Ich, er und die Liebe von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: Von blutigen Nasen und bösen Schmetterlingen ------------------------------------------------------- So, nun könnte es eigentlich mit der Action losgehen, tut es aber noch nicht. Ich möchte nämlich erst mal noch ein paar Dinge klarstellen. Erstens: Mein Name ist Benedikt Dorn. Zweitens bin ich, wie der Name vermuten lässt, kein Mädchen. Und drittens: Ich bin schwul. Nachdem das jetzt geklärt wäre, gibt’s noch irgendwelche Fragen? Wie ich aussehe? Na, da gibt es wirklich Interessanteres zu erzählen. Stellt euch einfach irgendwas mittelmäßiges vor. So jemand wie euren Cousin zweiten Grades, den ihr alle Jubeljahre mal bei Tante Annas Geburtstag trefft und immer schon ein bisschen langweilig fandet, weil der irgendwie nie ein Wort sagt und bestimmt voll öde Hobbys hat wie Aquarienfische züchten und Schlangen aus Büroklammern basteln oder so was in der Art. So einer bin ich. Noch was? Wer Theodor ist? Hab ich doch schon erzählt. Der Kerl, in den die halbe Schule inklusive mir verknallt ist. Groß, schlank, sportlich, so ein Surfertyp. Ihr wisst schon. Immer leicht gebräunt, dunkelblonde Haare, die im Sommer so helle Strähnchen kriegen, mit irgendeinem total männlich coolen Anhänger an einem Lederbändchen um den Hals und einem Hintern zum Niederknien. Nein wirklich, ich kann das beurteilen. Ich starre den nämlich gerade an, während wir Mannschaften für das anstehende Völkerballspiel auswählen. Dieser Vorfall mit der Brille ist jetzt ungefähr zwei Wochen her und ich bin in Theodors – oder wie Jo ihn nennt „T“, ausgesprochen „Ti“ wie das englische T – Mannschaft, was mir ermöglicht, unauffällig einen halben Meter hinter ihm zu stehen und ihm auf den Arsch zu glotzen. Und man, das ist wirklich ein verdammtes Prachtstück. Eigentlich kann man das in den weiten, halblangen Shorts gar nicht so gut erkennen. Ich weiß trotzdem genau, wie er aussieht, weil T nämlich die Angewohnheit hat, mit dem Fahrrad zur Schule zu kommen. Das ist so ein Rennradteil, auf dem man fast liegt und dementsprechend präsentiert er, wenn er mit dem Ding angefahren kommt, sein schönstes Körperteil so richtig einladend für alle anwesenden Schwulen, die dabei einen halben Herzkasper kriegen. Nein, natürlich habe ich ihm nicht aufgelauert, um das abzuchecken. Dazu hätte ich mich ja, statt bequem mit dem Bus zu fahren wie sonst auch, mit meinem klapprigen Drahtesel zur Schule quälen müssen, um ihn dort im Fahrradkeller abzupassen, und das wäre ja nun wirklich etwas viel des Guten, oder? Mein Schwarm wäre also abgefrühstückt, dann starre ich jetzt noch ein bisschen und ihr … Ihr wollt wissen, wie ich gemerkt habe, dass ich schwul bin? Euch ist schon klar, dass das ne total behämmerte Frage ist, oder? Seit wann wisst ihr denn, dass ihr es seid? Oder seid ihr hetero? Wann habt ihrdas denn bitte gemerkt? Na seht ihr, sag ich doch. Blöde Frage. Aber weil ich mich grad ein bisschen ablenken muss, damit ich nicht auch noch anfange zu sabbern, erzähl ich euch halt, was ihr in den letzten 16 Jahren meines Lebens verpasst habt. Alles begann damit, dass ich geboren wurde … Okay, ist jetzt nicht so der innovative Anfang, das muss ich zugeben. Wir spulen also ein bisschen vor und gucken uns mal an, ob es nicht irgendwelche ominösen „Anzeichen“ dafür gab, dass ich vielleicht ein bisschen anders ticke als die Jungs, die in der Pause mit ihren Freundinnen rumknutschen und hinter deren Rücken erzählen, sie hätten ihnen schon an die Brüste oder woanders hingefasst oder „es“ sogar schon getan. (Ich sage euch, die Hälfte von denen lügt. Hoffe ich zumindest.) Rückblickend gesehen gab es vielleicht tatsächlich den einen oder anderen Hinweis, aber ich gestehe, ich hab's erst ziemlich spät wirklich kapiert. Ich meine, ich hatte noch nie ein Faible für Lidschatten und Glitzer, hab keine hübschen Blumenbeete angelegt, wenn ich nicht gerade zur Gartenarbeit verdonnert wurde, und auch nie Kleider getragen bis auf dieses eine Mal beim Fasching. Da hatte sich meine Mutter beim Bestellen des Faschingskostüms vertan und statt des erwarteten Dinoanzugs waren in dem Paket ein rosa Tutu und Schmetterlingsflügel. Zum Umtauschen war natürlich keine Zeit mehr und ich am Boden zerstört. Meine große Schwester hat mir dann einfach mit Kajal eine gruselige Maske ins Gesicht gepinselt und gesagt, ich wäre jetzt ein supergiftiger Terrorfalter. Fand ich so lange gut, bis die anderen im Kindergarten mich ausgelacht haben, sodass ich dem Rädelsführer meinen „Regenbogenzauberstab of Doom“ über den Schädel gezogen und mich danach unterm Klettergerüst versteckt habe, bis es Zeit zum Abholen war. Nicht gerade eine meiner Sternstunden. Als nächstes hätte man vielleicht auffällig finden können, wie sehr ich mich immer an die Freunde meiner großen Schwester rangeschmissen habe. Die ist gute acht Jahre älter als ich und hat dementsprechend, als ich in die Pubertät kam, schon mal den einen oder anderen heißen Typ mit nach Hause gebracht. Und natürlich hatte ich als nerviger, kleiner Bruder nichts Besseres zu tun, als sie bei ihren Dates zu stören. Da war zum Beispiel Maik. Maik war Biker und sooo cool. Als er mich eingeladen hat, mal eine Runde auf seinem Bock mitzufahren, hab ich natürlich nicht nein gesagt. Leder, Benzin, Männerschweiß und ne schwere Maschine zwischen den Beinen, das ist doch nun wirklich nichts, was einen Jungen nicht anmachen darf. Ich war total aufgeregt und hab mich wie blöd an ihm festgeklammert, damit ich nicht runterfalle. Ist ja ganz normal, oder? Meine Schwester war zwar nicht begeistert, aber unsere Mutter hat was von „fehlender, männlicher Identifikationsfigur“ gefaselt und gemeint, sie solle es mir doch gönnen. Also hat Diana sich ein bisschen zurückgehalten – vielleicht auch, weil unsere Mutter gesagt hat, dass sie sonst am Wochenende das Auto nicht kriegt – und ich schwebte im siebten Pubertätshimmel, weil ich die offizielle Erlaubnis hatte, den Objekten meiner Begierde auf den Pelz zu rücken. Gut, es war nicht immer alles prima. Wenn wir zum Beispiel mit ihren Freunden zum Baden gegangen sind, hab ich ziemlich oft warten müssen, bis die zwei im Wasser verschwunden waren, damit keiner was von meinem mehr als offensichtlichen Problem mitbekam. Ich hab mir dann irgendwann ne weitere Badehose gekauft, seitdem ging’s, aber vorher: Hölle! Die wirkliche Offenbarung über meinen „Zustand“ hatte ich aber dank Enid Blyton. Neeeeiiin, nicht was ihr jetzt denkt. Ich habe nicht „Hanni und Nanni“ gelesen und wäre am liebsten bei diesen supergeheimen Mitternachtspartys dabei gewesen, um mit meinen Freundinnen um die Wette zu kichern, während ich mich mit Dosenpfirsichen vollstopfe. (Ja gut, das eine oder andere Band hab ich vielleicht doch gelesen, als mir mal in den Sommerferien echt langweilig und die Bücherei geschlossen war und ich somit nur noch Dianas alte Kinderbücher oder die Tageszeitung zur Auswahl hatte. Aber ich fand diesen Mädchenkram wirklich ganz furchtbar!) Eigentlich stand ich jedoch eher auf die „Fünf Freunde“ und zwar besonders auf Richard, mit dem ich mich total identifizieren konnte. Und genau wie er wollte ich nach dem Konsum des ersten Bandes nur noch „Dick“ genannt werden, weil ich meinen richtigen Namen sowieso mal total peinlich fand und immer noch finde. So heißt doch kein Schwein! „Der Gesegnete“. Am Arsch! So kann man Päpste nennen, aber doch keine unschuldigen Neugeborenen, die sich dagegen nicht wehren können. Leider war meine Mutter bei der Namenssuche auf dem Trip, dass ihr Sohn was Besonderes haben müsse. Sie ist nämlich Standesbeamtin und somit auch zuständig für Pässe, Geburtsanmeldungen und all solchen Kram. Dementsprechend hatte sie schon viele, viele ganz furchtbare und vor allem doppelt vergebene Namen zu Gesicht bekommen. Allein in unserer Jahrgangsstufe gibt es zwei Lukasse, drei Leons und sage und schreibe vier Mias. Zum Glück verteilen die sich einigermaßen gleichmäßig auf die drei Klassen und die Mias haben fast alle noch einen Zweitnamen, sodass wir nun bei uns in der Klasse nur noch mit Mia-Sophie und Mia-Marie zu kämpfen haben. Aber zurück zu meinem Namensproblem. Dank der lieben Enid wurde also aus dem „blöden Benedikt“ der „coole Dick“, was aber nur ungefähr so lange wirklich cool war, bis mich die zunehmenden Englischkenntnisse meiner Mitschüler und Social Media einholten. Ich sehe, dass ihr grinst, und ihr habt recht mit eurer Vermutung. Irgendwann tauchte auf irgendeinem Handy eines dieser „Dick pics“ auf und natürlich bekam ich das mit dem Vermerk „Guck mal, ein Foto von dir“ weitergeleitet. Nur dass ich im Gegensatz zu allen anderen darauf nicht mit hysterischem Gekreisch und „Ieh, wie schwul“-Rufen reagierte. Also natürlich habe ich gesagt, dass sie mich mit der Scheiße in Ruhe lassen sollen, aber … ähm … na ja. Ich fand das Bild gar nicht mal so schlecht. Das Schlimmste war jedoch, dass dann tatsächlich der eine oder andere angefangen hat, selbst solche Bilder zu machen und rumzuschicken. Ob nun wirklich von seinem eigenen Equipment oder von irgendwelchen Bildern aus dem Netz, weiß ich nicht. Aber plötzlich sah ich meine männlichen Klassenkameraden nur noch als herumlaufende Schwänze und das war dann irgendwie der Augenblick, in dem mir klar war, dass da bei mir was anders gepolt ist. Und jetzt stand ich hier und starrte Ts rattenscharfes Hinterteil an, während die letzten, armen Schweine auf die Mannschaften verteilt wurden, die eigentlich niemand haben wollte. Kanonenfutter eben. Und Oliver. Oliver hatte nämlich die nervige Angewohnheit, grundsätzlich gegen seine eigene Mannschaft anzuarbeiten, indem er dafür sorgte, dass man nicht gescheit werfen konnte oder gleich die andere Mannschaft den Ball bekam. Oder aber er knallte irgendwem den Ball ins Gesicht – vorzugsweise einem Mädchen, das daraufhin anfing zu heulen – weswegen die eigene Mannschaft dann irgendwelche Strafen auferlegt bekam und man alle Hände voll zu tun hatte, den Mist wieder auszubügeln. Also nein, Oliver wollte keiner haben, ebenso wenig wie Mia-Marie, die eigentlich alle nur „die dicke Mia“ nannten, was natürlich total gemein war, von ihr aber einigermaßen mit Humor genommen wurde. Meist begnügte sie sich damit, auf ihren Platz zu trotten und sich beim ersten Ballwechsel abwerfen zu lassen, um dann den Rest der Stunde am Spielfeldrand rumzustehen. Ich hab sie mal sagen hören, dass das immer noch besser sei als beispielsweise Basketball, wo man ständig rumrennen und so tun musste, als wenn man mitspielen würde. Nicht, dass ich jetzt ne große Leuchte beim Basketball wäre. Im Treffen des kleinen Korbs bin ich nämlich auch nicht so dolle. Aber Völkerball war okay, weil ich früher mal Fußball gespielt habe. Als Torwart. Von daher war Bälle fangen jetzt nicht so das Problem, wenngleich ich sie danach meist an die besseren Werfer weiterverteilte. Ist immerhin ne Teamsportart, oder? „Na los, fangen wir an, sonst ist die Stunde gleich um“, rief plötzlich unser Sportlehrer und wedelte uns auf unsere jeweiligen Spielfelder. Herr Jansen war so einer, der den ganzen Tag im Trainingsanzug rumlief. Ich weiß gar nicht, ob der eigentlich auch noch was anderes unterrichtete. Müsste er am Gymnasium ja eigentlich, oder? Aber bisher hatte ich ihn nur hier unten in Sportmontur bewundern dürfen. „Uh, guck mal, da oben steht Mia“, raunte Jo plötzlich T zu und nickte mit dem Kopf in Richtung Decke. Dazu muss man wissen, dass unsere Turnhalle so halb unterirdisch liegt. Im oberen Drittel der einen Wand sind riesige Glasscheiben eingelassen, durch die einerseits Tageslicht einfällt, andererseits Leute von dort aus beim Sport zugucken können. Normal tat das natürlich während des Unterrichts keiner, aber anscheinend hatte „nur Mia“ aus der 10a in der ersten Stunde eine Freistunde und somit die Möglichkeit, sich nebst ihrer besten Freundin dort oben zu platzieren und Publikum zu spielen. Dass das überhaupt einen Blick wert war, lag vielleicht daran, dass „nur Mia“ ziemlich gut aussah. Also so für ein Mädchen. Schulterlange, blonde Haare, blaue Augen und irgendwie „süß“ ohne dabei kindlich oder albern zu wirken. Außerdem hatte sie ziemlich große Brüste, wie allen anderen Jungs anscheinend aufgefallen war, nur mir nicht. Wir wissen ja inzwischen, warum. „Na und“, gab T jetzt zur Antwort und tat so, als würde er sich auf das Spiel konzentrieren, das noch gar nicht angefangen hatte. „Die steht bestimmt auf mich.“ Jo strotzte nur so vor Selbstbewusstsein. Als wenn „nur Mia“ sich ausgerechnet in einen Spargeltarzan mit mausbraunem Undercut vergucken würde. „Wohl eher auf Theo“, plapperte mein Mund irgendwie los, bevor ich es verhindern konnte. Zwei erstaunte Augenpaare richteten sich auf mich. „Wer hat dich denn gefragt, Peniskopf?“ Sieh an, Jo konnte Englisch. Ein Hoch auf die moderne Bildung. „Und er heißt T.“ „Alles klar, Hannes“, grinste ich zurück. Keine Ahnung, was mich in dem Moment geritten hat. Vielleicht die Tatsache, dass zwischen Jo und mir seit ewigen Zeiten eine unterschwellige Feindschaft bestand, seitdem meine Mannschaft seine mal bei einem Heimturnier abgezogen hat. Er war übrigens der Torwart der Gegenmannschaft, der einfach alles durchgelassen hat, was unsere Jungs ihm reingedrückt haben. Am Ende hat er geheult und wir hatten gewonnen. Damals waren wir ungefähr sieben und er seitdem sauer auf mich. Ich spiele inzwischen kein Fußball mehr und er ist mittlerweile in der Bezirksliga oder so. Von daher gab es eigentlich keinen Grund, warum er mich immer noch angiftete wie eine Bulldogge auf Speed, aber er tat’s nun mal und ich ging ihm deswegen meistens aus dem Weg. Meistens, wohlgemerkt, aber nicht heute. „Du willst wohl Stress haben?“, knurrte Jo und ballte die Hände zu Fäusten. „Mit dir? Keine Ahnung. Kannst ja mal versuchen, ob du mich triffst.“ Ich ging einen kleinen Schritt zurück und suchte mir festeren Stand. Seit ich kein Fußball mehr spielte, war ich nämlich auf Umwegen beim Judo gelandet und Jo hatte schon mal versucht, sich körperlich mit mir anzulegen, was ihm nicht so besonders gut bekommen war. Nicht nur, dass ich ein bisschen größer und stärker war als er, ich wusste eben einfach, was ich tun musste, damit mein Gegenüber nicht auf den Beinen blieb. Wenn ich es mir recht überlege, könnte das der Grund sein, warum er immer noch so angepisst war. „Jetzt macht er wieder einen auf Karate-Kid“, höhnte Jo und fing an sich kaputtzulachen. Arschloch. Es drängte mich wirklich, ihm eins auf die Zwölf zu geben – so ganz unjudomäßig – aber wir waren hier immerhin dem wachsamen Blick einer Lehrkraft ausgesetzt, also war das vermutlich keine so gute Idee. Deswegen grinste ich ihn nur noch einmal an und verbeugte mich spöttisch in seine Richtung. Ich wollte mich gerade umdrehen und mich wieder auf das Spiel konzentrieren, als wie aus dem Nichts plötzlich ein Ball auftauchte und mich voll ins Gesicht traf. Scheiße, tat das weh! Ich riss noch den Arm hoch, was natürlich viel zu spät war, aber immerhin den Weg meiner Hand zu meiner Nase verkürzte, als mir plötzlich das Blut aus selbiger schoss. Ich versuchte, den Strom irgendwie aufzuhalten, aber besonders erfolgreich war ich nicht und die ersten roten Spritzer landeten auf dem grauen Turnhallenboden. „Oliver!“, war alles, was ich hörte, bevor sich auf einmal Herr Jansen in mein leicht lädiertes Gesichtsfeld schob. „Geht es, Benedikt?“ „Ja, geht“, nuschelte ich undeutlich hinter meiner Hand, durch die es immer noch auf den Fußboden suppte. „Du kommst am besten mit und der Rest von euch fängt schon mal an zu spielen. Sandra, du hast hier die Leitung.“ Na prima, jetzt wurde ich wie ein Fünftklässler verletzt vom Platz geführt, während der Rest der Klasse mich anglotzte wie ein exotisches Tier. „Selbst schuld!“, rief noch jemand hinter mir her und wenn mich nicht alles täuschte, war das Jo. So ein Saftsack! „Hier hast du erst mal was zum Aufwischen“, meinte Herr Jansen und gab mir ein paar von diesen scheißrauen, grauen Papiertüchern, die die Nässe immer nur gleichmäßig verteilen, aber nie aufsaugen. Wer die erfunden und dann noch die Frechheit besessen hat, sie „Handtücher“ zu nennen, möchte ich mal wissen. Dann wühlte mein Lehrer in dem kleinen Kühlschrank, der in der Lehrerumkleide stand, und förderte schließlich ein Kühlpack zutage. „Damit kannst du nachher die Schwellung kühlen, wenn es aufgehört hat zu bluten.“ Ich nickte nicht, sondern tat einfach nur, was er gesagt hatte. War jetzt nicht so, dass ich das erste Mal was abbekam. Viele raten ja bei Nasenbluten, den Kopf in den Nacken zu legen, aber das ist total falsch, weil das Blut dann den Rachen runterrinnt und zu Übelkeit und Erbrechen führen kann. So was lernt man unweigerlich, wenn man Kampfsport macht. Ich ließ stattdessen den Kopf etwas nach vorne sinken und drückte auf meine Nasenflügel, um die Blutzufuhr zu unterbinden. „Hast du dich mit Oliver gestritten?“, fragte Herr Jansen jetzt. Sein blauer Trainingsanzug raschelte. „Nein“, brummte ich. „Der braucht doch keinen Grund, um jemanden zu schikanieren. Wissen Sie doch selber. Ich hab einfach nur dagestanden.“ Ein Seufzen war alles, was von Herrn Jansen kam. „Na schön, dann setz dich einfach drinnen auf die Bank, bis du wieder fit bist, klar?“ „Klar“, gab ich widerwillig zur Antwort. Am liebsten wäre ich ja hiergeblieben und hätte noch ein bisschen meine Wunden geleckt. Aber das ging natürlich nicht wegen der Aufsichtspflicht. Also wurde ich samt Kühlpack und Papiertüchern wieder in die Halle gescheucht. Was für eine Blamage. Ich konnte nur hoffen, dass es bald aufhörte zu bluten, dann würde ich einfach wieder mitspielen und so tun, als wäre nichts passiert. Oliver war anscheinend zur Strafe ebenfalls auf die Bank verbannt worden und grinste mich von da aus an. Wichser! Der sollte nochmal versuchen, in Mathe von mir abzuschreiben. Irgendwie schien er nicht zu kapieren, dass man nicht in einem Moment Scheiße zu den Leuten sein und im nächsten was von ihnen wollen konnte. Wer ficken will, muss freundlich sein, Junge. Ich wünschte mir wirklich, Anton wäre jetzt hier, aber da er ja regelmäßig der erquicklichen Leibesertüchtigung fernblieb, der wir hier dreimal wöchentlich frönen durften, waren für ihn die Sportstunden in der Lehrmittelbibliothek verplant. Es gab noch eine weitere Bücherei, die fest in Lehrerhand war und nur zweimal die Woche geöffnet hatte, aber das Lager mit den Büchern, die im Unterricht gelesen wurden (also 25 mal „Effi Briest“ und ähnliches mehr) war dank eines von irgendeinem Lehrer ins Leben gerufenen Projekts unter Verwaltung mehrerer Schüler. Also eigentlich nur unter Antons Fuchtel und die anderen durften ein bisschen so tun als ob, um sich auch ein Fleißsternchen zu verdienen. Ich hätte da auch mitmachen können, aber ehrlich gesagt hatte ich keine allzu große Lust, meine Zeit in einem Raum mit vier total unattraktiven Nerds zu verbringen. Ich lieh mir allerdings manchmal was aus, damit sie sich nicht total nutzlos vorkamen. Das Meiste davon brachte ich zwar ungelesen wieder zurück, aber das wussten die ja nicht. Meine Nase hatte inzwischen aufgehört zu tropfen. Ich ließ also das Kühlpack Kühlpack sein und machte mich auf den Weg zum Spielfeld. Kurz davor stoppte mich eine energische Stimme. „Das geht nicht. Benedikt kann jetzt nicht mehr mitmachen.“ Au ja, Auftritt Sandra Degenhardt. Klassensprecherin, Lehrerliebling, Sportass, Rächerin der Verderbten und Enterbten. Und in der Gegenmannschaft. „Das ist unfair. Wenn er jetzt noch ins Spiel kommt, verschiebt das total das Kräfteverhältnis.“ „Na und, wir sind doch eh schon zwei weniger.Das ist unfair.“ Ich stelle vor: Ben Neumann, zweiter Klassensprecher und grundsätzlich dagegen. Sein späterer Berufswunsch war vermutlich Politiker in der Opposition. Er war außerdem der Grund, warum mein Name nicht einfach zu „Ben“ abgekürzt werden konnte. „Das Spiel ist doch eh fast zu Ende. Ist doch nur noch T da.“ Mein Blick glitt zur Seite und tatsächlich. Da stand Mister stramme Hose als Letzter auf dem Feld. Will heißen, wenn ich jetzt wieder reinkam, hatte ich ihn einige kostbare Minuten ganz für mich allein ... wenn man mal von den ganzen anderen Kanaillen drumherum absah und davon, dass irgendeiner bestimmt gleich wieder reinkam, wenn wir zu zweit den Ball an uns gebracht und damit das Blatt gewendet hatten. Aber ich konnte Sandras Blickwinkel verstehen. Wenn sie T erwischten, hatten sie gewonnen. Ich musste ihn retten und damit gleich das Spiel und meine Ehre. „Komm schon, lass mich mitmachen. Noch ein Spiel schaffen wir eh nicht“, bettelte ich. Ja, ich bettelte. Ich wollte da unbedingt hin. Außerdem hatte ich recht, denn wenn wir noch genug Zeit zum Umziehen haben wollten, musste Herr Jansen uns gleich entlassen. „Ja, los, gib uns ne Chance“, sagte da plötzlich eine Stimme, von der ich das nicht erwartet hatte. Ts Stimme. Wow, die war so … tief und männlich. Da kriegte man fast weiche Knie davon. Fast. Wenn man ein Mädchen wäre. Was ich nicht bin, kapiert? Aber … aaaah, habt ihr gehört, was er gesagt hat? Sie soll uns ne Chance geben. Oh ja bitte. Ich würd so gerne … also … ich würde … ich … Blinzeln. Atmen. Blinzeln. Nochmal atmen. Aufhören T in die Augen zu sehen und auf gar keinen Fall rot werden, weil … ach Kacke! Schon passiert. Hoffentlich hat das keiner gesehen. Bloß schnell abdecken, ernsthafte Kriegsverletzung vortäuschen und dann möglichst unauffällig vom Schlachtfeld robben. „Ich glaube, meine Nase blutet wieder“, murmelte ich hinter vorgehaltener Hand und schlich zu dem fast aufgetauten Kühlpack zurück, um es mir aufs Gesicht zu drücken. Scheiße! Konnte man unter so einem Kühlpack eigentlich ersticken? Schön wär’s zumindest. Dann müsste ich die Peinlichkeit nicht ertragen, mit T und den ganzen anderen nachher in die Umkleidekabine zu gehen und mich ihrem Spott auszusetzen, während ich mich umzog. Während er sich umzog. Okay, wisst ihr was, ihr geht am besten schon mal vor und ich bleib noch ein bisschen hier sitzen, bis die Stunde vorbei ist. In der Jungsumkleide habt ihr nun wirklich nichts verloren, also husch-husch! Raus mit euch! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)