, um endlich an die frische Luft zu kommen. Die soll ja immerhin so gesund sein.
 

„Was ist?“, rief ich über meine Schulter und schalt mich einen Dummkopf, weil ich mir einredete, seinen Blick auf mir fühlen zu können. „Kommst du?“

 

„Ja klar.“
 

Schritte hinter mir auf der Treppe, die zu mir aufschlossen, bis Theo und ich nebeneinander zum Fahrradkeller gingen. Einträchtig, als hätten wir das schon immer so gemacht. Wir holten unsere Räder und fuhren den Berg runter zu Friedrichsen, wo Holger bereits auf uns wartete.
 

„Ah, gut, dass ihr beiden kommt. Ich muss gleich nochmal weg. Dann habt ihr den Laden für ne Stunde allein. Schafft ihr das?“

 

„Logisch“, gab Theo zurück und winkte mir. „Komm. Ich zeig dir, wo du deine Sachen lassen kannst.“

 

Er brachte mich in einen kleinen Raum am hinteren Ende des Geschäfts, wo es auch eine Toilette gab.

 

„Aber nur für Angestellte“, meinte er mit einem Wink auf die schmale Tür. „Hier in dem Schrank lassen wir unsere Sachen, während wir arbeiten. Wenn du dein Fach abschließen willst, musst du dir ein Schloss mitbringen, aber hier kommt eigentlich eh keiner rein außer uns.“
 

„Okay“, meinte ich und parkte meinen Rucksack auf dem Fußboden des mittleren Metallspinds. Es gab außer dem Schrank und einer ganzen Reihe abgestellter Dinge, die wohl allesamt aus dem Verkaufsraum stammten – Was zum Geier machte das Surfbrett hier? Und wie hatten sie es durch die Tür bekommen? – nur noch ein paar Garderobenhaken und ein kleines Waschbecken. Fast wie die Umkleiden in der Schule, nur kleiner und ohne Bänke.
 

„Du brauchst noch ein T-Shirt. Mal sehen, was noch da ist.“ Theo kramte in einem der Spinde herum. „Mhm, nur noch M. Probier mal, ob dir das passt.“

 

Bevor ich wusste, wie mir geschah, flog mir ein dunkelblaues Stück Stoff entgegen. Es war so ein Poloshirt, wie Holger es getragen hatte. Auf dem Rücken war der Name des Ladens aufgedruckt. Arbeitskleidung also.

 

Ich überlegte noch, ob ich mich jetzt einfach so ausziehen sollte, als Theo selbiges bereits getan hatte.
 

„Wenn es dir nicht passt, müssen wir noch welche bestellen“, tönte es aus dem Stoff hervor, der gerade an seinem Oberkörper nach unten glitt und ihn nur Sekunden später wieder bedeckte. Was schade war, weil es durchaus ein hübscher Oberkörper gewesen war. Ich hätte ihn mir gerne noch eine Weile angesehen und den Rest von Theo ebenfalls.

 

Als mir bewusst wurde, dass ich starrte, drehte ich mich hastig um und zog mein eigenes T-Shirt über den Kopf. Man, ich dachte, das hätte ich hinter mir. Aber anscheinend wurde man nur, weil ein Kerl ein Arschloch war, nicht immun gegen die hunderttausend anderen, die da draußen rumliefen. Es war zum Mäusemelken. Blöde Hormone. Bloß schnell Umziehen und dann nichts wie raus hier.
 

„Und? Wie sieht's aus?“

„Moment.“

 

Ich streifte eilig das Arbeitsshirt über, wollte es nach unten ziehen und … ach verdammt. Poloshirt. Das hatte Knöpfe und die musste man vorher aufmachen. Nun steckte ich mit Armen und Kopf in dem Ding fest und kam nicht weiter. Ganz toll, Benedikt. Wenn irgendetwas eigentlich narrensicher ist, findest du garantiert die Stelle, an der man es doch noch vergeigen kann.

 

Bevor ich das T-Shirt jedoch wieder vom Kopf wurschteln konnte, hörte ich direkt neben mir ein Lachen.
 

„Warte, ich helfe dir.“

 

Finger tasteten über meinen Kopf, ich fühlte etwas an meiner Stirn herumwerkeln und im nächsten Moment tauchte Theos grinsendes Gesicht vor mir auf, als das Shirt endlich an seinen Platz rutschte. Theo beachtete zum Glück meine ziemlich warme und somit vermutlich ziemlich rote Birne gar nicht, sondern musterte lieber den darunter liegenden Teil von mir.
 

„Bisschen eng, aber es steht dir.“
 

Äh … was? Ich sah nach unten und strich prüfend über den dunkelblauen Piquéstoff , der ziemlich über meiner Brust spannte.

 

„Na, ich weiß nicht. Ich find’s ein bisschen klein.“

„Quatsch, du kannst das tragen.“

 

Sprach derjenige, dessen Shirt mindestens eine Nummer größer war.

 

„Oder willst du lieber meins? Dann tauschen wir.“

 

Die Aussicht, noch einen Blick auf Theos halbnackten Körper zu erhaschen, war wirklich verlockend. Aber erstens war ich mir nicht ganz sicher, was es mit mir anstellen würde, wenn ich das T-Shirt anzog, das er nur Augenblicke vorher getragen hatte und das vermutlich noch warm war, wenn ich es in die Finger bekam. Und zweitens hätte ich dann den Nachmittag über ihn vor meiner Nase gehabt in eben jenem Shirt, das sich gerade so eng an meinen Körper schmiegte. Das hätte es bei ihm sicherlich auch getan und … äh, na ja. Nicht gut.

 

„Nee, ich nehm das hier“, sagte ich daher schnell.

„Okay, dann steck’s aber rein. Nicht, dass unsere Kundinnen noch einen Nervenzusammenbruch kriegen, weil du hier nackte Haut zeigst.“

 

Nackte Haut? Mein Gehirn machte Überstunden, so nah wie er immer noch vor mir stand und so was von sich gab. Das sollte wohl ein Scherz sein. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich jetzt gedacht, dass er mich anmachte. Ich meine, er sagte mir, dass ich gut aussah, redete von nackter Haut und fummelte an mir herum. Das war einfach zu viel für meine eigentlich noch in Gips befindliche, kleine Seele. Was war denn mit Reha? Krankengymnastik? So was musste es für gebrochene Herzen doch auch geben. Aber nein, Theo kam über mich wie ein überambitionierter Skilehrer, stellte mich wieder auf die Bretter, drückte mir die Stöcke in die Hand und schickte mich mit einem kräftigen Klaps auf den Hintern wieder die Piste hinunter. Mitspracherecht hatte ich dabei keines. Ich konnte nur um mein Gleichgewicht kämpfen und hoffen, dass ich nicht sofort wieder auf die Fresse flog.

 

„Was soll ich wo reinstecken?“, machte mein Mund dementsprechend abgelenkt und ließ mein Blut schneller zirkulieren ob der Wortwahl. Allerdings nicht süd- sondern nordwärts. Himmel, wie dämlich konnte man sich denn ausdrücken? Ging es noch ein bisschen zweideutiger?

 

„Das Shirt in die Hose.“ Er grinste. „Oder brauchst du dabei auch Hilfe?“

Nein!“

 

Okay, das klang jetzt eindeutig panisch. Dementsprechend lachte Theo mich auch aus.
 

„Hey, keine Bange. Ich wollte dir nicht an die Wäsche.“

 

Ich hielt das „schade“, das mir über die Lippen schlüpfen wollte, gerade noch rechtzeitig zurück. Nein, wirklich. Aus jetzt, Benedikt! Der will nix von dir, der will nur spielen. Du willst aber nicht mit ihm spielen. Du willst arbeiten. Also reiß dich zusammen, steck das dämliche Shirt rein und dann nichts wie ab durch die Mitte, um dir von Theo die große, bunte Welt des Verkäuferdaseins nahebringen zu lassen.
 

„Na, bereit?“, fragte er draußen und grinste mich schon wieder an. Überinterpretierte ich oder freute er sich echt ziemlich, dass ich hier war?

 

Es streichelt dein Ego, fachsimpelte da auf einmal eine Stimme, die verdächtig nach Anton klang. Oh, na prima. Die Vernunft war zurück. Du versuchst gerade die Schlappe mit Manuel dadurch auszugleichen, dass du dir einbildest, dass Theo auf dich steht. Was er nicht tut. Weil er nämlich hetero ist.

 

Jaja, du mich auch. Blöde Vernunft. Machst mir all meine schönen Ego-Aufpust-Träume gleich wieder kaputt. Aber sie oder eher er hatte wohl recht. Das, was hier passierte, war rein kumpelmäßig. Kein Ding. Alles cool. Das kriegte ich hin. Ich konnte einfach nur mit Theo befreundet sein, wenn ich es mir fest genug vornahm.

 

Im Nachhinein muss ich mich wirklich loben, wie gut ich es hinbekam. Ich verlor mich nicht in seinen sturmblauen Augen, wenn er mir was erklärte, ich glotzte nicht auf seinen Hintern, wenn er vor mir her zum nächsten Regal ging, ich hörte mir brav alles an und merkte mir, was er über die Lagerbestände, die Handhabung der Kasse und den Umgang mit Kunden erzählte.
 

„Niemand erwartet von dir eine Fachberatung. Dafür ist Holger da. Oder ich, wenn’s um Fahrräder geht. Du bräuchtest übrigens dringend mal ein neues.“

„Wem sagst du das?“, entgegnete ich seufzend. „Aber ich bin arm, schon vergessen. Deswegen stehe ich doch überhaupt nur hier.“

„Ach, und ich dachte, du genießt meine Gesellschaft.“

 

Scheiße, Theo, hör auf mit mir zu flirten!

 

Hör du lieber auf, dir einzubilden, dass er das tut.

 

Klappe, Anton!

 

 

Okay, okay, ich geb’s ja zu. Am Anfang lief es noch nicht so rund und ich war ein bisschen nervös, weil er so viel mit mir redete. Ständig hatte ich Angst, irgendwas Dummes zu sagen, eine dämliche Frage zu stellen oder mich sonst irgendwie lächerlich zu machen. Aber irgendwann schien mein Kopf endlich mein greinendes Herz zur Raison gebracht zu haben, das hier nun mal nichts zu holen war, und von da an konnte ich mich endlich vollkommen auf die Arbeit konzentrieren. Ich sortierte Retouren in die Regale – Theo war der Meinung, dass ich so das Sortiment am besten kennenlernen würde – kassierte einen Kunden ab, der einen neu bespannten Tennisschläger abholte, schleppte einen Pappaufsteller ins Lager und stand danach dekorativ in der Gegend herum, während Theo eine Kundin bediente, die sich ein neues Mountainbike zulegen wollte.

 

Da das Ganze länger zu dauern schien, machte ich es mir hinter der Kasse gemütlich, als es erneut klingelte, weil jemand die Ladentür öffnete. Herein kam ein Pärchen in Begleitung eines vielleicht zehn- oder elfjährigen Jungen. Ich sah sofort, dass er nicht begeistert von seinem Hiersein war, das aber nicht zeigen wollte. Den Gesichtsausdruck kannte ich zur Genüge von mir selbst. Seine Eltern schienen das jedoch nicht zu bemerken, sondern steuerten zielsicher auf mich zu. Kein Wunder, schließlich war ich der einzige, freie Verkäufer im Laden. Als ich jedoch sah, wer der Vater des Jungen war, war mir alles klar. Vor mir stand niemand anderer als dieser Möller samt Getue und Schnauzbart. Halleluja!

 

„Ach sieh an. Dich kenne ich doch“, meinte er und runzelte die dicke Bulldoggenstirn. „Benjamin, richtig?“

„Benedikt“, murmelte ich. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Wir brauchen so einen weißen Anzug für unseren Thomas hier. Er soll nämlich mit Kampfsport anfangen, damit er mal ein bisschen Mumm in die Knochen bekommt.“

„Aha“, machte ich nur. „Und welche Art von Kampfsport?“

„Na, was weiß ich. Karate, Judo, irgendwas. Er weiß noch nicht, was ihm besser gefällt. Hatte schon immer Schwierigkeiten, sich zu entscheiden.“

 

Ich seufzte innerlich und warf einen Blick auf den Jungen, der sich verhalten im Laden umsah. Jetzt gerade betrachtete er die Auslagen der Tischtennis-Abteilung. Irgendwie erinnerte er mich ein bisschen an Anton, nur ohne Brille.
 

„Also was ist?“, blaffte der Möller, während seine reichlich unscheinbare Frau neben ihm stand und beflissen freundlich guckte. „Bekommen wir nun so einen Anzug?“

 

Ich räusperte mich. „Dazu müssten Sie wirklich wissen, welche Art von Sport ihr Sohn ausüben wird. Die Anzüge für Judo und Karate sind unterschiedlich. Judogis sind vor allem auf Reißfestigkeit ausgelegt, da der Sport auf Hebel- und Wurftechniken aufgebaut ist, die ein Fassen des Gegners an der Kleidung beinhalten. Karate hingegen besteht größtenteils aus Schlagtechniken. Dabei braucht der Körper Bewegungsfreiheit, die der schwerere Stoff des Judogis nicht gewährleisten kann. Im Gegenzug würde ein Karateanzug durch die ständige Zugbelastung schnell reißen.“
 

„Ach“, machte Herr Möller und war offenbar aus dem Konzept gebracht durch so viel Information.
 

„Vielleicht sollten wir Ihren Sohn fragen, welche Sportart er sich eher vorstellen kann.“

„Ja, vielleicht. Thomas, komm mal her.“

 

Thomas kam und sah unglücklich aus. Ich erkannte das an seinen hängenden Schultern und dem zu Boden gerichteten Blick. Er hatte so gar keinen Bock auf diese Sache hier, das war für alle anwesenden Nicht-Möllers klar erkenntlich.
 

„Der Junge hier sagt, du musst dich entscheiden, welchen Sport du machen willst. Also? Was sagst du?“

„Weiß nicht.“

„Kannst du nicht in ganzen Sätzen sprechen?“

„Ich weiß es nicht, Papa. Ich möchte eigentlich gar nichts von beidem machen.“
 

Wow, der Kleine hatte es geschafft, seinem Walross von Vater das zu sagen? Allerdings war das anscheinend nicht das erste Mal, denn der Möller polterte los.
 

„Ich habe dir bereits gesagt, dass jetzt Schluss ist mit diesem ständigen drinnen Rumgesitze. Du musst mal raus an die frische Luft. Sport treiben, Muskeln bekommen. Damit aus dir mal ein richtiger Mann wird.“
 

„Eigentlich sind Judo und Karate eher Hallensportarten“, wagte ich einzuwerfen und wurde sofort von einem bösen Blick über einem gesträubten Schnauzbart durchbohrt. Meine Güte, der sollte sich mal sehen. Da standen doch mindestens drei Adern kurz vor dem Platzen.
 

„Wie wäre es denn mit etwas anderem? Tischtennis zum Beispiel.“

„Quatsch. Tischtennis ist für Schwächlinge. Das mag mein Sohn nicht.“
 

Also mir kam es so vor, als wenn „sein Sohn“ das eigentlich schon gerne gewollt hätte. Nur traute er sich das offenbar nun nicht mehr zu sagen, nachdem Walross-Möller drohte zur Hochform aufzulaufen. Auch Frau Möller sah nicht so aus, als wäre sie ihrem Sohn eine große Hilfe. Ich räusperte mich.
 

„Tischtennis ist sogar eine sehr körperbetonte Sportart, die neben vielen Muskelgruppen und dem Herz-Kreislaufsystem gleichzeitig auch noch die Koordinationsfähigkeit trainiert. Ein Tischtennisspieler muss binnen Sekundenbruchteilen Entscheidungen über die mögliche Art des Angriffs treffen. Im Grunde genommen ist es damit einer Kampfsportart gar nicht so unähnlich, nur dass man seinen Gegner eben mithilfe eines Balls besiegt.“

 

Herr Möller musterte mich mit sauertöpfischer Miene, aber ich sah, dass ich die Saat des Zweifels erfolgreich ausgebracht hatte. Immerhin sah er selbst nicht unbedingt aus, als würde er regelmäßig Sport treiben, und als Beamter wusste er doch bestimmt die Vorteile von Kopfarbeit zu schätzen.

 

„Wir überlegen uns das noch mal“, knurrte er schließlich, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte ohne ein Grußwort von dannen. Frau und Sohn folgten ihm auf dem Fuße, aber wenn mich nicht alles täuschte, schwang im Blick, den mir Klein-Thomas zuwarf, etwas wie irritierte Dankbarkeit mit.

 

Kaum waren sie aus dem Laden, stand Theo wie aus dem Boden gewachsen neben mir.
 

„Bist du irre? Sei froh, dass Holger das nicht mitgekriegt hat. Warum hast du ihnen nichts verkauft?“

„Weil die Gewinnspanne viel höher ist, wenn der Junge ein Hobby ausübt, bei dem er regelmäßig Ausrüstung nachkauft, als wenn er einmal etwas erwirbt und dann nie wiederkommt. Solltest du eigentlich wissen, aber Mathe war ja noch nie so deine Stärke.“

 

Ich sah Theo ein bisschen überheblich an und er betrachtete mich verblüfft, bis er plötzlich anfing zu grinsen.
 

„Du verarscht mich gerade, oder?“

„Nur ein bisschen.“

 

Ich legte auch ein Lächeln auf und seufzte. „Aber mal im Ernst, der wollte doch gar nicht. Ich hab den Gesichtsausdruck erkannt. Der sah aus wie ich, als ich Posaune lernen sollte.“

 

Theos Augenbrauen schossen nach oben. „Posaune?“

 

„Frag nicht!“, schnaubte ich mit einem Augenrollen. „ Ganz dumme Idee von meiner Mutter. Keine Ahnung, was sie da geritten hat. Ich bin einfach nicht hingegangen.“

 

Theo schwieg für einen Augenblick, bis er plötzlich sagte: „Ich hab acht Jahre lang Klavier gespielt, bevor ich endlich gewagt habe zu sagen, dass ich eigentlich lieber Gitarre lernen will.“

 

Jetzt war ich der mit dem erstaunten Gesichtsausdruck. „Du spielst Klavier?“

 

Mir antwortete ein Achselzucken. Er sah irgendwie eigenartig dabei aus. Ich versuchte es mit einem aufmunternden Grinsen.

 

„Ey, ist doch cool. Was kannst du noch? Jonglieren? Stepptanz? Gedichte schreiben? Aktmalerei?“

 

Das Zucken, das bei dem Wort „Gedichte“ durch Theos Miene lief, ließ mich hellhörig werden. Was denn? Er schrieb tatsächlich Gedichte? Echt jetzt? Ich wollte gerade nachfragen, als plötzlich die Tür aufging und Holger hereinkam.
 

„Hey, Jungs, alles klar bei euch? Steht der Laden noch?“

„Natürlich. Wir sind doch Profis.“

 

Was auch immer das gerade bei Theo gewesen war, es war ebenso schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. Fast so, als hätte ich es mir nur eingebildet. Das da war wieder der strahlende Sonnyboy, den alle Welt kannte und liebte, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass das nicht alles war. Dass es noch eine andere Seite von ihm gab. Aber warum hatte er mich die gerade sehen lassen? Ein Versehen? Oder war das Absicht gewesen?

 

Leider hatte ich keine Zeit mehr, mir darüber Gedanken zu machen, denn irgendjemand hatte anscheinend den Leuten erzählt, es gäbe hier drinnen einen Rabatt auf Tiernahrung oder etwas in der Art. Binnen einer Viertelstunde war der Laden brechend voll und ich kam kaum damit nach, die Sachen wieder zu verräumen, die Holger und Theo für die Kunden aus den Regalen holten. Nachdem meine ersten drei Stunden in der Arbeitswelt endlich vorbei waren, war ich reif für die Klapse und wollte einfach nur noch schlafen. Oder tot umfallen. Je nachdem, was schneller ging.

 

„Und jetzt auch noch mit dem Rad nach Hause“, stöhnte ich beim Umziehen und zog gerade in Erwägung, meine Mutter anzurufen, damit sie mich samt dem Drahtesel abholte, als Theo mir lachend auf die Schulter klopfte.
 

„Warte erst mal den Samstag ab, dann kannst du rumstöhnen. Man sieht sich.“ Und weg war er.

 

Ich starrte noch eine Weile das theoförmige Loch in der Luft an, bevor ich endlich auf dem Zahnfleisch gen Ladentür kroch, an der Holger schon bereitstand um abzuschließen.
 

„Na, wie war dein erster Tag?“, fragte er lachend.

„Toll“, log ich.

„Dann kannst du ja übermorgen gleich wiederkommen. Mir ist für Samstag jemand abgesprungen und ich brauche dringend Ersatz.“

„Klar, mache ich.“

„Super, dann um neun hier und sei pünktlich.“

 

Als auch Holger endlich das Weite gesucht hatte, ließ ich mich erst mal auf der Stufe vor dem Laden nieder. Dass ich so platt war, lag bestimmt an der kurzen Nacht. Heute musste ich ebenfalls noch Hausaufgaben machen, dazu der Heimweg mit dem Rad und Hunger hatte ich auch. Dreck. Was hatte ich mir da nur eingebrockt?

 

Mein Blick wanderte über die Straße zum „Monopoly“. Dort war bestimmt schon einiges los. Ich hätte rübergehen und Julius hallo sagen können. Der hätte bestimmt was gegen meinen knurrenden Magen unternommen … und mich dabei wegen Manuel ausgequetscht. Und nach unserer Verabredung gefragt, die ich bis gerade eben vollkommen vergessen hatte. Doppel-Dreck. Ob ich wollte oder nicht, ich würde mich bei ihm melden müssen.

 

Als hätten ihm die Ohren geklingelt, piepste mein Handy und ich öffnete eine Nachricht von Julius. Er fragte nach meinem ersten Arbeitstag und was mit morgen sei. Ich blies die Backen auf und ließ zischend die Luft entweichen. Irgendwann würde ich in den sauren Apfel beißen und es ihm beichten müssen. Mit einem weiteren Seufzen begann ich, eine Antwort zu tippen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (6)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  z1ck3
2020-07-10T16:43:21+00:00 10.07.2020 18:43
So die Vernunft hat mal Sense. Go Theo, go Theo!!!! Ich fangirle mal eben ein bisschen
Antwort von:  Maginisha
10.07.2020 18:56
Oh, ich auch. Dabei sollte Benedikt gar nicht, aber der Kerl wollte ja mal wieder mit dem Herz durch die Wand. *seufz*
Antwort von:  z1ck3
10.07.2020 19:00
Hat er doch selbst gesagt er ist noch jung und so haha. Da muss das so sein! Ich mag Theo einfach irgendwie ganz gern, dabei weiß man noch gar nix von ihm...
Von:  KaffeeFee
2020-07-10T15:29:18+00:00 10.07.2020 17:29
Hallo liebste Mag!

Und willkommen zurück, Sunnyboy! Lange nicht gelesen 😉

Liebeskummer ist scheiße. Punkt! Ich kann Ben da voll und ganz verstehen! Vor allem, dass er sich mit "Arbeit" ablenkt.
Hab ich schon mal erwähnt, dass ich aus Theo nicht schlau werde?🤦‍♀️ das wird ja immer schlimmer! Natürlich war das flirten, was der da abgezogen hat! Ich mein, hallo?! "Du kannst das tragen"?! Gut, das Shirt aufknöpfen, das fällt vielleicht noch unter freundliche Hilfestellung (was für ein Wort...) aber der Rest doch nicht!
Und Ben, mal ehrlich... nach drei (!!!) Stunden schon schlapp zu machen... du bist echt ein kleiner, süßer und scheinbar gut trainierte Nerd! Herrlich!

Ohhh ich kann es gar nicht bis zum nächsten Kapitel und dem Treffen mit Julius abwarten!

Bis dahin, koffeeinhaltige Grüße, die KaffeeFee

Ps: unglaublich, ich hatte recht mit Manuel... und dabei hatte ich sooo gehofft, eben nicht recht zu haben... blöd gelaufen 🤷‍♀️

☕☕ für dich 😁
Antwort von:  z1ck3
10.07.2020 18:42
Warum denke ich bei "freundliche Hilfestellung" an was versautes? PFUI Zicke, pfui
Antwort von:  KaffeeFee
10.07.2020 18:43
Ahh, gut, ich bin also nicht alleine mit dem Gedanken 😜
Antwort von:  Maginisha
10.07.2020 18:49
Schüler 1: Ich muss mal.
Schüler 2: Ich auch.
Lehrer: Ihr könnt nicht beide gleichzeitig gehen.
Schüler 2: Aber er soll doch nicht so schwer heben.
Antwort von:  KaffeeFee
10.07.2020 18:50
jaaa so oder so ähnlich ;)
Antwort von:  Maginisha
10.07.2020 18:54
Musste mal eben mitmachen bei der Blödelei. :D

Ablenkung ist immer gut, nicht wahr? Da kann man nicht so viel nachdenken, was ja durchaus manchmal zu Benedikts Lieblingsbeschäftigungen gehört.

Aus Theos Verhalten kann man hier wohl gerade so einiges schließen. Nur was davon stimmt? Lass dich überraschen. *sing*

Und wie du mal Julius seinen Satz geklaut hast mit dem recht haben. :D

Kaffee nehmen ich gerne. Kann ich morgen früh gleich an das nächste Kapitel. ^_~

Zauberhafte Grüße
Mag


Zurück