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Ich, er und die Liebe

von

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Von weißen Rosen und schmutzigen Kitteln

„Ey, Benedikt, hörst du mir überhaupt zu?“

„Hä?“, machte ich und beantwortete damit auch gleich Mia-Maries Frage.

 

Nein, ich hatte nicht zugehört. Ich hatte den ganzen Tag schon nicht zugehört. Ein kompletter Fünf-Stunden-Schultag war irgendwie an mir vorbeigerauscht, ohne dass ich nennenswert etwas davon mitbekommen hatte. In Physik hatte ich mich sogar ganz entgegen meiner Gewohnheit, irgendwo im unauffälligen Mittelfeld zu spielen, in die letzte Reihe verzogen, obwohl ich dort neben Oliver saß, den unser Physiklehrer, Herr Wittke, schon aufgegeben und deswegen an den Rand verbannt hatte, damit er nicht störte. Dort hatte ich gesessen und mir, statt mir irgendwas über harmonische und disharmonische Schwingungen anzuhören, Gedanken über Schwingungen ganz anderer Art gemacht. Zum Beispiel über die zwischen mir und Manuel.

 

Woher zum Henker hatte der Typ gewusst, dass ich schwul war? Immerhin fragte man nicht einfach mal irgendeinen fremden Kerl, ob man ihm einen blasen konnte. Da gab es bestimmt genug, die das nicht mit einem netten „Nein, danke“ sondern vielmehr mit einem Schlag in die Fresse beantwortet hätten. Hörte man ja immer wieder. Irgendwelche Freaks, die zum „Schwulen klatschen“ loszogen und Leute vermöbelten, deren Lebens- und Liebensweise sie nicht verstanden. Ich glaubte zwar nicht, dass in unserer Gegend eine große Szene solcher Pappnasen vorhanden war, aber wenn man einen Kerl so direkt anging, durfte man in den meisten Fällen wohl eher mit einem Klatschen rechnen, das wenig mit Applaus zu tun hatte. Manuel jedoch schien sich seiner Sache ganz sicher gewesen zu sein und ich hatte keinen Schimmer warum. Vielleicht sendete ich tatsächlich irgendwelche „Wellen“ aus, von denen ich nichts wusste und für die er ein unfehlbares Messgerät hatte. Wenn ja, war ich wohl echt am Arsch.

 

Diese ganze Überlegerei hatte dazu geführt, dass ich mich in Französisch ganz unbedacht neben Mia-Marie gesetzt hatte und jetzt hatte ich den Salat. Sie hatte mich für die unerwartete Freistunde in der sechsten zur Projektarbeit verhaftet. Wobei die ausgefallene Stunde eigentlich nicht wirklich unerwartet kam. Frau Phillips, unsere Musiklehrerin, war ein ziemlich zartes Pflänzchen, wie man so schön sagte, weswegen ihre Stunden mit schönster Regelmäßigkeit ausfielen. Das war am Montag ja noch ganz praktisch, weil man da eher nach Hause gehen konnte, aber donnerstags hatten wir am Nachtmittag noch eine Doppelstunde Chemie und mussten deswegen die Zeit bis dahin totschlagen. Damit hatte Mia-Marie mich an den Eiern gehabt und ich saß jetzt mit ihr an einem der Tische in der Pausenhalle und besprach unser Projekt. Das hieß, eigentlich besprach Mia-Marie und ich hörte zu. Mehr oder weniger.

 

„Man, Benedikt, nun reiß dich mal zusammen. Du stehst doch in Geschichte auch nicht gerade gut da. Das hier könnte deine Note echt rausreißen.“

„Ich will aber nicht über irgendwelche blöden Blumen referieren“, murrte ich und ließ den Kopf auf den Tisch fallen.

„Du hast so gar keine Ahnung, oder?“, wollte sie wissen und lachte plötzlich.

 

Ich schielte von meiner Tischplatte aus hoch und sah, wie sich ihr breites Gesicht fröhlich verzog. Wenn ich es mir so recht überlegte, lachte Mia-Marie eigentlich ziemlich viel. Es war mir ein absolutes Rätsel, wie sie das anstellte. Außerdem hatte sie neben einem freundlichen Gesicht mit vielen Grübchen echt tolle Haare. Keine Ahnung, warum mir das ausgerechnet jetzt auffiel. Die waren ganz lang und dunkel und glänzten im einfallenden Sonnenlicht wie in einer Shampoo-Werbung. Außerdem hatte sie braune Augen. Genau wie dieser Manuel. Mist!

 

'Die weiße Rose' war eine studentische Widerstandsgruppe im Dritten Reich. Die bekanntesten Mitglieder waren die Geschwister Hans und Sophie Scholl. Von denen wirst du doch schon mal gehört haben, oder?“

 

Komischerweise hatte ich das. Vermutlich, weil man nach den beiden irgendwelche Straßen und Schulen benannt hatte. Vielleicht sollten sie nach solchen Leuten mal Burger bei McDonald’s benennen. So mit entsprechenden Kurztexten auf dem Burgerpapier. Das würde die Allgemeinbildung der Bevölkerung bestimmt ungeheuer erhöhen.

 

„Und was haben die so gemacht?“, fragte ich halb interessiert, weil Mia-Marie das Thema echt zu begeistern schien.

„Sie haben zum Beispiel Flugblätter verteilt, mit denen sie die Menschen auf die Ungerechtigkeiten aufmerksam machen wollten, die Hitler angeordnet hatte. Sie konnte die Ausgrenzung von ganzen Gruppen von Leuten, die anders sind, einfach nicht weiter mit ansehen, und wollten, dass die Leute aufwachen. Sie sollten nicht länger einfach hinnehmen, was ihren Mitmenschen widerfuhr, sondern sich dagegen wehren. Ich finde das total bewundernswert.“

 

Ich auch. Musste ich ja neidlos zugeben. Wenn ich damals gelebt hätte, hätte ich vermutlich auch einfach mitgemacht. Kopf einziehen, Maul halten und nicht auffallen. Klassischer Mitläufer.

 

„Darf ich dich mal was fragen?“

 

Die Frage schreckte mich aus meiner nicht eben schmeichelhaften Selbstbetrachtung auf. Ich sah nach oben und somit Mia-Marie direkt in die Augen. Das war mir irgendwie unangenehm, deswegen guckte ich schnell wieder weg.
 

„Warum hast du mit Oliver getauscht?“

„Äh …“

 

Okay, das war jetzt nicht sehr eloquent. Aber woher wusste sie das?
 

„Woher weißt du das?“

„Er hat’s mir gesagt. Hat gemeint, dass du ganz heiß drauf warst, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich wollte einfach wissen, ob er Mist erzählt hat oder ob da was dran ist.“

 

Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie ein bisschen rot geworden war. Kacke! Wieso hatte Oliver ihr das denn erzählt? War der irre? Jetzt hatte sie bestimmt einen total falschen Eindruck von der ganzen Aktion. Aber ich konnte ihr ja nun auch schlecht sagen, dass ich nur mit Oliver getauscht hatte, weil ich Schiss hatte, dass T mitbekam, dass ich auf ihn stand, und deswegen den Schwanz eingezogen hatte.
 

„Er hat über dich rumgelabert, da kam mir die Idee, mit ihm zu tauschen.“

 

Das war jetzt nicht vollkommen gelogen. Immerhin war mir die Idee ja erst nach Olivers blödem Spruch gekommen. Ein Hoch auf Halbwahrheiten.

 

Mia-Marie sah mich prüfend an. Sie war immer noch ein bisschen rot um die Nase, aber es wurde langsam besser. „Was hat er denn gesagt?“

„Na was Gemeines halt. Ist doch nicht so wichtig.“

„War es wegen meiner Figur?“

 

Ich druckste noch ein bisschen rum, bevor ich es zugab. Das Thema war mir peinlich.

Mia-Marie hingegen schien nicht überrascht.

 

„Oliver ist ein blöder Sack“, sagte sie.

„Stimmt. Aber ich glaube, er hat einfach Probleme zu verstehen, wie zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren. Wahrscheinlich haben seine Eltern vergessen ihm zu erklären, dass man andere Kinder nicht mit dem Schäufelchen auf den Kopf hauen darf. Deswegen verhält er sich wie ein Arsch, weil er nicht weiß, wie er anders mit seiner Umwelt kommunizieren soll.“

 

Hatte ich das gerade tatsächlich gesagt? Ich hing definitiv zu viel mit Anton ab.

 

Mia-Marie sah mich mit großen Augen an. „Du verteidigst ihn noch? Dabei hast du doch am meisten unter ihm zu leiden.“

 

Das stimmte schon. Da ich neben Oliver saß, bekam ich den größten Teil seines Sackgesicht-Verhaltens ab. Er benutzte meine Stifte, ohne mich zu fragen, versteckte meine Schultasche, rempelte mich an und vor allem bekam ich ständig seine Blödheit aus absoluter Nähe mit. Allerdings wusste ich inzwischen auch, wie ich ihn zu nehmen hatte. Meistens. Auf so Sachen wie „Wenn du nochmal mein Radiergummi anfasst, ramme ich dir den frisch gespitzten Bleistift in die Handfläche“ reagierte er ganz gut, nachdem er mitbekommen hatte, dass ich das auch tatsächlich so meinte, wie ich es sagte. In der Zeit, bis die Mine wieder rausgewachsen war, hatte er mir gegenüber nicht einen dummen Spruch gebracht. Und er hatte mich nicht verpetzt, was ich ihm ziemlich hoch anrechnete. Für Oliver-Verhältnisse.
 

„Na ja, ich hab heute meinen großzügigen Tag. Einmal dumm kommen darf mir heute jeder mal.“

 

Ich grinste und Mia-Marie schüttelte nur den Kopf
 

„Du bist komisch.“

„Haha-komisch oder Halten-Sie-mal-das-Salz-ich-glaube-mein-Aquarium-klingelt-gerade-komisch?“, wollte ich wissen und grinste noch ein bisschen mehr.

 

Den Insider verstand sie vermutlich nicht, aber gut geklaut ist schließlich besser als schlecht selber gemacht. Ich konnte mir solchen Scheiß einfach unglaublich gut merken. Besser als Geschichte allemal.

 

Jetzt lachte sie wirklich. „Beides.“

 

Entschlossen klappte Mia-Marie das Buch zu und ich verzeichnete das als Sieg auf der ganzen Linie. Ich hatte ein peinliches Gespräch überstanden und musste nicht mehr weiter Geschichte lernen. Juhu!
 

„Isst du in der Kantine?“, fragte sie und stand auf. Vermutlich um in eben jene Kantine zu gehen. „Da gibt’s heute Pizza.“

Pizza klang verlockend, aber ich war leider versorgt. „Nee, hab ein Brot mit. Leberwurst. Ist auch nur ein ganz kleines bisschen zermatscht, weil ich vorhin versehentlich mal draufgesessen hab.“

Wieder lachte Mia-Marie. „Du bist vielleicht ein Vogel. Aber gut, dann ess ich eben ohne dich Pizza. Man sieht sich.“

 

Sie winkte mir zu und trollte sich in Richtung unserer kleinen Schulcafeteria. Die zwei Damen, die da arbeiteten, machten sich echt total viel Mühe. Ständig gab es irgendwelche besonderen Sachen wie getoastete Sandwiches oder Waffeln oder so was in der zweiten großen Pause zu kaufen. Die langen Schlangen, die da immer standen, sprachen für sich. Einige schlichen sich sogar früher aus dem Unterricht, damit sie auch wirklich was abbekamen. Ich ging allerdings nur sehr selten da hin, um mir was zu holen, denn erstens hasste ich Anstellen und zweitens hatte ich ja meine Brote.

 

 

Nach der Mittagspause trudelten wir alle nach und nach vor den Chemieräumen ein. Zum Glück konnte man den Flur inzwischen wieder betreten. Vor ein paar Wochen hatte einer der Oberstufler aus Versehen mit Buttersäure rumgekleckert, irgendeiner seiner Mitschüler war reingetreten und hatte den Geruch nach frischer Kotze so in den Flur getragen, wo er langsam am Lehrerzimmer vorbei in Richtung Sekretariat weitergewabert war. Irgendwann hatten sich dann auch die letzten Reste verflüchtigt, aber bis dahin war das Gebiet größtenteils Sperrzone gewesen. Das hatte echt abartig gestunken.

 

Ich ließ mich auf dem pieksigen Nadelfilz nieder, der in den neueren Gebäudeteilen überall auf dem Fußboden lag, und stupste Anton an. Der war über Mittag nach Hause gegangen, weil er in der Nähe wohnte und seine Mutter es besser fand, wenn er mittags zu Hause aß. Wahrscheinlich damit sie ihm heimlich ein Aspirin ins Essen schmuggeln und mal eben Fieber messen konnte. Nur so für alle Fälle.
 

„Na, was gab’s heute?“

„Willst du das wirklich wissen?“, fragte er zurück. Typisch Anton.

„Nein, ich wollte nur höflich sein.“

„Brauchst du nicht. Es gab Spargel.“

 

Bäh. Mit dem Zeug konnte man mich ja jagen. Meine Mutter war nicht böse darüber und verputzte diese ekligen Stänglein mit Genuss auch allein, wenn sie denn mal welchen kaufte. So zu Ostern zum Beispiel, wenn es mal was Besonderes sein sollte. Bei Anton zu Hause spielte Geld aber wohl nicht so die Rolle. Sein Vater war Anwalt und verdiente damit so viel, dass seine Mutter zu Hause bleiben konnte, um sich um Heim und Garten zu kümmern. Und statt sich wie alle anderen gelangweilten Hausfrauen ein Hobby zu suchen, hatte sie Anton.

 

Herr Wilkens, unser Chemie-, Bio- und Klassenlehrer erschien auf der Bildfläche und scheuchte uns wie einen Haufen entlaufener Hühner in den Raum. Ich musste mir, wie immer, meinen Stuhl noch runterstellen, da vor mir regelmäßig irgendein Zwerg darauf zu sitzen schien, der das Ding immer bis zum Anschlag hochschraubte, sodass ich meine Beine nicht unter den Tisch bekam. Ich war also noch am Rumdrehen, als Herr Wilkens bereits zur Ruhe rief.
 

„So, ihr Schluffis, jetzt mal ein bisschen zügig. Wir haben heute einiges vor. Benedikt, setz dich endlich. Corinna möchte heute noch was anderes zu sehen bekommen als deinen Hintern.“

 

Ich hörte einiges Gekicher, während ich mich auf meinen immer noch zu hoch eingestellten Stuhl pflanzte. Mir wurde leicht warm. Man, was konnte ich denn dafür, dass der andere Kerl oder die Kerlin so klein war? Vielleicht sollte ich das nächste Mal einfach mit Anton die Stühle tauschen. Er musste seinen nämlich immer hoch drehen. Warum waren wir da nicht schon früher drauf gekommen?

 

Ich wollte Anton gerade meinen genialen Plan mitteilen, als Herr Wilkens schon wieder das Wort an sich riss. Der hatte heute aber anscheinend wieder mal das gute Zeug zum Mittagessen erwischt. Im ersten Halbjahr hatte er uns regelmäßig vollgenölt, weil, wer auch immer den Stundenplan schrieb, ihn offenbar hasste und ihn dazu verdonnert hatte, gleich zwei zehnte Klassen am gleichen Tag im gleichen Fach zu unterrichten. Er musste somit den gleichen Mist einmal in den ersten beiden und dann noch mal in den letzten Stunden eines jeden Donnerstags vorführen und zwar so lange, bis die andere Klasse es endlich geschafft hatte, uns zu überholen, sodass ihm jetzt immer eine ganze Woche Zeit blieb, bevor er den Stoff nochmal wiederkäuen durfte. Das hatte seine Laune erheblich gebessert. Außerdem hatte er sich in den Weihnachtsferien den Bart abrasiert und kam neuerdings mit dem Fahrrad zu Schule, wie ich seit meinen Auflauerungs-Versuchen für T wusste. Ich vermutete ja mal ganz stark eine Midlife-Crisis, aber Anton meinte, dafür wäre er noch zu jung.

 

„Also dann, Lauscher auf! Bevor wir mit dem Unterricht anfangen, werden wir noch aussuchen, wo dieses Jahr unsere Klassenfahrt hingeht. Ihr habt die Wahl zwischen Paddeln auf der Altmühl oder Fahrradfahren in Dänemark. Wir stimmen per Handzeichen ab.“

 

Sofort schoss Sandras Hand in die Höhe. Dabei hatte die Abstimmung noch nicht mal angefangen.

 

„Herr Wilkens, ich bin dafür, dass wir eine geheime Wahl machen. Ich würde auch die Stimmzettel anfertigen.“

 

Ben stieg natürlich sofort darauf ein.

 

„Das ist doch Papierverschwendung“, rief er dazwischen, ohne sich zu melden. „Außerdem dauert das viel zu lange.“

„Das denke ich auch“, gab Herr Wilkens Ben recht und der grinste daraufhin Sandra breit an, während die ein Gesicht zog, als hätte sie noch was von der Buttersäure erschnüffelt.
 

„Also los jetzt, mal ein bisschen dalli. Wer ist für Kanu?“

 

Ich wusste nicht so recht, für was ich stimmen sollte. Mir war es eigentlich egal, ich stellt mir beides so semilustig vor. Beides würde Zelten und sportliche Aktivitäten beinhalten, also was soll’s?

 

Unauffällig versuchte ich mich nach T umzusehen. Er saß ganz außen auf der anderen Seite des Klassenraums und hatte die Hand unten. War ja eigentlich klar. So ein Radfreak wie er würde bestimmt lieber damit unterwegs sein. Obwohl die Vorstellung von T in Badehose auch was hatte. Aber vielleicht war es ja in Dänemark zu der Zeit auch schon warm genug zum Baden.

 

„Okay, jetzt Hände hoch für Dänemark.“

 

Ich hob gehorsam meine Hand und schielte noch mal zu T, ob er auch sah, dass ich ihn in seinem Wunsch unterstützte. Mir wäre allerdings fast alles aus dem Gesicht gefallen, als ich merkte, dass er mich tatsächlich ansah. Schnell ruckte mein Kopf wieder nach vorne und ich war froh, dass Herr Wilkens so fleißig die Stimmen auszählte und mich somit nicht fragen konnte, warum ich so rot geworden war.

 

„Gut, das wäre eindeutig. Wir fahren nach Dänemark. Jetzt holt euch die Kittel aus dem Schrank, wir machen heute einen Versuch.“

 

Großes Gejohle und Gewühl war die Folge.
 

Während ich wartete, dass sich das Knäuel vor dem Kittelschrank auflöste, hatte ich auf einmal das Gefühl, dass sich jemand genau neben mich stellte. Ein Blick nach links bestätigte mir diese Vermutung. Mit meinen Spinnensinnen war somit alles in Ordnung. Zu dumm nur, dass diese bei der Erkenntnis, wer genau da gerade neben mir stand, total durchdrehten. Es war T. Scheiße!

 

Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte, mein Herz und meine Knie unter Kontrolle zu bekommen. Jetzt bloß nicht durchdrehen, keine Panikattacke kriegen und schon gar nicht dem total bekloppten Wunsch nachgeben, noch ein Stückchen näher ranzurücken und ihn etwa zu berühren. So ganz zufällig mit der Hand gegen seine Hand kommen oder so. Allein die Vorstellung ließ eine Riesengänsehaut meine Arme raufmarschieren. Ich bildete mir sogar ein, ihn zwischen all dem Muff der völlig versifften Chemiekittel riechen zu können. Er roch nach frischer Luft, grünem Gras und sonnengeküsster Haut.

 

21 … 22 …

 

Okay, jetzt war es amtlich. Ich hatte den totalen Sockenschuss und zog in Gedanken total schwule Kitschromanvergleiche, wenn es um T ging. Das war definitiv nicht normal und musste sofort aufhören.

 

Möglichst unauffällig rutschte ich ein Stück von ihm weg, bevor ich doch noch etwas Dummes tat, und griff mir einen der letzten, verbliebenen Kittel. Als ich mich umdrehte, stand T direkt vor mir.

 

„Oh, ist der für mich?“, fragte er doch glatt und grinste mich an.

 

Mit dem Lächeln hätte er alles von mir verlangen können. Sogar mein höchstgeheimes Notsparbuch und meinen alten Lieblingsteddy, den ich natürlich überhaupt fast gar nie mehr mit ins Bett nahm. Aber das wollte er alles gar nicht. Nur einen schäbigen Laborkittel verlangte er von mir, auf den noch dazu jemand hinten einen Pimmel draufgemalt hatte. WTF?

 

„Hol dir gefälligst selber einen“, knurrte ich jedoch und stampfte mitsamt meinem Kittel nebst Pimmelbild an ihm vorbei. Hatte ich das jetzt gerade gemacht, um ihn vor der Schmach zu bewahren, mit dem Ding rumzulaufen? Oder war das so eine dumme Übersprungshandlung gewesen, in der ich mal wieder genau das Gegenteil von dem tat, was ich eigentlich wollte, wenn es um T ging. Ich wusste es nicht, ich verstand es nicht und ich hatte auch keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, weil Oliver in diesem Moment „Penis!“ quer durch die Klasse schrie und auf mich zeigte. Und natürlich drehten sich alle zu mir um und brachen in schallendes Gelächter aus. Am lautesten lachte Jo, der T dabei immer wieder in die Seite stieß.

 

„Ihr könnte mich alle mal“, murmelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart und machte mich daran, diese Säure-Basen-Experiment aufzubauen, dass Herr Wilkens vorne an die Tafel gemalt hatte. Anton half mir dabei und schien gar nicht mitbekommen zu haben, worum es eigentlich ging. Manchmal mochte ich meinen Nerd-Freund wirklich gerne.

 

 

Nach der Chemiestunde, die natürlich noch jede Menge Theorie darüber beinhaltet hatte, warum und weshalb Oliver nun eigentlich sein Reagenzglas um die Ohren geflogen war, machte ich, dass ich in den Fahrradkeller kam. Ich wollte meinen fahrbaren Untersatz endlich wieder zu Hause haben und außerdem fuhr nach der achten Stunde der Bus eh so blöd, dass ich mit dem Rad allemal schneller zu Hause war.

 

Ich fummelte gerade an meinem Schloss herum, als ich zwei Leute den Gang zum Keller herunterkommen hörte. Ich spitzte die Ohren und erkannte sie beide. Eine der Stimmen gehörte unserem Klassenlehrer und die andere … T! Mist. Ich musste echt hier weg.

 

Mit geradezu grober Gewalt rupfte ich das Zahlenschloss endlich auseinander und wollte mein Rad schon aus dem Ständer zerren, als es sich ausgerechnet jetzt im Nebenrad verkeilte. Ernsthaft? Ich rüttelte und machte, aber die Schutzbleche hingen irgendwie aneinander fest und als ich sie endlich voneinander gelöst hatte, sah ich Herrn Wilkens schon zum Keller rausfahren.

 

Ich schluckte und meine Gedanken überschlugen sich. T war bestimmt schon weg. Ganz bestimmt war er das. Er musste schließlich in eine ganz andere Richtung als Herr Wilkens. In meine nämlich.

 

Ich dreh durch. Los, sei einfach nicht mehr da, wenn ich jetzt losfahren will. Sei weg. Bitte!

 

Ich drehte mich um und er war nicht weg. Im Gegenteil. Er hatte sein Rad in der Hand und kam langsam auf mich zugeschoben. Was denn jetzt noch?

 

„Benedikt?“

 

Oh man, diese Stimme. Wie plüschigster Samt schlängelte sie sich in mein Ohr und ließ die kleinen Haare in meinem Nacken hochstehen. Das war ein krasses Gefühl. Wenn ich jetzt irgendwas aus Metall anfasste, kriegte ich bestimmt einen Schlag. Das war garantiert nicht gesund. Ich sollte damit mal zum Arzt gehen. „Herr Doktor, ich bin zu schwul. Können Sie mir da irgendwas verschreiben?“

 

„Ich wollte dich nur eben was fragen.“

 

Nein, sorry, tut mir leid. Die Fragestunde hat heute wegen akuter Unzurechnungsfähigkeit geschlossen. Wenn ich jetzt den Mund öffnete, kam nämlich garantiert nur „Blupp“ oder so raus. Dicht gefolgt von „Willst du mich heiraten?“ Ich war mir nicht ganz sicher, was davon schlimmer gewesen wäre.

 

„Oliver hat erzählt, dass du mit ihm bei der Auslosung in Geschichte die Zettel getauscht hast. Stimmt das?“

 

Man, wem hatte der Spacko das denn noch alles gesteckt? Wollte er vielleicht ne Anzeige in der Zeitung aufgeben oder ne Plakatwand mieten? Wenn Sandra davon Wind bekam, würde sie bestimmt eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen oder so.
 

„Ja, das stimmt.“

 

T nickte bloß. Er wollte sich gerade umdrehen, als er doch nochmal stehenblieb, mich genau ansah und fragte: „Und warum?“

 

Öhm. Hatte ich was mit den Ohren oder klang T gerade irgendwie ein bisschen ärgerlich? Konnte ja nicht sein. Wobei … wahrscheinlich passte das einfach nicht in sein Weltbild. Normal mussten sich doch alle nach ihm die Finger lecken und ne Freudenparty schmeißen, wenn sie ihn als Partner bekamen. Wobei er natürlich nicht wissen konnte, dass ich das tatsächlich fast getan hätte, bevor ich ihn weiterverschenkt hatte. Allerdings enthob mich diese Tatsache nun nicht des Problems, dass T immer noch vor mir stand und eine Antwort erwartete. Also tat ich das Einzige, was mir einfiel. Ich erzählte ihm die gleiche Geschichte wie Mia-Marie.

 

„Er hat so dumme Sprüche über Mia-Marie gemacht, da dachte ich mir, ich tausche mal lieber mit ihm. Die beiden zusammen, das wäre voll fürchterlich geworden.“

 

Okay, das war jetzt ein bisschen mehr als das, was ich Mia-Marie erzählt hatte. T stand da und verarbeitete die Info anscheinend noch, als ich anfügte:
 

„Tut mir leid, dass du jetzt Oliver deswegen an der Backe hast.“

 

Er hob den Blick – Hilfe, mein Herz! – und sagte dann bloß: „Ist okay. Ich komm klar.“

 

T wendete sein Rad, stieg auf und wollte gerade losfahren, als er sich nochmal umdrehte.
 

„Hey, Benedikt?“

„Ja?“

„Hast du gut gemacht.“

 

Das gab er noch mal eben so von sich, bevor er sich auf sein Rad schwang und mit Leichtigkeit die Steigung rauffuhr, auf der ich meinen Drahtesel lieber schob, um nicht gleich nach zehn Metern aus der Puste zu sein.

 

Ich glotzte ihm hinterher – ja auch wegen des Hinterns – und versuchte, meine eigenen Beine ebenfalls in Bewegung zu setzen. Leider war das vollkommen unmöglich, weil die gerade zu Pudding geworden waren und meine Hände so stark zitterten, dass meine Fahrradklingel leise im Takt dazu schepperte. Ich musste wohl wirklich dringend mal zum Arzt. Dieses Verliebtsein war definitiv nicht gut für meine Gesundheit.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  chaos-kao
2021-02-02T10:06:44+00:00 02.02.2021 11:06
Tse, wie kann man Dänemark der Altmühl vorziehen? :D Dabei ist die Altmühl seit der Renaturierung wirklich ganz schön geworden. Es ist schön beim Lesen mal wieder so viel zum Schmunzeln zu haben wie hier! :)
Antwort von:  Maginisha
02.02.2021 14:14
Ich fand beides ja anstrengend. ;D


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