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Ich, er und die Liebe

von

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Von verspäteten Ankünften und interessanten Auskünften

Samstagmorgen, 10.08 Uhr und ich war bereits fertig mit der Welt. Ganz ehrlich, ich brauchte vielleicht einen Terminkalender, um meine neuerdings geballt auftretenden Sozialkontakte zu koordinieren, aber meine Mutter brauchte eine neue Uhr. Am besten eine, die im Minutentakt die Zeit ansagte.
 

„Mamaaaa, wir müssen loo~hoos!“
 

Was die Untertreibung des Jahrhunderts war. Eigentlich hätten wir vor einer halben Stunde losgemusst, aber da war sie noch ungeschminkt und unfrisiert durchs Schlafzimmer gehüpft auf der Suche nach einem passenden Gürtel zu einer Hose, die sie noch nie angehabt hatte, weswegen das Ganze ein bisschen länger dauerte. Wobei sich mir der Sinn auch nicht so ganz erschloss, warum sie sich überhaupt großartig zurechtmachte. Schließlich hatte sie nur um halb elf einen Friseurtermin und sollte mich auf dem Weg noch eben bei Anton vorbeibringen. Somit standen ich und mein PC bereits seit zwanzig Minuten abfahrbereit an der Haustür, weil es da geheißen hatte „ich komme gleich“. Ja nee, ist klar.

 

„Bin gleich da, Schatz.“

 

Dieses Mal stimmte es tatsächlich und wir saßen fünf Minuten später im Auto.

 

„Wo muss ich hin?“

„Fahr mich einfach zur Schule, den Rest laufe ich dann.“

„Aber Benedikt, ich kann dich doch …“

„Fahr einfach, Mama.“

 

Also echt. Manchmal fragte ich mich, wie die Frau jemals verbeamtet werden konnte. Die vom Amt sind doch angeblich immer so pünktlich. Das konnte bei meiner Mutter kein Einstellungskriterium gewesen sein. Wenn ich einen Euro bekommen hätte für jedes Mal, wo ich der Letzte war, der irgendwo abgeholt wurde, wäre ich mindestens Millionär. Dafür mutierte sie jetzt hinter dem Steuer wieder zur Schnecke. Ich zählte bereits die Monate, bis ich auch endlich mit Fahrstunden anfangen konnte. Das war doch nicht normal, diese Kriecherei. Vor allem aber konnte ich mir schon genau vorstellen, wie Anton mich angucken würde, wenn wir zu spät bei ihm aufschlugen.

 

Ich hatte ihn am gestrigen Abend noch angerufen, um ihm mitzuteilen, dass ich leider Samstagnachmittag keine Zeit hatte – Grund dafür war, dass meine Mutter es zu stressig fand, mich vor ihrer Verabredung noch hinzubringen und abzuholen – und ihn zu fragen, ob ich stattdessen am Sonntag kommen konnte. Das jedoch ging gar nicht, weil im Hause Wischnewsky sonntags Familientag war. Verabredungen wurden nur in Ausnahmefällen gestattet, wie beispielsweise ein spontanes Ableben am Montag, das aber auch nur mit dreiwöchiger Vorankündigung, so viel Zeit musste sein. Also blieb entweder das Ganze auf nächste Woche zu verschieden oder aber auf den Samstagvormittag, wobei Anton zu bedenken gab, dass wir dann rechtzeitig kommen müssten, damit das Mittagessen pünktlich stattfinden könne. Tja, pünktlich und meine Mutter ging aber nun mal nicht zusammen. Nicht mal, wenn das gleichzeitig auch ihre Termine in Gefahr brachte.

 

„Wo wohnt Anton denn nun?“, fragte meine Mutter, als wir fast an der Schule waren.

 

Ich gab auf und nannte ihr die Adresse, sodass sie mich schließlich doch noch die zwei Ecken weiter fahren konnte. Dort flüchtete ich mitsamt PC aus dem Auto und sah zu, dass sie mir nicht noch über die Füße fuhr, während sie auf einmal mit erstaunlicher Geschwindigkeit um die nächste Ecke verschwand. Es war eine Minute vor halb elf.

 

Ich ging auf das Häuschen zu, das mir in originellem Blassgelb entgegen strahlte. Dazu muss man vielleicht wissen, dass hierzulande ein ziemlich großer Teil der Häuser verklinkert ist.

 

(Für diejenigen, die das nicht kennen: Das ist eine zusätzliche Schicht aus speziellen, meist roten Ziegsteinen, die vor die eigentliche Wand gemauert werden und sie vor Wind und vor allem Nässe schützen sollen. Davon gibt’s hier in der Gegend ja ne ganze Menge, meistens von oben oder quer von links. Ich erzähle das nur deswegen, weil ich selbst mal sehr erstaunt war, als ich nach Süddeutschland fuhr und dort die Häuser auf einmal alle weiß oder gar bunt waren. Dafür hatten dann die Kühe nur noch braunes Fell statt ganz normal weiß mit schwarzen Flecken auf der Weide zu stehen. Mit kam das damals sehr seltsam vor.)

 

Nun, es gab auf jeden Fall auch hier Häuser mit glatter Fassade, die auf mich immer ein bisschen spießig wirkten, was in diesem Fall vielleicht gar nicht so weit hergeholt war. Im streng auf Kante gemähten Garten stand ein Gartenzwerg und es war keiner von der unanständigen Sorte, sondern wartete mit grenzdebilen Grinsen und einer kleinen Schubkarre auf. Daneben standen abgezählte und vermutlich mit dem Zirkel gepflanzte Tulpen in einer Reihe. Ich seufzte noch einmal und drückte auf den Klingelknopf. Es schrillte unangenehm. Zwei Sekunden später wurde die Tür geöffnet.

 

„Hallo Frau Wischnewsky, entschuldigen Sie bitte die Verspätung“, sagte ich artig, bevor Antons Mutter noch irgendetwas von sich geben konnte. Sie war blass, groß und ziemlich dünn. Vermutlich ernährte sie sich von Salat und Vitaminpillen. Und Spargel.

„Ah, du musst Benedikt. Komm rein, aber benutz bitte vorher noch einmal das Desinfektionsbecken, ja? Nur damit du keine Keime mit den Schuhen hereinträgst.“

 

Ich trat also gehorsam in die kleine Wanne mit den Gumminoppen, wischte mir ordentlich die Schuhe ab – ja, ich hatte dabei die ganze Zeit meinen PC im Arm – und durfte dann die heiligen Hallen aka Flur betreten. Dort musste ich meine Jacke und die gerade erst desinfizierten Schuhe ablegen und wurde gleich noch mal ins Gästebad geschickt, um mir die Hände zu waschen. (Diesmal ohne PC, der durfte draußen bleiben. Ich lege allerdings nicht die Hand dafür ins Feuer, dass sie ihn nicht noch heimlich mit einem Desinfektionstuch abgewischt hat.) Zum Glück hatte mich Anton über das ganze Prozedere schon aufgeklärt, sodass ich es einfach über mich ergehen ließ, bevor ich von Frau Wischnewsky nach oben begleitet wurde. An Antons Tür klopfte sie leise an.
 

„Anton, Spätzchen, dein Besuch ist da. Denk bitte daran, dass wir Punkt 12 essen.“

 

Anton Spätzchen bemühte sich, darauf nicht allzu genervt zu reagieren, und schloss mit entschiedener Geste die Tür vor der Nase seiner Mutter. Erst dann widmete er mir seine Aufmerksamkeit.

 

„Du bist zu spät“, stellte er mitleidlos fest.

„Ja, meine Mutter ist mal wieder nicht fertig geworden. Tut mir leid.“
 

Er ließ das unkommentiert, sondern hieß mich stattdessen, den PC abzustellen, woraufhin er ihn gleich an alle möglichen Kabel anschloss wie einen Komapatienten an die Lebenserhaltung. Ohne ein weiteres Wort zu sagen begann er mit der Arbeit.

 

Ich sah mich derweil in seinem Zimmer um, das kleiner und dunkler war als meins. Es hatte eine Dachschräge und wirkte insgesamt irgendwie vollgestopft, obwohl es eigentlich aufgeräumter war. Eine der Wände mit Schräge wurde von einem maßgeschneiderten Bücherregal beherrscht, an der anderen stand sein Bett, auf dem ich jetzt saß. Die Wand gegenüber von Fenster, Schreibtisch und dem Regal mit seinen Modellflugzeugen beherbergte einen Kleiderschrank und die Tür, die sich just in dem Moment öffnete, als Anton anfing, mir zu erklären, was meine Mutter genau mit meinem PC veranstaltet hatte. Gleichzeitig begann seine Mutter auf ihn einzureden und ihm, glaube ich, eine Tasse Tee andrehen zu wollen. Das Gespräch klang dann für mich ungefähr so:
 

„Anton, Spätzchen …“

„… das Update unterbrochen …“

„… Löwenzahntee …“

„… zu rebooten …“

„… gut für die …“

„… Mainboard …“

„… blutreinigend …“

„… plattmachen.“

„WAS?“

 

Letzteres stammte von mir und richtete sich an Anton. Der schob seine Brille nach oben und wiederholte geduldig: „Ich muss deinen Rechner vielleicht komplett neu aufsetzen. Ich versuche aber erst mal zu retten, was zu retten ist.“

 

Statt weiter mit ihrer Teetasse zu wedeln, fasste mich Antons Mutter jetzt scharf ins Auge.
 

„Benedikt, würde es dir was ausmachen, dich auf den Boden zu setzen? Straßenkleidung ist bei uns im Bett nicht erlaubt.“

„Oh, ja, natürlich, sofort.“

 

Ich ließ mich auf den Boden plumpsen und sah von dort zu Antons Mutter auf. Sie wirkte gleich noch länger und dünner. Allerdings auch eine Spur freundlicher, denn nun bot sie mir die Tasse Tee an, die Anton durch schlichtes Ignorieren verschmäht hatte. Ich nahm dankend an und bereute es in dem Moment, als ich das Gebräu probiert hatte. Igitt, das schmeckte wie aufgebrühter Misthaufen inklusive Hühnerkacke. Ich würgte es unter ihrem strengen Blick trotzdem herunter und gab ihr etwas verkrampft lächelnd die Tasse zurück. Endlich zufrieden, ihre Teemission erfüllt zu haben, stolzierte sie von dannen. Als die Tür endlich zu war, meldete sich Anton wieder zu Wort.
 

„Die Toilette ist die zweite Tür links.“

„Äh, wie bitte?“ Der Tee war zwar furchtbar gewesen, aber so furchtbar, dass ich mich übergeben musste, nun auch wieder nicht.

„Der Tee, den du gerade getrunken hast, wirkt harntreibend. Du wirst daher vermutlich innerhalb der nächsten halben Stunde nach der Toilette fragen. Ich habe dir die Information daher schon jetzt zur Verfügung gestellt, für den Fall, dass ich zum Zeitpunkt deiner Frage zu beschäftigt bin, um dir zu antworten. Das könnte unangenehme Folgen für dich und/oder das Parkett haben.“

„Äh ja, danke, Spock.“

„Gerne.“

 

Die in meiner Aussage enthaltene Ironie war an ihm abgeprallt wie Regen von einer Ölhaut. Nun ja, so kannte und liebte ich ihn. Ich liebte ihn sogar noch ein kleines bisschen mehr, als ich zwanzig Minuten später tatsächlich aufs Klo musste und er mir auf mein geflüstertes „Anton, ich geh mal eben“ nicht antwortete, sondern weiter auf seine Tastatur einhämmerte. War vielleicht doch ganz gut gewesen, dass er mir das schon vorher gesagt hatte.

 

Auf dem Rückweg vertrieb ich mir die Zeit damit, die Bilder anzusehen, die im Flur vor Antons Zimmer hingen. Auch hier gab es eine Dachschräge und der Gang war insgesamt recht schmal. Irgendwer war jedoch auf die gute Idee gekommen, das Ganze mit hellem Holz zu verkleiden und dank eines Dachfensters fiel genug Licht herein, damit es nicht zu düster wirkte. Kurz fragte ich mich, warum Antons Eltern eigentlich in so einem kleinen Häuschen wohnten – immerhin waren sie im Gegensatz zu meiner Mutter doch ziemlich wohlhabend – bevor ich mich erinnerte, dass Anton mal irgendwas davon erzählt hatte, dass dies ursprünglich das Haus seiner Oma gewesen war und somit das Elternhaus seines Vaters, das dieser aus Pietätsgründen weiter bewohnte.

 

Besagte Oma thronte auf einem der Bilder auf einem löwenfußgeschmückten Lehnstuhl, während sich die restliche Familie um sie herum drapiert hatte und in die Kamera lächelte. Ich fand Anton sofort anhand seiner riesigen Brille und wusste nun auch, warum er so klein war. Sein Vater war quasi Antons Ebenbild nur mit grauen Haaren und beginnender Glatze. Kein Wunder, dass er in diesem Haus für Zwerge wohnen mochte. Noch seltsamer war allerdings, dass er sich so eine große Frau gesucht hatte. Sie überragte ihn um mehr als Haupteslänge. Vielleicht, damit wenigstens irgendwer an die oberen Regale herankam.

 

Ein seltsames Paar, dachte ich noch, als mein Blick plötzlich von einem Gesicht auf der anderen Seite des Lehnstuhls angezogen wurde. Es wurde von dunkelblonden Locken umrandet und kam mir unheimlich bekannt vor.

 

„Julius?“

 

Ich ging näher heran, aber es bestand kein Zweifel. Das da war tatsächlich Julius, wenngleich auch deutlich jünger als bei unserem Zusammentreffen vor drei Tagen. Auf dem Bild hatte er noch keinen Ohrring. Was zum Geier machte Julius auf einem Familienfoto von Anton?

 

Damit mich jetzt keiner für blöd hält: Ich kam natürlich selbst drauf, dass sie wohl irgendwie verwandt sein mussten. Nur hatte Anton noch nie was von Julius erzählt. Ich beschloss, dass ich herausfinden musste, warum das so war.

 

Als ich wieder in Antons Zimmer kam, war der immer noch in seine Analysen verstrickt. Ich hoffte, dass er nicht irgendwie in der Lage war, Inkognito-Suchverläufe nachzuvollziehen, und beschäftigte mich noch ein wenig damit, sein Bücherregal in Augenschein zu nehmen. Einiges kannte ich bereits, anderes war mir definitiv zu hoch. Manchmal fragte ich mich wirklich, warum sich Anton eigentlich mit mir abgab. Gut, ich war ziemlich fit in Mathe und den restlichen Naturwissenschaften, was mich wohl so ein kleines bisschen nerdig machte, aber im Grunde genommen spielte ich trotzdem nicht in seiner Liga. Vielleicht war ich so eine Art Ersatz für den Hund, den er aufgrund seiner Allergien nicht haben konnte.

 

Ich wollte gerade mein Handy rausholen, um mir nochmal die Nachricht von Manuel durchzulesen – er hatte für heute Abend tatsächlich zugesagt – als Anton sich plötzlich zurücklehnte und verkündete, er sei fertig.

 

Ich hob erstaunt beide Augenbrauen. „So schnell?“

„Ich hab es doch noch zurücksetzen und dann wieder komplett updaten können. War eigentlich gar nicht so schwer.“

 

Na wenn Anton das sagte …

 

„Danke, Kumpel. Hast was gut bei mir.“

 

Er musterte mich durch seine Brillengläser hindurch, als wäre ich ein interessanter Käfer, von dem er gerade erst entdeckt hatte, dass er seit über einer Stunde erfolglos versuchte, durch die Scheibe nach draußen zu krabbeln. Vielleicht tat ich ihm unrecht, aber manchmal … Na lassen wir das. Ich hatte Wichtigeres zu klären.

 

„Sag mal, der Typ draußen auf dem Foto. Du weißt, das mit deiner Oma in dem protzigen Stuhl.“

„Ihr 80er Geburtstag. Wir haben im Schloss gefeiert.“

 

Natürlich. Wo auch sonst ging man mit Omma hin, wenn die 80 wurde? In Antons Familie auf jeden Fall in „Schloss“, das eigentlich ein Museum war, aber auch für Veranstaltungen gemietet werden konnte. Zu sehr exklusiven Preisen, wie ich gehört hatte.

 

„Ähm ja, also der Kerl da auf der anderen Seite von deiner Oma, der mit den Locken, wer ist denn das?“

Anton schob seine Brille nach oben „Du meinst Julius?“

„Wenn er so heißt.“

 

Okay, ich geb’s ja zu, das war jetzt ein ganz kleines bisschen geflunkert.

 

„Ein Cousin zweiten Grades. Seine Großmutter war die Tante meines Vaters. Er wohnt auch hier in der Stadt.“

 

Ich überlegte kurz, was ich darauf sagen sollte und entschied mich für die halbe Wahrheit.

 

„Ah ja, das erklärt, warum ich ihn letztens in der Fuzo gesehen habe.“

 

Und wie kriegte ich jetzt noch mehr aus Antons heraus? Dass die beiden verwandt waren, wenigstens um ein paar Ecken herum, war jetzt noch nicht so der Burner.

 

„Was macht er denn so? Er sah nicht aus, als würde er noch zur Schule gehen.“

 

Anton legte die Stirn in Falten. „Ich glaube, er macht gerade sein Fachabitur nach, aber genau weiß ich es nicht. Wir haben nicht besonders viel miteinander zu tun.“

„Ach so, ja, verstehe.“

 

Besonders effektiv war Anton heute ja nicht als Informationsquelle.

 

„Wir sehen uns alle Jubeljahre mal auf den Geburtstagen meiner Großmutter. So richtig kennengelernt habe ich ihn eigentlich erst, als seine Mutter mal mit ihm vorbeikam, um meinen Vater um eine Rechtsauskunft wegen des Mobbings zu bitten.“

 

Nun wurde ich doch hellhörig.

 

„Wieso Mobbing?“

„Er hat sich damals an seiner Schule geoutet und wurde danach wohl ziemlich schikaniert. Als mein Vater jedoch meinte, dass die Aussicht auf eine erfolgreiche Klage aufgrund der schwierigen Beweislage recht gering sei, hat er stattdessen die Schule abgebrochen und stattdessen eine Lehre gemacht. Ich glaube, es war als Gärtner.“

 

Na wenn das mal keine Story war.

 

„Er ist also schwul?“, hakte ich vorsichtshalber nochmal nach.

Anton schob wieder seine Brille nach oben. „Das sagte ich doch gerade.“

 

Okay, dann wäre das also geklärt. Ich schielte zu Anton und versuchte herauszufinden, wie er über die Sache dachte. Also über das Schwulsein seines Cousins. Leider war an Antons Gesicht nicht viel abzulesen.

 

Weil noch ein bisschen Zeit war, bis ich abgeholt werden würde, fragte ich Anton, ob er die Hausaufgaben schon gemacht hätte, und für die nächsten zwanzig Minuten befanden wir uns wieder auf sicherem Terrain. Dann kam seine Mutter herein.
 

„Anton, wir essen in fünf Minuten. Benedikt sollte jetzt gehen.“

 

Benedikt, der das gehört hatte, stand brav auf und versicherte, dass er sofort weg wäre. Sie lächelte und verschwand wieder.
 

„Also dann, ich werde mal meinen Kram nehmen und verschwinden.“

„Du kannst auch noch bleiben, bis du abgeholt wirst. Ich sag meiner Mutter einfach, dass ich heute später esse.“

 

Ich blinzelte. Hatte ich mich verhört oder hatte Anton mir gerade angeboten, meinetwegen gegen die Wischnewskyschen Hausregeln zu verstoßen? Wollte er etwa nicht, dass ich ging?
 

„Das ist nett, aber deine Mutter wird doch bestimmt sauer, wenn ich zu lange bleibe. Ihr esst doch pünktlich.“

„Ja, aber deine Mutter ist immer zu spät und es wäre unhöflich, dich einfach vor der Tür stehen zu lassen. Meine Mutter wird das verstehen.“

 

Ich bezweifelte, dass Antons Mutter das tun würde, aber zum Glück fuhr gerade in diesem Moment das kleine, rote Auto meiner Mutter vor. Vielleicht wollte sie sich ja so dafür entschuldigen, dass sie vorhin so spät dran gewesen war.
 

„Mein Taxi ist da“, sagte ich und deutete nach draußen.

„Okay“, sagte er und klang nicht enttäuscht. Er klang einfach nur nach „Information angekommen“. Manchmal hörte ich vielleicht wirklich die Flöhe husten.

 

Anton brachte mich noch zur Tür, wo ich meine Jacke (desinfiziert? imprägniert? chemisch gereinigt?) und Schuhe zurückbekam und beides anzog.

 

„Na gut, wir sehen uns dann am Montag.“, sagte ich und schnappte mir den reparierten Rechner.

„Alles klar, bis dann.“

 

Ich verabschiedete mich noch von Antons Mutter und ging dann zum Auto, wo meine Mutter mir schon die Tür aufhielt. Ich verlud den PC und setzte mich auf den Beifahrersitz. Als meine Mutter nicht losfuhr, sah ich sie an. Sie machte ein fragendes Gesicht.

 

„Und?“

„Was und?“

„Na meine neue Frisur? Wie findest du sie?“

„Oh ja, sieht gut aus. Die wird Herrn Möller gefallen.“

 

Ich weiß nicht, warum ich das sagte, aber meine Mutter wurde doch tatsächlich zuerst blass und dann rot. Und dann fuhr sie ganz schnell los und wäre beinahe über eine rote Ampel gerast. Himmel, da hatte ich aber in ein Wespennest gestochen. Ob meine Mutter vielleicht …? Nein! Soweit ich wusste, war dieser Möller doch verheiratet. Oder etwa nicht?

 

Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln, konnte aber nichts Verdächtigeres feststellen als vorher schon. Stattdessen fing sie an, von Dianas letztem Arzttermin zu erzählen und dass das Baby schon einen Herzschlag habe und wie groß es sei und so weiter und so fort. Ich schaltete irgendwann geistig ab und konzentrierte mich darauf, mein Treffen mit Manuel heute Abend zu planen. Ein ganzer Abend nur mit ihm. Das würde bestimmt toll werden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  SuperCraig
2020-09-08T10:51:16+00:00 08.09.2020 12:51
FRAUEN! *lacht leise* Ja, dieses "Ich komme gleich" kenne ich. Meist, während ich im Auto warte und ungeduldig auf dem Lenkrad herumtrippel.

Also Familie Wischnewsky ist ja sehr eigenartig. Wenn Anton noch mit einem Plastikball die Welt erkunden dürfte, wäre das Bild komplett. Löwenzahntee schmeckt übrigens echt scheiße, zumindest den, den ich mal getrunken habe, glaube ich. Musste das Zeug auch runterwürgen, weil es unhöflich gewesen wäre, es über die Tischplatte zu spucken. Bah.

Hach Anton und der PC. Gefällt mir, sind so Jobs, die auch gerne mache. Weil es meist Kleinigkeiten sind und die Leute damit heillos überfordert. Wunderschöner Lohn, wenn sie sich dann freuen, weil der Krempel wieder geht. Aber ich muss auch sagen, Benedikt muss ja echt Muckis haben - das, oder einen sehr leichten PC. Musste schmunzeln, weil meiner hat genug Gewicht, als dass ich ihn nicht blockweise tragen wollen würde.

Ich bekomme das mit der Info der Toilette noch immer nicht ganz auf die Reihe. Grinse gerade schon wieder.

Also Julius und Anton sind verwandt? Julius hatte Probleme wegen seines Outings? Hört sich ja mal mies an :(. Kinder können so grausam sein. Mein Opa hat immer gesagt: Kinder sind mitunter das Grausamste was es gibt, denn sie wissen nicht, was sie da eigentlich sagen. Zumindest in einem gewissen Alter.

Jetzt bin ich aber neugierig, was im nächsten Kapitel passiert. Hui.

Benedikts Mama und der Möller? Echt? Woah.
Antwort von:  Maginisha
08.09.2020 13:24
Ja, zu spät kommen ist nicht fein. Hier sitzt auch so ein Exemplar an der Tastatur. *hüstel

Benedikt ist zumindest nicht ganz klein und wenn man den PC gut anfassen kann, trägt es sich a auch leichter, als wenn man wie ne Ameise am Elefantenhintern an dem Ding dranklemmt.

Wie genau man Antons und Julius’ Verwandschaftsgrad jetzt bezeichnen würde, weiß ich zwar auch nicht so genau (Großcousin?) aber da besteht auf jeden Fall eine Verbindung. Und was genau da bei Julius abgegangen ist, wirst du auch noch erfahren. ;)


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