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Ich, er und die Liebe

von

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Von leeren Köpfen und hohlen Nüssen

Wer hat eigentlich Kunstunterricht erfunden? Nein wirklich, wer war das? Irgendeiner von euch? Der soll sich warm anziehen, ich komm ihm da gleich mal rüber. Also nachdem mir irgendwas eingefallen ist, was ich in dieses dämliche Bild zeichnen kann, dessen Überschrift so superkreativ „Ich“ lautet.

 

Verstohlen sah ich zu Anton rüber, der doch tatsächlich was zeichnete. Wenn ich hätte raten müssen, waren das Modellflugzeuge, die um einen Turm aus Computern kreisten. So wie bei King Kong. Hey, das war witzig. Ich stieß ihn an und erntete ein gemotztes „Pass doch auf!“ Ich glaube, er hatte echt nicht kapiert, dass ich das mit Absicht gemacht hatte.

 

„Total cool“, sagte ich und deutete auf seine Zeichnung. Er schob die Brille nach oben, musterte für einen Augenblick mein Blatt und meinte dann nüchtern:

„Du hast noch gar nicht angefangen.“

„Ach was“, giftete ich zurück und ließ ihn mit seinem tollen Bild wieder allein.

 

Statt zu arbeiten, guckte ich aus dem Fenster. Draußen regnete es schon wieder. Dieser dumme Spruch mit dem Wetter im April schien tatsächlich zu stimmen. Vielleicht sollte ich einfach Regentropfen in den Umriss meines Kopfes auf dem Blatt malen, der immer noch total leer war. Die Aufgabe? Ich sollte da was reinzeichnen, das mich beschrieb oder mir wichtig war. Ich hatte nur leider so gar keinen Plan, was das sein sollte.

 

Was war das überhaupt für ein beknacktes Projekt? Normal war das mit der Kunst und mir ganz einfach. Ich kriegte ne Aufgabe, bemühte mich, bekam ne ausreichende Punktzahl und mit Chance noch einen Ausführungspunkt obendrauf, weil ich rechtzeitig fertig geworden war. Mag ja sein, dass einige Eltern tatsächlich Mappen mit den Werken ihrer Sprösslinge hatten, die sie da drin für alle Ewigkeit konservierten oder so. Meine Mappe war groß und blau und wurde alle 14 Tage abgeholt. Nein wirklich. Ich hatte im Kunstunterricht noch nie etwas produziert, das sich aufzuheben lohnte, auch wenn meine Mutter das natürlich früher von irgendwelchen windschiefen Aschenbechern (sie rauchte nicht) oder Makramee-Schlüsselanhängern (hatten sich beim ersten Regen in ihre Bestandteile aufgelöst) behauptet hat. Sie hat auch immer brav geraten, was das Ding, das aussah wie ein geplatztes Sofakissen, wohl für ein Tier war. Muss man wohl als Mutter.

 

Die einzige Ausnahme davon war das Stillleben, das wir letztes Jahr kurz vor Weihnachten hatten zeichnen müssen. So Mandeln und Nüsse und ein Tannenzweig bisschen nett hingelegt, damit es nach was aussah. Das war tatsächlich ganz gut geworden und sogar in den Gängen vor den Chemieräumen ausgestellt worden. Ich bin da immer mal langgegangen, um mir anzugucken, dass da wirklich was von mir in nem Rahmen hängt. Ja, auch als es da nach Buttersäure gestunken hat. Für ne gewisse Zeit kann man schließlich durch den Mund atmen. Natürlich hingen da noch mehr solcher Bilder; die meisten waren von irgendwelchen Mädchen, weil die eh immer bessere Kunstnoten hatten. Aber meins hing da halt auch und das war … ich weiß auch nicht. Cool halt. Ach ist ja auch egal.

 

Zurück zu der beknackten Aufgabe, was über mich in diesen Kopf reinzumalen. Ich hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Ich hätte es natürlich so wie Anton machen und ein Buch zeichnen können. Viele Bücher, einen ganzen Haufen, und obendrauf einen Höhlenmenschen, der sich an seinem Hintern kratzte (weil pornographische Bilder von vorne bestimmt nicht erlaubt waren). Gepasst hätte es. Aber erstens sah das dann aus wie Antons Bild und zweitens konnte ich keine Menschen malen … zeichnen … whatever.

 

Frau Poel, unsere Kunstlehrerin, ging gerade durch die Reihen und guckte sich an, was wir so machten. Noch war sie am anderen Ende des Raumes, aber bis sie hier war, sollte ich wenigstens irgendwas angefangen haben. Der Druck regte mich auf und ich merkte, wie sich meine Finger fester um meinen Bleistift schlossen. Weil ich diese blöde Aufgabe nicht hinkriegte. Weil ich wusste, dass sie nach diesem dummen Stillleben neuerdings Wunder was von mir erwartete. Weil ich in diesem dämlichen Kunstraum mit diesem beschissenen, leeren Blatt festsaß, statt nach der sechsten mit dem Bus nach Hause fahren zu können und mit Chance dabei auf Manuel zu treffen. Weil ich immer noch nicht wusste, was ich ihm sagen sollte. Und weil ich heute nach dieser ganzen Kacke auch noch Judo hatte. Ich hatte keinen Bock. So gar keinen.

 

Irgendwann fing ich an, Blumen zu malen. So kleine Blüten immer mit fünf Blütenblättern. Eine ganze Menge davon und als ich genug hatte, bastelte ich irgendwie einen Ast dazwischen. Jetzt sah es aus wie ein …

 

„Ist das ein Kirschbaum?“ Frau Poel stand auf einmal hinter mir. Ich schrak zusammen und verbockte das letzte Ende des Astes. Egal, kam da halt noch ne Blüte dran.

 

„Ähm...ja?“, antwortete ich etwas verspätet und so gar nicht aussagekräftig. Man, wieso musste ich bei Kirschbaum nur gleich wieder an Manuel denken? Blöder Sack!

 

„Und was willst du damit aussagen?“

 

„Dass mal jemand seine Kirsche pflücken soll“, krähte es irgendwo hinter mir und ich wusste genau, dass das von Jo kam, dem Blödarsch. Der sollte nur ruhig sein. Schließlich sah sein Kopf aus wie ein riesiger Fußball. Zum Glück hatte unsere Lehrerin es nicht so mit schlechten Englischübersetzungen.

 

Ich setzte gerade zu einer entsprechenden Antwort an, als ich so ein Prickeln im Nacken fühlte. Und ich wusste plötzlich, dass T mich ansah. Okay, vielleicht war es nur Einbildung, weil er nämlich hinter mir saß und ich das überhaupt nicht erkennen konnte, aber irgendwie fühlte es sich so an, als würde seine Brille gerade als Brennglas fungieren und mir Löcher in die Haut sengen.

 

Ich rieb mir über mein Genick und hatte plötzlich eine Idee.

 

„Das sind japanische Kirschblüten“, behauptete ich und sah vor meinem inneren Auge ein Foto aus dem Reiseführer, den ich so gründlich studiert hatte, während ich mit T in der Bücherei saß. „Ich würde gerne mal nach Japan fahren und mir das Hanami angucken und noch so einiges anderes. Das Land ist ja auch kulturell sehr interessant. Außerdem mache ich selbst eine japanische Sportart und würde gerne noch mehr über deren Ursprung erfahren.“

 

Frau Poel lächelte und nickte. „Das ist ein sehr schönes und vielfältiges Thema. Weiter so, Benedikt.“

 

„Weiter so, Benedikt“, äffte Jo unserer Lehrerin nach, die das zum Glück nicht gehört hatte. Ich zeige ihm meinen Mittelfinger über die Schulter hinweg und begann, die japanische Flagge neben die Kirschblüten zu zeichnen. Als ich nach meinem roten Stift griff, um den Punkt in der Mitte auszumalen, kribbelte es schon wieder in meinem Nacken. Dieses Mal konnte ich nicht anders. Ich drehte mich um.

 

Hinter mir saß T, arbeitete seelenruhig an seiner Zeichnung und guckte überhaupt nicht hoch. Ich hatte mich wohl geirrt. Vielleicht ein Mückenstich oder so. Allerdings konnte ich jetzt, da ich mich schon mal umgedreht hatte, doch auch gleich mal versuchen, einen Blick auf oder vielmehr in seinen Kopf zu werfen.

 

Was ich sah, überrascht mich nicht. Da war ein Fahrrad, eine Gitarre, die allerdings ziemlich cool am Rand des Bildes wegfloss wie diese berühmten Uhren von Dali. Wahrscheinlich, weil er zu groß angefangen und das Instrument deswegen nicht draufgepasst hatte. Leider konnte ich nicht erkennen, was er jetzt gerade malte, noch dazu weil Jo seinen Kopf dazwischen schob.

 

„Hey, wer ist denn die Alte?“, wollte er wissen und deutete auf Ts Bild.

„Das ist die Freiheitsstatue, du Pappnase.“

 

Okay, jetzt sah ich es auch, und, seien wir mal ehrlich, so wirklich gut konnte T auch nicht zeichnen. Also zumindest keine Freiheitsstatuen. Aber ich sah jetzt, dass daneben auch noch andere Sachen abgebildet waren. Diese Dreiecke da waren mit Sicherheit die Pyramiden. Und daneben der Turm, das war doch …

 

„Ach, und ich dachte, du willst die flachlegen. Das Ding da sieht aus wie dein Schwanz“, sagte Jo und zeigte auf das schräge Teil.

„Das ist der schiefe Turm von Pisa.“

 

Sagte ich.

 

Warum sagte ich das?

 

Und warum auch noch so laut, dass Jo und vor allem T es hörte? Der grinste jetzt und schlug Jo gegen den Arm.

 

„Siehste, Benedikt hat’s erkannt.“

„Nur weil er nicht weiß, wie dein Schwanz aussieht“, schoss Jo zurück und erntete dafür einige Lacher.

 

Allerdings nicht von mir. Ich hatte mich nämlich ganz schnell wieder umgedreht und zeichnete höchst konzentriert die japanische Flagge. Ach, was war so ein roter Kreis doch schwierig zu malen. Da musste man sich echt anstrengen, während man darauf wartete, dass der eigene Kopf wieder eine andere Farbe als die des Buntstifts annahhm.

 

Hinter mir hörte ich Ts tiefe Stimme, der Jo jetzt ziemlich ernsthaft erzähle, dass er schon ein paar Mal mit seinen Eltern in Italien gewesen war, es aber noch nie geschafft hatte, sich den Turm in Pisa anzusehen. Und dass es so beeindruckend sei, diese ganzen alten Gebäude mal live zu bestaunen und sich vorzustellen, dass man gerade irgendwo steht, wo vor tausenden von Jahren schon mal irgendwelche Römer langgelaufen sind. Oder mal die Aussicht vom Petersdom genossen hat, weil der ja alle naslang in irgendwelchen Filmen zu sehen ist und so weiter. Und ich saß da, hatte mein Bild vergessen und lauschte. Stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich jetzt dort drüben mit am Tisch säße – mit Anton selbstverständlich – und zu dem illustren Kreis dazu gehören würde, der sich Ts Freunde nannte. Dass ich ihm nahe sein konnte, ohne mich ständig wie der letzte Depp aufzuführen oder rumzustottern oder rot zu werden, weil ich auch ein total cooler Typ war. War ich aber nicht. Ich war nur ich.

 

Ich sah auf mein Blatt runter und hatte mit einem Mal den Wunsch, es zu zerknüllen. Oder in tausend Fetzen zu reißen. Japan, was für ein Schwachsinn! Ich würde nie nach Japan kommen. Ich kam ja nicht mal nach Frankreich. Das Höchste der Gefühle war ein Urlaub in Dänemark, der aber auch schon ungefähr zehn Jahre her war und von dem ich mich nur noch an einen fetten Sonnenbrand erinnern konnte. Und von hier aus nach Dänemark zu fahren, das war ungefähr so, als wenn man von Baden-Württemberg nach Bayern reiste. Die Leute redeten komisch und alles war etwas teurer, aber im Endeffekt war es halt doch nicht viel anders als zu Hause.

 

Bevor ich mich allerdings wirklich an meinem „Kunstwerk“ verging, begann ich lieber, meine Stifte einzuräumen. Jeden einzeln. Das sollte reichen, um den Rest der Stunde zu überbrücken. Zu überbrücken hatte ich ohnehin noch eine Menge Zeit. Vom Schulschluss bis zum Beginn des Trainings waren es noch zwei Stunden. Die Zeit würde ich, wie üblich, in der Bibliothek rumbringen, meine Hausaufgaben machen oder einfach lesen. Vielleicht würde ich mir diesen Reiseführer noch mal anschauen. Immerhin brauchte ich noch ein paar Ideen, was ich hier nächste Woche hinmalen sollte.

 

Als es endlich klingelte und alle aufsprangen, beeilte ich mich dementsprechend auch nicht. Ich verabschiedete mich von Anton und trödelte rum.

 

„Hey, Schlafmütze, wenn du nicht aufpasst, wirst du gleich eingeschlossen.“

 

Ich sah auf und blickte in ein Paar blaue Augen unter einem wirren, blonden Pony. War das echt T, der da vor mir stand? Er deutete auf mein Bild, das irgendwie immer noch auf dem Tisch lag.

 

„War ne geile Idee. Ich hoffe, ich durfte mir die klauen.“

 

Klauen? Ich blinzelte und verstand erst nicht, bevor es mir dämmerte. Er hatte zugehört, was ich gesagt hatte? Und dann das Gesagte auch noch für würdig befunden, es für sein eigenes Bild zu übernehmen? Wow. Ich war in dem Moment so platt, dass ich nur noch nicken konnte.

 

„Du solltest es wegräumen. Wäre schade drum.“

 

Ich nickte erneut, nahm das Blatt und ging damit nach nebenan, wo wir einen Schrank hatten, in dem die halbfertigen Arbeiten bis zur nächsten Stunde aufbewahrt wurden. Und T? Der kam doch tatsächlich mit. Er blieb zwar an der Tür stehen, aber ich stand quasi allein mit ihm im Nebenraum des Kunstraums und … also sagen wir mal, meine Fantasie ging gerade etwas mit mir durch, während ich mein Bild verräumte. Dieser Ort mit den verhangenen Staffeleien, den hölzernen Gliederpuppen, den halbfertigen Plastiken und unzähligen Farbtöpfen schrie geradezu danach, von einem knutschenden Pärchen entweiht zu werden.

 

Okay, es war ein bisschen blöd, dass man von außen reinsehen konnte und dass obendrein unsere Kunstlehrerin uns gleich dazu auffordern würde, endlich rauszugehen, aber allein der Gedanke, wie T hinter mich trat, die Arme um mich schlang, ganz sanft seine Lippen auf meinen Nacken drückte und mir gestand, dass er darauf ja schon so lange gewartet hatte, ließ die Haare in eben jenem Nacken abstehen, als wäre ich unter Strom gesetzt worden. Und wenn ich mich dann umdrehte, ihm in die Augen sah und ihn tatsächlich küsste. Ich … scheiße, ich war immer noch in den Kerl verknallt. Das ging doch nicht. Ich hatte doch Manuel. Wie konnte ich denn da so eine Schnappatmung kriegen, nur weil T einen halben Meter hinter mir stand? Das war ganz und gar verkehrt. Und musste jetzt enden. Sofort.

 

Ich drehte mich um und wollte ihm irgendeinen dummen Spruch an den Kopf werfen, so vonwegen ob er nichts Besseres zu tun hätte oder so, aber ich konnte nicht. Wie er da so stand und mich anlächelte, das war einfach … einfach schön. So schön, dass ich zurücklächelte.

 

„Willst du wirklich mal nach Japan?“, fragte er mich.

Ich zuckte die Achseln. „Ja schon. Aber das wird wohl nichts werden.“

„Warum nicht?“

„Weil … na ja. So ne Reise ist teuer. Ich hab kein Geld für so was.“

„Dann such dir nen Job.“

 

Ich blinzelte. Einen Job? Als ich die Frage laut wiederholte, grinste T.

 

„Ja, klar. Hab ich auch gemacht. Ich helfe ab und an bei Friedrichsen aus. Du weißt? Das Sportgeschäft unten am Kuhberg.“

 

Klar kannte ich das. In so ner kleinen Stadt gab es ja nicht so viele Geschäfte. Außerdem hatten wir da immer meine Anzüge fürs Judo gekauft.

 

„Wenn du willst, kann ich mal fragen, ob die noch jemanden brauchen.“

 

Ich schluckte und stellte mir das vor. Ich zusammen mit T. Außerhalb der Schule. Das war … das wäre ja …

 

„Klar, warum nicht?“, sagte ich jedoch nur und wunderte mich selbst darüber, wie cool ich dabei klang. So als wär’s mir zwar recht, aber eigentlich auch egal. Innerlich machte ich allerdings schon meterhohe Luftsprünge, bis …

 

„Jo und Leon arbeiten auch da.“

 

Ach da war der Haken.

 

„Macht ja nix“, sagte ich und mein Lächeln wurde ein bisschen tapferer. Nur nichts anmerken lassen.

 

„Wäre doch cool, wenn wir da alle zusammen abhängen würden. Allerdings teilen die meist nur zwei Leute für die Schichten ein.“

 

Mhm, das machte Sinn. So riesig war der Laden ja nicht. Das hieß, es bestand die Gefahr, dass ich mit Jo … lieber nicht darüber nachdenken. Eine Schicht mit T hörte sich da sehr viel besser an. Ungefähr tausend mal besser.

 

„Na wie gesagt, ich frag nachher gleich mal, ob die noch wen brauchen. Bin heute eh da.“

„Okay, danke“, brachte ich noch heraus, bevor er sich endlich umdrehte und ging und ich in Ruhe auf einem Hocker in mich zusammenbrechen konnte. Ach du Scheiße. Ich hatte ein Gespräch mit T geführt. Ich hatte mich bereit erklärt, Zeit außerhalb der Schule mit ihm zu verbringen. Ich war total bekloppt.

 

„Benedikt, kommst du dann? Ich muss abschließen.“ Frau Poel stand in der Tür. „Ist alles in Ordnung? Du bist so blass.“

„Jaaa, alles bestens. Ich muss nur … frische Luft. Die Farbe.“

 

Ich stürzte an ihr vorbei und zur Tür raus, während ich noch schnell meinen Rucksack vom Tisch riss und dann die Gänge entlang stürmte und mich bemühte, dabei nicht vom Boden abzuheben. Ich würde Zeit mit T verbringen. Ganz viel Zeit. Hurra! Und wenn die keine Stelle frei hatten, würde ich eben einfach Jo vom Turnhallendach schmeißen. Schade wäre es nicht ihm um. Hauptsache das klappte.

 

 

 

Während ich in der Bücherei versuchte, dem Reiseführer noch neue Ideen für mein Kunstprojekt zu entlocken, erwischte ich mich immer wieder dabei, stattdessen aus dem Fenster zu gucken. Hinter dem es regnete. Machte aber nichts, denn in mir drin waren ganz viele kleine, warme Blubberblasen, wenn ich daran dachte, wie T mich angelächelt hatte. Das hieß doch, dass er mich mochte, oder nicht? Das war toll, weil ich ihn auch mochte. So sehr, dass mir schon der Magen davon wehtat.

 

Man, Benedikt, reiß dich zusammen. Die dimmen noch das Licht, wenn du hier weiter so verstrahlt in die Gegend grinst. Komm mal wieder runter.

 

Ich wollte aber nicht runter. So gar nicht. Ich fand es toll hier oben in meinem rosaroten Wattebauschschloss und es war mir scheißegal, dass das schwul war oder sonst was. Am liebsten wäre ich jetzt gleich losgerannt um nachzuhaken, ob das mit der Stelle was wurde. Vermutlich wäre es ne gute Idee gewesen, erst mal meine Mutter um Erlaubnis zu fragen, aber die hatte bestimmt nichts dagegen. Also konnte ich mich doch eigentlich auch gleich selbst vorstellen gehen. Ich musste ohnehin in die Richtung, wenn ich zum Judo wollte, somit hielt mich doch nichts mehr hier. Und vielleicht bekam ich so noch die Gelegenheit, ein bisschen mit T zu quatschen. Der schien doch nicht abgeneigt zu sein, sonst hätte er mir das Angebot ja nicht gemacht.
 

Ich lieh mir also kurzerhand den Reiseführer aus, schnappte mir meinen Rucksack und ab durch die Mitte. Draußen war der Regen inzwischen in ein gleichmäßiges Pieseln übergegangen, das bei einigermaßen Tempo vielleicht meine Jacke nicht ganz durchnässt haben würde, wenn ich an meinem Bestimmungsort ankam. Denn dass ich dafür bestimmt war, bei Friedrichsen zu arbeiten, dessen war ich mir sicher.

 

Mit eingezogenem Kopf rannte ich durch die verkehrsberuhigte Straße, an deren Seite einige Geschäfte lagen. Ganz am Ende war der Sportladen. Ich sah das Schild schon von weitem leuchten. Schlitternd kam ich davor zum Stehen. Mein Herz klopfte und ich war ganz schön außer Atem, aber ich war da und warf gleich einen Blick ins hell erleuchtete Innere. Tatsächlich war heute nicht viel los. Da war nur eine Kundin, eine junge Frau, die anscheinend neue Turnschuhe kaufen wollte. Zumindest standen einige Paare um sie herum auf dem Fußboden. Sie war momentan allein und ich wollte mich schon enttäuscht abwenden, als T plötzlich aus einer Tür kam, die vermutlich zu einem Lagerraum führte. In der Hand hatte er zwei Schuhkartons.

 

Als ich ihn sah, musste ich unwillkürlich grinsen. Wow, er sah so gut aus. Diese Lächeln, dieser Gang. Den hätte ich mir gerne mal von hinten angeguckt, aber dieses Geschenk wurde mir nicht gemacht. Stattdessen wandte er sich wieder seiner Kundin zu, die sein Lächeln genauso strahlend erwiderte. Er sagte etwas, sie lachte und ich musste auch lächeln. Doch je länger ich hinsah und je mehr von dem kalten Nieselregen auf mich niederging, desto mehr schwand meine Begeisterung. Er konzentrierte sich wirklich völlig auf die Kundin und meine Hoffnung, dass er mich vielleicht sehen und reinwinken würde, sank mit jeder Minute. Und mit jeder Minute, die ich ihn mit diesem weiblichen

Wesen zusammen sah, wurde mir mehr klar, dass ich mir etwas vorgemacht hatte. Ja, ich würde vielleicht hier arbeiten können, aber ich hatte eine ganz entscheidende Kleinigkeit vergessen. T stand nicht auf Jungs. Ich weiß nicht, warum mir das erst jetzt wieder einfiel. Vielleicht, weil sich mein Zuckerwatteschloss gerade in eine klebrige Pfütze verwandelte und irgendwer all die wunderbaren Blubberblasen mit einer richtig fiesen Nadel namens Realität zerplatzen ließ.
 

Ich war so eine hohle Nuss. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Mochte ja sein, dass ich in ihn verliebt war. Konnte ja angehen, dass er mich ganz nett fand und warum auch immer mit mir befreundet sein wollte. Aber er würde nie, nie, niemals mit mir irgendwelche Sachen machen wollen, die er nicht auch mit Jo oder irgendeinem anderen Jungen machte. Abhängen, rumblödeln, nebeneinander auf dem Sofa sitzen, um einen Film zu gucken und sich mit Erdnussflips bewerfen. Vielleicht sogar in einem Zelt zusammen übernachten und nackt baden gehen. Aber nicht mehr. Niemals mehr. Nicht in einer Million Jahren.

 

Auf einmal drehte er sich doch zum Fenster um. Ich wich ich hastig zurück und hoffte, das mich der große Aufsteller mit dem Tennismodel hinreichend verdeckte. Er sollte mich hier nicht sehen. Außerdem musste ich sowieso los. Ich hatte ja Judo und …

 

Als ich die nächste Straßenecke erreichte und zur Sporthalle abbiegen wollte, in der mein Training stattfand, fiel mir auf, dass etwas fehlte. Etwas ganz Entscheidendes. Wo zum Geier war meine Sporttasche? Schnell rekapitulierte ich meinen Gang in die Bücherei, aber da war sie auch schon nicht dabei gewesen. Mein Blick glitt den nassen Sandweg hinauf, den ich jeden Morgen nahm, wenn ich mit dem Bus hier ankam. Dort oben lag meine Schule und in der Schule lag meine Sporttasche. Neben dem Tisch im Kunstraum auf dem Boden, wo ich sie zu Beginn des Unterrichts abgeladen und dann vergessen hatte. So eine verdammte Scheiße.

 

Und jetzt? Was sollte ich denn jetzt machen? Ich war nass – so langsam weichte der gute, norddeutsche Nieselregen auch die dickste Sweatjacke durch – ich hatte kein Sportzeug, ich war unglücklich verliebt und ja, ausnahmsweise regnete es passend zur Stimmung auch immer noch weiter. Meine Mutter würde erst in anderthalb Stunden kommen um mich abzuholen und mein Trainer mir vermutlich den Kopf abreißen, weil ich ohne Anzug nicht trainieren konnte. Der versuchte nämlich seit Wochen mich zur nächsten Gürtelprüfung zu überreden und dafür musste ich eine bestimmte Mindestzahl an teilgenommenen Übungsstunden vorweisen. Da er wusste, dass ich die Prüfung eigentlich nicht machen wollte, würde er bestimmt annehmen, dass ich die Sachen mit Absicht nicht mithatte, um mich zu drücken. Verfickte Scheiße.

 

Ich ruf einfach an, dass ich krank bin, schoss es mir durch den Kopf. Oder ich schick ne Nachricht, das ist besser, da kann er mich nicht vollschnauzen.

 

Schnell zückte ich mein Handy und sagte das Training für heute ab. Das Piepsen, das mir die Ankunft einer Antwort signalisierte, ignorierte ich. Ich wollte das jetzt nicht lesen. Ich wollte gar nichts lesen. Ich wollte hier im Regen stehen und mich auflösen so wie mein Wattewolkenzuckerschloss. Allerdings war das vermutlich keine so gute Idee, denn dann würde ich früher oder später wirklich krank werden. Wie Manuel das nur machte, stundenlang im Regen zu stehen. Ich hatte keine Ahnung. Mir war lausekalt und ich wollte hier nur noch weg.
 

Fluchend verzog ich mich in eine überdachte Einfahrt und starrte nach oben. Diffuses Grau, das mich nach kurzer Zeit blendete. Ich kniff die Augen zusammen und sah mich um. Nach hinten ging es weiter auf einen Innenhof und weil ich ohnehin nichts zu tun hatte, steckte ich die Hände in die Jackentaschen, zog die Nase hoch und lugte vorsichtig um die Ecke.
 

Der Hof war größer, als ich gedacht hatte und mit roten und grauen Steinen gepflastert, die im Regen glänzten. Linker Hand stand ein Schuppen mit einem Fahrradständer und weiter hinten tropften hochgestellte Tische und Stühle vor sich hin. Ein zusammengeklappter Marktschirm vervollständigte das trostlose Bild eines gerade nicht genutzten Gartenrestaurants.

 

Moment … Restaurant?

 

Ich ging noch ein Stück weiter und konnte jetzt tatsächlich das Schild erkennen, das über der dunklen Eingangstür hing. „Monopoly“ stand da in schwarzen Buchstaben auf weißem Grund. Neben der Schrift war dieses kleine Männchen mit dem Zylinder abgebildet. Anscheinend hatte ich den Außenbereich des Restaurants entdeckt, in dem Julius arbeitete. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es da zwei Eingänge gab.

 

Unschlüssig blieb ich auf dem Hof stehen und überlegte. Hatte er nicht gesagt, er würde dienstags arbeiten? Heute war Dienstag und das Lokal schien bereits geöffnet zu haben. Ob ich vielleicht …

 

Neben mir wuchs ein großer Baum, um den herum jemand eine Sitzbank angelegt hatte. Das Holz war dunkel und feucht und ich wusste, dass ich mich dort nicht würde hinsetzen können, ohne einen nassen Hintern zu bekommen. Von oben tropfte es.
 

„Ach scheiß drauf“, murmelte ich und bewegte mich endlich auf die Tür zu. Es war alles besser als weiter hier draußen im Regen herumzustehen.



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