Ich, er und die Liebe von Maginisha ================================================================================ Kapitel 19: Von verstrahlten Pferden und prallen Tüten ------------------------------------------------------ Okay, okay, ich geb’s ja zu. Gestern das war die volle Ladung Selbstmitleid mit einer Riesenkelle Weltschmerz obendrauf. Verzeihung, die Damen und Herren, ich bin ein Teenager. Ich darf das. Manchmal hat man da einfach eine dunkle Brille auf und die Welt erscheint einem grau in grau. Keine Ahnung, ob „Erwachsene“ (ja mit Anführungszeichen!) so was auch haben, aber wenn, dann sind sie anscheinend besser darin geworden, den Kram zu verstecken. Oder der Umbau, der da oben während der Pubertät im Gehirn stattfindet, ist irgendwann endlich mal abgeschlossen und die nervigen Handwerker verschwunden, sodass man mal wieder in Ruhe ein Buch lesen kann, ohne sich über den ständigen Baulärm aufregen zu müssen, der einen regelmäßig aus der Haut fahren lässt.   Fakt war zumindest, dass man mir meine Laune heute mal wieder ziemlich ansah. Nein, nicht diese Leichenbittermiene von gestern. Mehr so Marke verstrahltes Honigkuchenpferd. Ich konnte einfach nicht aufhören zu grinsen. Ich grinste beim Aufstehen, ich grinste beim Duschen (okay, die Assoziationen unter dem warmen Wasserstrahl waren auch wirklich angenehmer Natur) ich grinste sogar meinen frischen Toast an, statt ihn zu essen. Ständig musste ich mir auf die Zunge beißen, um wenigstens kurzzeitig einen normalen Gesichtsausdruck anzunehmen. Beispielsweise um meine Mutter nichts von all dem merken zu lassen. Die hätte mich womöglich noch gefragt, was mit mir los war. Hatte sie ja gestern schon gemacht, aber dieses Mal hätte ich ihr das nun wirklich nicht sagen können. Ich meine, ich hatte Sex. SEX! Und nicht nur das, es war gut gewesen. Manuel hatte … er hatte sich echt viel Mühe gegeben. Das war mir erst im Nachhinein klargeworden, als ich so feststellte, dass ich mir das Gefühl zwar durchaus wieder ins Gedächtnis rufen konnte, aber sonst nicht viel zu merken war. Okay, ein bisschen schon, aber so im Großen und Ganzen war es doch recht spurlos an mir vorbeigegangen. Wenn man mal von diesem unsäglichen Grinsen absah, dass ich schon wieder auf dem Gesicht hatte, als ich aus dem Bus stieg und dem Pulk der anderen Schüler in Richtung Bildungsanstalt folgte.   Am liebsten hätte ich ihm gleich wieder eine Nachricht geschickt, aber ich hatte ihm heute Morgen schon mal geschrieben. Einmal musste reichen. Ich wollte ihn ja nicht nerven oder mich total lächerlich machen. Nur weil wir … okay, ich musste schon wieder dran denken. Hoffentlich wurde das heute nicht peinlich. Aber wenn ich mir ausmalte, dass wir uns morgen schon wiedersehen würden, machte mein Magen so komische, kleine Luftsprünge und ich musste – man ahnt es – grinsen. Das war echt nicht normal. Ich musste irgendwas finden, um mich wieder runterzubringen.   Also gut, Schule. Was hatten wir gleich noch in der Ersten? Ach ja, Französisch. Na dann. „Die Abenteuer des Geographiebuches, das reisen wollte, bevor es sich schlafen legte“. (Nein, ich hab mir den Titel nicht ausgedacht und auf Französisch klingt das auch nicht ganz so panne.)   Mia-Marie saß neben mir und malte kleine Katzen auf ihr Heft, weil sie noch nicht dran war. Sie hatte sich als Rolle tatsächlich die Katze ausgesucht und ich musste, zugegebenermaßen nicht ganz politisch korrekt, dran denken, ob sie dann wohl im hautengen, schwarzen Strechtanzug auf der Bühne stehen würde, um ihre Rolle zu verkörpern. Vermutlich nicht. Aber mit so ein paar Katzenohren und einem aufgemalten Schnurrbart konnte man sicherlich auch viel erreichen.   „So, ihr Lieben“, rief Frau Bertram, „dann lasst uns mal anfangen. Wir beginnen ganz vorne und dieses Mal gebt euch bitte ein bisschen Mühe, eure Rollen mit Leben zu füllen. Also los!“   Ich lauschte, wie sich die anderen mehr oder weniger was zusammenstotterten, während sich der Text immer weiter der Stelle näherte, an der ich dran war. Ich hatte, wie bereits erwähnt, nicht viel zu sagen. Während die anderen Bücher sich darüber austauschten, was ihnen am Tag so zugestoßen war und sich schließlich über die Reisepläne des Geographiebuches unterhielten, war ich eigentlich nur damit beschäftigt, meine Mitbücher zu ärgern. Besonders das ein bisschen spießige „Buch von Madame M.“, das von Mia-Sophie verkörpert wurde. Ich konnte es mir so richtig vorstellen, wie das Buch voller Schimpfwörter sich lässig ans Regal lehnte und mit süffisantem Grinsen seine prüde und leicht zu echauffierende Nachbarin aufzog. Und plötzlich wusste ich, an wen mich das Buch erinnerte. An Manuel.   Ich grinste, als meine Textstelle näherkam und als dann meine Regalnachbarin sich weigerte, auch nur meinen ihr viel zu vulgären Namen auszusprechen, ließ ich betonungsmäßig mal so richtig den Macho raushängen. Es schien ziemlich gut zu klappen, denn Mia-Sophie warf mir einen sehr irritierten Blick zu, bevor sie weiter las, als wäre nichts passiert. Ich hingegen machte innerlich eine Becker-Faust und konnte mich so gerade noch beherrschen, mit Mia-Marie abzuklatschen, die mich ziemlich beeindruckt ansah.   „Wo hast du das denn hergeholt?“, flüsterte sie. „Bin halt ein Naturtalent“, gab ich zurück und sonnte mich den Rest der Stunde in meinem eigenen Ruhm. Was war ich doch für ein männlicher Mann. Ha!     Meine Begeisterung erhielt einen kleinen Dämpfer, als Anton nach dem Klingeln wieder ins Klassenzimmer kam. Er würdigte mich keines Blickes, sondern setzte sich lediglich neben mich und holte seine Deutschsachen raus. Ein bisschen ungemütlich knibbelte ich an meiner Ausgabe von „Unterm Rad“ herum. Irgendwie musste ich das mit ihm wohl geradebiegen. Aber wie? Ich meine, ich hatte ihn ja eigentlich nur ein bisschen angemotzt. Keine Ahnung, ob ich mich dafür jetzt einfach entschuldigen sollte. War er eigentlich sauer? Hatte er gestern überhaupt mitbekommen, dass wir uns gestritten hatten?   Ich beschloss, es einfach zu versuchen. Am besten auf Umwegen. Umwege waren immer ne gute Sache.   „Hey, bist du nachher wieder in der Bücherei?“ „Ja, warum?“ „Weil … ich mir was ausleihen wollte.“   Er seufzte. Anton seufzte nie. Also ja schon, wenn Oliver mal wieder was besonders Dummes von sich gegeben hatte oder wenn er entgegen aller Vernunft versucht hatte, sich mit Corinna zu unterhalten. Aber er hatte noch nie so geseufzt, wenn ich mit ihm geredet hatte. „Du musst das nicht machen.“ „Was?“ „So tun, als wenn du was ausleihen wollen würdest.“ „Hä?“ Jetzt sah Anton doch auf und schob seine Brille nach oben. Der Blick, der mich durch die runden Gläser traf, ließ mich unruhig auf meinem Stuhl rumrutschen.   „Meinst du wirklich, ich hätte noch nicht gemerkt, dass du die Bücher immer ungelesen zurückbringst.“ „Äh …“   Scheiße! Wieso wusste er das? Hatte er heimlich Markierungen an den Seiten angebracht? Mich unauffällig zum Inhalt abgefragt? Kameras bei mir zu Hause installiert? (OMG! Hoffentlich nicht. Ansonsten wären da bestimmt ein paar echt peinliche Sachen zu sehen gewesen und damit meine ich nicht das, was gestern Nachmittag in meinem Bett abgegangen war. Aber ihr müsst ja nun wirklich nicht alles wissen …)   Immer noch blickte Anton mich mit seinen Eulenaugen an und ich wusste, ich hatte es vermasselt. Er hatte mich von Anfang an durchschaut und jetzt wollte er mich nicht mehr sehen. Doch gerade, als ich anfing, mich deswegen so richtig schlecht zu fühlen, schob er die Brille noch mal nach oben und sagte: „Du kannst natürlich gerne trotzdem nachher vorbeikommen.“   Äh, wie jetzt? Ich sollte in die Bücherei gehen? Ohne was auszuleihen? Aber das wäre ja …   „Du sollst nur aufhören so zu tun, als wenn du wegen der Bücher kämst.“   Ich brauchte ein bisschen, um das Gesagte zu verdauen. Herr Vogel war längst hereingekommen und hatte angefangen über Hermann Hesses nicht besonders subtil platziertes Alter Ego zu referieren und wie sich dieses nach dem Schock über das plötzliche Ableben eines Mitschülers wieder mit seinem besten Freund vertrug, während ich dasaß und feststellte, dass ich ein Arschloch war. Und zwar genauso eins wie T, wenn man es mal genau nahm. Ja, ich mochte Anton und, nachdem mich Timo nun vor einem schmachvollen, sozialen Tod gerettet hatte, musste ich wohl zugeben, dass auch er und die anderen Nerds eigentlich voll okay waren. Aber ich hatte nicht mit ihnen gesehen werden wollen aus Angst, dass man mich für einen von ihnen hielt.   Was für eine Scheiße.   Unwillkürlich huschte mein Blick rüber zu T, der sich, wie es schien, auf die gestellte Aufgabe konzentrierte. Ich beobachtete ihn eine Weile und wusste plötzlich, warum er gestern nichts gesagt hatte. Er hatte eine Menge zu verlieren, wenn er sich mit mir abgab. Nicht so wie ich, der ohnehin schon irgendwo am unteren Rand rumkrabbelte. Und plötzlich tat er mir leid. Weil er da oben in seinem goldenen Käfig hockte und dort nicht wegkonnte, während wir uns hier unten ganz ungeniert im Dreck wälzen durften.   Jetzt wirst du aber echt pathetisch, riss ich mich selbst am Riemen und steckte meine Nase ebenfalls in das Buch, um dort nach irgendwelchen Schlüsselwörtern zu suchen. T ist es mit ziemlicher Sicherheit völlig schnurz, ob du sein Freund bist oder nicht. Er hat doch jede Menge andere Freunde, ist beliebt, dem fehlt nichts. Also hör endlich auf, dir Gedanken über ihn zu machen. Das ist Schnee von gestern. Damit schloss ich das Thema ab und widmete mich den wirklich wichtigen Dingen im Leben. Zum Beispiel der Frage, was ich am Samstag mit Manuel unternehmen wollte, denn dazu fiel mir leider spontan mal so überhaupt gar nichts ein.     Nach der Schule war ich leider mit meinen Überlegungen noch kein Stück weiter. Dafür hatte ich einen wirklich netten Tag mit Anton und Timo verbracht. Die beiden waren zusammen echt witzig. Wie Live-Comedy. Und Timo hatte auch ganz cool reagiert, als ich mich bei ihm für den Platz im Zelt bedankt hatte. „Ach, kein Ding“, hatte er gemeint. „Mein Bruder leiht mir bestimmt sein großes Zelt. Mit dem fährt er sonst immer zum LARP. Er sagt, da passen sogar vier Leute rein.“   Ich war in dem Moment ein bisschen traurig gewesen, dass Anton nie zu so was mitkommen konnte, aber vielleicht konnten wir ja mal bei ihm im Garten zelten. So als Ausgleich. Damit er wusste, was er verpasst hatte, und nicht immer von allem ausgeschlossen war.     Während ich mich auf dem Weg zum Bus also in Lagerfeuer-Fantasien erging – okay, Antons Mutter würde vermutlich einen Herzkasper kriegen, von daher ließen wir das mit dem offenen Feuer vielleicht lieber bleiben – kam ich an dem Lebensmittelladen vorbei, der sich mitten in der Fußgängerzone befand. Ich hatte mich immer schon mal gefragt, wer da eigentlich einkaufen ging, weil man den Kram von da aus doch meilenweit zu Fuß durch die Gegend tragen musste, als ich plötzlich eine sehr bekannte Gestalt aus dem Laden kommen sah, bis über beide Ohren beladen mit prall gefüllten Tüten. „Julius?“   Er schrak zusammen und ließ seine Einkäufe beinahe fallen, aber als er mich erkannte, fing er an zu strahlen. „Benedikt! Mit dir hatte ich jetzt hier nicht gerechnet.“ „Ich geh hier jeden Mittag lang.“ „Ach echt?“ „Ja.“ „Ach so.“   Das Gespräch kam zum Erliegen und wir standen uns stumm gegenüber. Irgendwann wurde es mir zu dumm. „Soll ich dir tragen helfen?“ „Ähm ja, das wäre nett. Musst du auch in die Richtung?“ Er wies hinter sich. „Ja.“ „Na dann passt’s ja.“   Er gab mir eine der Tüten, die wirklich schwer war. Ich ächzte kurz.   „Was hast du denn da drin? Steine?“ „Nein, nur ein bisschen Gemüse.“ „Gemüse?“ „Ja, ich hab mich wohl etwas hinreißen lassen. Die haben hier so tolle Sachen. Eigentlich wollte ich nur schwarze Linsen kaufen. Die gibt es sonst nirgends. Aber dann bin ich in der Obst- und Gemüseabteilung hängen geblieben und die hatten so viel Auswahl. Wir gehen sonst immer nur zu dem winzigen Aldi bei uns um die Ecke und da kriegt man halt nur so ganz normale Sachen. Meine Mutter bringt mich bestimmt um, wenn sie sieht, was das alles gekostet hat.“   Er schien zuerst noch etwas sagen zu wollen, doch dann klappte er den Mund plötzlich zu wie abgeschaltet.   „Ist was?“ „Nein, ich … ich rede nur schon wieder zu viel.“ „Ach, finde ich gar nicht.“ „Nein?“ „Nein.“   Er lächelte plötzlich wieder und ich grinste zurück. War doch ganz einfach, jemandem eine Freude zu machen.   Von irgendwo erklang auf einmal Musik. Das war merkwürdig. Ich meine, manchmal hat man das ja in Filmen, dass auf einmal irgendein Song gespielt wird, um eine bestimmte Stimmung rüberzubringen. (Frau Phillips hatte uns das sogar mal in Musik interpretieren lassen. Wäre ja alles nicht so schlimm gewesen, wenn der Film, den sie dafür ausgesucht hatte, nicht so total langweilig gewesen wäre. Ich gähne heute noch, wenn ich daran denken muss.) Aber zurück zu mir und Julius. Über unseren Köpfen schwebte plötzlich eine Melodie von den Killers und während Brandon Flowers sich noch fragte, ob wir nun „human“ oder „dancer“ sind, fragte Julius mich plötzlich: „Willst du nicht mal rangehen?“   Ich blinzelte. Rangehen? Ähm wo denn ran…? Oh. OH! Das war mein Handy, das klingelte. Ich hatte völlig vergessen, dass ich irgendwann mal mit den Optionen für individuelle Klingeltöne rumgespielt hatte und da mich so gut wie nie jemand anrief, hatte ich nicht gleich geschaltet, dass es jetzt in diesem Moment doch tatsächlich jemand tat.   Ich zerrte also das bimmelnde Ding hervor und drückte ohne hinzusehen auf den Annahmeknopf. „Ja?“, japste ich ins Telefon. „Hey, Bruderherz, ich bin’s. Was machst du grad?“   Diana? Ich war kurz davor, das Handy von mir zu werfen wie eine giftige Schlange. Was wollte die denn jetzt? Das konnte nichts Gutes bedeuten.   „Ich wollte gerade zum Bus gehen“, erklärte ich zögernd. „Warum?“ „Ach, ich war grad in der Nähe und wollte dich fragen, ob ich dich mit heimnehmen soll. Ich bin heute Nachmittag mit Mama verabredet. Sie macht heute früher Schluss und wir wollten noch ein bisschen was für die Hochzeit planen. Ein paar Locations für die Feier heraussuchen und nach Kleidern gucken und so.“ Aha, daher wehte also der Wind. „Mit anderen Worten, ihr wollt meinen Computer.“ „Ja, das natürlich auch. Es macht dir doch nichts aus?“   Neeeeiiin, natürlich nicht. Ich hatte es gern, wenn meine Mutter und meine große Schwester bei mir im Zimmer abhingen und meine Privatsphäre verletzten. Nicht. „Warum macht ihr das denn nicht bei dir zu Hause?“ „Björn muss heute noch eine Präsentation fertigmachen. Dabei braucht er Ruhe, hat er gesagt.“ Ach ja, der tolle Herr Architekt brauchte seine Ruhe. Und was war mit meiner Ruhe? Gnarf. Aber gut, ich wollte mal nicht so sein. Irgendwo mussten ja die Brötchen für meinen zukünftigen Neffen oder meine Nichte herkommen. (Boah, was ne Vorstellung. Ich wurde echt Onkel. Wie krass.) „Jaja, macht mal. Aber ich bleib dann noch in der Stadt, okay? Dann könnt ihr euch nach Herzenslust austoben.“ „Super, ich sag Mama Bescheid. Soll ich dir auch was vom Bäcker mitbringen.“ „Mhm, nein, lass mal. Ich komm klar.“ „Bist du sicher?“ „Ja, ganz sicher.“ „Dann bis später.“ „Bis dann.“   Ich legte auf und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Meine Schwester. Sie heiratet demnächst und will aus meinem Zimmer ein virtuelles Brautmodenstudio machen.“ „Klingt fürchterlich“, bestätigte Julius und schien dann zu überlegen. „Also wenn du … wenn du jetzt noch nicht nach Hause willst, dann könntest du vielleicht … mit zu mir kommen. Natürlich nur, wenn du nichts Besseres vorhast.“   Mit zu ihm? Mhm. Warum eigentlich nicht? Er schien ja kein irrer Massenmörder zu sein. Außerdem hatte ich immer noch seine Einkaufstüte in der Hand. Die wirklich schwer war.   „Na klar. Ich kann ja nicht riskieren, dass ich morgen in der Zeitung lesen muss, dass du dir auf dem Heimweg einen Bruch gehoben hast und dann kraftlos auf der Straße zusammengebrochen bist und von einem Bus überrollt wurdest.“ Julius machte ein komisches Gesicht.   „Du hast ja eine Fantasie.“ „Das sagen mir die Leute öfter.“ „Dann wird wohl was dran sein.“   Wir lachten beide und machten uns auf den Weg, jeder eine der Tüten in der Hand.     Nach ein paar hundert Metern, zweifelte ich ernsthaft an Julius’ Geisteszustand. Wie hatte er das ganze Zeug denn alleine nach Hause schleppen wollen? Als ich ihn danach fragte, zuckte er ein bisschen verlegen mit den Schultern. „Ich, ähm … weiß nicht genau. Wahrscheinlich hätte ich mich irgendwann neben die Tüten gehockt und darauf gewartet, dass ein Ritter auf seinem edlen Ross vorbeikommt und mich rettet.“ Ich lachte auf. „Na dann hab ich dir ja mal voll die Tour vermasselt.“ Er antwortete nicht, sondern warf mir nur einen seltsamen Blick zu, auf den ich mich aber nicht mehr konzentrieren konnte, weil die Fußgängerampel in diesem Moment auf Grün sprang und wir zusehen mussten, dass wir über die Straße kamen.   Als endlich Julius’ Zuhause in Sicht kam, schnauften wir beide ziemlich. „Das kleine, orange Haus dahinten ist es“, sagte er und zeigte auf etwas, das die Bezeichnung „Haus“ eigentlich nicht wirklich verdient hatte. „Häuschen“ traf es wohl eher.   Eingepfercht zwischen zwei großen, weißen Stadthäusern hatte irgendjemand wohl gemeint, dass man den verbliebenen Platz von der Breite einer besseren Einfahrt noch ausnutzen und dort etwas hinbauen musste, das stark an ein Hexenhäuschen aus dem Märchen erinnerte. Wobei dort eine sehr freundliche Hexe zu wohnen schien. Vor dem Haus, das in einer verkehrsberuhigten Zone lag, standen zwei Rosenbäumchen genau wie vor den restlichen Häusern in dieser Straße. War ja auch kein Wunder. Dieser Teil der Stadt war Touri-Gebiet. Da gab es zum einen das antike Rathaus mit dazugehörigem Marktplatz, den Dom und den Hafen. Alles so Sachen, die man sich als Kulturbesichtiger selbstverständlich anschauen musste. Weiter nach hinten lag dann eine malerische Fischersiedlung mit noch jeder Menge mehr dieser hübschen Häuschen, Kopfsteinpflaster, einem winzigen Friedhof mit eigener Kapelle und einem superteuren Fischrestaurant. Und noch ein Stück weiter gab es ein Kloster mit einem gut ausgestatteten Kräutergarten und irgendwelche Ruinen. Als Ortsansässiger kam man da natürlich so gut wie nie vorbei, wenn man nicht gerade an einem sonnigen Sonntag von seiner ambitionierten Mutter zu einem Ausflug dorthin geschleift wurde, um stundenlang irgendwelche Dinge anzugucken, die einen nicht die Bohne interessierten, und sich lediglich mit dem Gedanken an das am Ende der Tortur versprochene Eis über Wasser zu halten vermochte.   Ja, ich wusste, wovon ich da redete.   „Halt mal kurz“, meinte Julius und drückte mir auch noch die zweite Tüte in die Hand, während er seine Hausschlüssel herausfummelte. So langsam kam ich mir echt vor wie ein Packesel.   „Ich hoffe, ich krieg für meine Dienste auch einen entsprechenden Lohn“, meinte ich gespielt entrüstet, während ich die Tüten durch die enge Tür bugsierte. „Was schwebt dir denn so vor?“ „Mittagessen?“ „Das krieg ich wohl hin.“   Er lachte und dirigierte mich durch einen schmalen Flur mit weißen Wänden in eine winzige Küche. Dort angekommen ging ich meiner Tüten verlustig und wurde anschließend auf einen der zwei Küchenstühle gepflanzt, während er den schon leicht altersschwachen Kühlschrank öffnete, der neben dem ebenso heruntergekommenen Herd stand, und mit einem lauten Seufzen den Inhalt sichtete.   „Ich hab’s befürchtet“, proklamierte er. „Es ist nicht genug Platz für die Einkäufe. Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht. Hier muss so einiges weg.“   Ich bejate, sodass er sich noch tiefer hinunterbeugte und leise vor sich hin murmelte: „Na dann schauen wir doch mal, womit ich dich heute verführen kann.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)