Kontrolle von Alaiya (Urban Fantasy Thriller) ================================================================================ Kapitel 1: Fehler ----------------- Nervosität breitete sich in Pakhets Magen aus, als sie aus dem Taxi ausstieg. Der Baoshan Distrikt war kein Ort, an dem sich Touristen üblicherweise aufhielten, was bedeutete, dass sie herausstach. Sicher, sie trug eine dunkle Perücke, doch war es offensichtlich, dass sie nicht von hier kam. Sie sah sich um. Die Dunkelheit war bereits vor zwei Stunden über Shanghai hereingebrochen, so dass die Schluchten zwischen den grauen Wohnklötzen aus Beton vom gelblichen Licht alter Straßenlampen erleuchtet wurden. Dies war weit ab von den Neonlichtern, die viele Westler mit Shanghai verbunden hätten. Zugegebenermaßen hatte sie anderes erwartet, als Michael ihr gesagt hatte, dass sie ein Casino aufsuchen würde. Sie hatte an einen der Touristendistrikte und eine moderne Casinohalle gedacht – nicht an irgendeinen Mahjongg-Parlor. Egal. Sie war vorbereitet. Sie hatte alles, was sie brauchte. Sie würde hoffentlich nicht zu lange brauchen. Morgen wäre sie im Flieger zurück nach Kapstadt. Ein ungutes Gefühl ließ sich dennoch nicht abschütteln. Die Tatsache, dass sie praktisch kein Mandarin sprach, machte die Dinge nicht einfacher. Mit einem tiefen Atemzug machte sie den ersten Schritt auf dem Bürgersteig. Der Parlor müsste in einem der Wohnblöcke sein. Ihr Kontakt sollte davor warten, unter dem Vorwand eine Zigarette zu rauchen. Dann würde sie reinkommen, würde ihre Zielperson finden und hoffentlich nach spätestens einer Stunde verschwinden. Sie hasste es. Assassinenaufträge waren nicht ihre liebste Art von Jobs. Dennoch konnte sie Michael nicht widersprechen: Huang Li war niemand, bei dem sie ein schlechtes Gewissen haben sollte. Er gehörte zu einer der Triaden, wurde mit diversen Dingen in Verbindung gebracht. Drogenschmuggel. Menschenhandel. Waffenhandel. Eine wilde Mischungen aus den Dingen, die man mit der Mafia verband. Natürlich war derjenige, der sie beauftragt hatte, wahrscheinlich seinerseits ein Mitglied der Triaden. Vielleicht gehörte er zu einer rivalisierenden Triade, vielleicht zur selben und wollte Lees Position einnehmen. Doch das war der Lauf der Dinge. Sie hatte es sich nicht erlauben können, den Job abzulehnen. Nicht nach den Problemen, die sie sich bereits mit Michael eingehandelt hatte. Genau das hinterließ einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge. Leichter Regen nieselte vom Himmel hinab, während Pakhet sich in Kleid mit einem übertriebenen übergeworfenen Mantel gekleidet den Bürgersteig entlang bewegte. Am Ende konnte sie nur hoffen, dass sie ihre Spuren zurück zum Hotel gut genug verwischt hatte, hatte sie doch mehrere Umwege in Kauf genommen und ihre Schlüsselkarte für das Hotel in einem Bahnhofsschließfach gelassen. Da. Im überdachten Eingangsbereich von einem der Wohnblöcke stand eine Gestalt. Ein recht groß gewachsener chinesischer Mann mit ordentlich zurückgekämmten Haaren. Er rauchte, zeigte damit einen verzierten Armreif an seinem Handgelenk. Ein Drache mit violetten Edelsteinaugen. Das solle Tenzien sein. Ihr Kontakt. Einmal noch atmete Pakhet durch, ehe sie zu ihm hinüberkam. Ihre Stöckelschuhe waren laut auf den Betonplatten, die hier den Boden bedeckten, ließen ihn aufsehen. Er musterte sie von oben bis unten, lächelte dann. „Sind Sie das, Ms Kirby?“, fragte er auf Englisch. Sein Dialekt identifizierte ihn deutlich als Hongkonger. „Es ist ein schöner Abend, finden Sie nicht, Mr Han?“, erwiderte sie wie abgesprochen. Eine Aussage, die ob des nieselnden Regens wenig Sinn machte. „Nicht so schön, wie ein bekanntes Gesicht zu sehen.“ „Dann haben Sie mich nicht vergessen.“ „Natürlich nicht.“ Er schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. Er trug einen Anzug, hatte das Jackett jedoch zusammengefaltet über den Arm gelegt. Jetzt streckte er ihr die Hand auf. „Wenn Sie schon hier sind: Darf ich Ihnen einige meiner Freunde vorstellen?“ „Warum nicht?“, erwiderte sie, nahm seine Hand und erwiderte das Lächeln steif. „Dann begleiten Sie mich doch“, erwiderte Tenzien und zog sanft an ihrer Hand. Pakhet presste die Lippen aufeinander, erlaubte es jedoch, dass er sie bei der Hand führte. Er ließ den Stummel seiner Zigarette fallen, drückte ihn mit seinem Schuh aus und führte sie dann zum Eingang des Gebäudes. Dort angekommen drückte er auf eine der vielen Klingeln und wartete, bis eine tiefe Stimme über die Gegensprechanlage erklang. Kurze Worte wurden in Mandarin ausgetauscht, ehe ein Buzzer erklang. Weiter ging es: Ins Gebäude hinein, hin zu einem Aufzug. Hinauf in den drittobersten Stock. Noch immer hatte Pakhet den Kiefer angespannt, doch das konnte sie sich nicht erlauben. Sie durfte nicht nervös wirken. Es passte nicht zu ihrer Persona. Sie schloss die Augen, atmete einige Male gezielt durch, entspannte sich bewusst. Es würde nicht schwer sein. Laut ihren Informationen waren wenige Wachen dort und die, die es gab, würden kein Problem sein. Sie war stärker. Das waren einfache Schläger, sie war ausgebildete Soldatin – Söldnerin. Also folgte sie Tenzien in das Treppenhaus, als der Aufzug hielt. Sie mussten den Aufzug einmal umrunden, um in einen dunklen Flur zu kommen. Gab es hier keinen Strom oder waren die Lampen einfach nur kaputt? Zielsicher führte Tenzien sie zu einer Tür am Ende des Flurs. Die Türen waren alle gleich: Weiß gestrichen, jedoch gelblich verfärbt. Es gab einen Spion in jeder von ihnen. Die Mauer der Wand war offen sichtbar. Dunkler Beton. Das ganze Gebäude war wahrscheinlich eine Betonplattenkonstruktion. Tenzien klopfte. Sofort wurde ihm auf Mandarin geantwortet. Er sagte etwas. Wahrscheinlich ein Passwort. Klischeehaft, doch oft die Realität. Dann wurde die Tür geöffnet und ein Mann, der den Tattoos auf seiner Hand nach zu Urteilen russischer Abstammung war oder zumindest einen Aufenthalt in einem russischen Gefängnis genossen hatte, stand ihnen gegenüber. „Das ist eine alte Freundin von mir“, meinte Tenzien auf Englisch zu dem Mann. „Sie ist nicht eingeladen“, erwiderte der Mann. Er musterte Pakhet von oben bis unten. „Das waren einige der anderen Damen doch auch nicht.“ Tenzien lächelte verschmitzt. Pakhet wusste, dass dies ein Einsatz für sie war. Vorsichtig und langsam griff sie in ihre Handtasche. Sie wollte nicht riskieren, dass die Wache auf die Idee kam, sie würde ihn angreifen wollen. Dann holte sie ihr Portemonnaie aus der Tasche, griff hinein und drückte ihm einen 100 Yuan-Schein in die Hand. „Ich will mich nur ein wenig amüsieren“, meinte sie und schenkte ihm einen verführenden Blick. Der Mann sah auf den Schein in seiner Hand. Dann musterte er sie für einen weiteren langen Moment. Er war groß. In beinahe jeder Hinsicht entsprach er dem Klischee eines russischen Schlägers – inklusive des breiten kahlgeschorenen Schädels. „Lassen Sie mich ihre Tasche durchsuchen“, murrte er schließlich. Pakhet lächelte, reichte ihm dann die Handtasche, ließ sich schließlich auch so untersuchen. Sie hatte keine identifizierenden Gegenstände dabei. Keinen Hinweis auf Forrester Security. Nur ein Wegwerfhandy, zwei versteckte Waffen, Geld und die Spritze mit dem Gift. Ihr Auftragsgeber war dahingehend sehr spezifisch gewesen. Die Spritze war jedoch in der Gestalt eines Epipen getarnt. Etwas, das wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte. Schließlich brummte der Mann. „Nimm sie mit.“ Tenzien verneigte sich und murmelte etwas auf Mandarin. Dann nahm er erneut Pakhets Hand. Sie wurden in die vermeintliche Wohnung gelassen. Pakhet wusste nicht, was sie erwartet hatte. Jedenfalls hatte sie sich das ganze verrauchter, dämmriger vorgestellt, als es war. Der Raum, der wohl als ein Wohnzimmer gedacht gewesen war, war normal ausgeleuchtet. Ein paar quadratische, niedrige Tische waren aufgestellt. Darauf die Steine. Einige Leute, die meisten von ihnen Männer, saßen drum herum. Jedoch gab es auch Frauen – und das nicht nur als knapp bekleidete Kellnerinnen. Die Frage war, welche dieser Frauen eigentlich Sicherheit waren. Da war ein junger Mann, an dessen Seiten direkt zwei chinesische Frauen saßen. Pakhet wusste, dass es gerade in den Triaden in Mode gekommen war, Frauen zur Sicherheit auszubilden. Man vermutete sie seltener als einen Mann. Sie konnten die Überraschung für sich nutzen. Egal. Insgesamt waren hier 25 Personen. Ihr Zielperson war nicht zu sehen. Doch ihr war auch nicht entgangen, dass vom Zimmer aus vier Türen abgingen. Eine davon stand offen, führte in eine ordentliche, wenngleich kleine Küche. Die anderen wahrscheinlich zu den Zimmern, die als Arbeits- und Schlafzimmer vorgesehen waren. Sie würde ihn schon finden. Huang Li. Bis dahin musste sie sich anpassen. Sie durfte nicht auffallen. „Darf ich Ihnen einen Drink anbieten?“, meinte eine der knapp bekleideten Frauen in sehr brüchigem Englisch. Pakhet nickte abwesend. „Ja, sicher.“ Ihre größte Sorge war, dass jemand den Arm bemerkte. Ihre Prothese war ein unbewegliches Ding mit nur einer Beuge am Arm. Zwar hatte Michael ihr einen teuren Glamour-Zauber bezahlt, doch war sie nicht sicher, dass es reichte. Sie hätte ihre normale Prothese bevorzugt, doch sah die nun einmal aus wie eine Prothese und erweckte nicht einmal den Eindruck, eines normalen Arms. Dagegen sah dieser Arm zumindest auf den ersten Blick echt aus – wenngleich er mehr an den Arm einer Schaufensterpuppe erinnerte. Er war eine bessere Grundlage für einen Zauber, als die Alternative. Für den Kampf war letzten Endes beides kaum zu gebrauchen. Ihr wurde ein Glas in die Hand gedrückt. Sie dankte. Dann ließ sie sich von Tenzien zu einem der Tische ziehen. Unauffällig bleiben, das war die oberste Priorität. Einer der seltsamsten Nebeneffekte ihres Jobs war, dass sie praktisch jedes weit verbreitete Glücksspiel auf dieser Welt gelernt hatte. Zu viele Jobs der letzten zweieinhalb Jahre hatten sie in Casinos gebracht. Es war eine gute Methode, Informationen zu bekommen. Also ein Spiel Mahjongg. Einsätze wurden bar auf den Tisch gelegt. Sie verlor. Doch das war egal. Es war letzten Endes nicht ihr Geld. Ein zweites Spiel Mahjongg, während sie ihre Umgebung aufmerksam musterte. Da kam eine junge Frau aus einem der benachbarten Zimmer. Sie war klein, zierlich, trug ein schönes Abendkleid. Auch Sicherheit? Jemand bot Pakhet eine gerollte Zigarette an, die wahrscheinlich mehr als Tabak beinhaltete. Sie lehnte freundlich ab. Wo war Huang Li? Wenn er nicht kam, tat sie sich die ganze Sache umsonst an! Vielleicht hätte sie ihn doch auf seinem Weg vom Haus abpassen sollen. Vor allem war der Raum hier klein. Es würde schwerer sein, ihren Plan unauffällig auszuführen. Selbst wenn es einige Minuten brauchen würde, ehe das Gift wirkte. Nur nicht nervös werden. Sie musste ruhig bleiben. Selbst wenn es alles nicht so lief, wie sie eigentlich geplant hatte. Dennoch schnitt sie bei diesem Spiel nicht so schlecht ab. Wenigstens etwas. Selbst wenn es egal war. Nette Worte wurden ausgetauscht. Jedenfalls ging sie davon aus. Die Hälfte verstand sie nicht. Egal. Es war alles egal. Sollten die meisten Menschen hier nicht Englisch können? Nun, auch das war egal. Wahrscheinlich war es wie in Japan. Da sprach man auch kein Englisch, wenn es nicht unbedingt sein musste. Ein drittes Spiel wurde gespielt, während nun doch einiger Rauch das Zimmer füllte. Zumindest Cannabis war deutlich zu riechen – wenngleich es harmloser war, als was sie vermutet hatte. Bald war sie schon eine Stunde hier. Was sollte sie tun? Nach dem dritten Spiel stand sie auf und entschuldigte sich mit der Frage nach der Toilette. Sie musste nicht wirklich, wollte sich jedoch einen Moment der Ruhe gönnen. Deshalb blieb sie für einige Minuten auf der Schüssel sitzen, atmete einige Male tief durch. Gerne hätte sie sich das Gesicht gewaschen, hatte jedoch wenig Lust, das Make-Up nachzuziehen. Nur weil „wasserfest“ draufstand, war es lange noch nicht wahr. Als sie zurückkam zuckte sie beinahe zusammen, als ein chinesischer Mann um die fünfzig an dem Tisch saß, den sie eben noch verlassen hatte. Neben ihm eine deutlich jüngere Frau, die sich an seinen Arm klammerte. Er trug einen Anzug, auch wenn sein Jackett offen und seine Krawatte lose war. Jemand hatte sich vorher offenbar amüsiert. Die zurückgestriegelten Haare waren noch größtenteils schwarz. Eine dünne, kaum sichtbare Narbe zeigte sich unter seinem linken Auge. Das war fraglos Huang Li. Na also. Dann würde ihr Job heute doch noch gelingen. Jetzt musste sie nur noch eine passende Situation schaffen. Wieder stolzierte sie zum Tisch hinüber, setzte sich neben Tenzien, der ihr zunickte. Huang schenkte ihr einen langen Blick. Kein Wunder. Er kannte sie nicht. Wenn er eine hohe Position bei einer Triade hatte, würde er gelernt haben, misstrauisch zu sein. Tenzien jedoch lächelte weiter, sagte einige Worte auf Mandarin. Offenbar stellte er sie vor. Pakhet beließ ihre Beteiligung bei einem zurückhaltenden Lächeln, senkte den Blick und musterte die Steine auf dem Brett. Gut, er war hier. Wie ging sie nun vor? Zu ihrer Überraschung erhob Li die Stimme: „Sie sind aus Amerika?“, fragte er in gebrochenem Englisch. Pakhet hob den Blick, wieder um ihr Lächeln bemüht. „Ja.“ „Woher?“ „Tampa, Florida“, erwiderte sie. Es war eine Lüge, doch zu viele Spuren auf ihre alte Existenz würde man ohnehin nicht mehr finden. Sie fühlte sich sicher. „Ist das in der Nähe der Disney Parks?“ „Tatsächlich, ja.“ „Ah. Verstehe. Meine Tochter wollte früher immer dahin.“ Er schenkte ihr ein gewinnendes, aber doch berechnendes Lächeln. Er hatte eine Tochter? Sie dachte besser nicht darüber nach. „Und Sie waren nie?“ „Nein. Zu viele Verpflichtungen hier“, erwiderte er und hob ein Glas, das offenbar mit Schnaps irgendeiner Art gefüllt war. „Zu schade“, erwiderte Pakhet. Das Spiel ging weiter. Sie erlaubte sich noch ein wenig weiter nachzuhaken, wohl wissend, dass sie es nicht sollte. „Wie alt ist ihre Tochter jetzt?“ „27.“ Li legte einen Stein. Gut. Das war beruhigend. Auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen durfte. „Verstehe. Vielleicht schafft sie es ja einmal so dahin.“ Er lächelte. „Ja, vielleicht.“ Das Spiel ging weiter. Irgendwie musste sie es schaffen näher an ihn heran zu kommen. Doch für den Moment wäre ein Versuch zu auffällig. Dabei hatte sie noch Zeit. Die Nacht war noch relativ jung. Es war nur eine Frage der Zeit. Genau. Sie durfte nicht nervös werden. Denn wenn sie einmal nervös war, machte sie Fehler. Fehler, die sie sich nicht erlauben konnte. Die Männer fingen wieder an in ihrer Muttersprache miteinander zu sprechen, zu scherzen. Li war dabei das Spiel zu gewinnen. Pakhet seufzte leise, streckte sich. Konnte sie es sich erlauben noch einmal aufzustehen? Es war nicht ungewöhnlich, da sie gerade nicht spielte, oder? Also erlaubte sie es sich. Sie wandte sich Tenzien zu. „Kann man den Balkon betreten?“ Sein Blick war fragend, doch er nickte. „Ja, sicher.“ „Ich gehe etwas frische Luft schnappen“, meinte sie. Tenzien deutete ein Schulterzucken an und wandte sich wieder dem Spiel zu. Wie sie gesagt hatte, stand Pakhet auf, ging zu der Schiebetür hinüber, die auf einen für hiesige Verhältnisse relativ länglichen, wenngleich sehr schmalen Balkon führte. Sie rauchte nicht, weshalb es hier wenig für sie zu tun gab. Also lehnte sie sich über die Balustrade und atmete die Nachtluft ein – selbst wenn diese nicht weniger rauchig roch, als die im Zimmer. Die Berichte über die Luft hier in der Stadt waren echt nicht übertrieben. Wie hielten die Menschen es hier nur aus? So viele. So eng. Es war gruselig. Ihr war es gruselig. Sie würde froh sein, wenn sie morgen im Flugzeug nach Kapstadt saß. Dort waren die Menschen zumindest auf mehr Fläche verteilt. Es war angenehmer. Nicht so stickig. Nicht so … Die Tür hinter ihr wurde erneut aufgeschoben. Jemand trat hinter sie. Es war Li in Begleitung der Dame, die auch zuvor schon an seiner Seite gehangen war. War sie einfach nur seine Kurtisane oder ein Bodygard? Es war schwer zu sagen. Dem aufmerksamen Blick nach tippte Pakhet fast auf zweiteres, selbst wenn die Kleidung eher auf das erste tippte. „Was war noch gleich ihr Name?“, fragte Li. Pakhet wandte sich um, lehnte sich nun rücklings an die Ballustrade. „Ilsa Kirby“, antwortete sie. Er schenkte ihr ein gewinnendes und sicher hundertfach trainiertes Lächeln. „Und was bringt sie nach Shanghai?“ „Geschäftliches, fürchte ich“, erwiderte sie. Am leichtesten log man, indem man nahe an der Wahrheit blieb. „Ach ja?“ „Ja. Ich arbeite für ein Aktienunternehmen.“ „Oh. Ich hätte sie nicht für eine Börsenarbeiterin gehalten.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Sie wissen, wie das ist, oder? Es ist die legalste Form des Glücksspiels.“ Damit bemühte auch sie sich wieder um ihr Lächeln. Etwas an seiner Körperhaltung kam ihr seltsam vor. Jetzt war sie mit ihm allein. Sie konnte es nutzen. Sie konnte das ganze hinter sich bringen. Wenn die Frau ihr nicht in den Weg kam. Es durfte niemand mitbekommen, was sie hier tat. Immerhin wollte sie keinen Sprung aus dem zehnten Stock riskieren. „Ich verstehe schon“, erwiderte er. „Woher kennen sie Mr Han?“ „Habe ihn in New York kennengelernt.“ Besser sie drehte das Blatt bald um. „Wir hatten uns vorher verabredet. Er meinte er kannte einen guten Ort zum Spielen.“ „Meinte er das?“ Pakhet deutete ein weiteres Schulterzucken an. Ein Instinkt sagte ihr, sie sollte vor Li zurückweichen, doch sie widerstand dem Drang. „Ich habe schon mitbekommen, dass es nicht im Sinne der hiesigen Regeln war.“ „Allerdings nicht.“ „Ich hoffe, Sie können ihm verzeihen.“ „Das werden wir sehen“, erwiderte Li. Nun trat er näher an sie heran. „Woher haben Sie den Zauber?“ „Zauber?“, fragte sie und bemühte sich zu klingen, wie ein normaler Mensch, der nicht verstand. So, wie sie noch vor zwei Jahren geklungen hatte. „Der Zauber auf Ihrem Arm. Der Ihre Prothese verbirgt.“ Damit hatte Pakhet nicht gerechnet. Er hatte den Zauber durchschaut? Aber das hieß … „Ich nehme nicht an, dass Sie den Arm durch einen Papierschnitt verloren haben, oder?“ „Nein, tatsächlich nicht.“ Sie durfte sich nicht aus dem Konzept bringen lassen, drückte die Prothese näher an den Körper. „Ich rede nicht gerne darüber.“ „Was für einen Grund haben Sie, ihn magisch zu verbergen?“ „Wie gesagt, ich rede nicht gerne darüber. Die Menschen stellen Fragen, und …“ Li griff nach der Hand ihrer Prothese und hielt sie fest. Sein Blick suchte den ihren. Er schaute ihr direkt in die Augen, einen kalten Blick in den eigenen. Langsam brannten sich gleich zwei Erkenntnisse in ihren Geist: Er war Magier. Und er wusste, warum sie hier war. Verdammt. Sie konzentrierte ihre Energie, bewegte sich schneller, als es normalen Menschen möglich war, griff in ihre Handtasche, um die Spritze herauszuholen, doch seine Begleitung hatte ihre Hand gegriffen. Pakhet leitete mehr Energie in die Hand, schaffte es sich dem Griff der Frau zu entwinden. Mit der Spritze in der Hand versuchte sie, Lis Bein zu treffen. Er hatte es nicht ordentlich geschützt. Aber auch Li war nicht langsam. Jetzt packte er die Hand ebenfalls, drückte sie gegen die Balustrade. Seine Augen funkelten. „Wer hat dich geschickt?“ Statt zu Antworten zog die das Bein nach oben, traf ihn zwischen den Beinen, ließ ihn kurz schwanken. Genug um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mit gesammelter Energie warf sie ihn um. Tatsächlich landete er auf dem Rücken. Schon wollte sie mit der Spritze nachsetzen – wohl wissend, jetzt Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben. Erneut war jedoch seine Begleitung vor ihr. Sie positionierte sich vor ihrem Boss, wehrte erneut Pakhets Angriff ab, versuchte ihre Beine unter ihr wegzufegen. Zumindest letzteres hatte Pakhet kommen sehen, schaffte es rechtzeitig zurückzuschreiten. Das lief alles nicht so, wie gedacht. Noch einmal sammelte sie Energie, im Versuch sich loszureißen, entwand ihre Hand dem Griff der anderen Frau, bekam deren Kleid zu fassen und warf sie gegen das Fenster. Dann warf sie sich auf Li, der versuchte sich auf die Beine zu kämpfen. Sie musste ihn nur kurz überwältigen, dann konnte sie entkommen. Dieses Mal versuchte sie seinen Hals zu erwischen, doch auch er hatte Kämpfen gelernt. Er brachte seine Beine vor sich, machte es damit schwerer, ihn zu erreichen. Nein, so einfach würde sie sich nicht abwehren lassen. Selbst wenn der linke Arm zu wenig zu gebrauchen war, konnte sie ihn damit etwas ablenken. Sie brachte den Arm vor sich, um seine Hände abzuwehren, versuchte derweil ihn erneut mit der Spritze zu treffen. Ein Schuss erklang. Genau so wie Stimmengewirr. Sie musste hier weg. Aber vorher musste sie den Job zu Ende bringen. Sie konnte sich keinen weiteren Ärger erlauben. Einmal noch schlug sie aus, als Li ihren Arm zu greifen bekam. Er rief etwas auf Mandarin, etwas, das seltsam in ihrem Kopf nachhallte. Magie. Verdammt. Das war ihr letzter Gedanke. Kapitel 2: Gefangen ------------------- Pakhet wachte in einem seltsamen Zwielicht auf. Nein, falsch. Es war nicht dämmrig, jemand hatte ihr nur dunklen Stoff – wahrscheinlich einen Sack – über den Kopf gezogen. Das hieß, sie war gefangen. Mühsam kämpfte sie den ersten Anflug der Panik hinab. Sie war schon einmal gefangen genommen worden, nein, zwei Mal sogar, und war mehr oder minder heil rausgekommen. Ihr Job war schief gegangen, aber es gab noch mindestens einen Ausweg. Es musste einen Ausweg geben. Doch wenn sie den Job nicht zu Ende brachte, hätte sie es sich vielleicht endgültig mit Michael verscherzt. Etwas, dass sie sich nicht erlauben konnte. Sie bevorzugte die Triaden gegenüber dem US Militär. Zumindest würde man sie hier nicht auf ewig einsperren, in einem Loch verschwinden lassen. Das schlimmste, was passierte, war, dass man sie tötete. Folterte und dann tötete. Ihr Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken. Jemand hatte ihr den Mantel abgenommen, doch dem Gefühl nach trug sie zumindest noch ihr Kleid. Allerdings war auch die Perücke verschwunden. Zu ihrer Überraschung hatte man ihr jedoch die Prothese gelassen. Vielleicht nur, um so ihr Handgelenk einfacher auf der Rückseite des Stuhls zu befestigen. Ja. Sie war an einen Stuhl gefesselt. Handschellen für die Handgelenke, Seil für die Beine. Wahrscheinlich kam das Licht von einer Lampe. Theoretisch wusste sie, wie diese Dinge abliefen. Sie würde rauskommen. Vorsichtig lauschte sie. Da war Geraschel. Ein geflüstertes Gespräch von drei oder vier Personen. Zwei oder drei Männer, eine Frau. Sie sprachen Mandarin, so dass sie nichts verstand. Jemand lachte. Verdammt. Sie musste hier herauskommen. Handschellen. Vielleicht konnte sie sich daraus befreien. Vorsichtig darum bemüht keine Geräusche zu machen bewegte sie die rechte Hand. Ein wenig Energie ließ sie in die Gelenke fließen im Versuch sie flexibler zu machen. Doch es war mit einer Hand schwerer, als mit zwei. Die Hand der Prothese war nicht beweglich. Sie konnte weder der rechten assistieren, noch konnte sie die Prothese selbst den Fesseln entwinden. Mist. Würde sie es schaffen die Prothese von der Schulter zu lösen, könnte sie sie zumindest als Waffe verwenden. Es wäre nicht optimal, doch sie könnte sich aus der Situation befreien. Nein. Selbst wenn es funktionierte, könnte sie nicht schnell genug die Fesseln an ihren Beinen lösen, solang ihre eine nutzbare Hand von der Prothese verlangsamt wurde. Die Arschlöcher waren gewitzt. Sie mussten gewusst haben, dass sie sich so leichter befreien konnte. Verflucht. Was konnte sie machen? Sie musste irgendwie die Kontrolle über die Situation erlangen. Waren die Typen wohl bestechlich? Immerhin: Sie war nur Söldnerin. Sie hatte keine persönlichen Probleme mit einem von ihnen. Sie hatte nur ihren Job gemacht. Vielleicht konnte man dem ganzen mit etwas Geld oder dem Angebot für Arbeit entkommen. Ja. Das war wahrscheinlich ihre beste Chance. Sie musste sich fangen. Sie durfte keine Angst zeigen, keine Schwäche. Zwei Mal, drei Mal atmete sie durch, dann erhob sie die Stimme: „Hey!“ Das Gespräch wurde unterbrochen. Gut. Sie hatte sie auf dem falschen Fuß erwischt. Sie würde keine brave Gefangene sein. Sie würde für einige Sekunden warten. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Zehn. Noch immer sagte niemand etwas. Also waren sie unsicher? Vielleicht konnte sie das ausnutzen. „Ich weiß, dass ihr da seid!“ Jetzt wurden Worte auf Mandarin getauscht. Gut. Sie besprachen, was sie mit ihr tun sollten. Sie konnte sie weiter drängen. „Hat euer Boss gesagt, ihr sollt auf ihn warten oder was?“ Schritte erklangen. Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen. Für einen Moment war ferne Musik zu hören. Sie atmete tief durch. Sie durfte sich nichts anmerken lassen. Irgendwann würde jemand den Sack von ihrem Kopf reißen. Wozu war der überhaupt da? Normal war das etwas, das man tat, damit Gefangene einen Weg nicht sahen. Aber sie war ohnmächtig gewesen. Es sei denn sie hatten dem nicht getraut. Noch einmal bewegte sie vorsichtig die rechte Hand, doch aus der Handschelle gab es kein Entkommen. „Worauf wartet ihr?“, fragte sie in den Raum hinein. Jemand antwortete auf Mandarin. Die Stimme war erhoben, die Worte deutlich an sie gerichtet. Natürlich verstand sie nichts. Allerdings klang der Tonfall abwertend. „Oh, Bitte, ich wisst, dass ich euch nicht verstehe. Zu feige mich richtig zu beleidigen?“ Ein wütender Laut. Dann: „Ich habe gesagt, du sollst die Klappe halten, Hure.“ „Das ist eine furchtbar kreative Beleidigung“, erwiderte sie. „Mal ehrlich. Was habt ihr mit mir vor?“ Doch keine Antwort erklang. Sie verkniff sich ein Seufzen. Es hätte zu angespannt geklungen. Also sollte sie wirklich warten? Das war nicht gut. Sie brauchte Kontrolle. Also musste sie ihn weiter reizen. Es war zumindest ein Typ. „Ach komm, machst du dir in die Hosen wegen deinem Boss oder mir?“, meinte sie. Stille. „Ich beiße, das kann ich garantieren“, knurrte sie. Zu ihrer Überraschung antwortete die Stimme einer Frau, selbst wenn der Dialekt sehr dick war. „Wenn du beißt, verpassen wir dir einen Maulkorb.“ „Kinky“, antwortete Pakhet. Schritte näherten sich. Schritte von Füßen in hochhackigen Schuhen. Jemand war nahe. Die Nähe war spürbar. „Ich weiß, was du machst, Gweimui“, meinte die Frau. „Du versuchst die Kontrolle zu behalten, hmm?“ Durchschaut. „Ich kann dir garantieren, dass es nicht funktioniert, Gweimui.“ Pakhet hatte keine Ahnung, was Gweimui heißen sollte, aber es klang wie eine Beleidigung. Die Frau musste eine dieser Sicherheitsdamen oder irgendwer, der tatsächlich mit den Triaden arbeitete, sein. Sie war jedenfalls mehr als einfach nur eine Gespielin. Ihre Art passte nicht dazu. „Ich bin nur der Meinung, dass wir darüber reden können“, erwiderte Pakhet. „Denn sicher gibt es hier eine Lösung für die Situation.“ „Natürlich gibt es die. Sie endet mit deinem Tod.“ „Wenn ihr mich töten wolltet: Warum bin ich noch nicht tot?“ „Weil der Heung Chu es dir nicht so leicht machen wird, Gweimui“, zischte die Frau. Dann traf etwas Hartes, Schweres Pakhets Schienbein, ließ sie aufkeuchen. Ja, das war Antwort genug. Leider die Antwort die sie gefürchtet hatte. Sie wollten sie foltern. Wie konnte sie entkommen? Sie presste die Augen zusammen, versuchte den Schmerz aus ihrem Geist zu verdrängen. Zumindest vorerst war nichts gebrochen. Doch wenn sie sie wirklich foltern wollten, würde dieser Zustand nicht zulange anhalten. „Verstehst du mich, Gweimui?“, zischte die Frau. Pakhet antwortete nicht. Was konnte die antworten. Sie war zu stolz, um „ja“ zu erwidern. Wie lange würde es dauern, bis ihr Stolz brach? Wieder wurde die Tür geöffnet. „Meili“, raunzte eine vage bekannte Stimme. Die folgenden Worte waren Mandarin. Pakhet atmete bewusst. War das Li? Es musste Li sein. Die Frau hatte was von „Heung Chu“ gesagt. War das nicht eine Position bei den Triaden? Genau wusste sie es nicht. Wieso hatte sie nicht alle Informationen gehabt? Laut Michael war Li ein Gangboss. Ein Gangboss, der irgendwas mit Drogen und Waffenhandel machte. Hohe Position? Nicht niedrig, doch auch kein Chef. Etwas ließ sie daran zweifeln – vielleicht auch, dass er eindeutig Magier war. Noch immer wurden Worte in Mandarin gewechselt. Dann schon jemand einen Stuhl über den Boden. Zu ihr. Natürlich. Machtspiele. Als hätte sie davon noch nicht genug gehabt. „Ich höre, Sie sind wach, Ms Kirby“, meinte die Männerstimme wieder. „Wach und schwer enttäuscht von Ihrer Gastfreundlichkeit.“ „Sie wollen unbedingt die Starke spielen?“, fragte er. Es war nicht sonderlich schwer zu erraten. Doch was blieb ihr für eine Wahl? Betteln würde wenig bringen – und sie war noch immer zu stolz dafür. „Nein, was ich unbedingt will, ist, dass Sie mich losbinden.“ „Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte er ruhig. „Da gibt es allerdings das kleine Problem, dass sie versucht haben mich zu töten. Mit einer Überdosis Heroin, wenn ich nicht irre. Das ist … außergewöhnlich.“ „Ich gebe zu, das ist ein Problem“, murmelte sie. Er atmete aus. Selbst durch den Stoff über ihrem Kopf konnte sie den Zigarettenrauch riechen. Mit einer Hand schob er den unteren Bund ihres Kleides hoch. „Deswegen würde ich vorschlagen, wir schauen, was Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen haben und beschließen dann, was wir mit Ihnen machen.“ Sie biss die Zähne zusammen, wohl ahnend, was er als nächstes tun würde. So machte sie keinen Laut, als er die Zigarette auf der Innenseite ihres Oberschenkels ausdrückte. „Ich sehe schon, Sie sind … Wie sagt man auf Englisch?“ Er überlegte kurz. „Dickköpfig.“ Pakhet atmete tief durch. Sie durfte nicht der Angst nachgeben. So biss sie sich auf die Unterlippe. „Wir können das Ganze abkürzen“, sagte sie bemüht den Schmerz nicht durch ihre Stimme klingen zu lassen. „Ich bin eine Söldnerin aus Südafrika. Jemand war bereit mit 2500 Dollar plus Umkosten zu zahlen, damit ich Sie mit einer Überdosis Heroin umbringe. Ich arbeite in einem professionellen Umfeld, was bedeutet, dass ich nichts über meinen Auftraggeber weiß. Von allem was ich weiß, könnte er irgendwo hier im Raum sein.“ Ein schweres Seufzen erklang. „Das ist aber langweilig, finden Sie nicht? Zumal ich Ihnen noch keine Fragen gestellt habe.“ Er stand auf. Ein Klacken verriet, dass etwas von einem Tisch oder dergleichen genommen wurde. „Und jetzt sind Sie erst einmal besser still.“ Für einige Momente geschah nichts, selbst wenn es nur eine Taktik war, um ihr eine Reaktion zu entlocken. Dann aber wurde etwas gegen ihren Schenkel gedrückt. Ein ratterndes Geräusch erklang und einen Moment später durchzuckte der Schmerz Pakhets Körper. Elektroschocker. Taser. Der Schmerz brannte sich in ihr Bein, zuckte dann durch ihren Körper. Wie wütende Insekten rauschte der Schmerz mit tausenden Stichen ihren Körper hinauf, wollte ihr die Sinne rauben. Vollkommen unwillkürlich begann sie zu zittern. Ein Keuchen kam über ihre Lippen, doch kein Schrei. Endlich – es fühlte sich wie eine Ewigkeit an – nahm er den Taser weg. Noch immer zitterte Pakhet. Zu viel Speichel hatte sich in ihrem Mund gebildet, zwang sie trotz des Stoffs davor auszuspucken. Sie atmete tief durch. Scheiße. Sie wollte das hier nicht. „Dickköpfig, wirklich …“, murmelte Li. Ein Klacken. Dann traf der Taser erneut ihr Knie. Dasselbe noch einmal. Schmerzen. Zittern. Brennen. Wütende Insekten. Ein Keuchen. Schwerer Atmen. Sie hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, selbst als er den Taser entfernte. Was konnte sie nur tun? Nichts, außer zu versuchen einen Fehler zu provozieren. „Und was ist der Sinn dahinter?“, flüsterte sie. „Wohinter?“ „Mich zu foltern.“ „Ein Exempel zu statuieren“, erwiderte Li. „Sie können es vielleicht nicht sehen, aber Sie werden gefilmt. Nur für den Fall, dass noch jemand auf solche Ideen kommt.“ „Gilt es bei Ihnen nicht als unprofessionell?“ Eigentlich riet sie nur. Aber es war eine Möglichkeit. „Ich dachte Tote sind okay, aber …“ „Leute wie Sie lassen sich nicht vom Tod abschrecken, oder?“ Ein metallener Klang verriet, dass er den Taser zurücklegte. „Schmerz dagegen …“ Er stand auf. Stoff rutschte. Zog er sein Jacket aus? Dann wurde wieder etwas bewegt. Er kam zu ihr. „Oder fürchten Sie sich davor, wenn ich Ihre Kehle durchschneiden würden?“ Etwas Kühles drückte gegen ihren Hals. Fraglos ein Messer. „Sie wissen, dass ich Ihnen diese Genugtuung nicht geben werde.“ „Ja, so viel habe ich bereits mitbekommen“, erwiderte er. „Sie haben Training. Militärische Ausbildung? Anti-Terror vielleicht?“ Erstaunlich nahe dran. Natürlich schwieg sie. Das schlimmste, was ihr passieren konnte, war, dass jemand herausfand, wer sie eigentlich war. Das Messer wanderte tiefer, wanderte zu ihrer linken Schulter. Würde er sie stechen? Stechen oder Schneiden wahrscheinlich. Oberflächlich. Immerhin wollte er nicht riskieren, dass sie starb, so viel hatte er klar gemacht. „Wir werden schon etwas finden, wovor Sie Angst haben“, meinte er schließlich und trennte den linken Träger des Kleides durch. Als sie nichts erwiderte fuhr er mit dem zweiten Träger fort. Ihre Position sorgte dafür, dass das Kleid nicht rutschte, doch er schob es mit dem Messer hinab. Es war kein Zufall, dass die Spitze des Messer dabei immer wieder unter ihre Haut drang. Sie aber presste sie Lippen aufeinander. Es war alles Taktik. Scham würde sie angreifbarer machen. Doch es machte praktisch keinen Unterschied. Das Kleid hatte ihr ohnehin nie Schutz geboten. Einer der anderen Männer, die wohl noch immer im Raum waren, sagte etwas auf Mandarin. Ein anderer lachte abfällig. Wahrscheinlich eine Anmerkung über ihr Aussehen. Vielleicht über die mangelnde Größe ihrer Brüste oder darüber, dass sie zu viel Muskulatur hatte. Weiter konzentrierte sie sich auf ihre Atmung. Nur nicht nachgeben. „Wissen Sie“, meinte Li, „es wäre leicht Sie zu töten.“ Die Spitze des Messers stach unterhalb ihrer Brust in ihr Fleisch. Pakhet machte einen verächtlichen Laut. „Und deswegen werden Sie es nicht tun?“ „Jedenfalls nicht auf die einfache Art“, erwiderte er und zog das Messer weg. Das war wirklich keine gute Entwicklung. Und es gab wenig, was sie tun könnte. Verflucht, wenn sie nur irgendwie aus den verdammten Fesseln rauskäme. Vielleicht, wenn sie versuchte die Handschellen über die weichere Außenschale der Prothese zu ziehen … Eine neue Prothese kaufen wäre es wert! Für einen Moment war Li ruhig. Er sagte nichts, tat nichts. Dann traf seine Faust ihren Kopf. Sie hätte es wissen müssen. Wieder verkniff sie sich einen Laut. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf die Handschelle. Mit der Rechten griff sie nach dem Ring, der um die Prothese lag, bewegte ihn ein Stück, ehe der nächste Schlag sie traf. Ihr Kopf dröhnte. Eine Gehirnerschütterung würde alles noch schlimmer machen. Sie musste sich fangen. Sie musste gefasst bleiben. Bis sie hier draußen war. Nur bis dann. Um Verletzungen konnte sie sich später kümmern. Ein weiterer Schlag, ein weiteres Stück. Sie sollte sich in Zukunft angewöhnen einen Ersatzschlüssel unter der Haut der Prothese zu tragen. Ob sie damit durchkäme? Es wäre einen Versuch wert. Wäre die Hand der Prothese nur beweglicher … Noch ein Schlag, dieses Mal auf ihren Magen. Sie kam nicht umher zu keuchen, als der Alkohol von zuvor drohte, ihr wieder hochzukommen. Nein. Nein. Irgendwie würde sie hier herauskommen. Sie war noch immer in Kontrolle der Situation. Sie hatte die Kontrolle. Mit der rechten drückte sie gegen den Daumen der Prothese. Ihn zu Brechen würde ihr keine Schmerzen bereiten, also wartete sie den nächsten Schlag ab, sammelte ihre Kraft und drückte zu. Ein leises Knacken erklang, nicht gänzlich zur selben Zeit, wie der Schlag, doch Li hatte es offenbar nicht bemerkt. Ja, die Handschelle ließ sich weiter bewegen. Gut. Der nächste Schlag traf sie in die Seite, doch sie schaffte es, die Handschelle zu lösen. Sie schärfte ihre Sinne, wartete den nächsten Schlag ab, um sich kurz vorher mit einem Ruck nach hinten zu werfen. Unsanft landete sie samt Stuhl auf dem Boden, streckte sofort die Beine aus, um die Fesseln dort zu lösen. Mit der nun freien Hand riss sie sich den Sack vom Kopf, wollte aufstehen, wurde jedoch von den Fesseln ihres rechten Beines gestoppt, die noch immer am Stuhlbein festhingen.. Sie rollte zur Seite, versuchte sich zu befreien, als Li fluchte und sich auf sie warf. Was auch immer er sagte, war Mandarin. Er versuchte ihren rechten Arm zu fassen. Pakhet entging seinem Griff, versuchte ihn ihrerseits in die Rippen zu treffen, während sie noch immer mit dem Stuhl kämpfte. Doch auch er hatte Training, rutschte ein Stück nach hinten. Derweil hasteten die Frau und ein anderer Mann zu ihnen hinüber. Gerade hatte Pakhet ihr rechtes Bein befreit, als jemand danach griff, es versuchte zu halten. Die Frau. Verdammt. Pakhet trat mit dem linken Bein aus, traf die Frau gegen die Schulter. Schon wollte sie aufspringen, als Li sie von hinten griff und ihre Schultern umklammerte. Der andere Mann warf sich nun auf beide Beine. Egal. Sie hatte magische Kräfte. Magische Kräfte, die zu wenig gut waren, ihr jedoch mehr Stärke gaben. Sie sammelte ihre Energie, legte sie in die Beine, zog diese erneut an, als ein seltsames Gefühl der Taubheit durch ihren Körper ging. Li. Verdammt. Was auch immer seine magische Begabung war, so hatte sie offenbar damit zu tun. Damit anderen die Kraft zu rauben. Und jetzt? Sie versuchte dagegen anzukämpfen, ihre Energie in die Beine zu leiten, sich zu befreien, doch sie war wie gelähmt. Schon rechnete sie mit der Ohnmacht, die dieses Mal jedoch ausblieb. Li atmete schwer, obwohl es nur ein kurzer Kampf gewesen war. „Glaubtest du wirklich, dass es so leicht ist?“ Eigentlich schon. Meistens war es so leicht. Die wenigsten waren auf ihre Kräfte vorbereitet. Ihr Blick wanderte durch den Raum. Es musste irgendetwas geben, was ihr helfen konnte. Doch viel war hier nicht. Der Stuhl, ein Tisch mit zwei weiteren Stühlen, ein Haken in der Decke, ein weiterer Tisch, auf denen einige Dinge lagen. Eine Kommode an der Wand, auf der Seil lag. An der Wand, von der sie die Stimmen gehört hatte, ein Sofa. Außerdem nur zwei Fenster. Bei beiden waren die Jalousien heruntergelassen. Wofür Li den Raum nutzte, war nicht schwer zu erraten. Er war also ein Sadist? Fuck. Vielleicht war das auch, warum man sie geschickt hatte. Im Befehlston sagte er nun etwas zu der Frau, die aufstand, ihr Kleid zurechtzupfte und zur Kommode ging. Sie nahm das Seil, brachte es Li, der Pakhet zu Boden warf. Er legte sein Knie zwischen ihre Schultern, während er sich an ihrem linken Arm zu schaffen machte. Warum machte er es sich eigentlich selbst schwer? Doch sie ahnte weshalb. Ihr nun die Prothese zu nehmen hätte gleich zwei Vorteile für ihn. Es würde sie verunsichern. Und er hätte eine bessere Übersicht, was sie tat. Jetzt löste er das Siegel der Prothese, ließ Luft unter den Sockel gleiten und zog sie dann unsanft ab. Wäre ihr Körper nicht so taub gewesen, hätte es wahrscheinlich geschmerzt. Scheiße. Pakhet legte die Stirn gegen den Linoleumboden. Sie musste hier fort. Sie musste entkommen. Sie wollte echt nicht seine kleine Sammlung an Folterinstrumenten ausprobieren. Doch im Moment war sie ihm hilflos ausgeliefert. Sie konnte keine Muskel unterhalb ihres Nacken rühren. Arschloch. Verficktes Arschloch. Jetzt zog er ihren rechten Arm hinter ihren Rücken, wickelte das Seil um das Handgelenk. Sie spürte es, wie von weit her, als würde er sie durch Watte berühren. Ihre Augen brannten, aber sie weigerte sich zu weinen. Die Genugtuung würde sie ihm nicht geben. Er sagte etwas zu dem anderen Mann, der hinüberkam. Dann ging Li von ihr runter, erlaubte es dem Mann sie anzuheben, und wickelte das Seil um ihren Bauch – nicht ohne das Kleid noch ein Stück tiefer zu schieben. Wenn er sie so fesselte, war sie gearscht. Sie musste ankämpfen. Gegen diesen Zauber. Gegen was auch immer. Energie. Irgendwo in ihr musste noch ihre Energie sein. Sie versuchte sie zu erspüren, sie zu lenken. In den Arm. Sie musste den Arm spüren. Sie musste Lis Zauber blocken. Tatsächlich kam ein Kribbeln in ihre Hand zurück, erlaubte es ihr die Finger zu bewegen. Gut so. Noch mehr Energie – doch da versetzte Li ihr einen Schlag gegen den Hinterkopf, der auch ihr Gesicht unsanft auf den Boden schlagen ließ. Dann hob der andere ihren Körper wieder an und Li machte weiter damit, sie zu fesseln. Blut lief ihre Nase hinab. Sie kämpfte gegen den Drang an es hochzuziehen. Das würde nichts besser machen. Wie sollte sie hier nur lebend rauskommen? Scheiße. Als Li endlich von ihr abließ, hatte er ihren Körper im Äquivalent einer Boxfessel gebunden, die Hand verdreht und gegen ihre Schulter gedrückt. Erst dann hob er den Zauber, ließ sie den Schmerz des verdrehten Arms spüren und rollte sie unsanft auf den Rücken. In seinem Blick lag eine Mischung aus Verachtung und einer sadistischen Freude. Sie trat nach seinem Gesicht, doch er fing ihr Bein ab. „Wie viel muss ich noch machen, damit du aufgibst?“ „Ich werde gar nicht aufgeben“, erwiderte sie. Dabei war ihre Stimme bei weitem nicht so fest, wie sie es sich gewünscht hätte. „Am Ende bin ich hier draußen und du bist tot.“ „Das glaubst du nicht wirklich.“ Er lächelte, nahm dann das Messer von seinem Gürtel, klappte es auf und zerschliss damit das Kleid. „Willst du nackt davon laufen?“ Sie antwortete nichts, versuchte ihre Beine zu befreien. Er würde sie vergewaltigen. Das wusste sie. Sie kannte Männer wie ihn. Sie waren alle gleichermaßen ekelhaft. Doch verflucht, sie würde es ihm nicht leicht machen. Jetzt schälte er den Stoff des Kleides zur Seite, beugte sich vor, um ihre Unterhose ebenfalls zu zerschneiden, verlagerte dabei das Gewicht. Mit aller Macht riss sie die Beine zurück, schaffte es sie irgendwie seinem Griff zu entwinden, und trat gegen seinen Körper, traf seine Schulter. Er fiel rückwärts, fluchte, rief etwas, während sie sich wieder auf den Bauch drehte. Wie sie es gelernt hatte, brachte sie die Beine unter sich, stand auf, ehe es erneut die verfluchte Frau war, die sie griff, nach hinten riss. „Du weißt nicht, wann du aufgibst, Gweiwu, eh?“, zischte sie und versuchte sie zu halten. Pakhet warf sich nach vorne, aber dann war auch der andere Mann bei ihr, packte sie. Noch kämpfte sie, doch die beiden drängten sie zu dem freien Tisch hinüber. Egal wie sehr sie versuchte, sich zu befreien: Sie kam nicht gegen drei Leute an. Nicht halb gefesselt und ohne Waffe. Jemand nahm ein weiteres Paar Handschellen, machte ihr Fußgelenk am Bein des Tisches fest. Dann folgte mehr Seil. „Du weißt wirklich nicht, was gut für dich ist“, murmelte Li. Sie schnaubte nur. So leicht würde sie sich ihre Verzweiflung nicht anmerken lassen. Seine Hand schlug auf ihren Hintern. Er wollte sie erniedrigen. Doch verdammt, sie würde es nicht zulassen. Sie würde sich nicht erniedrigen lassen. Sie durfte nicht. Ein weiterer Schlag, dann noch einer, während sich Li über sie beugte. „Würdest du betteln, lasse ich dich vielleicht gehen.“ „Fick dich, Li“, erwiderte sie. Er machte einen verächtlichen Laut. „Du weißt, dass dieses Spiel anders läuft.“ Damit griff er in ihren Schritt. Kapitel 3: Chancen ------------------ Pakhet wusste, dass mit jeder vergangenen Stunde, mit jeder neuen Verletzung ihre Chancen zu fliehen schwanden. Sie würde hier sterben, wenn sie nicht bald entkam. Selbst jetzt waren ihre Gedanken schwergängig. Ihr Kopf schmerzte. Würde sie überhaupt allein stehen können? Sie war sich nicht sicher. Dennoch: Sie konnte hier nicht sterben. Sie musste entkommen. Sie würde sich nicht von so einem Arsch töten lassen. Nicht so. Sie konnte nicht die Kontrolle verlieren. Dabei hatte sie diese in Wahrheit bereits schon lange verloren. Sie wusste nicht einmal mehr, wie lang sie schon hier war. Immer wieder hatte Li ihr Drogen gegeben. Irgendetwas, das er in ihre Nase gesprüht hatte und das ihre Gedanken hatte wirr werden lassen. Selbst jetzt war es noch, als säße sie auf der Rückbank in ihrem eigenen Kopf, während jemand anderes die Kontrolle hatte. Jemand, der weinte, der Li anflehte, sie zu lassen, während er wieder nicht von ihr abließ. Wie lange ging das schon so? Da die Jalousien heruntergelassen waren, hatte sie die Zeit nur schätzen können und selbst das fiel zwischen Drogen und Schmerzen schwer. Es mussten mindestens zwei Tage sein, selbst wenn es sich wie mehrere Wochen anfühlte. Wieder vergewaltigte er sie und sie konnte nichts tun. Gar nichts. Sie war eingesperrt in ihrem Kopf, während jemand anderes die Kontrolle über ihren Körper hatte. Dass sie überhaupt wach war, dass sie selbst überhaupt dachte, war neu. Alles war so fern. Der einzige Vorteil an der Droge. Mit ihr waren die Schmerzen weit von ihrem eigentlichen Geist entfernt. Doch war es ihr eigentlicher Geist, der mehr und mehr den Halt verlor. Sie musste hier raus. Sie musste … Wieder ließ er sie zurück. Er hatte sie seit mindestens einem Tag mit den Fesseln an der Decke fest gemacht. Ein Seil schnitt permanent in ihren Hals – jedoch nicht genug, um ihr ganz Blut und Atem abzuschnüren. Das wäre zu einfach. Sie blutete. Sie wusste, dass sie blutete. Da waren mehrere Wunden. Zu viele. Wie lange würde es dauern, bis sie starb? Zumindest hatte er ihr Essen und Trinken gegeben. Selbst wenn sie immer weniger bei sich behalten konnte. Es war letzten Endes nur eine Geste von ihm, um ihr Leiden zu verlängern. Dennoch nahm sie es an. Ohne fehlte ihr die Energie. Ohne würde sie nicht entkommen. Sie musste entkommen. Zeit verging. Sie war nicht allein. Immer war da jemand, beobachtete sie. Manchmal mehrere. Manchmal sprachen sie. Manchmal folterten sie sie. Da war auch eine Kamera. Sie filmten das hier. Als Abschreckung? Oder um sich daran aufzugeilen. Nein. Nein. Nein. Sie wollte so nicht enden. Sie durfte so nicht enden. Sie musste entkommen. Sie wollte nicht weinen. Doch sie hatte keine Kontrolle. Das war nicht sie. Sie selbst war kaum mehr als ein kleiner Funke im Hinterkopf, der darauf wartete, dass die Wirkung der Droge nachließ. Wie lange noch? Wie lange konnte sie noch überleben? Aktuell war da ein recht muskulöser Mann im Raum. Er saß auf dem Sofa, rauchte. Er schien abgelenkt zu sein, doch das brachte ihr nichts. Sie war komplett gefesselt. Es gab nichts, was sie tun konnte, um zu entkommen. Wenigstens hörte das, was auch immer sie kontrollierte, mit dem Weinen auf. Wenigstens das. Sie hing da nur. Stumm. Still. Ausgeliefert. Wenn sie nur schlafen könnte. Doch was, wenn sie nicht mehr aufwachte? Zeit verging. Der Typ kam zu ihr rüber, drückte die Zigarette an ihrer Schulter aus. Das hatten sie so oft getan. Sie sagte nichts. Sie rührte sich nicht. Sie konnte ihnen nicht die Genugtuung geben. Moment. Das hieß, sie kam langsam wieder in die Kontrolle über den Körper. Das musste heißen die Wirkung ließ nach. Gut. Oder auch nicht. Denn es hieß auch die Schmerzen würden nach und nach zurückkehren. Tatsächlich taten sie es. Und es waren so viele Schmerzen. Die blauen Flecken, die ihren Körper bedeckten. Die zwei Beulen, an ihrem Kopf. Da waren die Brandwunden, die angebrochenen Rippen. Schnitte. Und was auch immer in ihrem Inneren gerissen war. Unter ihr hatte sich ein kleiner Pool aus Blut, aber auch anderen Körperflüssigkeiten gebildet. Raus. Sie musste raus. Die Tür wurde geöffnet. Aber es war nicht Li. Stattdessen wieder die Frau, die Pakhet ursprünglich für Lis Bodyguard gehalten hatte. Doch was auch immer sie war: Es war mehr als nur das. Denn auch wenn sie vor Li duckte, so hatten die anderen Respekt vor ihr. Ja, sie schienen sie beinahe zu fürchten. Pakhet hätte es nicht gewundert, wenn sie auch in irgendeiner Form magisch gewesen wäre. Mehr als ein einfacher Mensch. Mit flötender Stimme sagte die Frau etwas zu Pakhets Wache. Sie trug ein Kleid, war fein herausgeputzt wie die ganze Zeit schon. Da sollte man meinen, dass die Leute schlechtere Dinge anzogen, wenn sie jemanden foltern wollten. Die Frau wechselte ein paar Worte mit dem Wächter, ehe sie zu Pakhet hinüberstolzierte. „Lebst du noch, Gweimui?“, fragte sie und sah ihr ins Gesicht. Da war eine kaum unterdrückte Freude in ihrem Blick. Was auch immer sie daran so spannend fand. Verdammt. Pakhet fiel es schwer zu sprechen. Sie wollte etwas erwidern, wollte etwas sagen, doch das Seil, dass gegen ihre ohnehin raue Kehle drückte, schnürte ihr die Worte ab. Dennoch bemühte sie sich, soweit möglich, um einen widerspenstigen Blick, durch das nicht zugeschwollene Auge. „Du hältst länger durch, als viele andere.“ Die Frau drehte sich zum Tisch, nahm den Taser, der ihr die meiste Freude zu bereiten schien. „Wir haben gewettet, weißt du?“ Pakhet schwieg. Sie schloss die Augen, erwartete den neuen Schmerz. Was konnte sie nur tun? Sie würden sie nicht losmachen, solange sie lebte, oder? Ihr Körper zitterte, als die Frau die Kontakte des Tasers gegen ihren Bauch drückte. Für einen Moment schwanden ihr die Sinne, doch es war nicht mehr als ein Moment. Wahrscheinlich hatten sie das Gerät extra so eingestellt. Pakhet atmete schwer. Sie würde es echt nicht viel länger ertragen können. Jetzt betrachtete die Frau sie enttäuscht. „Mit Drogen machst du mehr Spaß“, murmelte sie und seufzte. „Schrei wenigstens mal.“ Pakhet fiel es schwer sie durch den dichten Dialekt hindurch zu verstehen. Letzten Endes war es eh egal. Sie würde nicht antworten. Das Weib verdiente keine Antwort. Sie war genau so sadistisch wie Li. Wahrscheinlich war sie nur eine der Personen, die sich hinter jemanden Mächtigen versteckten, der es ihnen erlaubte, ihre Fantasien, ihre Gelüste auszuleben. Scheiße. Es war echt egal. Sie kam hier nicht raus. Nicht lebend. „Hast du nicht gehört, Gweimui?“, schnauzte die Frau jetzt. „Du bist langweilig.“ Wieder ratterte der Taser, ehe sie ihn gegen Pakhets Unterleib rammte. Der Schmerz schoss durch Pakhets Körper und doch gab sie nicht mehr als ein leises Stöhnen von sich. Sie zog die Beine unterbewusst an oder versuchte es zumindest, doch waren auch diese gefesselt und an den Boden gebunden. Verdammt. Sie konnte wirklich nichts machen. Außer zu hoffen … Nein. Es gab etwas. Es gab etwas, das funktionieren konnte. Und selbst wenn nicht hatte sie nicht mehr viel zu verlieren. Wieder sah sie die Frau an, soweit ihre Augen es ihr noch erlaubten. So gut sie konnte, leckte sie sich über die Lippen. Sie schluckte, versuchte sich zu beherrschen, bemühte sich ein einzelnes Wort über ihre Lippen zu bringen. „Was war das?“, zischte die Frau und beugte sich vor. Pakhet holte tief Luft. „Bitch“, hauchte sie dann. Das Wort hatte die erhoffte Wirkung. Wut funkelte in den Augen der Frau aus. „Wie lange willst du dich noch wehren?“ Pakhet antwortete nicht, fixierte sie nur mit ihrem Blick. „Du …“ Sie fluchte auf Chinesisch, ehe sie das Gerät in ihrer Hand wieder anschaltete. Nur kurz traf es auf Pakhets Haut, ehe sie es wegzog, nur um eine Sekunde später wieder zuzustoßen. Dann wieder. Erst beim vierten Kontakt ließ sie es länger liegen. Das Zittern lief durch Pakhets Körper, ließ sie keuchen. Die Muskulatur in ihrem Körper verkrampfte sich, ließ sie unkontrolliert zittern. Es gab nichts was sie dagegen tun konnte, doch spielte sie dieses Mal mit. Mit all ihrer Macht brachte sie sich dazu einen übertrieben langezogenes Keuchen hören zu lassen. Mit all ihrer Macht klammerte sie sich an ihr Bewusstsein. Sie musste genug behalten, als dass sie überzeugend spielen konnte. Trotz der Schmerzen, trotz des Zitterns versuchte sie irgendwie bei sich zu bleiben, bis die Frau endlich den Taser sinken ließ. Ruhe. Pakhet brauchte Ruhe. Sie ließ die Augen geschlossen, versuchte sich zu kontrollieren. Es war schwer. Der Schmerz bohrte sich von zu vielen Stellen wie ein glühender Nagel in ihren Geist. Aber es war die einzige Chance. Die einzige Chance. Denn wenn sie starb, würden sie irgendetwas machen, oder? Also atmete sie hörbar ein. Krächzend. Keuchend. Röchelnd. Sie bemühte sich so viel Sauerstoff wie möglich zu speichern, ehe sie ebenso übertrieben ausatmete. Sie hatte diesen Atemzug oft genug gehört. Den letzten Atemzug, den ein Mensch nahm. Das seltsame letzte Entweichen der Luft. Sie sammelte ihre Energie, konzentrierte sie nur auf zwei Dinge: Darauf irgendwie ohne die Luft bei Bewusstsein zu bleiben. Darauf ihren Herzschlag so weit möglich langsamer werden zu lassen. Das hatte sie nie versucht, doch es musste irgendwie funktionieren. Ihre Energie war ein warmes Kribbeln in ihrem Körper, dass sie mit ausreichend Konzentration bewegen konnte. Und jetzt bewegte sie es zu ihrem Herzen, in ihre Brust, nutzte sie, um dort zuzudrücken. „Na, was sagst du jetzt?“, zischte die Frau. Natürlich sagte Pakhet nichts. „Hey“, rief die Frau. Es war nicht überraschend, dass der Taser erneut die Haut traf. Es brauchte so viel Konzentration, so viel Willen – mehr als sie eigentlich haben sollte – nicht die Luft einzuziehen, als ihre Muskeln erneut zu zittern begannen. Dieses Mal war der Kontakt nicht lange. Die Frau wirkte verwirrt. Pakhet konnte ihre Schritte hören. Sie stolperte zurück. „Hey“, rief die Frau noch einmal aus. Mit der freien Hand versetzte sie ihr eine Ohrfeige. Ein Rascheln. Der Mann stand auf. Er kam zu ihr hinüber, sagte etwas auf Mandarin. Sorge klang aus seiner Stimme heraus. Die Frau protestierte. Ihre Schritte waren weiter unsicher, als sie rückwärts stolperte. Jetzt war der Mann bei ihnen. Er hielt eine Hand vor Pakhets Mund, wollte ihren Atem spüren. Nach einigen Sekunden tastete er nach ihrem Hals, ihren Puls. Er wartete – wartete so endlos lange. Dann wandte er sich wieder der Frau an. Pakhet erlaubte sich einen knappen, flachen Atemzug, der hoffentlich unbemerkt blieb. Der Mann klang ängstlich, beinahe panisch, als er mit der Frau sprach. Sie wiederum fluchte. Pakhet hörte das Wort Gweimui erneut heraus. Wenn sie richtig lag, hatte Li angeordnet, dass sie am Leben bleiben musste. Er hatte sie wahrscheinlich selbst töten wollen. Die beiden diskutierten. Dann wandte sich die Frau ihr zu, tastete selbst nach Pakhets Puls. Ihre Hand war angespannt. Ja, sie war wirklich panisch. Panisch und wütend. Eine weitere kurze Diskussion, dann wurde etwas von dem Tisch genommen. Innerlich flehte Pakhet, dass sie das taten, was sie hoffte. Mit der Panik hatte sie nicht gerechnet, doch es gab ihr vielleicht einen Vorteil. Wer panisch war, machte eher Fehler. Tatsächlich. Jetzt lief die Frau zur Wand, machte das andere Ende des Seils los, das Pakhet aufrecht hielt. Sie würden sie losmachen, wahrscheinlich in einem Versuch sie wiederzubeleben. Gut. Ausgezeichnet. Ein kurzer, weiterer Atemzug, gerade genug, um etwas Sauerstoff aufzufüllen. Tatsächlich war der Mann recht vorsichtig, als er sie zu Boden ließ. Wahrscheinlich wollte er verhindern, dass sie ihr das Genick brachen und damit Wiederbelebung ziemlich unmöglich machten. Die Frau war auch da, befreite die Beine von den Fesseln am Boden. Gut. Das lief besser, als gedacht. Ha. Offenbar hatte einer von beiden zumindest formale erste Hilfe gelernt. Es war nahezu lächerlich, dass sie es offenbar wirklich versuchten. Jedenfalls zog die Frau einen Stuhl hinüber, versuchte Pakhets Beine draufzulegen. Jetzt war der Mann da. Es folgte wieder eine Diskussion. Offenbar waren sie einander nicht einig. Lis Titel fiel. Ob die beiden wohl Angst hatten in derselben Situation zu enden? Von der Decke baumelnd? Letzten Endes gab der Mann trotzig klingende Worte von sich, schnitt das Seil an Pakhets Hals, dann die an ihrer Brust durch. Es lockerte ihren Arm ein wenig. Genug? Noch einmal fühlte er ihren Puls, fluchte wieder. Pakhet bewegte vorsichtig ihre Hand. Ja, etwas Bewegung war da. Ihre Hand fühlte sich so taub an. Aber zumindest hatte er sie nicht gebrochen. Offenbar hatten sie sie nicht wieder bekämpfen wollen, hatten die Fesseln daher die ganze Zeit nicht gelöst. Jetzt legte der Mann die Hände über ihre Brust, drückte zu. Großartig. Dabei waren ihre Rippen mindestens angebrochen. Doch zumindest gab es damit einen Grund für ihn sie weiter loszumachen. Denn der Arm hinter ihrem Rücken reichte, als dass ihr Körper sich mit seinen Bewegungen bewegte. Er hielt inne. Wahrscheinlich griff er nach dem Messer. Die Frau sagte etwas. Ihre Stimme war warnend. Gut. Ja. Er würde sie losmachen. Er würde ihre Fesseln lösen. Worauf wartete er noch? Den Geräuschen nach rangelten die Beiden ein wenig, doch letzten Endes wurde die Stimme des Mannes lauter und er riss sich los. Er durchschnitt das Seil an Pakhets Oberarm. Alle drei Schichten, um ihren Arm neben den Körper zu ziehen. Gut. Sie lenkte die Energie um, leitete sie in den Arm. Nach der Zeit so gefesselt war es schwer, die Muskeln zu kontrollieren, doch jetzt mussten sie ihr gehorchen. Nur kurz, doch sie brauchte volle Kontrolle. Und so leitete sie die Energie in ihre Muskeln, in ihre Sehnen, in ihre Nerven, hatte so etwas wie Gefühl in dem Arm. Schmerzen, ja, aber sie konnte sich beherrschen. Tief zog sie die Luft ein, ehe sie die Augen öffnete. Da. Er hatte das Messer in seiner Hand. Gut. Ausgezeichnet. Bevor sie bemerkt hatten, dass die vermeintliche Leiche weniger tot war, zog sie die Beine an, griff nach seinem Handgelenk und trat gegen seinen Unterarm. Ein unschönes Knacken erklang, dann hielt sie das Messer in der Hand. Er schrie auf, während sie sich zittrig bemühte, die Beine unter sich zu bringen. Nur kurz. Nur kurz Sie stieß das Messer in seine Kehle, schnitt sie ihm durch und damit seinen Schrei ab. Die Frau rief etwas auf Mandarin, doch hatte sie einen Fehler gemacht: Sie hatte den Taser abgelegt. Pakhet ließ das Messer fallen, warf nur einen kurzen Blick darauf. Ja, da war ein Regler. Bestens. Sie stellte ihn höher, schlug damit nach der Frau. Doch wie vorher zeigte sie, dass sie wusste, was sie tat. Sie war Kämpferin. Allerdings hatte ein Taser einen Vorteil: Eine Berührung genügte. Und so drehte Pakhet den Taser. Kurz kämpften sie, aber dann schaffte es Pakhet den Taser gegen den Oberschenkel der Frau zu drücken. Sie kreischte kurz, zitterte, verkrampfte sich. Gut. Pakhet ließ den Taser sinken und griff nach dem Messer, um es in den Bauch der Frau zu rammen. Sie dachte nicht wirklich darüber nach. Es gab nur eine Sache, die wichtig war: Sie musste hier heraus. Die Schreie hatte wahrscheinlich jemand gehört. Selbst wenn sie vermutete, dass der Raum gegen Geräusche leicht isoliert war. Wahrscheinlich waren da draußen irgendwo Leute. Diese sollten besser nicht hierher kommen. Sie sah sich um. Jetzt was? Ihr Körper schmerzte. Dennoch zog sie das Messer aus dem Bauch der Frau und schnitt die Fesseln, die ihre Fußgelenke aneinanderhielt damit auf. Dann Egal wie sehr es weh tat: Sie kämpfte sich auf die Beine, schaute zur Tür hinüber. Irgendwas um diese zu versperren … Dankbarerweise öffnete sie sich nach innen. Der Tisch. Der Tisch könnte funktionieren. Sie musste den Schmerz ignorieren. Nur etwas. So kämpfte sie sich zum Tisch hinüber und schob ihn. Ihr Kopf pochte und immer wieder bildeten sich dunkle Flecken in ihrem Blickfeld. Aber verdammt. Sie durfte sich nicht aufhalten lassen. Das hier war die beste Chance. Und so stellte sie den Tisch vor die Tür. Was draußen wohl gerade los war? Sie musste irrsinniges Glück gehabt haben, dass soweit niemand da war. Vielleicht hatte es doch niemand gehört. Und jetzt?` Raus. Es gab nur eine Methode. Die Fenster. Also gut. Jalousien waren dafür gemacht mit zwei Händen geöffnet zu werden, nicht mit einer halb tauben Hand. Dennoch kämpfte sie das Rollo weit genug auf, als dass sie hindurchpassen würde. Sie sah hinaus. Es war Nacht. Die wievielte Nacht auch immer. Doch das war nicht das Problem. Das größere Problem war, dass sie in einem oberen Stock war. Zehnter, elfter, zwölfter Stock. Es ging ein ganzes Stück in die Tiefe. Scheiße. Aber es war egal. Es musste egal sein. Besser in der Tiefe sterben, als hier. Sie brauchte die Kontrolle. Und vielleicht … sie war magisch. Sie hatte Möglichkeiten. Sie hätte mehr, würde ihr Körper nicht so schmerzen. Sie sah an sich hinüber. So viele Wunden. Blut lief zwischen ihren Beinen hinab. Wahrscheinlich aus ihrer Vagina. Li hatte nicht lang gebraucht, um zu merken, dass er damit die meisten Reaktionen von ihr bekam. Er war ein kranker Bastard. Fakt war: Sie hatte zu viel Blut verloren und wenn sie den dumpfen Schmerz in ihrem Bauchraum richtig deutete, waren da auch innere Blutungen. Vielleicht ihre Nieren. Vielleicht ihre Eierstöcke … Sie würde sterben, wenn sie nicht schnell Hilfe bekam. Hilfe, die nicht in einem Krankenhaus sein durfte. Einmal davon abgesehen, dass sie nicht sicher war, ob Li sie dort finden konnte … was auch immer es war, sie würden es entfernen. Das war, wie menschliche Ärzte damit umgingen. Nein. Nein. Falscher Ansatz! Sie musste erst hieraus kommen. Sie brauchte Kleidung. So nackt würde sie auffallen, würde man sie festnehmen. Kleidung. Sie wandte sich zu den beiden um. Seine Kleidung wäre etwas passend, vielleicht etwas klein. Es würde reichen. Für den Moment würde es reichen. So rasch sie konnte, zog sie ihm das Hemd aus. Es war Blutdurchtränkt, doch das konnte sie im Moment nicht ändern. Wenigstens fand sie in seinen Taschen ein Portemonnaie, gefüllt mit einigen Yuan-Scheinen. Gut. Es würde ihr helfen. Vielleicht auch die Frau? Erst einmal schlüpfte Pakhet in Hemd und Hose des Mannes. Seine Schuhe konnte sie vergessen. Jemand rüttelte an der Tür. Scheiße. Ein Ruf von draußen. Pakhet schnappte sich die Handtasche der Frau, schaute hindurch. Ja. Auch etwas Geld. Gut. Wenigstens etwas. Sie atmete durch, ging zum Fenster. Eine Waffe mitzunehmen machte keinen Sinn. Sie würde aktuell kaum kämpfen können. Dann öffnete sie das Fenster, lehnte sich hinaus. Sie war im zweitobersten Stockwerk. Ob sie es schaffen konnte das Dach zu erreichen? Aber was von da? Nein. Sie brauchte einen anderen Plan. Es sei denn … Da über ihr war das Ende eines Krans. Ja. Eventuell konnte sie das als Brücke benutzen. Aber was dann? Egal. Erst dahin kommen. Sie zog die Jalousien gänzlich hoch. Ihre Beine zitterten vor Schwäche, aber das durfte nicht sein. Sie wollte nicht sterben. Nicht so. Nicht … Mühsam kämpfte sie sich auf die Fensterbank, bemüht sich mit dem noch immer halbtauben Arm zu balancieren. Dann sammelte sie die Energie. Ob sie überhaupt reichen konnte? Wäre sie wenigstens ein Blutmagier … Aber so hatte sie keine Möglichkeit, als zu hoffen. Was war schon das schlimmste, was passieren konnte? Sie schloss die Augen, ging in die Hocke und stieß sich ab. Ihre Energie, die Magie in ihren Muskeln katapultierte sie gut drei Meter empor. Ja, es reichte gerade. Sie streckte die Hand auf, stöhnte, als ihr Gewicht an dem einen Arm hing. Sie würde nicht aufgeben. Sie würde nicht loslassen. Sie würde das hier überleben. Irgendwie. Wie sie es schaffte wusste sie nicht genau, doch am Ende zog sie sich aufs Dach, blieb für einen Moment liegen, verschnaufte. Smog und Lichtverschmutzung sorgten dafür, dass die Sterne nicht zu sehen waren. Dann kämpfte sie sich auf die Beine. Stimmen erklangen von unten. Schreie. Rufe. Sie suchten nach ihr. Bald würden sie die ganze Gegend absuchen. Spätestens wenn sie ihre Leiche nicht fanden. Das Dach war mit Schotter belegt, der unsanft in ihre Fußsohlen drückte, als sie das Dach entlang Richtung Kran humpelte. Dieser stand nur knappe zehn Meter oder so vom Haus entfernt. Das konnte sie schaffen. Sie musste es einfach schaffen. Es brachte sie zumindest auf die andere Seite des Hauses. Da hinten war der Fluss. Dahinter ein anderer Distrikt. Was würde man wohl sagen, wenn sie so ein Taxi rief? Blieb ihr eine andere Wahl? Sie schaffte es zu Fuß nicht zum Hotel. Nicht so. Sie hatte nicht genug Zeit. Selbst mit dem Taxi war es schwer. Doch wen hatte sie, den sie hier fragen konnte? Tenzien war entweder tot oder ein Verräter. Sonst kannte sie niemanden hier. Sie brauchte Michael und Michael konnte sie nur von ihrem Handy aus erreichen. Also nahm sie Anlauf, rannte, sprang, schlug unsanft gegen das Metall des Krans. Zumindest war sie weit genug gewesen. Doch sie rutschte ab, klammerte sich nur mühselig fest. Die schwarzen Flecken vor ihren Augen breiteten sich aus. Sie schloss die Augen, während sie sich an das kühle Metall klammerte. Sie durfte nicht loslassen. Sie wollte nicht sterben, verdammt … Sie wollte nicht sterben. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht bevor sie … ja, was eigentlich? Es war egal. Einige Male atmete sie tief durch. Atmete die Luft ein, die in ihrer Kehle brannte. Dann schob sie sich zwischen den Streben des Krans hindurch, um zur Leiter zu gelangen. Sie musste überleben. Irgendwie. Ja. Irgendwie. Kapitel 4: Drachenatem ---------------------- Pakhet musste sich an der Wand abstützen, um aufrecht gehen zu können. Sie hatte ihre Energie verbraucht. Das einzige, was sie auf den Beinen hielt, war ihr Wille. Egal. Sie war am Hotel. Sie war – hoffentlich – in Sicherheit. Es war spät genug in der Nacht, als dass kaum jemand hier war. Hoffentlich hatte niemand sie bemerkt. Sie konnte gerade keine Fragen beantworten. Und das Blut, das ihren Körper bedeckte, rief, genau so wie ihr geschwollenes Gesicht, schnell einige Fragen hervor. Das keiner der Taxifahrer sie zu einem Krankenhaus oder zur Polizei gefahren hatte, hatte sie tatsächlich überrascht. Auf dem Weg hierher hatte sie so oft das Taxi gewechselt, wie sie es gewagt hatte. Hoffentlich war ihr niemand gefolgt. Hoffentlich. Denn weiter könnte sie nicht kämpfen. Erst, als sie vor ihrem Zimmer stand, bemerkte sie, dass sie ihre Karte nicht dabei hatte. Diese lag noch immer in einem Schließfach in einer der U-Bahn-Stationen. Verdammt. Und jetzt? Was konnte sie jetzt tun? Wieder war da dieser Knoten in ihrem Magen. Würde sie sterben? Würde sie wirklich sterben? Sie brauchte ihr Handy, brauchte Michael. Ohne ihn hatte sie keine Chance schnell genug einen Heiler zu finden. Die Panik kroch ihre Kehle hoch. Sie wollte brüllen, schreien. Nein. Sie musste denken. Einfach denken. Es gab einfache Lösungen. Die Putzfrauen hatten Universalschlüssel. Meistens gab es welche in den Putzräumen. Wenn sie Glück hatte, dann war der nicht abgeschlossen. Gott, sie würde später Dinge erklären müssen. Doch jetzt war es egal. Jetzt musste sie überleben, brauchte ihr Handy. Wenn sie einmal ihr Handy hatte, konnte sie Michael anrufen. Dann konnte jemand sie heilen. Jemand würde sie heilen können … Selbst wenn sie dafür die Art von Schulden machen musste, die sie am meisten hasste. Sie schleppte sich zum Ende des Gangs, fand den Putzraum. Er war abgeschlossen, doch war das Zahlenpad an der Tür abgenutzt genug, als dass es nicht schwer war, dass lächerliche Passwort zu erraten. 1, 2, 3, 4. Die Tür ging auf. Ihr Blickfeld war, als würde sie in einen Tunnel schauen. Ein Tunnel, in dem seltsame schwarze Flecken schwammen. Da. Eine Uniform. Pakhets Hände hinterließen blutige Spuren auf dem Stoff. Doch da. Eine Karte. War es nur eine Mitarbeiterkarte oder kam sie damit in die Räume? Sie musste es einfach versuchen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Ihr war kalt. So kalt. Sie hatte zu viel Blut verloren. So zog sie die Tür zu, schleppte sich zu ihrer Zimmertür zurück und steckte die Karte in den Schlitz. Eine Sekunde verging. Dann ein Piepen. Das Licht über der Türklinke wurde grün. Die Tür ging auf. Gut. Dankbarerweise hatte sie das Zimmer ein paar Tage zu lang gebucht. Niemand hatte es ausgeräumt. Sie fiel halb in den Raum, hielt sich an der Tür fest. Scheiße. Verdammt. Sie schob die Tür zu. Dann krabbelte sie zu dem Bett hinüber, zum Nachtschrank, in dem sie ihr Handy gelassen hatte. Mit zittriger Hand fischte sie es heraus, klappte es auf und lehnte sich gegen das Bett. Sie brauchte mehrere Anläufe, die PIN einzugeben, während ihr Blick immer wieder verschwamm. Sie durfte nicht ohnmächtig werden. War sie einmal ohnmächtig, würde sie sterben. Endlich: Ihr Handy startete korrekt. Da. Sie konnte es nutzen, rief das Telefonbuch auf. Jetzt konnte sie dankbar sein, dass sie Michael unter „A“ wie „Arschloch“ gespeichert hatte. Sie schaltete das Handy auf Lautsprecher, während sie die südafrikanische Nummer wählte. Dann wartete sie. Seltsam, dass Michael nicht versucht hatte, sie anzurufen. Immerhin hatte sie sich an dem Abend melden wollen. Dem Datum nach war sie drei Tage in Gefangenschaft gewesen. Endlich seine Stimme. „Pakhet. Wie schön, dass du dich auch meldest.“ Sie schloss die Augen, atmete tief ein und aus. „Ich brauche einen Heiler, Michael“, hauchte sie. „Einen Heiler. Zum Hotel.“ „Einen Heiler?“ Seine Stimme klang hämisch. Nahm er jemals etwas ernst? „Ja. Michael. Bitte. Ich verblute.“ „Ich hoffe, du hast genug Geld dabei …“ „Nicht die Art Heiler, die Geld nimmt“, flüsterte sie. „Die Art, die man mit Gefallen bezahlt.“ Sie atmete schwer ein und aus. Es tat weh. „Ich bin im Hotelzimmer. Bitte.“ „Oh, darüber werden wir sprechen müssen.“ „Wenn du den Heiler nicht schnell herschickst, werden wir über gar nichts mehr sprechen“, erwiderte sie. „Bitte.“ Sie hasste es dieses Arschloch anzubetteln. „Bitte, Michael.“ Er lachte leise. „Verstanden.“ Damit legte er auf. Pakhet ließ das Handy sinken. Sie atmete tief, bewusst. Sie durfte nicht ohnmächtig werden. Nicht ohnmächtig. Sie musste wach bleiben. Wach. Irgendwie. Ihr war so kalt. Ihr Inneres fühlte sich an, als hätte jemand es komplett rausgenommen und irgendwie wieder reingesteckt. Ihr Bein schmerzte. Sie wäre nicht überrascht, wenn der Fuß ebenfalls angebrochen war. Egal. Alles war egal. Ein Heiler würde es alles hinbekommen. Ein guter Heiler würde die Dinge verschwinden lassen können. Sie brauchte jemanden, ein Fae, einen Geist, so etwas. Irgendsoetwas. Ihre Wangen waren nass. Vor Schweiß? Vor Tränen. Sie weinte. Weinte sie wirklich? Am liebsten hätte sie geschrien. Vielleicht tat sie es auch. Sie wusste es nicht. Sie wusste nichts mehr. Gar nichts mehr. Punkte tanzten selbst vor ihren geschlossenen Augen. Sie wollte nicht sterben. Nicht so. Sie wollte nicht sterben. Dann, endlich, wurde die Tür aufgebrochen. Sie konnte nur hoffen, dass es Leute waren, die hier waren, um sie zu einem Heiler zu bringen. Sehen tat sie nichts mehr. Und langsam schwanden ihr doch die Sinne. Viel bekam Pakhet nicht mit. Sie merkte, wie die beiden, die gekommen waren, sie aufhoben, stützten und auf eine Liege brachte. Zumindest das sprach gegen die Triaden. Sie wurde zu einem Wagen gebracht und für eine Weile verschwand die Welt wieder in Schwarz. Als sie das nächste Mal zu sich kam, waren die Schmerzen leicht gedämpft. Wahrscheinlich hatte man ihr etwas gegeben. Ordentlich konnte sie jedoch weiterhin nicht sehen. So blieb sie einfach liegen. Rührte sich nicht. Auch nicht, als man die Liege bewegte. Sie hatte nicht einmal gesehen, wie die, die sie geholt hatten, aussahen. Wasser plätscherte. Sie wusste nicht, was passierte, während man die Liege fuhr. Dann nahm sie jemand runter. Zwei. Sie trugen sie. Ließen sie in Wasser sinken. Würden sie sie ertränken? Es war egal. Sie konnte nichts mehr tun. Sie konnte nicht. Sie fiel. Es war schwarz. Alles war schwarz. Sie spürte ihren Körper nicht einmal mehr. Wie lange es so ging, konnte sie nicht genau sagen. Es rauschte, es plätscherte. Da war mehr Wasser. Mehr und mehr Wasser. Irgendwann erklang eine Stimme. Eine Stimme, die sie zu umgeben schien. „Ein Mensch?“ Die Stimme war tief, respekteinflößend. Ein leichtes Knurren klang in ihr mit. Dennoch war es schwer zu sagen, ob sie männlich oder weiblich war. „Du stirbst“, stellte die Stimme fest. Als ob sie das nicht selbst wüsste! „Das ist, warum man dich hergebracht hat“, meinte die Stimme. Dann war das der Heiler? „Ich denke von mir selbst nicht als ein Heiler. Aber ja. Man hat dich hergebracht, um geheilt zu werden.“ Was auch immer es war, konnte ihre Gedanken lesen. „Ich spreche direkt in deinen Geist“, erklärte die Stimme. Das erklärte einiges. Zumindest nahm es ihr die zusätzliche Belastung zu sprechen ab. „Ich kann dein Leben retten“, fuhr die Stimme fort. „Aber du weißt, dass es einen Preis hat.“ Natürlich wusste sie das. „Was ist es, das du genau willst?“ Pakhet sammelte ihre Gedanken. Versuchte klar zu denken: „Ich will, dass du die Wunden aus den letzten drei Tagen heilst, sie komplett verschwinden lässt. Keine Narben. Nichts. Ich will daran nicht länger erinnert werden.“ „Das ist nicht wenig“, stellte die Stimme fest. „Ich weiß.“ „Der Preis wäre entsprechend. Zwei große Gefallen.“ Große Gefallen. Das bedeutete Aufträge für magische Geschöpfe, die ziemlich sicher lebensgefährlich waren. „Man hat dich also aufgeklärt.“ „Ja“, dachte sie. „Ja?“ „Ja. Ich bin mit dem Preis einverstanden. Zwei große Gefallen für eine vollständige Heilung.“ „In Ordnung“, erwiderte die Stimme. Wind rauschte. Ein seltsamer Wind, der Regen mit sich brachte oder zumindest danach roch. Er war kalt, aber nicht kühl. Er umgab ihren Körper. Jedenfalls war das das letzte, was sie spürte, ehe die Sinne ihr schwanden. Ob durch einen Zauber oder aus Schwäche vermochte sie nicht mehr zu sagen. Als Pakhet zu sich kam, war sie nackt. Sie lag auf einem weichen, jedoch feuchten Untergrund. Moos. Sie blinzelte. Ihre Sicht war wieder frei. Sie konnte sehen. Sie konnte sich auch bewegen, sich aufsetzen, ohne dass es schmerzte. Richtig. Sie war wirklich zu einem Heiler gebracht worden. Ein Glück. Das hieß wohl, dass dieser Ort das Territorium des Heilers war? Ein Geist? Nein. Das hier sah nach Anderswelt aus. Ein Fae. Tatsächlich war ihr Lager ein länglicher, moosüberzogener Fels gewesen, der zwischen sechs Pfeilern stand. Diese Pfeiler hielten – wie auch immer – Wasser über ihnen, hielten es davon ab auf die Felsen zu tropfen. Die Pfeiler waren mit bunten Farben und Zeichnungen verziert. Es erinnerte an irgendein Heiligtum oder so etwas. Allerdings hatte sich Moos auch über die Pfeiler gezogen. Nur den Heiler konnte Pakhet nicht sehen. Was hätte sie für Kleidung getan? Doch ihre Kleidung war nicht hier. Nun, die Kleidung, die sie von dem Typen geklaut hatte, war ohnehin hinüber. Dennoch. Sie mochte das Gefühl der Nacktheit nicht. Sie hatte es nie gemocht, aber nach den letzten Tagen war es noch schlimmer. Sie lenkte sich ab, in dem sie ihre Beine begutachtete. Dort, wo die Schnitte gewesen waren, war keine Spur zu sehen. Keine Rötung. Keine Narbe. Dasselbe galt für die Stellen, an denen sie die Zigaretten ausgedrückt hatten. Vorsichtig tastete sie zwischen ihre Beine, zuckte unter ihrer eigenen Bewegung zusammen. Erinnerungen. Da waren die Erinnerungen. Nein. Nicht jetzt. Nicht jetzt … Sie hatte auch dort aufgehört zu bluten. Auch der Schmerz in ihrem Inneren war verschwunden. Sie war wirklich geheilt. Seufzend blieb sie sitzen, zog die Beine an, um ihren Körper vor möglichen Blicken zu schützen. Ja. Die Fae dachten nicht so über nackte Körper, aber dennoch fühlte sie sich so etwas besser. Wie kam sie jetzt in die reale Welt zurück? In die physische Welt? Sie legte die Stirn gegen die Knie. Ihr Magen knurrte. Sie spürte den Hunger. Es war kaum verwunderlich. Immerhin hatte sie so wenig gegessen und eine Heilung nahm auch einige Energie vom Geheilten. Also. Wo konnte sie etwas zu Essen bekommen? Wahrscheinlich musste sie auf den Heiler warten. Also wartete sie. Sie hatte überlebt. Der Gedanke breitete sich in ihrem Inneren auf. Sie hatte überlebt. Sie hatte irgendwie überlebt. Sie würde nicht sterben. Ein Glück. Sie hatte wirklich nicht so sterben wollen. Diese Arschlöcher. Warum hatten sie ihr das angetan? Das war mehr gewesen, als sie je befürchtet hatte. Es wäre verständlich gewesen, hätte er ihr das Gift gespritzt, das für ihn bestimmt war. Doch nicht das. Nichts davon. Sie hatte solche Angst gehabt. Wieder kämpfte die gegen Tränen. Nein. Sie würde nicht weinen. Sie weinte nicht. Sie war niemand, der so die eigene Schwäche zeigte. Sie war stärker als das. Sie weinte nicht. Sie hatte seit fünfzehn Jahren nicht mehr geweint. Also atmete sie bewusst ein und aus, bemühte sich um Entspannung, bis sie etwas hörte. Da bewegte sich etwas im Wasser. Sie sah auf, sah in das endlose Wasser, dass den Platz zwischen den Pfeilern in alle Richtungen zu umgeben schien. Da war ein längliches Wesen, das durch das Gewässer schwamm. Ein längliches Wesen, dass hierher kam. Erst einen Moment, bevor der Kopf das Wasser durchbrach, erkannte Pakhet, was es war: Ein Drache. Ein langer, bläulich schimmernder Drache. Sie musste sich beherrschen nicht von ihm zurückzuschrecken. Er musterte sie. Seine Augen waren so groß, wie ihr ganzer Schädel. Sie glommen in Jade, als würde ein Feuer sie ausfüllen. Wie chinesische Drachen auf den Zeichnungen, die sie gesehen hatte, hingen Haare von seinen Hüstern hinab. Ein seltsamer Bart. Doch diese Haare streckten sich nun nach ihr aus. Sollte sie davor zurückweichen? Sie blieb sitzen. Wenn der Drache sie hätte töten wollen, hätte er es lange getan. Und so berührten die Haare ihre Stirn, ehe einen Moment später wieder die Stimme erklang. „Ich sehe, du bist wach.“ Das war also, wie der Drache kommunizierte. „Jedenfalls, wenn es mit einem Fremdländer ist.“ „Ich … verstehe.“ „Gut. Dann bist du nicht schwer von Begriff.“ Die Augen des Drachen ruhten auf ihr. „Nein. Bin ich nicht.“ Offenbar musste sie nicht sprechen, damit er sie verstand. „Natürlich nicht.“ „Warum bin ich noch hier?“ „Weil ich dir die Ruhe gönnen wollte und sicher stellen musste, dass du dich noch an unsere Abmachung erinnerst.“ Pakhet atmete tief aus. „Ja. Zwei große Gefallen.“ „Richtig. Dann verstehen wir uns.“ Die Lippen des Drachen verformten sich zu der Karikatur eines Lächelns, das zu viele spitze Zähne zeigte. „Ja. Ich halte mein Wort. Ist einer der Gefallen jetzt fällig?“ „Nein. Noch nicht. Ich werde dich bei Zeiten kontaktieren.“ „Heißt es, dass ich in die physische Wert zurückkehren kann.“ „Kannst du?“ Der Drache grinste. „Ich kann nicht selbst du Ebene wechseln“, erwiderte sie in Gedanken. „Ja. Ich weiß.“ „Dann?“ „Ich habe noch ein Angebot zu machen.“ „Ein Angebot?“ Das war nie ein gutes Thema, wenn es von einem Fae aufgebracht wurde. „Kein Grund so misstrauisch zu sein.“ Der Drache ließ seinen Kopf ein wenig sinken, um nicht über ihr zu schweben. „Mir ist nur der Umstand mit deinem Arm aufgefallen, Menschlein. Du hast einiges verloren.“ Es war klar, worauf es hinauslaufen würde. „Ich könnte deinen Arm wiederherstellen. Deinen Arm und das Auge. Für fünf Jahre Dienerschaft jeweils.“ Ja, genau das war der Grund, warum sie es nie hatte machen lassen, seit sie von Magie wusste. „Ich habe andere Verpflichtungen.“ „Für diesen Mann arbeiten, den du so verachtest?“ „Er ist ein notwendiges Übel“, erwiderte sie. „Deswegen muss ich dein großzügiges Angebot ausschlagen. Im Moment kann ich es mir nicht erlauben.“ „Zu Schade“, meinte die Stimme des Drachen in ihrem Kopf. Er hauchte sie an. Es war sein Atem, der nach Regen roch. „Kannst du mich in die physische Welt zurückschicken?“ „Ich habe wohl keine Wahl, hmm?“ Sein Blick wanderte zu einer Wasserfläche zwischen zwei der Pfeiler hinüber. Licht reflektierte sich in ihr, stärker. Es glitzerte, bis sie zu einer spiegelnden Fläche wurde. „Du wirst im Gemach von einer meiner Dienerinnen erscheinen“, erklärte der Drache. „Sie wird dir helfen.“ „Für weitere Schulden?“ Ein Lachen klang durch ihren Kopf. „Nein. Meine Diener sind im Preis einbegriffen. Außerdem glaube ich, sie haben sich bereits monetär zahlen lassen.“ Pakhet nickte. Sie zögerte, stand dann aber auf. Wie war es noch gleich? Sie verbeugte sich, auch wenn sie nicht sicher war, ob das in China richtige Etikette war. „Ich danke Euch dafür, mein Leben gerettet zu haben.“ „Wir werden voneinander hören.“ Pakhet atmete tief durch, ehe sie zur Spiegelwand hinüberging. Es war gruselig sich selbst so zu sehen. Nackt. Doch zumindest waren offenbar keine Narben an ihrem Körper geblieben. Und so schloss sie die Augen und trat durch das Wasser hindurch, nur um mit dem Fuß einen Moment später auf eine Holzfläche zu treten. Sonnenlicht schien in das Zimmer, das nach einem einfachen Arbeitszimmer aussah. Die Wände waren weiß gestrichen. Da war ein Schreibtisch, daneben ein Regal, gefüllt mich Büchern in verschiedenen Sprachen. Die meisten jedoch chinesisch. Ob Mandarin oder Kantonesisch konnte sie nicht sagen. Da lag ein Bademantel über dem Stuhl. War er für sie? Pakhet sah sich um. Aktuell wünschte sie sich nichts mehr, als Kleidung. Sie konnte sich später entschuldigen. So nahm sie erst einmal den Bademantel und zog ihn sich über. Sie atmete durch, als sie den Mantel vor dem Körper zuband. Ja. So fühlte es sich besser an. „Hallo?“, fragte sie in die Leere hinein. Sie kam sich mies vor, sich einfach umzuschauen. Aber ihr blieb kaum eine Wahl, da sie auch Hunger hatte. Den Raum hatte sie durch einen großen Standspiegel betreten, der nun unscheinbar hinter ihr stand. Zu ihrer rechten – dank der Raumgröße keine zwei Meter von ihr entfernt – war eine weiße Tür. Vorsichtig ging sie dahin hinüber, fand hinter der Tür einen schmalen Gang. „Hallo?“ Eine Stimme erklang irgendwo weiter den Gang hinab: „Entschuldigen Sie.“ Die Stimme hatte erneut Dialekt, doch aktuell war Pakhet wacher, tat sich damit leichter sie zu verstehen. Eine andere Tür wurde geöffnet. Licht drang in den Flur. Dann kam eine kleine, behäbig wirkende, jedoch junge Frau in den Flur gelaufen. „Entschuldigen Sie. Ich habe die Katze gefüttert.“ Pakhet bevorzugte es diese Aussage unkommentiert zu lassen, hob daher nur eine Augenbraue. „Ich … ich bin mir nicht ganz sicher, wo ich bin.“ „In meiner Wohnung“, erwiderte die Frau. „Entschuldigen Sie. Sie kennen mich nicht. Ich bin Weiwen. Meinen Nachnamen müssen Sie ja nicht wissen. Ich habe Sie zu Meister Hualong gebracht.“ Für einen Moment zögerte Pakhet. „Dann haben Sie mir mein Leben gerettet. Danke.“ „Ja. Ihr Kontakt hat mich angerufen. Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten. Dankbarerweise waren Sie nicht so weit entfernt.“ Pakhet nickte. Sie war sich nicht sicher, was sie sagen sollte. Es fühlte sich seltsam unwirklich an. Hier zu sein. Zu leben. Die Sonne draußen. „Haben Sie Kleidung für mich?“, fragte sie schließlich, um die Frau, die ihr gerade einmal bis zur Brust reichte, nicht mit offenen Mund anzustarren. „Kleidung? Oh, natürlich. Wir haben Ihren Koffer mitgenommen“, erwiderte die Frau. „Und die anderen Dinge. Die Bezahlung haben wir uns schon genommen. Wenn das in Ordnung ist. 450 Yuan.“ Wieder nickte Pakhet bloß. „Ja, das ist in Ordnung. Sie …“ Sie unterbrach sich. „Wo ist mein Koffer?“ „Ich bringe ihn Ihnen“, antwortete die Frau. Ohne auf eine Erwiderung zu warten, wandte sie sich ab und verschwand in einem weiteren Zimmer. Es waren einige Laute zu hören, als sie offenbar nach den richtigen Dingen suchte. Die vorher erwähnte Katze nutzte die Zeit, um ihrem vorherigen Raum zu fliehen. Sie kam den Gang hinaufgelaufen, huschte an Pakhets Beinen vorbei und hockte sich in den Raum. Von dort aus beobachtete sie Pakhet und ließ ein vorwurfsvolles Mauzen von sich hören. Pakhet starrte das Tier nur an. Sie wusste nicht wirklich, wie sie damit umgehen sollte. Die Katze war recht groß, vornehmlich weiß, jedoch mit einem länglichen grauen Flecken am Rücken, sowie grauen Spitzen an den Ohren. Die Augen waren gelblich und selbst dann noch auf sie gerichtet, als die Katze anfing ihre Pfoten zu lecken. „Mei“, meinte Weiwen vorwurfsvoll, als sie mit dem Schiebekoffer den Gang hinaufkam. Sie stellte sich hinter Pakhet in die Tür und schaute die Katze strafend an. Die Katze störte sich daran jedoch nicht. Dann drückte Weiwen Pakhet den Koffer in die Hand. „Hier. Da sollten die meisten Dinge drin sein. Die Waffen und dergleichen haben wir in eine Tüte gepackt. Auch die unter dem Bett.“ Sie strahlte Pakhet an. Ein wenig gruselig kam die Frau Pakhet vor. In den weiten, gemütlichen Dingen sah sie nicht wie jemand aus, der in magischen oder illegalen Dingen involviert war. Doch wahrscheinlich war es nur ein Vorurteil. Dennoch ließ die weite Strickjacke, die die Frau trug, sie ein wenig wirken, als sei sie auf halben Weg zur seltsamen Katzendame. Natürlich behielt sie diese Gedanken für sich. „Danke“, sagte Pakhet daher nur. „Ich werde mich dann anziehen.“ „Machen Sie das“, erwiderte Weiwen. „Soll ich Ihnen noch etwas zu essen bringen?“ Pakhet nickte. „Das wäre sehr nett. Danke.“ Die Frau lächelte breit. „Kein Ding.“ Dann wandte sie sich wieder der Katze zu. „Kommst du, Mei?“ Als wüsste sie ganz genau, was ihr Frauchen wollte, wandte die Katze ihr den Rücken zu und begann sich ausgiebig zwischen den Hinterbeinen zu lecken. „Also mich stört die Katze nicht, solange es eine normale Katze ist“, meinte Pakhet. „Ist eine sehr normale Katze“, bestätigte Weiwen. Pakhet nickte. „Dann ist es alles okay.“ Sie wollte sich einfach nur anziehen. „Sehr gut. Ich schaue mal, dass ich Essen besorgen kann“, meinte Weiwen und wandte sich ab. Pakhet atmete auf und schloss die Tür, ehe sie sich dem Koffer zuwandte. Ihr war nicht ganz wohl dabei, dass die Frau und wer auch immer sie vorher begleitet hatte, die Sachen durchschaut hatten. Aber es war wohl das geringste ihrer Probleme der letzten Tage. Sie öffnete das Schloss des Koffers, dann den Reißverschluss. Vorsichtig klappte sie den Koffer auf und zögerte. Sie atmete durch. Es war alles so surreal. Sie hatte das überlebt. Aber es fühlte sich nicht richtig an. Nein, das war es nicht. Es fühlte sich gut an, zu leben, keine Schmerzen mehr zu haben. Nur schien ihr Gehirn Probleme damit zu haben, die magische Heilung zu verarbeiten. Nicht, während es noch versuchte das Trauma der vergangenen Tage zu überwinden. Langsam ließ sie sich auf den Boden sinken, lehnte den Rücken vorsichtig an das Bücherregal. Das Atmen fiel ihr seltsam schwer, als ihre Gedanken zu den Ereignissen in diesem Zimmer wanderten. Verflucht. Sie hatten sie gefoltert. Sie hatten sie vergewaltigt. Sie hatte immer gewusst, dass so etwas passieren konnte, dass es zum Job dazu gehören konnte. Vor allem als Frau. Aber sie hatte es nicht gewollt. Sie hatte Angst gehabt. Solche Angst. So viel Angst, die sie nicht hatte zeigen dürfen. So viel Angst. Nein. Sie durfte ihre Gedanken nicht dieses Loch hinablaufen lassen. Sie musste sich anziehen. Und dann … ja, dann was? Kapitel 5: Pläne ---------------- „Was machen wir nun?“, fragte Michael. Eine gewisse Aggression lag in seiner Stimme. Eine Herausforderung. Pakhet biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte ihn verfluchen. Wollte ihn anschreien. Im Moment brachte es sie aber nicht weiter. „Ich …“ Als hätte er drauf gewartet, dass sie sprach, unterbrach Michael sie: „Du kommst besser zurück.“ „Nein. Ich werde nicht zurückkommen.“ Die Wut brannte in ihrem Magen. Die Wut auf Michael, auf Li, auf die gesamte verfickte Situation. „Was willst du denn machen, Mädchen?“, fragte Michael mit Spott in der Stimme. „Ich werde Li töten“, erwiderte sie. „Und wie hast du das vor? Du bist ihm entkommen. Er wird mit einem Angriff rechnen.“ „Na und? Ich bin ihm entkommen. Dann kann ich ihn auch töten.“ Sie würde nicht von hier gehen, bevor sie dieses Arschloch getötet hatte. Das war sie ihm verdammt noch einmal schuldig. „Meine Liebe“, meinte Michael, „du willst Rache.“ „Und was ist das für ein Problem? Meine Rache kommt wunderbar mit meinem Auftrag überein.“ „Dann hast du vor, dich noch einmal von ihm überwältigen zu lassen? Immerhin ist er dir ja eindeutig im Nahkampf überlegen.“ Pakhet atmete gleich zwei Mal tief ein und aus, um ihre Wut herunterzuschlucken. Sie würde Michael nicht anschreien. Sie würde ihm diese Genugtuung nicht geben. Er kontrollierte sie nicht. „Ich habe einen Plan.“ Nur eine halbe Lüge. Sie hatte den Anfang eines Plans. „Was für einen Plan denn?“ „Einen Plan, der es erfordert, dass ich neues Gift bekomme“, erwiderte sie nüchtern. „Also brauche ich einen Zulieferer. Jemanden, dem ich vertrauen kann.“ Sie war sich beinahe sicher, dass Tenzien es war, der sie verraten hatte. „Und dann, was?“ Sie schnaubte. „Willst du dir das wirklich so genau anhören? Ich habe nicht wirklich Lust, es ausführlich niederzulegen, nur um am Ende in eine Falle zu laufen.“ „Traust du mir etwa nicht?“ „Ich traue niemanden. Wie es in diesem Job notwendig ist, oder?“ „Wohl wahr.“ Ein Schmunzeln klang aus seiner Stimme. „Nun gut, Jo. Ich werde sehen, ob ich etwas erreichen kann. Weil du es bist.“ Sie erwiderte nicht sofort etwas, starrte stattdessen aus dem Fenster. „Wann glaubst du, dass du etwas weißt?“ „Gib mir zwei Stunden“, antwortete Michael. „Okay.“ Leise atmete sie aus. „Zwei Stunden.“ Damit legte sie auf. Mit Abschiedsworten rechnete auch Michael nicht. So saß sie da, das Handy in ihrer einen Hand. Noch immer war sie in dem kleinen Zimmer, saß auf dem Bürostuhl mit einer Katze auf dem Schoß, die von all ihren Problemen nichts wusste, sich jedoch gemütlich zusammengerollt hatte. Ein seltsam beruhigendes Gefühl. Matt legte sie das Handy auf dem Schreibtisch ab und fuhr mit der Hand langsam durch das Fell der Katze. Draußen dämmerte es. Es war schwer zu glauben, dass sie mitten in Shanghai war, sah sie doch auf ein ruhiges Tempelgelände und Bäume hinaus. Sie wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Sie wusste nicht, ob sie hier übernachten konnte. Alles was sie wusste war, dass sie Li umbringen würde. Sie würde ihn töten, würde sich dieses Mal auch nicht von seiner Magie überraschen lassen. Was sie plante, brauchte Vorbereitung. Es würde sie am Ende mehr kosten, als sie durch den Auftrag verdiente. Aber das war es ihr wert. Jetzt war es persönlich. Sie wollte ihm ins Gesicht sehen, wenn das Leben langsam seinem Körper entwich. Sie würde es genießen. Dabei tötete sie normalerweise nicht gern. Er jedoch hatte es verdient. Ein Zittern lief durch ihren Körper, als die Erinnerung an die Schmerzen, seine Hände, seine Berührungen, die der anderen Männer in ihr hochkam. Sie hatten es genossen, sie langsam zu töten. Sie hatten es genossen, sie dabei zu vergewaltigen. Es hatte ihnen einen besonderen Kick gegeben. Sie hatten gewollt, dass sie weinte, dass sie wimmerte, dass sie um ihr Leben flehte, hatten ihr deswegen die Drogen gegeben. Das schlimmste war, dass sie es damit geschafft hatten. Selbst jetzt war sie sich nicht sicher, ob der Drache alles geheilt hatte. Weiwen hatte ihr zu Essen gebracht. Zu Essen. Trinken. Sie hatte ihr auch erlaubt, zu duschen. Offenbar hatte sie verstanden, dass Pakhet es für ihren Seelenfrieden brauchte. Die junge Frau schien nett zu sein, selbst wenn es für sie wahrscheinlich nur eine gute Geschäftstaktik war. Am Ende würde Pakhet wahrscheinlich auch für diese Dienste noch zahlen dürfen. Es war egal. Sie hatte genug auf der hohen Kante. Selbst mit dem verbockten letzten Job. Verbockt. Ja. Jedenfalls wenn es nach Michael und dem Auftraggeber ging. Dabei hatte sie Michael von Anfang an gesagt, dass sie so etwas nie tun würde. Ihren ersten Schock hier hatte sie nun gehabt, als sie auf der Toilette gewesen war. Ihr Urin hatte kleine Blutklümpchen beeinhaltet. Nicht untypisch, ließ eine magische Heilung doch getrocknetes Blut nicht einfach verschwinden. Doch war der Anblick im ersten Moment nicht weniger erschreckend gewesen. Wieder zitterte sie. Das waren alles keine guten Gedanken. Verdammt. Warum hatte sie auch alleine hierher gehen müssen? Weil Michael es so gesagt hatte … Wie viel davon hatte er geplant? Hatte er sie loswerden wollen? Sie war sich nicht sicher. Doch der Gedanke war mehr als nur ein wenig beunruhigend. Was, wenn er sie wirklich tot sehen wollte. Warum? Weil sie ihn hintergangen hatte – zumindest in seiner Weltsicht? Weil sie den letzten Auftrag verweigert hatte? Sie atmete tief ein und aus. Wo war Weiwen? Sie konnte die Zeit genausogut nutzen, um sie zu fragen. Denn so wenig sie auch über die Frau wusste: Sie war Magierin und wusste damit wahrscheinlich, woher Pakhet bekommen konnte, was sie für ihren Plan brauchte. Ein letztes Mal strich sie durch das Fell der schnurrenden Katze, ehe sie das Tier griff und vorsichtig aufstand. So sanft wie möglich setzte sie die Katze auf dem Boden ab und erntete dafür einen vorwurfsvollen Blick. „Es tut mir leid. Ich muss mit deinem Frauchen reden“, erklärte Pakhet, doch der Blick erweichte sich nicht. Sie seufzte. Warum redete sie überhaupt mit einer Katze? Wahrscheinlich weil es gut war, wenigstens mit irgendjemanden zu reden. Noch immer fühlte sich ihre Kehle kratzig an. Wahrscheinlich ein rein psychischer Effekt. Denn selbst wenn ihre Schreie ihre Kehle wund gemacht hatten, so sollte auch dieser Schaden mit der Heilung verschwunden sein. „Weiwen?“, fragte sie vorsichtig in den Flur. Sie war sich unsicher, was sie hier durfte. Doch letzten Endes würde die junge Frau ihr wahrscheinlich einfach Geld verlangen. So seufzte Pakhet, trat in den Flur und räusperte sich noch einmal. „Weiwen?“ Keine Antwort. Wohin war die Frau verschwunden? Hätte sie ihr nicht sagen können, wenn sie ging? Unschlüssig stand Pakhet im Flur, ging schließlich noch einmal in das kleine Bad. Wie für Magier typisch war der Spiegel hier klein ausgefallen, um nach Möglichkeit ungebetene Gäste fernzuhalten. Der große Spiegel, über den sie die Wohnung betreten hatte, war irgendwohin verschwunden. Müde wusch Pakhet sich das Gesicht. Sie spürte durchaus die Müdigkeit, die trotz der Ohnmacht langsam wieder von ihrem Geist Besitz ergreifen wollte, kämpfte für den Moment jedoch dagegen an. Sie wollte noch andere Dinge tun. Wenigstens etwas. Sie seufzte und schaute dennoch in den kleinen Spiegel, der nicht viel größer war, als ihre ausgestreckte Hand. Trotz der Heilung sah sie müde aus. Da waren Schatten unter ihren Augen, als hätte sie nicht genug geschlafen. Hatte sie nicht. Sie hatten sie nicht genug schlafen lassen. Verflucht. Sie wollte nicht wieder in diese Gedanken fallen. Es war nichts, was sie im Kopf behalten sollte. Verdammt. Vielleicht sollte sie früher oder später einen Magier beauftragen ihre Erinnerungen zu löschen? Dann wiederum: Wollte sie echt einen Geistesmagier an ihre Erinnerungen lassen? Ja, wahrscheinlich eher nicht. Geistesmagier waren gruselig. Ihre Fähigkeiten nichts, womit man spielen sollte. Sie würde die Erinnerungen einfach in ihrem Unterbewusstsein vergraben. Hatte im Irak auch wunderbar geklappt. Dabei lag der Gedanke, wie ein bitterer Film in ihrem Mund. Verdammt. Sie lehnte sich auf den Rand des Waschbeckens, schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Dankbarerweise blieb ihr zumindest das. Meditationstechniken. Die einzige Sache, die sie am Laufen hielt. Das einzige, was sie den Scheiß hatte überleben lassen. Sie lebte. Das war das wichtigste. Die Augen öffnete sie erst, als sie das Geräusch von Schlüsseln vernahm. Draußen im Flur. Vorsichtig bewegte sie sich zur Tür. Wahrscheinlich nur ein anderer Bewohner des Apartmenthouses. Oder Weiwen. Der Schlüssel wurde in die Tür gesteckt. Das Schluss drehte sich knackend. Ihre verdammte Paranoia flammte in Pakhets Innern auf. Sie wollte ihre Waffe holen. Aber es war albern. Oder? Warum trug sie ihre Waffe nicht bei sich. Sie hasste es ihre Waffe nicht im Holster zu tragen. Warum musste es nur immer Aufmerksamkeit erregen? Die Tür wurde geöffnet. Dann kam Weiwen mit einer Einkaufstasche herein. „Ah, Miss Pakhet“, meinte sie, als sie Pakhet in der Tür stehen sah. „Entschuldigen Sie. Ich war kurz etwas einkaufen.“ Pakhet zwang sich zu einem Lächeln. „Alles in Ordnung.“ Von der Tür aus beobachtete sie, wie die Frau die Dinge zur Küche brachte und damit wohl auch die Aufmerksamkeit der Katze auf sich zog. Denn auf jeden Fall ließ auch diese sich in der Tür des Arbeitszimmers blicken. Das Tier mauzte leise, ehe es in die Küche huschte. Kurz hielt Pakhet inne, ging dann aber in den Flur und blieb vor der Küchentür stehen. „Sagen Sie, Weiwen, könnte ich Ihre Dienste noch weiter in Anspruch nehmen. Gegen Bezahlung natürlich.“ Die Frau pausierte kurz, die Hand auf halben Weg zum Kühlschrank. Schnell stellte sie den Joghurt in den Kühlschrank, schloss dann die Tür. „Ja, natürlich. Worum geht es denn?“ Ihr Lächeln war gewinnend, aber einstudiert. Natürlich. Pakhet kannte dieses Lächeln zu gut. Dennoch erwiderte sie das Lächeln steif. „Vorerst zwei Dinge. Zum einen brauche ich eine Unterkunft für die nächsten Tage.“ „Fahren sie nicht in ihre Heimat zurück?“, fragte Weiwen. „Nicht direkt. Nein.“ Pakhet bemühte sich um ein Lächeln. „Die Sache ist eben, ich muss irgendwo bleiben. Idealerweise an einem sicheren Ort.“ „Ich verstehe.“ Für einen Moment schwieg Weiwen. „Ich denke, Sie können hier bleiben. Ich bin sicher, dass man Ihnen nicht hierher gefolgt ist. Ich würde 1000 Yuan pro Tag berechnen. Zumindest sollten Sie hier vor Aufspürzaubern sicher sein.“ Pakhet nickte nur. „Die andere Sache ist … Ich brauche einige magische Ausrüstung.“ „Magische Ausrüstung?“ „Ja.“ Weiwen musterte sie misstrauisch für ein, zwei Sekunden. „Sie wollen zu der Person, die Sie so zugerichtet hatte, nicht wahr?“ Noch einmal holte Pakhet tief Luft. „Ja. Das ist mein Plan.“ „Wer war es?“ Pakhet sah sie an. Was sollte sie darauf antworten. Nach kurzem Schweigen hakte Weiwen nach: „Triaden?“ Daraufhin nickte Pakhet. Zumindest so viel konnte sie sagen. „Sie wissen, dass es hier gefährlich ist, sich mit diesen Leuten anzulegen?“ „Ja.“ Als ob sie nicht genug Erfahrungen mit Mafias hatte. Immerhin gehörte es zu ihrem Job mit diesen zu arbeiten. „Ich verlange nicht, dass Sie sich mir anschließen.“ „Was ich sage ist: Die Triaden hängen mit vielen Dingen zusammen. Wenn die falschen Leute uns sehen …“ „Dann ist das ein 'Nein'?“ „Es ist eine Aufforderung für eine zusätzliche Bezahlung.“ Pakhet nickte nur matt. Es war ihr alles egal, solange sie dieses Arsch töten konnte. Michael rief sie beinahe genau zwei Stunden später zurück – wie versprochen. Wieder wirkte er herablassend, aber sie hatte kaum eine Wahl, als auf ihn zu hören. „Ich habe einen Namen“, erklärte er. Pakhet saß in Weiwens kleinen Wagen und sah aus dem Fenster, während sie sich im Schritttempo die Straße entlang bewegten. Zu Fuß laufen wäre wahrscheinlich schneller gewesen. „Ja?“ „Du willst dich um neun mit einem Herrn Bei Zhao treffen. Im Starbucks am Hong Qiao.“ Bei Zhao. Pakhet merkte sich den Namen, da sie nichts zum Schreiben hatte. „In einem Starbucks?“ „Ja“, erwiderte Michael. „Er war spezifisch.“ „Wer ist er?“ „Dein Auftraggeber“, antwortete Michael. „Er wird dich mit mehr Heroin versorgen.“ Pakhet schürzte die Lippen. Das gefiel ihr nicht. „Moment, du hast ihm gesagt, dass ich gefangen genommen wurde und jetzt will er sich mit mir treffen?“ „Ja.“ Entweder war ihr Auftraggeber besonders dumm oder selbst darauf aus sie für ihr Versagen zu bestrafen. Verdammt. Wahrscheinlich war es leichter für sie einfacher, wenn sie Li einfach erschoss. Alles was sie wollte, war ihn sterben zu sehen. Sie musste ihren Auftrag nicht erfüllen. „Jojo?“, fragte Michael. Sie hasste es. Wenn er sie nannte … Er tat es nur, um sie daran zu erinnern, dass da noch immer irgendwo Joanne Snyder war. Ihr altes Ego. Ihr totes Ego. „Ich werde da sein“, murmelte sie daher nur und legte auf. Leise seufzte sie. Weiwen warf ihr einen Blick zu. „Was ist?“ „Ich habe nachher einen Termin an der Hong Qiao Station.“ „Verstehe. Soll ich Sie dahinbringen?“ „Erst um 9“, antwortete Pakhet, auch wenn sie sich fragte, wie viel Zeit sie bei der Straßenlage einplanen musste. Deswegen war sie in Großstädten lieber mit dem Motorrad unterwegs. Doch würde sie sich auf einem Motorrad aktuell nicht wirklich sicher fühlen. Die ganze Zeit rechnete sie damit, dass jemand sie erschoss. Soweit aber nichts. Natürlich nicht. In einer riesigen Stadt müssten die Zufälle schon gegen sie passieren, damit jemand sie entdeckte. Sie war nur paranoid. Pakhet hasste es. Es war nachvollziehbar und an sich vollkommen normal, dass das Erlebte sie mitgenommen hatte. Sie wäre beinahe gestorben. Sie war gefoltert worden. Natürlich war es normal, dass sie psychisch nicht ganz beieinander war. Sie würde brauchen, um sich davon zu erholen. Immerhin hatte sie mit Traumata ihre Erfahrungen gemacht. Es half nur nicht. Die ganzen Gedanken, Ängste, das Rasen ihres Herzens machten es nicht leichter, ihren Plan zu Ende zu denken. Denn soweit scheiterte dieser vor allem an einer Sache: Sie wusste nicht, wie sie Li finden sollte. Aufgrund ihrer Verletzungen hatte sie sich nicht wirklich konzentrieren können, als sie geflohen war. Sie wusste nicht genau, von wo sie gekommen war. Noch einmal das Kasino zu versuchen, war töricht. Aber die Stadt war zu groß, um anders zu hoffen, dass sie Li finden konnte. Sie würde es nicht noch einmal so probieren, wie zuvor. Nicht noch einmal subtil versuchen, sich einzuschleichen. Sie kannten ihr Gesicht. Das hatte keinen Sinn. Entsprechend würde es darauf hinauslaufen, es mit roher Gewalt anzugehen. Wenn sie einmal wusste, wo er war, konnte sie sich auf die Lauer legen, ihn abpassen. Dafür brauchte sie nur ein paar andere Vorbereitungen. Einen Unsichtbarkeitszauber zum Beispiel. Und etwas, dass sie vor Verletzungen schützte. Zumindest etwas. Außerdem eben das Gift. Denn während sie keine Hemmungen hatte, sämtliche Handlanger zu erschießen … Ach, verflucht, ihr Stolz verlangte, dass sie es richtig machte. Aber all ihre Pläne scheiterten soweit noch daran, ihn zu finden. Leider hatte sie kein Blut von ihm. Kein Haar. Nichts, dass sich für einen Aufspürzauber eignete. Dinge, die er von ihr hatte … Aber Weiwen hatte gesagt, sie wäre hier sicher. Sie musste einen Weg finden, Li möglichst schnell zu finden und zu töten. Sie musste sich etwas ausdenken. Nur was? Im Notfall musste sie das Casino beobachten. Warten, dass er sich zeigte. Und dann zuschlagen. Da waren die ganzen Kräne gewesen. Die Wohnung, in der sie gefoltert worden war, war daher wahrscheinlich nicht zu weit weg gewesen. Vielleicht war dort sein Hideout. Vielleicht war es auch so, dass er selbst die Wohnblöcke besaß. Der Wagen blieb stehen und riss sie damit aus ihren Gedanken. „Wir sind hier“, verkündigte Weiwen und drehte sich zu ihr um. Sie hatten in einer Seitengasse gehalten, die neben dem Wagen gerade genug Platz hatte, als dass ein Fahrradfahrer mit etwas Geschick durchgekonnt hatte. Dabei war der Wagen sehr klein. Kleiner als die Minis, die man so in Amerika fuhr. „Wo?“ „Zauberladen“, erwiderte Weiwen. „Geht es dir gut?“ Natürlich ging es das nicht. Dennoch nickte Pakhet und öffnete die Tür vorsichtig, um nicht an die Wand zu kommen. Die trug ihre Waffe unter der schwarzen Lederjacke. Das Holster lag beruhigend auf ihrer Brust. So fühlte sie sich wenigstens nicht gänzlich hilflos. Die Wände zu beiden Seiten krochen dem Himmel entgegen. Diverse Klimaanlagen ragten aus den Mauern heraus. Weiter oben hing eine Wäscheleine. Doch in der Wand des Hochhauses fand sich tatsächlich eine Hintertür. Sie sah aus wie der Hinterzugang zu einem Restaurant oder so, vielleicht ein Fluchtweg, doch genau dahin führte Weiwen sie. Die junge Frau klopfte, sagte etwas auf Chinesisch. Eine Männerstimme antwortete – ebenfalls auf Chinesisch. Dann wurde ein Riegel zur Seite geschoben. Okay, das war sehr viel Klischee für einen Laden. Doch eine Sache ließ sich über Magier feststellen: Sie mochten das Klischee. Sie liebten es. Viele Dinge, die schon alte Märchen beschrieben hatten, die auf eine Art in Filmen und Serien beschrieben wurden, fanden sich irgendwo in der Realität. Vielleicht waren Magier auch einfach nur Nerds. Die Tür wurde geöffnet und man ließ sie in einen Flur, der offenbar wirklich – jedenfalls dem Geruch nach – mit einer Restaurantküche verbunden war. Ein Mann, vielleicht um die dreißig und mit einem nicht ganz gleichmäßigen Bart, bedeutete ihnen zu folgen. Pakhet sah Weiwen unsicher an. Da war diese leichte Panik in ihrem Magen. Was, wenn man sie verriet? Sie schluckte, strich mit ihrer Hand über die Pistole unter ihrer Jacke und folgte. Fuck. Als ob die Pistole gegen Magier viel bringen würde. Sie hasste Magier. Sie hasste es gegen Magier zu kämpfen. Dennoch folgte sie dem Mann zu einer Treppe und in einen Keller hinab. Kapitel 6: Vorbereitung ----------------------- Pakhet atmete auf, als sie aus dem Keller hervorkam. Es war ein „normaler“ Laden gewesAbspracheen, soweit Magierläden normal sein konnten. Es hatte ein paar Artefakte und Tränke gegeben. Und eine alte Magierin, die Bestellungen angenommen hatte. Auch wenn die Preise – wie für Magie üblich – hoch waren, so hatte Pakhet in Auftrag gegeben, was sie brauchte. Sie würde es vor dem nächsten Tag nicht haben. Es war mittlerweile kurz vor acht. „Jetzt mussten Sie zu diesem Starbucks, richtig?“, fragte Weiwen mit einer professionell distanzierten Freundlichkeit. Pakhet nickte. Sie hatte das Armband mit dem Schutzzauber, das sie gekauft hatte, auf ihrem rechten Arm hängen. An ihrem linken Armstumpf hing nur ihre Notfallprothese, die nicht besonders überzeugend aussah und lose im Ärmel der Jacke schlackerte. Sie wünschte sich, dass es besser würde mit der Technologie. Und von allem was sie gehört hatte, gab es Fortschritte. Doch gerade der Kampf gegen Li … vielleicht wäre es besser gewesen, hätte sie beide Arme gehabt. Allerdings würde sie sich nicht der Arbeit für einen Gott oder Geist verpflichten, wie der Drache es ihr angeboten hatte. Unwillkürlich rieb sie sich ihre Schulter. Sie hatte sich daran gewöhnt. Sie war auch so gut. Sie war eine gute Kämpferin. Gut genug, um zu kompensieren. Und sie durfte sich durch diese Gedanken nicht ablenken lassen. Es war gruselig. Im Moment schwirrten ihre Gedanken so sehr. Es war echt eine beschissene Idee, sich so noch einmal mit Li anzulegen. Wenn sie im falschen Moment ein Flashback oder einen Panikanfall bekam, würde sie nur wieder in dieser Situation enden. Sie saß auf dem Beifahrersitz neben Weiwen, während diese vorsichtig wieder aus der Gasse, Seitenstraße oder wie auch immer man es hier nannte herausfuhr. Dann gliederte sie sich in den normalen Verkehr auf einer weiteren Straße ein. „Sind Sie sicher, dass es eine gute Idee ist, sich noch einmal mit Mr Li anzulegen?“, fragte die junge Frau, als würde sie Pakhets Gedanken erahnen. Pakhet atmete tief durch. Sie war ihr eigentlich keine Antwort schuldig. Immerhin arbeitete Weiwen nur für sie. Wahrscheinlich war auch das der Grund, warum sie überhaupt fragte. Dennoch … vielleicht weil Weiwen zu sehr, wie die kleine Stimme in ihrem eigenen Kopf klang, antwortete sie: „Es war mein Auftrag. Und jetzt ist es persönlich.“ „Persönlich?“, fragte Weiwen, als würde sie das Wort nicht verstehen. Pakhet hielt inne. „Er hat mich verletzt. Ich werde ihn verletzen. Das …“ Sie runzelte die Stirn. „Ich könnte es mir sonst nicht verzeihen.“ Weiwen hielt inne, nickte dann aber. Sie sah in ihrer weiten, häuslich wirkenden Kleidung nicht wie jemand aus, der mit Magie und der Unterwelt zu tun hatte. Während sie weiterfuhren, starrte Pakhet aus dem Fenster. Neonleuchtende Schilder rauschten oder schlichen draußen entlang, bis Weiwen erneut abbog. Dieses Mal zu einer Tiefgarage. Ein weiterer Ort für Panikattacken. Großartig. Natürlich sagte Pakhet nichts. Sie presste ihre Lippen aufeinander, verfluchte sich und die Situation, verfluchte Li und stieg aus, als sie auf der fünften Ebene einen Parkplatz fanden. Die Luft hier unten war schlecht, selbst wenn alle Lampen leuchteten. „Sie sind angespannt“, stellte Weiwen fest, als sie Pakhet zum Aufzug führte. „Ja.“ Mehr fiel Pakhet zur Antwort nicht ein. „Soll ich einen Beruhigungszauber sprechen, wenn wir zurück sind? Sie werden so nicht schlafen können.“ Darüber hatte Pakhet auch schon nachgedacht. Sie mochte Schlafzauber und dergleichen nicht, waren sie doch auch eine Form von Geistesmagie. Lieber hätte sie klassische chemische Schlafmittel bevorzugt, doch war sie nicht sicher, ob sie hier eine Wahl hatte. „Später“, erwiderte sie nur. Sie stiegen auf ebener Straße aus dem Aufzug aus und standen tatsächlich bei einer Straßenbahnstation. „Sie werden allein reingehen?“, fragte Weiwen. Pakhet nickte. Sie konnte die Identität ihres Auftragsgebers nicht gefährden. Zumindest soviel Professionalität sollte sie behalten. „Ist es in Ordnung für Sie zu warten?“, fragte sie. „Ja. Sie haben ein Telefon, ja?“ Erneut nickte Pakhet und holte ihr Handy hervor. Wahrscheinlich war es ohnehin nicht dumm Weiwens Nummer zu speichern, selbst wenn sie damit wohl dieses Handy am Ende des Auftrags verbraucht hätte. Nun. Das war es wohl wert. So ging sie keine Minute später zur Treppe, die in die eigentliche Station und zum Starbucks führte. Sie konnte die Blicke der Vorbeigehenden praktisch spüren. Viele von ihnen – es war gedrängt hier – versuchten ihre Blicke zu verbergen, und dennoch waren sie da. Pakhet war selbst für eine Amerikanerin relativ groß, war größer als viele der Menschen hier. Und ihre rot gefärbten Haare stachen heraus. Vielleicht hätte sie eine neue Perücke kaufen sollen. Und dann war da natürlich die Prothese, die dem ein oder anderen auffiel. Wie sie diese Blicke hasste. Die eigene Aufmerksamkeit direkt nach vorne gerichtet, ging sie zum Starbucks. Sie hielt von der Kette nicht viel, doch wenigstens wusste man praktisch, egal wo auf der Welt man war, was man bekam. Nun, nicht ganz egal. In Südafrika gab es die Coffeeshops noch immer nicht. Wahrscheinlich hatte irgendjemand in irgendeinem Hauptquartier beschlossen, dass es das Risiko nicht wert war, mit den vielen etablierten, lokalen Ketten zu konkurrieren – und von denen gab es einige. Trotz ihrer Abneigung bestellte sie einen Kaffee. Den konnte sie ohnehin gebrauchen. Mit diesem in einen Pappbecher ging sie in den Sitzbereich des Ladens, sah sich um. Michael hatte ihr eine Beschreibung geschickt, ein Erkennungszeichen. Ein Buch. Doch drängten sich hier so viele Leute, diverse von ihnen Studierende mit Büchern, bis sie den älteren Mann sah, der mit einem Paperback in einer Ecke, weit weg vom Fenster saß. Er war sicher um die fünfzig, wenn nicht älter. Pakhet fiel es schwer, ihn einzuschätzen. Doch sein gebräuntes Gesicht war von Furchen durchzogen, die für einige Sorgen sprachen. Graue Strähnen zogen sich durch das schwarze Haar. Ansonsten aber sah er unauffällig aus. Er trug einen normalen Anzug, wie viele andere auch, hatte die Krawatte etwas gelockert und schien gänzlich in das Buch – eine annotierte Shakespeare Sammlung – vertieft. Es konnte noch immer eine Falle sagen, warnte die kleine, panische Stimme sie. Pakhet aber schluckte, schloss die Augen und trat zu ihm hinüber. „Ist dieser Platz besetzt?“, fragte sie und nickte zu dem Stuhl ihm gegenüber. „Nicht, dass ich es bemerkt hätte“, erwiderte er – wie abgesprochen. „Darf ich mich setzen?“ „Mich wird es nicht stören.“ Sein Englisch hatte keinen so starken Akzent, wie Weiwens oder Lis. Ja, er klang beinahe, wie ein Brite, nur mit einer anderen Spur. Kam er von Hongkong? Ganz sicher war sie sich nicht. „Mir wurde gesagt, Sie hätten ein Geschenk für mich“, meinte sie mit gesenkter Stimme und nippte an ihrem Kaffee, auch wenn es hielt, dass ihre Hand nicht bereit war, jederzeit nach ihrer Waffe zu greifen. Auch hier drin warfen ihr einige Leute Blicke zu. „Ja“, erwiderte er und seufzte. Er musterte sie. „Es tut mir leid, dass Sie wegen mir in Probleme geraten sind.“ Überrascht sah Pakhet ihn an. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie runzelte die Stirn. Was sollte das heißen? Auftraggebern war es üblicherweise egal, was mit einem etwaigen Söldner oder in ihrem Fall einer Söldnerin geschah. Am Ende war nur die Erfüllung des Auftrags wichtig, das Erreichen eines Endziels. Unsicher, was sie erwidern sollte, nippte sie am Pappbecher. Stille herrschte, während auch der Mann unsicher schien, was er sagen sollte. Schließlich atmete Pakhet durch. „Sie sind Bei Zhao?“ Der Mann nickte. Er räusperte sich. „Sie wollen wirklich noch einmal …“ Er hielt inne. Dieses Mal hatte er – wenngleich mit deutlich dickerem Dialekt, als sein Englisch – auf Niederländisch gesprochen. Pakhet runzelte die Stirn. „Sie sprechen Niederländisch?“ „Ich habe eine Weile in Europa gearbeitet“, sagte Zhao unsicher. Jetzt legte er sein Buch ganz zur Seite. Seine Finger waren zittrig. Nun, da sie darauf achtete, trug er keine Tattoos. Jedenfalls nicht sichtbar. Vielleicht waren sie versteckt. Tatsächlich aber erweckte er nicht den Eindruck eines Kriminellen. Was umso mehr eine Frage aufbrachte. Doch Pakhet fragte nicht, denn sie war professionell. „Hören Sie, wenn es nicht möglich ist, dann …“, begann er und unterbrach sich wieder selbst. „Es wäre traurig, würde eine junge Frau wie Sie sterben, für die Rache eines alten Mannes.“ Wieder wusste Pakhet nicht, was sie erwidern sollte. Sie musterte ihn genauer. Er sah müde aus. Wie jemand, der zu viel arbeitete und zu wenig schlief. „Ich habe einen Job. Ich werde ihn ausführen“, erwiderte sie. Ihr fiel es leichter ins Niederländische zu verfallen, auch wenn sie sich dessen bewusst war, dass ihr eigener Südafrikanischer Akzent dick war. „Haben Sie, weswegen ich Sie treffen wollte?“ Zhao atmete leise aus. Er schien sich ein Seufzen zu verkneifen. „Ja.“ Er nahm seine Aktentasche, stellte sie auf den Tisch und zog einen Block daraus hervor. Da war etwas unter dem Block. Wohl, weswegen sie hier war. Er war offenbar bemüht, subtil zu sein. Das konnte sie respektieren. Doch die Art, wie er handelte, sprach deutlich dafür, dass er keine Erfahrung hatte. Aber warum … Hier war eine private Geschichte dahinter. Es ging nicht um Karriere. Er hatte von Rache gesprochen. Er hatte darauf bestanden, dass Li mit der Droge umgebracht würde. Was war die Geschichte dahinter? Langsam fügten sich Puzzelstücke zusammen. Jemand war an einer Überdosis gestorben. Zhao gab Li die Schuld. Deswegen die Rache. Gleiches für Gleiches. Nun, nicht ganz. Wer war es gewesen? Zhaos Frau? Sohn oder Tochter? Vielleicht ein Bruder? Sie musterte ihn. „Warum die genaue Anweisung?“, fragte sie, nun doch unfähig sich zu beherrschen. Er war nicht professionell. Er hatte hiermit keine Erfahrung. Er würde es kaum gegen sie halten. Michael musste davon nichts erfahren. Ach, Michael sah sie ohnehin schon als unprofessionell, allein, weil sie aus persönlichen Gründen blieb. Und weil sie versagt hatte … Zhao schürzte die Lippen. Seine Hände waren deutlich angespannter und sein Blick verharrte auf dem Block. Ein einfacherer karierter Notizblock. „Sagen wir es so … Ich war ein schlechter Vater. Ich war nicht genug zuhause. Und für junge Männer …“ „Ihr Sohn ist drogenabhängig geworden?“, schloss Pakhet, als Zhao mitten im Satz verstummte. „Mein Sohn hatte Probleme in der Uni. Ist mit Leuten aneinander geraten. Er muss irgendwann mit den Drogen angefangen haben. Wahrscheinlich hatte er Schulden.“ Zhao schüttelte den Kopf. „Wie gesagt: Ich war ein schlechter Vater. Ich weiß nicht einmal genaues. Alles was ich weiß, war, dass Jie drei Tage tot war, als ihn jemand fand.“ Nun war es Pakhet, die ihren Kaffeebecher fixierte. Warum hatte sie auch gefragt? Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. „Das tut mir leid.“ Sie fragte sich, woher Zhao überhaupt wusste, dass es Li war. Immerhin schien Li weiter oben angesiedelt zu sein, um mit einem einzelnen Drogenabhängigen zu tun zu haben. Jetzt aber beherrschte sie sich. Sie griff nach dem Kaffee, trank wieder einen Schluck. „Ich hätte nicht so spezifisch sein sollen“, meinte Zhao nun. „Letzten Endes …“ Er schüttelte müde den Kopf. „Ich will, dass dieser Mann stirbt.“ Pakhet schloss die Augen, sah wieder Lis Gesicht vor sich. „Da sind wir zwei“, erwiderte sie und griff nach dem Etwas unter dem Block. Es war ein kleines, weißes Papiertütchen, dass sie in der Innentasche ihrer Jacke verschwinden ließ, ohne diese ganz zu öffnen. „Es tut mir wirklich leid, dass Sie …“ Er musterte sie. „Auch wenn Sie Glück gehabt zu haben scheinen.“ Ganz konnte sie sich einen verächtlichen Laut nicht verkneifen. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass sie glimpflich davon gekommen war, da man ihr keine Verwundungen ansah. „Ja“, murmelte sie. „Gerade so …„ Es war kurz vor elf, als sie zurück zu Weiwens Wohnung kamen und langsam drohte die Müdigkeit Pakhet endgültig zu übermannen. Gleichzeitig war da die Angst. Die Angst davor zu schlafen. Denn sie wusste, dass die Albträume kommen würden. Darauf war Verlass. Sie wollte diese Albträume nicht. „Wollen Sie noch etwas essen?“, fragte Weiwen, als sie die Wohnungstür hinter ihnen schloss. Sie lebte in einem Apartmentgebäude direkt neben der Parkanlage eines Tempels. Auch wenn Pakhet nicht genug verstand, ging sie jede Wette ein, dass der Tempel etwas mit dem Drachen zu tun hatte. „Ja, vielleicht“, murmelte sie und rieb sich die Augen. „Es ist vielleicht besser.“ „Gut. Ich mache Ihnen noch was. Ich habe noch Suppe. Ist das okay?“ Pakhet nickte nur. Ihr war schwindelig. Sie wollte sich hinsetzen, wusste aber nicht wo. Wo würde sie überhaupt schlafen? Zugegebenermaßen erschien ihr die Wohnung überraschend groß für eine alleinstehende Frau in einer chinesischen Großstadt. Waren hier die Wohnungen nicht notorisch klein und notorisch teuer? Sie fragte sich, womit Weiwen üblicherweise ihr Geld verdiente. Machte sie so etwas vielleicht doch öfter? Oder hatte vielleicht der komische Drache Kontakte, war vielleicht selbst Besitzer des Wohnblocks? Es wäre eine Erklärung. Aber sie fragte nicht. Stattdessen: „Kann ich mich irgendwo hinsetzen?“ „Sicher“, erwiderte Weiwen. „Gehen Sie in mein Büro. Da können Sie heute Nacht auch schlafen.“ Mit dem Büro meinte sie wahrscheinlich das Zimmer, in dem der Spiegel stand oder gestanden war. Weiwen hatte ihn in einem Schrank verschwinden lassen. Letzten Endes waren Spiegel gefährlich. Pakhet nickte und schwankte zu der Tür. Es war alles ein wenig fiel. Im Zimmer ließ sie sich auf den einfachen Stuhl fallen und wagte es für einen Moment die Augen zu schließen. Ja, sie war deutlich, sehr deutlich übermüdet. Ihr Körper hatte einiges aufzuholen. Aber zumindest Essen klang nach einer guten Idee. Müde griff sie in die Innentasche ihrer Jacke und holte die Papiertüte heraus. Darin war eine einfache Ampulle, die offenbar geöffnet und wieder verschlossen war. Das Label war abgekratzt worden. Darin musste die Droge sein. Das Gift. Warum wollte sie es überhaupt so machen? Wahrscheinlich war es ihr eigener Perfektionismus. Und der Wunsch nicht zu versagen. Sie wollte nicht versagen. Sie wollte Li nicht die Genugtuung geben. Selbst wenn er es wohl kaum als Genugtuung empfinden würde, erschossen zu werden. Nein. Sie würde es dieses Mal richtig machen. Schließlich kam Weiwen in das Zimmer, brachte eine Schüssel und einen Teller mit sich. In der Schüssel Suppe. Auf dem Teller welche von diesen chinesischen gefüllten Teigtaschen. Pakhets müdes Gehirn weigerte sich ihren richtigen Namen aufzurufen. Sie sah Weiwen an. „Danke“, flüsterte sie. „Gerne“, erwiderte Weiwen mit einem professionellen Lächeln. „Sie sehen müde aus. Ich habe nur eine Luftmatraze zum Schlafen. Ist das in Ordnung?“ Irgendwie hatte Pakhet nicht das Gefühl, dass „Nein“ eine mögliche Antwort war. Sie nickte nur. Schlafen konnte sie überall. Sie war Soldatin gewesen. Beim Militär schlief man entweder gar nicht oder lernte überall und unter beinahe jeder Bedingung ein wenig Schlaf zu bekommen. „Gut.“ Weiwen wollte sich abwenden, hielt dann aber inne. „Also … das Angebot mit dem Schlafzauber …“ Pakhet zögerte. Sie mochte den Gedanken noch immer nicht. „Können Sie einen Trank herstellen?“, fragte sie daher. Wahrscheinlich verstand Weiwen. Sie nickte. „Natürlich.“ „Dann klingt es nach einer ausgezeichneten Idee.“ Kapitel 7: Suche ---------------- Der Trank erlaubte einen tiefen, traumlosen Schlaf, erlaubte damit so etwas wie Erholung für sie. Dennoch blieb ein seltsam hohles Gefühl in ihrer Brust, als sie am nächsten Tag erwachte. Vielleicht waren da doch Träume gewesen, selbst wenn sie sich nicht erinnerte. Sie wollte nicht darüber nachdenken – sie konnte nicht. Noch nicht. Sie würde später Zeit dafür haben. Als sie erwachte fand sie die weiße Katze Weiwens neben sich auf der Matratze liegen. Dabei konnte sie nicht genau sagen, ob das Tier sie einfach mochte, oder vielleicht dieses Zimmer eigentlich als sein Revier ansah und es daher gegen die fremde Person verteidigen musste. Als Pakhet sich jedoch aufrichtete, rieb die Katze ihren Kopf an ihr. Das war ein Zeichen, dass diese Tiere einen mochten, oder? Vorsichtig strich Pakhet durch das weiche Fell, ehe sie sich aufrichtete. Wenigstens hatte sie niemand im Schlaf angegriffen – selbst die Katze nicht. Es schien hier wirklich sicher zu sein. Gut. Das hieß, sie könnte sich dem nächsten Teil ihres Plans widmen, selbst wenn sie dafür noch eine andere Frage würde klären müssen. Sie streckte sich, stand auf, machte ihre üblichen Dehnübungen und nahm dann ihre Kleidung vom Fußende der Luftmatratze, um sich im Badezimmer umzuziehen. Wie immer hatte sie in Shorts und einem Tanktop geschlafen. Sie hatte einen Plan für den Tag: Sie würde sich auf die Suche nach Li machen, ihm folgen und sich dann einen Plan überlegen, wie sie ihn erledigen konnte. Doch dafür musste sie mehr wissen. Sie würde die Planung dieses Mal niemand anderen anvertrauen. Nicht Michael. Nicht jemanden wie Tenzien. Das war eins der Probleme beim letzten Versuch gewesen. Sie hatte sich darauf verlassen, dass Michaels Informationen verlässlich und vollständig waren. Es war eine dämliche Idee gewesen Li dort anzugreifen. Davon abgesehen, dass sie nicht gewusst hatte, dass er Magier war, wäre es an einem Ort ohne mehrere Sicherheitsleute verdammt noch einmal einfacher. Und hey, irgendwo musste Li leben. Er hatte eine Familie, hatte er gesagt. Eine erwachsene Tochter. Er war wahrscheinlich nicht arm. Da würde er nicht irgendwo direkt umgeben von seinen Leuten leben, oder? Ach, sie wusste es nicht. Bei diesen Mafia-Leuten konnte man nie wissen. Es gab welche, die folterten Leute vor ihren Kindern. Jedenfalls hatte sie solche Geschichten gehört. Und dann wurden die Kinder zu Leuten, die andere vor ihren Kindern ermordeten. Und so weiter … Pakhet massierte sich die rechte Schläfe und schloss die Augen. Sie durfte nicht so viel darüber nachdenken. Ihr saß der Horror noch immer in den Knochen und es würde so bleiben. Wichtig war nur, dass sie ihren Job erledigte. Dass sie das ganze beendete. Das würde ihr wenigstens etwas Ruhe geben, etwas Frieden. Angezogen erlaubte sie es sich in die Küche zu lugen, wo die Katze bereits an ihrem Futternapf saß, aber auch Weiwen mit einer Zeitschrift zu finden war. Die junge Frau sah auf. „Ah, guten Morgen. Hast du gut schlafen können?“ Pakhet nickte und ging zu ihr hinüber. „Ja. Danke. Für den Zauber, meine ich.“ Ein mattes Lächeln zeigte sich auf Weiwens Gesicht. „Gerne.“ Natürlich tat sie es gern, solange man sie dafür bezahlte. „Hast du Hunger? Willst du Frühstück?“ „Hast du Kaffee?“ „Ja. Sogar eine Kaffeemaschine.“ Weiwen schien darauf unnatürlich stolz, doch Pakhet würde sich darüber nicht beschweren. Kaffee machte viele Dinge in ihrem Leben besser, erträglicher. „Also. Frühstück?“, fragte Weiwen. Pakhet lächelte matt. „Ja. Sicher. Danke.“ Knapp eine Stunde fuhr Weiwen mit ihr bei einem Leihwagenhändler vor. Zugegebenermaßen mochte Pakhet diese Idee noch immer nicht ganz, da auch solche Wagenverleihe öfter einmal zur Geldwäsche genutzt wurden. Doch Weiwen sagte, dieser wäre nicht mit den Triaden in Verbindung und was blieb Pakhet übrig, als ihr zu vertrauen? Sie trug ihre simple Prothese und einen Glamour, in der Hoffnung, dass dieser sie vor Diskussionen mit dem Verleih bewahrte. Sie hatte immer einmal wieder Probleme damit gehabt. Menschen, die nicht glaubten, dass sie so fahren konnte. Zugegebenermaßen tat sie sich noch immer mit Motorrädern schwer. Etwas, das sie ärgerte. Gerade hier wäre ein Motorrad, das schneller, wendiger in der Stadt war, von Vorteil gewesen. Doch sie traute es sich nicht zu, blieb bei einem sehr kleinen Wagen, zahlte mit einer ihrer Kreditkarten im Voraus. Dann verabschiedete sie sich – für den Tag – von Weiwen. So sehr sie es auch hasste zu warten, wusste sie, dass sie bestenfalls heute nur nach Li suchen konnte. Bis die Zauber, die sie in Auftrag gegeben hatte, fertig waren, war es zu riskant zuzuschlagen. Sie wollte nicht noch einmal in so einer Situation landen. Also fuhr sie mit der Hilfe eines Navis zum Apartmentkomplex, wo diese ganze Sache vor nun mehr fünf Tagen angefangen hatte. Diesige Wolken – oder war es Smog? – hingen am Himmel, der darüber jedoch blau zu schien. Es war gerade klar genug, um dieses Blau noch durchschimmern zu sehen. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie aus dem Wagen ausstieg. Sie trug eine andere Perücke, dieses Mal eine blonde, die damit eher zu ihren Augenbrauen passte. Die Haare hingen nur knapp über ihre Ohren. Dazu trug sie dieses Mal Jeans und eine Lederjacke. Damit fühlte sie sich zumindest etwas sicherer. Wahrscheinlich war Li nicht hier. Sie wusste nicht einmal, wo sie gefangen gehalten worden war. War es hier gewesen? Noch immer konnte sie sich nicht wirklich erinnern. Dennoch war zumindest eine Sache auch hier, an die sie sich von ihrer Flucht erinnerte: Kräne. Sie stieg aus dem kleinen Wagen aus und sah sich nervös um. Die Straße war nicht so leer, wie bei ihrem letzten Besuch. Da hinten war eine Frau mit einem Kinderwagen. Zwei Männer standen an einer Straßenecke und redeten. Eine Gruppe Schulkinder kam ihr entgegen. Es gab keinen Grund nervös zu sein, oder? Nervös sah sie zu den Häusern zu beiden Seiten der Straße. Die hier waren jedenfalls höher als das, von dem sie geflohen war. Die Gebäude weiter die Straße herunter konnten jedoch passen. Verflucht. Sie brauchte eine bessere Ausblickstation. Dabei war das hier ohnehin nicht mehr als eine vage Idee. Sie wusste nicht, ob Li hier war. Ach, sie hasste es, so wenig Informationen zu haben. Natürlich hatte Michael mehr Informationen, aber ihr grauste vor dem Preis. Nein, sie würde Li selbst finden. Sie würde ihn finden, ihm folgen und dann … Sie atmete tief durch. Konzentration. Zuerst musste sie sich konzentrieren. Langsam, aber mit festem Schritt bewegte sie sich die Straße hinab, die Hand in der Tasche ihrer Jacke. So konnte sie eine kleine Waffe in der rechten halten und gleichzeitig ihre Prothese versteckt halten. Zumindest hatte sie einen vagen Plan. Sie sah sich zwischen den Gebäuden um. Es war wie so oft in den Großstädten mit den Kränen: Sie waren auch am Tag nicht alle im Einsatz. Da hinten war einer, der nicht in Benutzung zu sein schien, auf einer Baustelle, die offenbar im Moment leer stand. Sie hielt darauf zu, nahm kurz vor dem Zaun anlauf und sprang hinüber. Dankbarerweise sollte sie Recht behalten. Es war leer. Niemand hielt sich hier auf. Von der Tür unten am Kran ließ sie sich nicht aufhalten. Ihre Kräfte reichten, dass sie hoch genug springen konnte, um sich zwischen den Metallstreben hindurch zu winden und so zur Leiter zu kommen, wie sie es auch an dem Tag ihrer Flucht getan hatte. So kletterte sie empor. Es war auch mit Prothese nicht leicht, doch war der Gedanke ihrer Rache Motivation genug, um sie ohne große Pause hinaufklettern zu lassen, ehe sie die kleine Plattform bei der Kabine zu erreichen. Letztere war natürlich abgeschlossen, für Pakhet jedoch unwichtig. Stattdessen stand sie auf der Plattform, sah sich um und versuchte sich zu orientieren. Dahinten war der Fluss. Sie konnte sich erinnern, dass sie ihn vom Gebäude aus gesehen hatte, als sie geflohen war. Wahrscheinlich war es leichter, sich zu orientieren, wenn es dunkel war, da sie die Gegend bisher im Dunkeln kannte. So wäre es vielleicht einfacher gewesen, das richtige Stück Skyline zu erkennen. Leider war es mitten am Tag und sie musste sich versuchen anders zurecht zu finden. Also versuchte sie sich weitere Details in Erinnerung zu rufen, auch wenn es ihr Herz schmerzhaft rasen ließ. Ein scharfer Wind wehte in ihr Gesicht, während ihr Blick über die Häuserdächer wanderte. Das Gebäude, auf dem sie gewesen war bei ihrer Flucht war eins von einer Reihe identischer Gebäude gewesen. Wie viele waren es gewesen? Vier? Nein, es mussten fünf gewesen sein. Es war das vorletzte gewesen – nun, oder das zweite, je nachdem aus welcher Richtung man zählte. Und der Kran war – was? – acht bis zehn Meter entfernt gewesen. Also. Wo? Ihr Blick wanderte weiter über die Dächer, ehe sie einen Kran und eine Häuserreihe entdeckte. Zwei Blocks von dort entfernt, wo sie Tenzien getroffen hatte. Sie hatte Recht gehabt. Man hatte sie nicht weit fort gebracht. Es wäre wahrscheinlich zu auffällig gewesen. Dann hatte sie zwei mögliche Aufenthaltsorte, wo Li sein konnte. Jedenfalls wusste sie, dass jemand Lis kleine Folterkammer genau für diesen Zweck angepasst hatte. Da waren die Haken in Wänden und Boden gewesen und die Tür, da war sie sich recht sicher, war dicker gewesen. Vielleicht waren die Wände auch gegen Lärm isoliert gewesen. Ihr war es jedenfalls darin leiser vorgekommen und es machte Sinn, dass man verhindern wollte, dass Schreie zu weit zu hören waren. Sicher, oft waren organisierte Gruppen wie die Triaden auf ihrem eigenen Turf nicht zurückhaltend, doch waren Mord und Folter nichts, womit man allgemein hausieren kann. Auch nicht, wenn es zur Abschreckung geschah. Immerhin waren die Chancen ab einem gewissen Punkt zu groß, dass ein abbezahlter Polizist trotz allem sein Gewissen entdeckte. Die Frage war, was sie nun machen sollte. Ohne zu wissen, ob Li wirklich da war, blieb ihr wenig übrig, als zu warten. Durch die Nähe wäre es wenigstens möglich einen guten Ausguck zu finden. Ein Gebäude genau in der Mitte zwischen ihren beiden bekannten Punkten. Sie nahm einen tiefen Atemzug, dann kletterte sie wieder hinab, sprang auf halber Höhe zu einem der anliegenden Dächer ab. Eigentlich waren die Schluchten zwischen einigen dieser Häuser zu breit, doch sie musste es schaffen. Sie wollte nicht in eins der Gebäude hinein, wenn es sich vermeiden ließ. Nicht bis sie mehr wusste. Also nahm sie Anlauf, sprang und knallte unsanft gegen die Häuserwand auf der anderen Seite der Straße. Dennoch bekam sie die Kante des Flachdachs zu fassen und zog sich hinauf. Ach, verdammt. Sie konnte nicht mehr tun, als zu warten. Und so wartete sie … Es war eine andere Sache, die man beim Militär lernte. Herumzustehen – oder zu sitzen – ohne etwas zu tun. Stunden um Stunden konnten damit verbracht werden. Es brauchte Gewöhnung, Training, vor allem um nicht in Gedanken zu versinken und am Ende Löcher in die Luft zu starren. Zugegebenermaßen war es an diesem Tag schwerer. Denn immer wieder drohten diese Erinnerungen zurück in ihre Gedanken zu klettern, während sie auf dem Dach des Gebäudes hin und her lief. Sie musste beide Seiten im Auge behalten. Da waren diese Erinnerungen und immer wieder dieselbe innere Stimme, dass es sinnlos war, dass sie sich unnötig in Gefahr begab. Doch sie blieb hier, wartete. Sie musste einfach Li finden. Ohne Michaels Hilfe. Sie würde ihn finden. Und dann … Sie ging erneut zur anderen Seite. In der Tiefe gingen unterschiedliche Menschen entlang. Leute, die von der Arbeit kamen. Familien mit Kindern. Kinder ohne Familien, die von Schule, Nachhilfe, AGs oder Freunden kamen. Es war eine normale Wohngegend. Insofern war es wohl nicht überraschend. Dennoch kam ihr der Gedanke gruselig vor. Was machte sie, wenn sie Li nicht fand? Immerhin wusste sie nicht, wie oft er hierher kam. Einmal ganz davon zu schweigen, dass sie sich selbst in Gefahr begab, je länger sie sich hier aufhielt. Sicher, sie war recht weit oben und die wenigsten Menschen sahen zum Himmel empor. Dennoch konnte sie jemand entdecken, vor allem, wenn sie bedachte, dass Li magisch war. Vielleicht gab es irgendwo Geister, die die Gegend für ihn bewachten. Oder einfache Schutzzauber, Alarmzauber, irgendetwas der Art … Arm und Prothese vor der Brust verschränkt ging sie wieder zur anderen Seite. Mehr Menschen in der Tiefe. Konnte sie von hier oben Li überhaupt erkennen? Immerhin konnte sie nicht von sich sagen, dass sie wesentlich besser als andere Amerikaner darin war, chinesische Gesichtszüge zu unterscheiden. Es war albern und sicher auch irgendwie rassistisch, aber dennoch tat sie sich schwer. Vor allem aus der Höhe. Sicher, ihr magisches Auge wirkte wie ein einfaches Fernglas und ab und an hob sie ein tatsächliches Fernglas an die Augen, doch half die Perspektive von hier oben nicht, um Menschen zu erkennen. Scheiße. Vielleicht war es wirklich hoffnungslos. Vielleicht war es doch klüger nach Südafrika zurückzufliegen. Dann aber wiederum … sie würde es sich nie verzeihen, würde ewig über ihre eigene Schulter schauen. Nein. Li musste sterben. Als sie umdrehte und zur anderen Seite – der Seite des Casinos – ging, hielt sie auf einmal inne. Sie zog das Fernglas hervor und schaute in die Tiefe. Ihr Herz machte einen kurzen Aussetzer. Das konnte nicht sein. Doch da unten lief eine Frau, die Pakhet sehr bekannt vorkam. Ja, die kokette Art, das lange, wallende Haar. Das war das Weib, das Lis Leibwächterin gemiemt hatte. Das Weib, das sie mit Begeisterung mitgefoltert hatte. Das Weib, das Pakhet eigentlich getötet hatte. Jedenfalls war sie sich sehr sicher, dass die Frau tot gewesen war, als sie sie dort zurückgelassen hatte. Wie konnte das sein? Dann wiederum … sie war kaum bei Bewusstsein gewesen. Hatte sie den Puls gefühlt? Nein. Es war nicht ihre Priorität gewesen. Vielleicht hatte die Frau überlebt. Vielleicht hatte man sie magisch geheilt. Genau so wie Pakhet magisch geheilt worden war. Sollte sie ihr folgen? Sie schien mit Li vertraut gewesen sein. Wenn Pakhet sie allein erwischte … Wenn sie nicht gefesselt war, sollte sie es mit dieser Frau locker aufnehmen können. Sie war vielleicht auch irgendwie magisch, war vielleicht auch trainiert, aber sie hatte nicht Pakhets Erfahrung – und nicht ihre Wut. Es war vielleicht eine bessere Methode, als auf Li zu warten. Kurz zögerte Pakhet, während die Frau sich zu einem Wagen hinüber bewegte. Sie war wirklich allein. Keine weiteren Wachen. Verflucht. Die Chance war zu gut, wenn es nicht eine Falle war. Pakhet konnte sich es einfach nicht entgehen lassen. Genau dafür hatte sie einen Zauber mitgenommen. Sie holte das einfache Glasplättchen aus ihrer Tasche. Jetzt kam der unangenehme Teil. Der Teil an dem sie einem vollkommen fremden Magier vertrauen musste. Aber verdammt … sie wollte sich die Chance nicht entgehen lassen. Also sprang sie in der Gasse zwischen diesem und dem nächsten Gebäude hinab. Zwei Mal fing sie sich ab, ehe sie das Plättchen zerbrach und von einem Windstoß abgefangen wurde. Mit zitternden Beinen landete sie in der schmalen Gasse, fing sich aber, um hinaus auf die Straße zu eilen. Wo war das Weib? Ein startender Motor zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein rotes Auto und als sie sich auf die leicht getönten Fenster konzentrierte konnte sie einen kurzen Blick auf die Frau erhaschen. Praktisch. Roter Wagen. Davon würde es nicht so viele geben. Zumal es ein besserer Wagen war. Schwerer zu verlieren. Pakhet rannte. Sie sprang in den eigenen Leihwagen und startete den Motor. Wenigstens war sie in Shanghai, wo sie sich nicht umgewöhnen musste. Die Wagen fuhren hier weiterhin links, anders als im Rest von China. So brauchte es nicht viel Umdenken für sie. Besser, denn sie musste sich darauf konzentrieren das Weib und ihren Wagen im Auge zu behalten. Wohin war die Frau gerade unterwegs? Würde sie sie zu Lin führen? Wahrscheinlich nicht. Doch das musste sie auch nicht. Es reichte, wenn Pakhet die Frau allein abfangen konnte. Dann würde sie die Information schon aus ihr herausbekommen. Und am Ende würde sie sichergehen, dass auch die Frau tot war. Sie hatte es verdient. Verflucht. Sie hätte sie wirklich beinahe umgebracht. Am Ende hatte sie mindestens genau so viel Spaß an der Sache gehabt wie Li und die Männer. Wieder musste Pakhet Erinnerungen verdrängen, die in ihr aufkommen wollten. Nein. Später. Sie würde all das später verarbeiten. Für jetzt musste sie hinter dem Wagen bleiben, der mit zu großer Geschwindigkeit in Richtung der nächsten Hauptstraßen fuhr. Wohin auch immer das Weib wollte. Dankbarerweise hatte Pakhet einen nicht zu langsamen Wagen geholt, selbst wenn der Kombi es nicht wirklich mit dem Sportwagen des Weibs aufnehmen konnte. Doch der Verkehr galt für sie beide und so schaffte sie es irgendwie, nah genug an dem roten Wagen zu bleiben, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Die Frau fuhr in Richtung des Finanzdistrikts – auch wenn Pakhet Zweifel hatte, was sie da wollte. Dennoch hielt sie sich an ihr, fluchte aber innerlich. Der Finanzdistrikt war deutlich besser gesichert, immerhin trieben sich hier die wichtigen Menschen rum, für die die Polizei auch aufmerksam war. Nicht der beste Ort für eine Befragung. Tatsächlich hielt das Weib vor einer Bank, stieg aus ihrem Wagen aus und sah sich um. Sie trug eine Sonnenbrille, die beinahe dazu gemacht schien, das Bösewichts-Bild abzurunden. Am Ende schloss sie den Wagen ab, verschwand in die Bank, während Pakhet missmutig einen Parkplatz gute hundert Meter entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite suchte. Sie würde warten. Es war wirklich kein guter Ort für einen Angriff. Und so wartete sie mit einem Finger nervös auf dem Lenkrad tippend. Sie wusste nicht, ob die Frau sie vorher bemerkt hatte. Wenn sie um Hilfe rief, wenn es einen Hinterhalt gab … Ein weiteres Mal würde sie nicht entkommen. Und dieser Gedanke lag wie ein Stein in ihrem Magen. Normal war sie nicht paranoid, aber die Erlebnisse in diesem Zimmer … Nach etwa vierzig Minuten stolzierte die Frau in ihrem nicht ganz hierher passenden Kleid wieder aus der Bank heraus. Wieder blieb sie stehen, sah sich um und für einen Moment glaubte Pakhet, dass ihr Blick auf ihrem Wagen verweilte. Hoffentlich nicht. Vielleicht war es besser umzudrehen. Vielleicht … Nein. Sie würde es durchziehen. Das hier war ihre beste Chance. Es war ihre einzige Chance. Sie musste Li finden. Und so wartete sie bis die Frau losfuhr, mit dem Wagen hinter der nächsten Straßenecke verschwand, ehe sie folgte. Es war kurz nach fünf und der ohnehin schon dichte Verkehr nahm zu, machte es schwerer den roten Wagen ausfindig zu machen. Dann aber entdeckte Pakhet ihn, konzentrierte sich darauf ihn im Blick zu halten, während sie den Kombi durch den Verkehr lenkte. Irgendwann würde es eine Chance für sie geben, oder? Sie verdrängte die Zweifel, konzentrierte sich auf den Verkehr und folgte der Frau weiter, der nun wieder in Richtung des Flusses fuhr. Keine zehn Minuten später standen sie in einem Stau, der sich auf der Brücke gebildet hatte, wo hunderte Wagen sich drängten, während ihre Insassen auf dem Rückweg von der Arbeit heimwollten. Es war egal. Sie hatte noch Zeit. Sie behielt den roten Wagen im Auge, fünf Wagen weiter vorne im Gedränge stand. Stück für Stück bewegten sie sich vorwärts, während die Uhr am Armaturenbrett sich auf achtzehn Uhr weiterbewegte. Es war viertel nach sechs, dass sie die andere Seite der Brücke erreichten, und Pakhets Nerven lagen blank. Der Stau bot wenig Ablenkung, machte es schwer ihr Gehirn davon abzuhalten, sich alle möglichen Ausgänge für diese Sache auszumalen. Aber egal wie schwer der Stein in ihrem Magen zu sein schien: Sie fuhr weiter. Folgte der Frau, die nun wieder in ein einfacheres Wohngebiet abbog. Es war eine andere Gegend als die, in der Pakhet gefangen genommen worden war, auch wenn die Apartmenthäuser, die sich rechts und links von der Straße gen Himmel streckten denen in dem Viertel des Casinos erstaunlich ähnlich waren. Auch hier war der Verkehr noch dicht und zähfließend, stand aber wenigstens nicht länger. Endlich bog der rote Wagen in eine kleinere Seitenstraße. An der Straßenecke zögerte Pakhet. Die Seitenstraße war nicht weiter befahren, schien vorrangig eine Lieferanfahrt für ein paar Geschäfte und Restaurants, die sich in den Erdgeschossen der anliegenden Gebäude befanden, zu sein. Wenngleich nach einem kurzen Halt bog Pakhet dennoch ab, nur um den Wagen einen Moment später anzuhalten. Der rote Wagen stand. Die Rücklichter waren aus. Offenbar geparkt. Jeder von Pakhets Sinnen schlug Alarm. Das hier musste eine Falle sein. Ja, sie war sicher bemerkt worden. Was sollte sie tun? Wegfahren? Nein. Das konnte sie nicht. Es kam nicht in Frage. Sie atmete tief durch. Dieses Mal war sie besser bewaffnet. Sie würde es schon mit dieser Frau aufnehmen können. Mit der Frau und etwaigen Triadenmitgliedern, die hier auf sie warteten. Die Gebäude hier waren nur vier bis fünf Stockwerke hoch. Da waren Gassen zwischen ihnen. Vielleicht war es eine Möglichkeit. Wenn sie nach oben kam und sich eine Übersicht verschaffte. Ja, das war ein guter Plan. Sie nahm ihre Waffe, befestigte das Holster außen, überprüfte dann ihre Messer. So würde es gehen. Mit einem letzten tiefen Atemzug stieg Pakhet aus dem Wagen aus. Sie riskierte es, sich kurz umzusehen, ehe sie über den Wagen hinwegsetzte und zur Gasse hetzte. Schon erklang der erste Schuss. Sie hatte nicht genau gesehen, woher, doch verfehlte er sie nur um wenige Zentimeter. Gerade als der zweite Schuss erklang hatte sie die Gasse erreicht und sprang. Sie musste aufpassen, dass sie nicht zu viel ihrer Energie für solche Stunts verschwendete, aber Übersicht war wichtig. Wenn sie einmal oben war, wäre sie relativ sicher. Die meisten Menschen waren mies darin nach oben zu schießen. Zu viele Nicht-Menschen würden sie wohl nicht haben. Also sprang sie, stieß sich an der Hauswand ab, sprang weiter und erreichte das Flachdach. Sie ließ sich auf den Bauch fallen, zog dabei ihre Waffe und robbte dann zum Rand des Daches. Rufe erschalten unten auf der Straße. Da waren vier Männer. Von der Frau fehlte jede Spur. Verflucht. Zwei der Männer liefen nun zu der Gasse hinüber. Nun, sie waren das erste Problem, was es zu beseitigen galt. Sie entsicherte ihre Waffe, hielt sich soweit möglich unter dem Mäuerchen am Rand des Daches verborgen und zielte. Einatmen, nachjustrieren, ausatmen, schießen. Ihr Schuss traf den ersten Mann in den Kopf. Sie schoss noch einmal, traf den zweiten in die Schulter, bevor er eine Chance hatte zu reagieren. Es würde ihn nicht töten, reichte aber, um ihn zu Boden zu reißen. Allerdings reichte es ebenso, um die anderen beiden auf ihre Position aufmerksam zu machen. Sie duckte sich wieder, rollte sich ein Stück zur Seite. Immerhin dämmerte es langsam. Ihre Position war besser als die der Männer. Sie hatte Schutz und soweit prallten alle Schüsse nutzlos an der Mauer ab, schafften es nur Putz von der Fassade zu lösen. Die beiden Kerle da unten entleerten beide ihre Magazine. Pakhet zählte. 24 Schüsse gesamt. Zwölf pro Magazin. Jetzt war ihre Chance. Sie wagte den Blick über die Kante, richtete sich ein Stück auf und legte an. Einatmen, nachjustieren … Jemand packte sie von hinten am Kragen der Jacke, warf sie mit einer magischen Leichtigkeit. Unsanft prallte Pakhet mit dem Rücken auf dem Kies auf, dass das Dach bedeckte. Sie keuchte. Es waren ihre Instinkte, die sie warnten und dazu brachten, sich zur Seite zu rollen, so dass das Messer den Boden neben ihr traf. Sie wollte nach der Gestalt treten, verfehlte aber. Die Gestalt war schnell. Magisch. Natürlich. Keuchend kam Pakhet auf die Beine und betrachtete die Frau, deren Kleid locker um ihre Beine wehte. Sie hielt einen langen Dolch in der Hand, hatte ihre Sonnenbrille vom Nachmittag abgelegt. Da war etwas in ihren Augen, das Pakhet nicht in der Folterkammer gesehen hatte. Ein magisches Schimmern, das den Hunger noch gefährlicher wirken ließ. „Gweimu“, zischte die Frau und fixierte Pakhet. Sie war definitiv noch am Leben und allen Anschein nach kein Mensch. Schon sprang sie auf Pakhet zu, aber anders als auf jenen Balkon oder in dieser Folterkammer hatte Pakhet ihre Pistole. Sie schoss, ließ ihre Instinkte ihre Finger leiten. Ein wütender Schrei erklang, als die Frau zur Seite sprang. Sie hielt sich die Seite. Offenbar hatte Pakhets Schuss sie zumindest gestreift. „Ich hatte eigentlich gedacht, du würdest abhauen“, knurrte die Frau in ihrem weiterhin dickem Akzent. „Aber offenbar willst du sterben.“ Normalerweise ließ Pakhet sich gerne auf diese kleinen Pläuschchen ein. Versuche den Gegner auf dem falschen Fuß zu erwischen. Aber nicht heute. „Wo ist Li?“, fragte sie stattdessen kalt ohne ihre Waffe sinken zu lassen. Die Augen der Frau glühten. Sie glühten tatsächlich. Was war sie? Sie antwortete etwas, jedoch auf Mandarin. Dann sprang sie, schien zu verschwinden. Pakhet sah sie nicht, doch ihre Instinkte ließen sie sich umdrehen – gerade Rechtzeitig um zu verhindern, dass der Schal sich um ihren Hals wickelte. Sie schoss, duckte sich dann unter dem Messer hinweg. Die Frau war noch schneller als sie – und ihre eigene Geschwindigkeit war bereits durch ihre Magie verstärkt. Von der Straße erklangen weitere Schüsse, brachten die Frau dazu kurz einen Blick zum Rand des Gebäudes zu werfen. Sie zischte etwas, verschwand dann erneut. War sie zu schnell oder nutzte sie irgendeine Form der Unsichtbarkeit? Anstatt zu versuchen sie zu sehen, vertraute Pakhet ihren Instinkten. Sie duckte sich unter dem Messer hinweg, versuchte erneut zu schießen, traf dieses Mal aber nur das Dach. Ein weiterer Schlag mit dem Messer, ein weiterer Schuss, dann traf auf einmal eine kalte Hand Pakhets Nacken, griff fest zu. Spitze Fingernägel bohrten sich in Pakhets Fleisch, ließen sie keuchen. Sie durfte jedoch nicht schlaff werden. Das Weib hatte noch immer ein Messer. Stattdessen trat sie nach hinten aus, traf die Hüfte der Frau. Dann brachte sie ihre Waffe zu ihrem Hals und schoss. So nah an ihrem Ohr abgefeuert klang der Knall des Schusses als Ringen weiter. Sie konnte die Hitze des Laufs an ihrem Hals fühlen. Dennoch schrie die Frau auf, ließ sie los. Pakhet fuhr herum. Der Schuss hatte den Arm der Frau durchbohrt – allem Anschein nach die Knochen zertrümmert. Schreiend hielt die Frau den linken Arm an ihren Körper gedrückt, die Hand mit dem Messer jedoch weiterhin vor sich. Ihre Worte waren fraglos irgendwelche Beleidigungen, selbst wenn Pakhet sie nicht verstand. Wieder verschwand sie, tauchte nicht sofort wieder auf. Pakhet atmete tief durch, fuhr dann herum und schoss noch einmal. Dieses Mal traf sie die Schulter der Frau, riss sie damit zu Boden. Diese Chance konnte sie sich nicht entgehen lassen. Mit drei Schritten war Pakhet bei ihr, trat den Dolch aus der Hand der Frau, ehe sie ihren Fuß auf die verletzte Schulter setzte. Sie richtete die Pistole auf den Kopf der schreienden Frau. „Wo ist Li?“ Kapitel 8: Rache ---------------- Pakhet hatte schlimmeres befürchtet. Vor allem hatte sie befürchtet, dass Li, wie die meisten in dieser Stadt, in einem Apartment lebte. Doch nein. Er war ein reicher Schnösel. Reich wahrscheinlich von seinen Drogengeschäften. Statt einem Apartment hatte er ein Haus am südöstlichen Rand der Stadt. Kein besonders großes Haus, doch ein edles, sogar mit einem Garten – und einer Mauer, die diesen umgab. Pakhet hatte den Leihwagen einige Straßen entfernt abgestellt und war den Rest der Strecke gelaufen. Sie wollte nicht riskieren, dass jemand Ausschau nach dem Wagen hielt – denn waren ihr die zwei Typen unten entkommen. Und wahrscheinlich hatten andere Leute sie beobachtet. Die Frau war tot. Aber wenigstens hatte sie diese Adresse herausgerückt. Wenn sie denn die Wahrheit gesagt hatte. Eigentlich sollte sie gewusst haben, dass Pakhet sie nicht würde gehen lassen. Nicht nach dem was sie ihr angetan hatte. Bevor sie den Wagen zurückgelassen hatte, hatte Pakhet die Wunden an ihrem Hals und ihrer Seite mit Pflastern verarztet. Sie würde zurück in Südafrika jemanden daraufschauen lassen müssen. Wenigstens waren die Nägel der Frau nicht vergiftet gewesen. Was auch immer die Frau eigentlich gewesen war. Dämon? Fae? Vampir? Jedenfalls kein Mensch und recht sicher auch kein Gestaltwandler – sonst hätte sie ihre Gestalt spätestens im Kampf angenommen. Eigentlich hätte Pakhet sich eine weitere Waffe gewünscht. Ihre (Waffe) war klein, hatte nur fünfzehn Schuss, selbst wenn sie ein weiteres Magazin dabei hatte. Sie wusste nicht, mit wie viel Sicherheit sie würde rechnen müssen. Zumindest waren hier wenig Leute unterwegs. Kein Wunder. Wolken verdeckten den Himmel und es nieselte bereits seit knapp zehn Minuten. So würden ihr vielleicht etwaige Wachen schneller auffallen. Sie blieb nicht an der Mauer des Grundstücks stehen, betrachtete diese nur aus den Augenwinkeln, während sie daran vorbeilief. Nicht sehr hoch. Gerade einmal zwei Meter. Sie kam locker darüber. Dennoch würde sie es nicht von der Straße aus versuchen. Gemäßigten Schittes ging sie bis zum Ende der Straße, bog nach rechts ab und verharrte dann zwischen zwei Bäumen die in dieser besseren Gegend die Seiten der Straßen begrünten. Sie holte das Amulett hervor, das sie für viel zu viel Geld gekauft hatte. Es sollte ihr keine komplette Unsichtbarkeit geben, doch zumindest viele Augen über sie hinweggleiten lassen. Komplette Unsichtbarkeit hätte sie fast das Fünffache gekostet. Also gut. Sie aktivierte das Amulett indem sie einen kleinen Stoß ihrer Energie hineinleitete und hängte es samt dem Band dann um ihren Hals. Gemeinsam mit einem Schutzamulett, dass zumindest einen Teil von Angriffen abwenden sollte, war es ihre beste Chance. Irgendwann sollte sie wirklich in eine magische Rüstung investieren. Vor Blicken zumindest etwas geschützt schlängelte sie sich zwischen den Bäumen hindurch auf das nächste Grundstück, das nicht ummauert war. Sie schlich durch einen kleinen Garten, aktivierte ein Licht, ließ sich davon nicht beirren. Die meisten Leute würden hier nichts erwarten – sofern nicht sämtliche Nachbarn bei den Triaden waren. Weiter zum nächsten Grundstück. Dann zum nächsten, das wenigstens umzäunt war. Sie sprang über den Zaun, schlich weiter. Soweit geschah nichts. Durch einige Fenster sah sie Familien beim Abendessen und einen müden Geschäftsmann, der vor einem Laptop in einem kleinen Wohnzimmer saß und sich die Schläfen massierte. Offenbar wirklich keine Mafiosi. Schließlich erreichte sie die Mauer. Mit einem letzten tiefen Atemzug nahm sie Anlauf und sprang, landete direkt neben dem Gebäude, dass an dieser Seite nur zwei Meter von der Mauer entfernt war. Die Stadt war dicht bebaut. Selbst ein kleiner Garten war hier teuer – und selbst wenn Li ein reicher Schnösel war, war er wohl reich, aber nicht superreich. Sie lugte um die Ecke des Hauses und verzog das Gesicht. Ja, da waren Wachen, die direkt beim Tor standen, dass das Grundstück von der Straße trennte. Zwei Stück. Ob weitere im Gebäude waren? Wenn Li selbst magisch war, musste sie auf Magier gefasst sein. Kurz zögerte sie. Normalerweise tötete sie nicht unnötig, doch konnte sie es nicht gebrauchen, dass diese Typen ihr am Ende in den Rücken fielen. Nein, dieses Mal würde sie kein unnötiges Risiko eingehen. Wer weiß. Vielleicht war der eine oder andere sogar da gewesen, während sie … Wieder verdrängte sie den Gedanken, während die Galle ihr emporstieg. Auch wenn sie es nicht mochte steckte sie ihre Pistole ins Holster zurück, zog stattdessen ihr Messer. Sie wollte unnötigen Lärm vermeiden. In den Schatten der Mauer gedrückt eilte sie zu den beiden Männern, bis sie nur noch drei Meter entfernt war. Wenigstens wirkte der Zauber. Soweit schien keiner von ihnen sie bemerkt zu haben. Dann sprang sie. Hätte sie beide Hände gehabt, hätte sie dem Mann den Mund zugehalten, doch so musste sie sich damit begnügen ihm das Messer in den Kehlkopf zu rammen und von dort aus zur Seite zu ziehen. Ein Zischen erklang, als sein Atem durch das Loch entrann. Blut spritzte. Für einen Moment war sein Kollege zu überrascht, um wirklich zu verstehen. Dennoch griff er beinahe automatisch zu seiner Waffe. Pakhet warf den Körper des sterbenden Mannes auf den zweiten, sprang hinterher. Wie beabsichtigt reagierte der Mann nicht schnell genug, stolperte zurück, schrie dabei aber. Er wollte schießen, doch bevor er es konnte versenkte sie das Messer in seiner Schulter. Sein Schrei wurde schriller, bis sie ihm mit einem weiteren Schnitt zum Schweigen brachte. Nun aber erklangen Stimmen aus dem Haus. Rufe in Mandarin. Das Haus war in einem mehr oder minder modernen Stil gebaut. Ein Stück des Gebäudes samt Balkon wölbte sich über den Eingangsbereich und wurde durch zwei schwarze Pfeiler gestützt. Pakhet stahl sich zu einem der Pfeiler hinüber, verharrte dort, während Schritte zur Tür eilten. Einen Moment später schwang die Tür auf. Drei weitere Leute – zwei von ihnen Frauen – kamen heraus, alle drei in schwarze Anzüge gekleidet. Der Mann hatte eine offenbar Maschinenpistole in der Hand. Eine der Frauen war unbewaffnet. Eine Magierin? Sie würde es nicht darauf ankommen lassen. Pakhet wartete, dass alle drei an ihr vorbei waren, hielt sich dann hinter ihnen. Die drei sahen sich um, dann rief der Mann etwas und eilte zu den beiden Leichen hinüber. Für einen Moment zögerte Pakhet. Es gab zwei Ansätze: Entweder sie nahm sich zuerst die eventuelle Magierin vor oder sie kümmerte sich zuerst darum, die Maschinenpistole aus dem Spiel zu nehmen. Der Mann war isoliert – aber auch im Sichtfeld der anderen beiden. Verdammt. Sie nahm die Magierin, schlich sich von hinten heran, das Messer in der Hand. Dieses Mal hatte sie weniger Glück. Ob die Magierin sie gehört hatte oder auf magische Art bemerkt hatte, konnte Pakhet nicht sagen. Auf jeden Fall fuhr die Chinesin herum, gerade als Pakhet das Messer hob. Sie machte eine Handbewegung und der Boden unter Pakhets Füßen geriet in Bewegung. Sie stolperte rückwärts, bemüht das Gleichgewicht irgendwie zu halten. Der Boden unter ihren Füßen schien flüssig, gab nach und wollte sie festhalten. Derweil rief die Magierin etwas, lenkte damit auch die Aufmerksamkeit der anderen beiden auf sie. Ein Messer war in ihrer Hand. Scheiße. Dann halt anders. Pakhet warf ihr Messer, zielte auf die Brust der Magierin. Wie auch immer diese sie aufgespürt hatte, so hatte sie offenbar dennoch Probleme ihren Bewegungen zu folgen. Das Messer traf sie in der Brust. Dann erklangen die ersten Schüsse. Der Boden wurde langsam fester, erlaubte Pakhet zurückzuweichen, hinter dem Pfeiler Schutz zu suchen. Rasch zog sie die Pistole aus dem Holster und schaute am Pfeiler vorbei. Schnelle Schüsse prallten gegen das Metall. Die automatisierte Waffe. Jetzt würde jeder mitbekommen haben, dass sie da war. Doch wie viele Leute würden schon noch hier sein? Selbst wenn Li ein größerer Fisch war, als Pakhet gedacht hatte, so würde er ihr keine halbe Armee entgegenstellen können. Ein Schuss streifte ihren Arm, durchriss auch ihre Jacke und hinterließ einen brennenden Streifen auf ihrer Haut. Sie zischte leise, wartete jedoch, nun an den Pfeiler gelehnt. Sie wartete, bis die Schüsse verstummten. Die beiden Wachen tauschten Worte aus. Offenbar waren sie verwirrt. Eine gute Chance. Sie trat zur Seite, hob ihre Waffe, schoss zwei Mal auf den Mann mit der Maschinenpistole, zwei Mal auf die Frau. Einen Schuss je auf die Schultern, einen auf den Kopf. Der zweite Schuss auf die Frau verfehlte, der erste aber traf. Sie ging zu Boden. Vielleicht nur ohnmächtig. Egal. Pakhet wandte sich ab und rannte ins Haus. Jetzt war die Frage, wo Li war. Sie sollte nicht zu lange warten. Das erste Zimmer war eine recht breite Diele inklusive einer Garderobe zu ihrer linken. Hier war auch eine Tür. Wahrscheinlich ein Gäste-WC. Vorsorglich öffnete sie diese dennoch – nur um sicher zu gehen, dass er sich nicht versteckte. Sie ging weiter. Am Ende der Diele waren zwei weitere Türen. Eine rechts, eine links. Nach kurzem überlegen öffnete sie die linke mit ihrer Prothese. Ihre Waffe hielt sie auf der Höhe ihrer Schultern. Sie sah in eine recht geräumige, moderne Küche. Diese war jedoch leer. Die andere Tür. Eine Art Wohn- und Esszimmer, dass in einer Fensterfront endete, die Blick auf den Rest des Gartens erlaubte. Dabei eine weitere Tür und eine Treppe, die ins obere Stockwerk führte. Zuerst aber ging Pakhet zu der zweiten Tür hinüber, die sich in einen kurzen Flur öffnete. Pakhet kannte diese Art von Häusern, war sie doch selbst in einem ähnlichen aufgewachsen. Wahrscheinlich war hier ein Gäste- oder Kinderzimmer und das untere Bad. Sie schlich den Flur entlang, öffnete die erste Tür – ein offenbar länger nicht gebrauchtes kleines Schlafzimmer, dessen Bett mit einem Staubschutz überschlagen war. Das nächste war tatsächlich ein kleines Bad. Dennoch blieb eine weitere Tür. Wahrscheinlich ein Abstellraum, der parallel zum Wohnzimmer lag. Von der Breite des Gebäudes her konnte es nicht viel mehr sein. Sie öffnete die Tür und musste sich korrigieren. Eine Treppe offenbar in einen Keller hinab. Für einen Moment zögerte sie. Sie hörte niemanden hier im Haus. Hatte Li sich schon abgesetzt? Er hatte mit ihr gerechnet – wahrscheinlich weil die komische andere Frau bescheid gesagt hatte, dass Pakhet ihr gefolgt war. Pakhet kannte Leute wie Li. Sobald jemand entkam wurden sie nervös, paranoid. Die Information, dass sie noch in der Stadt war, musste ihn alarmiert haben. Vielleicht war er abgehauen, saß vielleicht in einem Flieger nach Peking, Hongkong oder ganz aus dem Land heraus. Egal. Sie würde das Haus durchsuchen. Dass war sie sich schuldig. Sie trat auf die Treppe und ging langsam hinab. Die Wand zu ihrer rechten öffnete sich zu einem fein verzierten Netz aus Metallstreben, durch die das Licht eines Swimmingpools schimmerte. Das Haus war feiner als sie angenommen hatte. Vorsichtig bückte sie sich um nach unten schauen zu können. Dann erstarrte sie. Er war hier. Und nicht allein. Natürlich nicht. Aber er war hier. Li kniete auf der anderen Seite des Raums mit einer Hand im Wasser. Natürlich. Er war Magier. Er bereitete etwas vor. Verflucht. Sie würde sich nicht noch einmal von ihm überwältigen lassen. Außer ihm waren noch vier andere hier. Zwei von ihnen saßen ebenfalls am Rand des Pools. Magier wahrscheinlich auch. Die anderen beiden waren Männer mit Schusswaffen. Scheiße. Das hier war deutlich eine Falle. Sie hatten etwas vorbereitet. Vielleicht einen Zauber. Oder eine Beschwörung. Sie hatten sie noch nicht bemerkt, Eventuell konnte sie noch abhauen. Aber es war keine Option. Sie musste dieses Mal nur besser sein, als er. Schneller. Dieses Mal würde er sterben. Kurz schloss sie die Augen und sammelte sich. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Doch sie war nicht feige. Sie brauchte das hier. Ihre Rache. Also schlich sie weiter die Treppe hinab, bemüht darum keinen Mucks zu machen. Dann hob sie ihre Waffe, zielte auf die eine Frau, die sie für eine Magierin hielt, und schoss. Zwei Mal. Sie zielte auf den Kopf. Überlebende Magierinnen konnte sie sich nicht erlauben. Rot öffnete sich die Wunde auf der Stirn der Frau, ehe sie vornüber in den Pool fiel, während sich das Wasser rosa färbte. Alle zuckten zusammen. Die beiden bewaffneten Männer fuhren herum, während Pakhet auf die andere Magierin zielte. Dann aber bewegte sich etwas im Wasser. Also doch ein Geist. Scheiße. Sie hasste Geister, weil es so wenig gab, was Messer und Kugeln gegen sie ausrichten konnten. Ihr blieb nur eine Chance. Sie rannte weiter in den Raum hinein, zielte wieder auf die andere Frau und schoss, während sich das Wasser zu einer Gestalt formte, in deren Zentrum eine leuchtende Kugel schwebte. Elementargeist auch noch. Womit hatte sie das verdient? Einer der bewaffneten Männer rief etwas, hatte sie offenbar nun gesehen. Ihr Zauber schützte sie nur bis zum ersten Schuss. Doch verdammt, sie hatten eh gewusst, dass sie kam. Beide Männer zielten auf sie, während Li zu ihr herübersah. Aus seinem Blick sprach eine Mischung aus Angst und Hass. Zumindest darin waren sie verbunden. Schüsse durchschnitten die Luft, ließen Pakhet zur Treppe zurückweichen. Das Geländer wäre ein relativ guter Schuss. Es war sehr schwer, Menschen zwischen Metalstreben zu treffen. Auch der Blick des Geistes folgte ihr. Arme schossen aus der Gestalt heraus. Arme aus Wasser, das durch die Streben spülte und sie gegen die Wand drückte, bevor sie verstand, was geschah. Sie hasste Geister. Das Wasser strömte über ihren ganzen Körper, fühlte sich zähflüssig an, schien sie festzuhalten. Es strömte auch über ihr Gesicht, wollte sie ersticken. Großartig. Für einen Moment war da wieder die Panik, die sie zu übermannen drohte, aber sie kämpfte sie zurück. Wenn sie panisch wurde, würde der Geist sie umbringen. Sie schloss die Augen und dachte nach, während das Wasser versuchte in ihren Mund und ihre Nase zu kriechen. Eine Idee kam ihr. Sie hatte noch einen der Luftzauber, mit dem sie sich abgefangen hatte. Er war nicht hierfür gedacht, aber hatte eventuell eine Chance, ihr zu helfen. Die Flüssigkeit fühlte sich viskose an, kämpfte gegen sie an, als sie nach ihrer Tasche tastete. Sie musste ihre Waffe loslassen, dann aber bekam sie den Anhänger in ihrer Tasche zu fassen. Sie zerbrach ihn. Ein Luftzug breitete sich vom Anhänger ausgehend aus, bildete eine Blase, die das Wasser verdrängte und schließlich den ganzen Arm des Geistes platzen ließ. Pakhet ließ ihm keine Zeit, sich neu zu bilden. Stattdessen eilte sie die Treppe hoch. Den Geist von dem Pool zu trennen erschien ihr als eine gute Idee. Wasser prasselte hinter ihr die Treppe hinauf. Sie spürte mehr, als dass sie sah, wie einzelne kleine Ströme nach ihren Füßen greifen wollten. Sie sprang, landete beim oberen Treppenabsatz. Da blieb nur noch die Frage, wie sie das Ding loswurde. Doch eigentlich war es keine Frage, denn die Antwort war offensichtlich. Sofern der Geist nicht an einen Anker gebunden war, war seine Gestalt nicht stabil. Wenn sie Li tötete, würde er vielleicht wieder in die Geisterwelt verschwinden oder zumindest von ihr ablassen. Immerhin war es Lis Befehl, der das Vieh auf sie gehetzt hatte, nicht der Wille des Geistes selbst. Sie stürmte ins Wohnzimmer, während das Wasser ihr hinterherströmte. Es war von den roten Schlieren des Blutes durchzogen. Es blieb zu hoffen, dass dies nicht reichte, um den Geist zu binden. Im Wohnzimmer wich sie an die Wand zurück. Schritte erklangen auf dem Parkett hinter ihr. Die beiden bewaffneten Männer. Sie zog ihr zweites Messer, machte sich bereit. Um dem Geist zu entkommen, blieb sie in Bewegung. Als der Mann aber die Tür durchtrat, stürzte sie sich auf ihn. Wieder durchschnitt sie seine Kehle. Er war zu überrascht, um sich zu wehren. Anders sah es mit seinem Kollegen aus. Er hatte sie bemerkt, hob nun seine Waffe und gab gleich drei Schüsse in ihre Richtung ab. Dieses Mal war sie nicht schnell genug. Einer der Schüsse traf sie – dankbarerweise jedoch an ihrer linken Schulter, an der nur ihr ohnehin recht nutzloser Armstumpf hing. Als sie nicht zu Boden ging, spannte sich der Finger des Mannes erneut an. Er war nur drei Meter von ihr entfernt. Nun dass er sie klar sah … Sie sammelte ihre Energie und sprang. Mit dem einen Sprung erreichte sie ihn, verhinderte jedoch dennoch nicht, dass sein nächster Schuss sie in die Seite traf. Nicht gefährlich, aber schmerzhaft. Dieses Mal landete ihr Messer in seiner Brust. Mit ihrem Schwung riss sie ihn zu Boden, brachte ihre Knie zwischen sich und ihn. Noch einmal stach sie auf ihn an, als er in Wasser platschte, dieses Mal in seine Kehle. Dann hob sie seine Waffe auf. Wieder nahm das Wasser, das nun ihre Füße umspülte, diese viskose Eigenschaft an. Scheiße. Wo war der eigentliche Kern des Geistes? Sie hob die Waffe, wohl wissend, dass es nichts brachte. Sie hatte nicht das Geld gehabt für einen Schutz gegen Geister und hatte zugegebenermaßen nicht damit gerechnet. „Li!“, brüllte sie ins Haus. „Hast du so viel Schiss vor mir, dass du dein ganzes Haus unterwasser setzt wegen mir?“ Sie wusste nicht, wo er war. Wahrscheinlich versteckte er sich noch immer im Keller. Aber irgendwie musste sie ihn herauslocken. „Ich fühle mich geirrt.“ Sie versuchte den Fuß anzuheben. Vergeblich. Das Wasser war wie Treibsand, hielt sie an den Boden gefesselt und strömte nun ihren Körper hinauf. Verflucht. Das war nicht gut. Sie hielt die Waffe vor sich, während ihre Gedanken rasten. Was konnte sie tun? Sie hatte zwar noch einen einfachen Schutzzauber, doch dieser war nur als Schutz gegen Waffen und Zauber, wie der, den Li vorher an ihr versucht hatte. Gegen einen Elementargeist ganz offenbar sinnlos. Ihr Blick wanderte durch den Raum. Gab es etwas, woran sie sich festhalten konnte? Sie musste Li ausschalten, bevor dieser Geist sie erledigen konnte. Sie sammelte all ihre Energie in den Beinen, in der Hoffnung sich so aus der zähflüssigen Wassermasse befreien zu können. Dann stieß sie sich ab. Für einen Moment schien es, als würde das Wasser sie nicht loslassen, doch dann durchbrach sie das Wasser doch. Sie sprang, landete auf dem Tisch und fixierte die Tür, aus der sie vorher gekommen war. Ach, was würde sie dafür geben, eine richtige Magierin zu sein? Magie konnte Geister verletzen. Anders, als ihre Möglichkeiten. Aber verdammt, sie musste in den Keller zurück. Sie musste Li ausschalten. Ob sie sich am Türrahmen festhalten konnte? Schon kroch das Wasser in dünnen Fäden die Tischbeine empor. Was hatte sie für eine Wahl? Sie steckte die Pistole weg, sprang, streckte die Hand nach dem oberen Ende des Türrahmens aus. Irgendwie bekam sie ihn zu fassen, schwang sich weiter und landete am Ende des Flurs. Auch hier war der Boden mit Wasser benetzt, doch sie schaffte es erneut zu springen, bevor es sie greifen konnte. Eine der Leichen lag auf der Treppen, war wahrscheinlich vom Wasser mitgezerrt worden. Pakhet setzte über den Körper hinweg, schwang sich am Geländer herum und landete am Rand des Pools. Li sah sie. Ob ihr Zauber aufgehört hatte zu wirken oder er einen Gegenzauber parat gehabt hatte, vermochte sie nicht zu sagen. Seine Augen weiteten sich. Er rief etwas, das mit dem Schwappen von Wasser beantwortet wurde. „Du feiges Arschloch“, knurrte sie. Die Droge war in ihrer Innentasche. Aber verdammt, sie hatte nicht die Zeit. Er erwiderte nichts, sah sie an. Sein Blick spiegelte noch immer Angst und Hass wieder. Wasser schwabte die Treppe hinunter, ließ ihr keine Zeit. Sie sprang, um den Boden so wenig wie möglich zu berühren, entging damit einer Welle, die in den Pool zurückschwappte. Dann zog sie die geklaute Waffe, landete auf dem einen kleinen Sprungbrett am Beckenrand. „Nein!“, rief Li, doch es war für ihn zu spät. Sie schoss. Im nächsten Moment ergriff das Wasser sie, zerrte sie in den Pool. Hart schlug sie mit dem Kopf gegen den Beckenboden. Ein wenig Luft wurde aus ihrer Lunge gedrückt. Wie eine unsichtbare Hand griff der Geist nach ihr, drückte sie weiter herunter, hielt sie fest. Sie bekam keine Luft mehr. Der Geist versuchte das letzte Bisschen aus ihr herauszudrücken. Da waren wieder schwarze Punkte, die in ihrem Sichtfeld tanzten. Und dann verschwand der Druck plötzlich. Pakhet brauchte einen Moment, um zu begreifen. Wild wedelte sie mit ihrem Arm durchs Wasser, bis sie die Orientierung wiederfand. Sie stieß sich vom Boden ab und durchbrach einen Moment später die Wasseroberfläche. Keuchend sog sie die Luft ein. Sie hustete, schaffte es aber sich irgendwie zum Beckenrand zu paddeln. Sie hatte Recht gehabt. Der Geist war nicht gebunden gewesen und hatte offenbar selbst nicht genug Lust, sich um sie zu kümmern. Sich an den Rand des Pools klammernd, sah sie sich um. Lis toter Körper lag auf der anderen Seite der nun trügerisch stillen Wasserfläche. Mühsam zog sich sich aus dem Wasser. Für einen Moment erlaubte sie es sich, am Beckenrand sitzenzubleiben. Ihr Kopf dröhnte. Vorsichtig strich sie sich mit der Hand über den Hinterkopf und war nicht überrascht, als ihre Hand blutig zurückkam. Sie musste sich den Kopf am Boden aufgeschlagen haben. Dennoch zwang sie sich aufzustehen und ging zu Li hinüber. Er war nach hinten gefallen. Seine Augen starrten zur Decke. Verdammt. Eigentlich hatte sie ihn langsam töten wollen. Aber offenbar sollten sie beide nicht bekommen, was sie wollten. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Sie sollte von hier weg, bevor noch Verstärkung herkam. Ihr Blick glitt zu den anderen Leichen. Da war dieses dürckende Gefühl in ihrem Magen. Diese Menschen hätten nicht sterben müssen. Doch sie hatte es sich anders nicht leisten können … Kapitel 9: Rückkehr ------------------- Der Shanghai Hongqiao Flughafen sah aus, wie so viele andere Flughäfen auch. Die Atmosphäre hatte etwas seltsam vertrautes, erinnerte nur an so viele andere Flughäfen, an denen Pakhet schon gewesen war. Sie atmete durch, als sie mit Weiwens Wagen ins Parkhaus fuhren. Ihre Gastgeberin hatte es sich nicht nehmen lassen sie – gegen eine kleine weitere Bezahlung – selbst zum Flughafen zu bringen. Es war vorrangig aufgrund ihrer noch immer anhaltenden Nervosität, dass Pakhet zugestimmt hatte. Sie sah zu der jungen Chinesin neben sich, deren Blick offenbar nach einem freien Parkplatz suchte. Selbst wenn Weiwen geschäftstüchtig dabei gewesen war, so hatte sie ihr doch deutlich geholfen. Auch die aktuellen Verbände, die ihre Wunden bedeckten, hatte Weiwen angelegt, hatte die Wunden vorher versorgt. Schließlich fuhr Weiwen in eine Parklücke. Sie schaltete den Motor ab und lächelte Pakhet dann an. „Ich bringe dich noch rein.“ Pakhet nickte. Sie sah nicht, warum sie sich dagegen wehren sollte. Vornehmlich war sie müde. Sie hatte letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen. Aktuell wollte sie nichts mehr, als nach Kapstadt zurück. Sie wollte mit Robert sprechen, wollte eine der Ärztinnen in der Zentrale auf ihre Wunden schauen lassen und dann einfach vergessen. „Du bist dir sicher, dass du nicht noch einen Heiler sehen willst?“, fragte Weiwen, während sie den Kofferraum öffnete. Pakhet nahm ihren Koffer, schüttelte dabei den Kopf. „Nein. Es wird schon bis daheim reichen.“ Der Rückflug bereitete ihr noch immer Kopfschmerzen. Die schnellste bezahlbare Verbindung, die sie bekommen hatte, bedeutete für sie noch immer eine Reise von 27 Stunden von denen sie mehr als die Hälfte am Flughafen in Amsterdam verbringen würde. Doch was sollte sie tun? Sie konnte im Flugzeug schlafen und am Flughafen würde sie sich wohl ein Buch holen und die Zeit in einem Coffeeshop totschlagen. Zugegebenermaßen war sie unsicher, ob es keine Probleme mit ihren Wunden geben würde. Ging sie damit zum Flughafenarzt, würde es nur dumme Fragen geben. Dennoch: Wenn sie jetzt noch Geld für einen weiteren Heiler ausgab, wäre sie weit im Minus. Also musste es gehen. Sie hatte schlimmere Wunden überlebt. „Danke dir noch einmal für deine Hilfe“, meinte sie zu Weiwen. Selbst wenn die Frau es vornehmlich wohl für das Geld getan hatte, so war sich Pakhet nur zu deutlich dessen bewusst, dass sie ihr auch das Leben gerettet hatte. Ohne Weiwen wäre sie allgemein aufgeschmissen gewesen. Weiwen lächelte nur und zuckte mit den Schultern. „Immer wieder gerne.“ Sie hielt inne. „Soll ich dir den Koffer noch mit reinbringen?“ Pakhet nickte. „Danke.“ „Gerne. Sag mir Bescheid, solltest du noch einmal Hilfe in Shanghai brauchen.“ „Sicher.“ Pakhet seufzte, während sie sich nach dem nächsten Übergang ins eigentliche Flughafengebäude umsah. „Du rufst mich an, wenn dein Meister sich entschieden hat …“ Irgendwie musste sie immerhin erfahren, welche Gefallen der Drache von ihr wollte. „Ja“, antwortete Weiwen und zeigte zu einem Schild, das den Weg zur Halle der Terminals ausschilderte. Pakhet setzte sich in Bewegung. Auch der Gedanke an die zwei großen Gefallen bereitete ihr Bauchschmerzen. Aber sie würde es überleben. Sie hatte auch das hier überlebt. Und Li war tot. Sie würde auch noch andere Dinge überleben. Der Schlaf war auch während des Fluges nicht erholsam. Albträume mischten sich mit Erinnerungen. Da waren die Schmerzen. Die Hände, die sie berührten. Die Schnitte. Die Verbrennungen. Die Dinge, die sie in ihren Körper steckten. Die Fesseln. Atemlos erwachte sie, nur um im nächsten Moment festzustellen, dass sie sich noch immer im Flieger befand. Sie saß mittig im Flieger. Da sie kurzfristig und Economy gebucht hatte, war kein Fensterplatz frei gewesen. Nicht einmal am Gang hatte sie einen Platz bekommen, so dass sie nun zwischen einer Japanerin und ihrem recht jungen Sohn auf der einen und einem schwitzigen Niederländer auf der anderen Seite eingeklemmt saß. Eigentlich hatte sie einen Film geschaut. Genau. Eine Doku im Unterhaltungssystem des Fliegers. Diese war mittlerweile durchgelaufen, der Bildschirm in den Ruhemodus gegangen. Sie seufzte. Ihr war kalt. Gleichzeitig klebte ihre Kleidung nassgeschwitzt an ihrem Körper. Vielleicht eine Folge des Albtraums. Vielleicht entwickelte sie auch eine Entzündung aufgrund einer der Wunden. Sie schaltete den Bildschirm an und rief die Informationen zum Flug auf. Es war gerade später Abend – Ortszeit – und sie waren irgendwo über Russland. Wirklich lange hatte sie nicht geschlafen. Bis zur Ankunft in Amsterdam waren es noch knapp drei Stunden. Pakhet atmete tief durch und rieb sich über die verschwitzte Stirn. Vielleicht sollte sie nach ihren Wunden schauen. Sie hatte ohnehin nichts besseres zu tun. Also stieß sie den verschwitzten Niederländer, der sie beim Start des Fluges zugelabert hatte, als er gemerkt hatte, dass sie seine Sprache verstand, vorsichtig an. Auch er war am Dösen, öffnete jedoch rasch die Augen. „Ja?“, fragte er in Niederländisch. „Ich müsste aufs Klo“, flüsterte sie und kramte in ihrem Bordgepäck nach ihrer Toilettasche, in dem sie Verbandszeug hatte. „Oh, natürlich.“ Er schnallte sich ab und stand auf, damit sie in den abgedunkelten Gang konnte. Als sie erst einmal stand, atmete sie etwas befreiter. Die Wunde an ihrer Seite schmerzte deutlich. Dennoch war es gut, nicht in den Sitz gequetscht zu sein. Der Flug war ruhig. Es gab keine Turbolenzen. Und allgemein war es ruhig in der Kabine. Viele versuchten etwas zu schlafen. Vorsichtig ging Pakhet den Gang entlang nach hinten, wo sich die Toiletten befanden. Hier hinten standen zwei der Stewardessen bei der kleinen Küche und unterhielten sich. Beide lächelten auf die übliche professionelle Art, als sie Pakhet sahen, wirkten jedoch erleichtert, als diese in einer der Toiletten verschwand. In der kleinen Kabine ließ sich Pakhet auf die geschlossene Toilette fallen. Sie tastete nach der Wunde an ihrem Hinterkopf. Bei dieser hatte Weiwen mit etwas Magie nachhelfen müssen, da sie eigentlich hätte genäht werden müssen. Entsprechend war sie jedoch von allen am wenigsten dramatisch. Auch die Wunde an der Schulter schien wenig Probleme zu machen. Sie schmerzte zwar, jedoch hielt sich dieser Schmerz im Rahmen. Es war nicht das erste Mal, dass sie angeschossen worden war und alles in allem war der Schmerz aushaltbar. Anders sah es mit ihrer Seite aus. Dort hatte sich der Schuss knapp unter der Haut durch ihre Seite gebohrt. Zwar schienen die Organe nicht verletzt und es war ein glatter Durchschuss gewesen. Dennoch musste irgendetwas darein gekommen sein. Das Fleisch um die Wunde herum war heiß und gerötet. Als sie das Pflaster anzog, war deutlich, wie viel Flüssigkeit aus der Wunde gelaufen war. Wahrscheinlich bildete sich irgendwo Eiter. „Scheiße“, flüsterte Pakhet. Aber sie würde durchhalten müssen, bis sie in Südafrika ankam. Bis dahin konnte sie nur hoffen, dass Ibuprofen die Infektion halbwegs unter Kontrolle halten würde. Sie wusch sich die Wunde aus. Es wären nur noch zwanzig Stunden. Sie verzog das Gesicht. „Nur noch“ … Irgendwie schaffte sie es. Als das Flugzeug in Kapstadt auf der Landebahn aufsetzte, war ihr übel. Sie war sich recht sicher, dass sie Fieber hatte. Aber sie konnte noch aufstehen. Sie konnte noch laufen. Und sie war endlos froh, von Amsterdam aus Robert erreicht zu haben. Eigentlich hatte sie vorgehabt, erst einmal nach Hause zu fahren und sich in ihrem eigenen Bett auszuruhen. Doch allem Anschein nach würde sie doch heute noch zur Zentrale müssen. Sie brauchte einen Arzt. Sie brauchte besser noch einen Heiler. Sie hasste es. Sie wusste, dass Michael dort auf sie warten würde. Dennoch stand sie zusammen mit den anderen Passagieren auf, nahm ihre einfache Handtasche von unter dem Sitz und bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr Instinkt war, leicht gebeugt zu gehen, doch es würde die Wunde an ihrer Taillie nicht entlasten. Also bemühte sie sich gerade zu gehen. Irgendwie schleppte sie sich durch den Zoll und die Sicherheit. Sie war nur froh, dass mit dem Koffer alles geklappt hatte. Zwar waren ihre Waffen auseinandergebaut und gut versteckt, doch war zumindest Munition das ein oder andere Mal aufgefallen. Aber sie hatte Glück gehabt. So holte sie den kleinen Koffer vom Gepäckband ab und schleppte sich so endlich in die Haupthalle des Flughafens. Sie sah sich um. Ihr war so unwohl … „J … Pakhet!“ Das war Robert. Er wartete an einer der Säulen auf sie, winkte nun und kam ihr entgegen. Sein rotes Haar leuchtete aus der Menge hervor. Als er näher kam, wurde sein Gesichtsausdruck besorgt. „Joanne?“, fragte er verhalten und kam näher. Sie hasste es, dass er sie auch noch nach zwei Jahren bei diesem Namen nannte. Doch sie sagte nichts, fiel ihm stattdessen in die Arme. Für einen Moment brauchte sie es. Überrascht erwiderte Robert die Umarmung, tätschelte vorsichtig ihre Schulter und schien halb erleichtert, als sie sich von ihm löste. „Was ist los?“ Er musterte sie. „Du siehst nicht gut aus.“ „Verletzt“, murmelte sie. „Kannst du mich zur Zentrale bringen?“ „Du meinst …“ Er zögerte für einen Moment. „Deine Firma?“ Er sprach das letzte mit Abscheu aus. Sie wusste warum, nickte aber. „Ja. Ich brauche einen Arzt.“ „Was ist denn los?“ „Wie gesagt“, erwiderte sie. „Verletzt. Ich glaube, es hat sich entzündet.“ Noch immer zögerte er, dann aber nickte er. „Natürlich. Gib mir den Koffer.“ Bevor sie etwas erwidern konnte, nahm er ihr das Gepäck ab. Er warf ihr einen besorgten Seitenblick zu, ging dann aber voraus. Sein Wagen stand auf der Großen Parkfläche etwas weiter vom Flughafen fort. Es machte aber auch keinen Unterschied mehr. Irgendwie funktionierte sie ja noch. Zur Hölle, vor ein paar Tagen hatte sie trotz der Blutverluste noch funktioniert. Das hier war eine einfache Entzündung. Sie fühlte sich vielleicht elend, aber es würde sich wieder unter Kontrolle bringen lassen. Ein Heilzauber, ein wenig Antibiotikum und es wäre in ein paar Tagen ausgestanden. Im Vergleich zu dem, was sie dort überlebt hatte … „Du siehst elend aus, Jo“, meinte Robert vorsichtig, als sie endlich in seinem roten Wagen saßen. „Was du nicht sagst“, murmelte sie. „Nein … Ich meine …“ Er hielt inne, startete den Wagen und schien nach Worten zu überlegen. „Irgendetwas ist passiert, oder? Etwas schlimmes?“ Pakhet sah aus dem Beifahrerfenster zu ihrer Linken. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. „Mein Auftrag ist nicht gelaufen, wie gehofft“, murmelte sie. „Es war … nicht gut.“ Sie schürzte die Lippen. „Kann ich heute Abend bei dir schlafen?“ „Sicher.“ Robert warf ihr einen besorgten Seitenblick zu, während er den Wagen vom Parkplatz herunterlenkte. Es war deutlich, dass er abwägte, ob er mehr erfragen wollte oder nicht. Am Ende entschied er sich dagegen. Er schwieg, steuerte den Wagen in Richtung des Hafens. Auch Pakhet schwieg. Ihr war zu elend, um zu sprechen. Und sie war müde. So müde. Doch sie wagte es nicht die Augen zu schließen. Die letzten Stunden hatten ihr gezeigt, dass Schlaf keine gute Idee war. Hoffentlich konnte ihr jemand Schlafmittel geben. Und sei es nur für ein paar Tage. Zwanzig Minuten später fuhr Robert endlich auf den Parkplatz vor der vermeintlichen Sicherheitsfirma. Er war angespannt. Er hasste es hier zu sein, wusste er doch, was es mit der Firma eigentlich auf sich hatte. Dennoch sagte er nichts. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, wie sie beide wussten. „Ich werde dir was zu Essen holen, während du drin bist, ja?“, meinte er stattdessen, als sie sich abschnallte. „Ruf mich einfach an, wenn ich dich abholen soll.“ „Danke“, antwortete sie und meinte es. Sie tauschte einen kurzen Blick mit ihrem besten und einzigem Freund, ehe sie ausstieg. Bemüht um eine gerade Haltung, ging sie zum Gebäude hinüber. Sie wollte nicht schwach wirken. Nicht solange sie Gefahr lief, auf Michael zu treffen. Der Gedanke allein ließ ihren Magen sich zusammenziehen. Michael. Hatte er das wirklich geplant gehabt? Hatte er sie loswerden wollen? Doch er wartete nicht am Eingang auf sie und sie würde einen Teufel tun, ihn in seinem Büro aufzusuchen. Sie hatte gut Lust ihn anzuschreien, ihn zu schlagen, irgendetwas zu tun, doch heute wäre nicht der Tag dafür. Wenn es ihr besser ging. Wenn sie wieder klar denken konnte … Stattdessen schleppte sie sich in den nördlichen Flügel des Gebäudes, in dem sich die Krankenstation befand. Ihre Karte öffnete die notwendigen Türen und sie fand zwei Ärzte im erste Hilfe Zimmer vor. Dr. Heath und Dr. Dube. Beide saßen an ihren jeweiligen Schreibtischen, arbeiten offenbar Aktenkram auf, sahen jedoch zu ihr, als sie die Tür öffnete. Dr. Heath hatte Pakhet bereits einige Male behandelt. Sie war eine üppigere schwarze Frau mit geflochtenem Haar. „Pakhet“, meinte sie. „Was ist passiert?“ Offenbar erkannte auch sie, dass sie verletzt war. „Schusswunde“, murmelte Pakhet. „Hat sich entzündet, glaube ich.“ Dr. Heath nickte und kam ihr entgegen. Sie stützte sie nicht, da sie genau wusste, dass es Pakhet widerstrebte, geleitete sie stattdessen in einen anliegenden Behandlungsraum. „Wo?“, fragte sie. „Linke Schulter. Linke Seite. Außerdem eine Platzwunde am Hinterkopf und …“ Pakhet gestikulierte zu ihrem Hals, wo sie ebenfalls die Kratzwunden von dieser seltsamen und sicher nicht menschlichen Frau mit Pflastern überklebt hatte. Wieder nickte Dr. Heath. „Ziehen Sie bitte das Oberteil aus und legen Sie sich hin.“ Pakhet tat, wie ihr geheißen. Sie hatte aufgrund der Schulterwunde ihre Prothese nicht für den Rückflug getragen, was es schwerer machte, sich zu entkleiden. Sie war es gewohnt, hatte Übung, aber ob aufgrund des Fiebers oder der Müdigkeit waren ihre Bewegungen fahrig und unkoordiniert. Schließlich aber lag sie auf der Liege, bis auf ihren BH mit freiem Oberkörper. Dr. Heath sammelte, was sie brauchte, aus den Schränken. Verbandszeug. Desinfektionsmittel. Sauberes Wasser. Eine Einmal-Pinzette. Salbe. Pakhet erlaubte sich die Augen zu schließen. Sie war so endlos müde und fürchtete sich dennoch vor dem Schlaf. Alles schien sich zu drehen. Die Ärztin zog die Pflaster, die die meisten der Wunden bedeckten, ab, schob dabei auch den Träger des BHs von Pakhets linker Schulter. Ihre Finger waren etwas kühl. Ihre Bewegungen routiniert. Es war beruhigend und jagte Pakhet dennoch einen Schauer über den Rücken. Vorsichtig betastete Dr. Heath nun die Wunde an Pakhets Seite, ehe sie noch einmal aufstand und zum Schrank ging. „Ich werde die Wunde spülen, ja? Die scheint sich wirklich entzündet zu haben. Kein Wunder. Sie werden nicht die richtigen Immunkräfte haben.“ Pakhet deutete nur ein Nicken an. Erinnerungen an die Entzündung, die ihr den linken Arm gekostet hatten, kamen aus dem Nichts in ihr hoch. Dabei war es albern. Das hier war nicht vergleichbar. Dr. Heath arbeitete in Ruhe. Sie hatte ein Tuch unter Pakhets Seite ausgebreitet, so dass die Flüssigkeit, die sie zum Spülen verwendete, sich nicht auf dem Boden verteilte. Ihre Bewegungen waren routiniert, selbst wenn auch die Übung nicht verhindern konnte, dass es schmerzte. Die Wunde hatte sich wirklich entzündet. Trotzdem war Pakhet ruhig. Sie ließ sich nichts anmerken. Was ärztliche Behandlungen anging, hatte sie auch schlimmere Erfahrungen gemacht als das hier. Nachdem Dr. Heath offenbar halbwegs zufrieden war, wandte sie sich der Schulterwunde zu. Auch diese spülte sie aus. Eigentlich war es ironisch, das sich die Wunde an der Seite entzündet hatte, statt dieser. Immerhin war die Kugel an der Schulter steckengeblieben. Eher ein Kandidat für Entzündungen. In dieser Wunde puhlte Dr. Heath mit der Pinzette rum – wohl um sicher zu gehen, dass keine Splitter steckengeblieben waren. Zeit verging. Pakhet war schwindelig. Sie hatte wirklich zu wenig geschlafen. Obwohl sie die Augen geschlossen hatte, blendete das OP-Licht, das die Ärztin angeschaltet hatte, sie. Schlaff legte sie den Arm über ihre Augen. „Ist Ihnen nicht gut?“, fragte Dr. Heath. „Nicht wirklich“, erwiderte Pakhet matt. Die Ärztin griff nach ihrer Hand, spürte ihren Puls für einige Sekunden, wandte sich dann ab, um nach dem Blutdruckgerät zu schauen und mit diesem kurz darauf zurückzukehren. Sie schnallte es an Pakhets Arm, wartete, dass sich die Manschette aufpumpte. Als das Gerät fertig war, schaute sie Pakhet an. „Haben Sie viel Blut verloren?“ Pakhet zögerte. Ihr Blutverlust in den vergangenen zwei Tagen hatte sich im Rahmen gehalten, da sie relativ schnell Druck auf der Seitenwunde hatte. „Es geht“, erwiderte sie matt. „Es ist kompliziert. Ich bin glaube ich vornehmlich müde.“ Dr. Heath schnalzte abschätzig mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Ich lege Ihnen eine Infusion. Ein wenig Flüssigkeit wird Ihnen gut tun.“ Dagegen sagte Pakhet nichts. Meistens half es tatsächlich etwas. Selbst wenn es nicht gegen den eisernen Druck auf ihrer Brust würde tun können. „Was haben Sie nur gemacht?“, fragte Dr. Heath, während sie die Infusion vorbereitete. „Wie gesagt. Mein Auftrag ist nicht ganz so gelaufen, wie geplant. Ich …“ Sie hielt inne und seufzte. „Könnten Sie mir einen Gefallen tun?“ „Vielleicht“, erwiderte die Ärztin. Sie holte eine Kanüle aus einem der an der Wand hängenden Schränke. „Könnten Sie nachher einen Ultraschall machen? Ich …“ Der Mund war ihr trocken, als Pakhet versuchte darüber zu sprechen. „Während ich auf meinem Auftrag war, bin ich in Gefangenschaft geraten und …“ Sie hielt inne. „Ich habe eine magische Heilung gehabt, aber ich will … Ich muss einfach wissen, ob wirklich alles in Ordnung ist. Speziell …“ Sie hasste es, es auszusprechen. „Ich hatte eine innere Blutung und ich muss einfach wissen, ob alles noch richtig ist. Dass es keinen bleibenden Schaden gibt und ich nicht …“ Wieder hielt sie inne. „Dass ich nicht unfruchtbar bin“, endete sie schließlich leise. Dr. Heath betrachtete sie für zwei, drei Sekunden, während sie noch immer die Nadel in der Hand hatte. Es war ihr anzusehen, dass sie sich zusammenreimte, was passiert war. Doch sie fragte nicht weiter. „Natürlich kann ich das. Aber lassen Sie mich erst die offenen Wunden versorgen, ja?“ Pakhet nickte. Sie machte ihren Arm locker, damit die Ärztin die Kanüle legen konnte. Was blieb ihr auch für eine Wahl? Letzten Endes bestand Dr. Heath doch darauf, dass sie erst einmal wartete, bis die Infusion durchgelaufen war. Pakhet wusste, dass sie Recht hatte, aber dennoch hasste sie es zu warten. Die Frage hatte sie von allen Dingen am meisten beschäftigt, seit sie daraus war. Sie wusste, dass die Verletzungen, die Li und seine Leute ihr zugefügt hatten, wahrscheinlich zumindest ihren Uterus, wenn nicht auch die Eierstöcke beschädigt hatten. Die Blutung war aus ihrer Scheide gekommen. Eigentlich redete sie über diese Dinge nicht, doch was sollte sie tun? Sie brauchte ärztliche Hilfe. Sie brauchte eine ärztliche Bestätigung, dass es wirklich alles geheilt war. Denn letzten Endes wollte sie irgendwann ein Kind. Sie wollte zumindest die Option behalten. Dr. Heath holte schließlich das Ultraschallgerät. Sie seufzte dennoch. „Sie wissen, dass das nicht wirklich eine richtige gynäkologische Untersuchung ersetzt, ja?“ Pakhet nickte. „Natürlich.“ Letzten Endes war Dr. Heath … ja, was eigentlich? Chirurgin? Unfallärztin? Von allem was Pakhet wusste, war sie einmal Feldärztin irgendwo gewesen. Wo wusste Pakhet nicht. „Haben sie einen Gynäkologen hier?“, fragte Dr. Heath, während sie das Gerät startete. Pakhet presste die Lippen zusammen. Sie hatte vermieden Ärzte außerhalb der Firma zu besuchen. „Nein.“ Die Spirale hatte ihr auch hier jemand einsetzen können. Andere Ärzte führten nur zu mehr fragen. Es war unangenehm. „Vielleicht sollten Sie darüber nachdenken“, meinte Dr. Heath und gab etwas von dem Gel. „Ich bin nicht besonders erfahren mit diesen Dingen. „Und es wird wahrscheinlich noch ein paar mehr Untersuchungen brauchen, um genaueres zu sagen.“ Darauf nickte Pakhet nur. Wahrscheinlich hatte die Ärztin auch hiermit Recht. Diese verteilte das Gel mit dem Ultraschallkopf, darauf bedacht, möglichst nichts auf das frische Pflaster zu bekommen. Für eine Weile war sie ruhig, während sie den Kopf bewegte. „Nun, ich sehe jedenfalls keine offenen Wunden hier“, meinte sie. „Keine aktiven Blutungen.“ Sie drückte mehrfach auf einen Knopf an dem Gerät. „Auch keine Narben.“ Dabei schüttelte sie den Kopf. Wahrscheinlich dachte sie dasselbe wie Pakhet: Magie war seltsam. „Kann es sein, dass da noch Blutreste sind?“ Pakhet nickte. „Ja. Wahrscheinlich.“ Auch die Ärztin nickte. „Aber ansonsten sehe ich nichts Ungewöhnliches.“ Sie schenkte ihr ein zurückhaltendes Lächeln. „Ich würde Ihnen dennoch wirklich nahelegen, einmal zu einem Spezialisten zu gehen.“ „Ja“, murmelte Pakhet und seufzte. „Kennen Sie jemanden, der nicht zu viele Fragen stellt?“ Sie nickte zu ihrer fehlenden Gliedmaße und den Pflastern. „Ja, da gibt es ein paar“, meinte Dr. Heath. „Ich kann mich mal rumhören.“ „Danke.“ Pakhet schloss wieder die Augen. „Ich kann Ihnen nur raten, sich ein paar Tage Ruhe zu gönnen. Ich glaube, das brauchen Sie.“ Die Ärztin lächelte. „Und ich werde Ihnen ein Schlaf- und ein Beruhigungsmittel mitgeben. Und ein Antibiotikum. Ich würde Ihnen raten, alles für die nächsten Tage zu nehmen.“ „Werde ich, Frau Doktor.“ Pakhet schenkte ihr ein zurückhaltendes Lächeln. „Gut.“ Die Ärztin schaltete das Gerät ab und machte erst den Ultraschallkopf sauber, ehe sie Pakhet einige Tücher reichte. „Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“ „Ich habe einen Freund, der mich abholt“, erwiderte Pakhet, während sie das Gel abwischte. Mühsam richtete sie sich auf und schaute auf die mittlerweile leere Infusion. Sie war sich dessen bewusst, dass die Ärztin ihr zwischendurch ein anderes Mittel mit hineingegeben hatte. Sie war sich recht sicher, dass es etwas zur Beruhigung war, denn ihre Gedanken sprangen nicht mehr so viel, wie sie es vor einer halben Stunde noch getan hatten. Dr. Heath schenkte ihr ein Lächeln und fuhr dann das Ultraschallgerät weg, während Pakhet sich aufrichtete. Sie war bis auf ihre Unterwäsche nackt. Nun griff sie nach ihrer Hose und schlüpfte hinein. Als die Ärztin zurückkam löste sie den Tropf. Sie hatte ihr außerdem die versprochenen Medikamente mitgebracht. „Danke“, flüsterte Pakhet und zog sich schließlich an. Die Wunde fühlte sich bereits jetzt ein wenig besser an – doch vielleicht hatte Dr. Heath ihr auch ein Schmerzmittel gegeben, während sie es nicht bemerkt hatte. Sie seufzte und steckte die Medikamente in die Tasche ihrer Lederjacke. Robert anrufen. Zu ihm fahren. Irgendetwas schauen, um sich abzulenken. Das klang sehr gut. Doch so leicht sollte es ihr nicht vergönnt sein. Als sie den Behandlungsraum verließ, hörte sie die Stimme, sie sie nicht hatte hören wollen. „Du bist ja wieder im Lande, Jo.“ Sie holte tief Luft. Also war der kleine König von seinem Thron herabgestiegen. „Du hast den Flug selbst gebucht. Eigentlich solltest du wissen, dass ich heute ankomme, Michael“, erwiderte sie. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Da war diese Wut, die in ihr brodelte. Es war seine Schuld gewesen. Ein Grinsen umspielte seine Lippen. Es war schwer zu sagen, wie alt Michael eigentlich war. Pakhet schätzte ihn um die vierzig. Da waren einige Falten in seinem Gesicht und seine Haut wirkte gegerbt. Er war Europäer, was man sowohl seinem Dialekt anhörte, als auch seiner blassen Haut und dem lichten hellen Haar ansah. Wie so oft trug er ein einfaches Hemd. Obwohl er der vermeintliche Geschäftsführer der „Firma“ war, bemühte er sich selten um einen richtigen Anzug. „Ich habe gehört, dass du den Job am Ende nicht einmal richtig zu Ende gebracht hast“, meinte er. Ein Grinsen umspielte seine Lippen. „Ich hatte keine andere Wahl, als Li zu erschießen“, erwiderte Pakeht. „Insofern. Nein. Nicht ganz. Aber er ist tot.“ „Und etwas sagt mir, dass es am Ende nur Rache war.“ Michael schüttelte den Kopf. „Wie unprofessionell.“ Was hätte sie dafür getan, ihn zu schlagen? Doch es brachte sie nicht weiter. Es würde sie nur wieder in so eine Situation bringen. „Du hast mir die Informationen absichtlich unterschlagen“, erwiderte sie. „Dass er ein Magier ist.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was du meinst.“ „Natürlich nicht.“ Sie wandte sich ab und marschierte zur Tür, sich dessen nur zu sehr bewusst, dass er ihr folgte. „Sieh es so, Joanne. Du hast überlebt. Gratulation. Hast du deine Lektion gelernt?“ Ihre Hand zitterte. Es wäre leicht ihn umzubringen. Anders als Li hatte Michael wenig Training. Er war praktisch hilflos. Doch da war auch sein Totmannschalter, den er fraglos hatte. Nicht nur, dass so die Army erfahren würde, dass sie noch lebte – es würde ihr auch noch ganz andere Feinde machen. „Ich dachte, wir hatten eine Abmachung. Keine Aufträge mit Kindern“, erwiderte sie leise, bemüht ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. „Manche Dinge lassen sich nicht verhindern“, erwiderte er und zuckte mit den Schultern. „Ist ein wenig Professionalität zu viel verlangt?“ „Ich töte keine Kinder. Es ist die eine Sache, die ich nicht bereit bin zu tun.“ Nun auf dem Flur drehte sie sich zu ihm um und sah ihn an. „Du hast es versprochen, Michael.“ Er musterte sie. Noch immer umspielte die Spur eines Grinsens seine Lippen. Dann aber seufzte er auf übertrieben dramatische Art. „Schau, Pakhet, der Auftrag war wichtig. Und du bist eine meiner besten Kämpferinnen. Du bist effektiv.“ Jetzt versuchte er sich einzuschleimen. Selbst wenn er Recht hatte. Immerhin hatte sie weit mehr Training als so viele andere, die hier arbeiteten. „Ich weiß“, erwiderte sie daher. „Aber ich habe von Anfang an gesagt, dass ich es nicht mache. Wenn du das nicht respektierst …“ „Dann was?“ Er lächelte. „Du kannst nirgendwo anders hin.“ Sie atmete tief durch. „Wenn ich so effektiv bin, ist es dir das wirklich wert?“ Das Spiel konnten auch zwei spielen. „Hätte Li mich getötet, dann hättest du mich verloren. Und dann? So leicht bin ich nicht zu ersetzen, oder?“ Sein Lächeln wurde wieder breiter. Es war offensichtlich, dass er sich bemühte nicht zu lachen. Dennoch schenkte er ihr ein anerkennendes Lächeln. „Nun, du hast überlebt. Ich gratuliere. Und ich hoffe, dass wir es nicht wiederholen müssen.“ Er war so ein Arschloch … „Ich auch“, erwiderte sie durch zusammengepresste Zähne. „Dann sind wir uns ja einig.“ „Offenbar.“ Er hatte verdammt noch mal versucht, sie umzubringen. Er hatte gewollt, dass sie stirbt. Und sie konnte nicht von hier weg. Sie wandte sich ab und eilte den Flur hinab. Sie wollte einfach nur hier weg. Weg von ihm. „Joanne?“, rief er ihr hinterher, folgte ihr aber nicht. Dennoch hielt sie inne. „Ich hätte ja nicht gedacht, dich einmal Weinen zu sehen.“ Ihr Magen zog sich krampfhaft zusammen. Beinahe hätte sie sich übergeben. Sie kämpfte dagegen an, schluckte. Sie erwiderte nichts, sondern ging weiter. Sie verstand nur zu gut, was er sagen wollte. Er hatte das Video gesehen. Woher er es auch immer hatte. Wahrscheinlich hatte er es noch immer. Noch mehr, um sie unter Druck zu setzen. Arschloch. Und sie konnte nichts tun. Er hatte die Kontrolle über sie. Kapitel 10: Albträume --------------------- „Joanne“, drang eine Stimme in ihr Bewusstsein durch. Sie war gefesselt. Hilflos. „Joanne!“, rief die Stimme. Sie würde sterben. Sie bekam keine Luft. Sie würden sie töten. „Joanne.“ Jemand schüttelte sie und schaffte es damit endlich die Fesseln des Schlafes zu durchbrechen. Ihre Gedanken waren vernebelt – eine Nebenwirkung des Schlafmittels. Sie blinzelte Robert an. „Was ist?“ „Ich glaube, du hattest einen Albtraum“, erwiderte er vorsichtig und setzte sich auf das Bett zurück. „Du hast dich hin und her gewälzt.“ Pakhet seufzte und rieb sich über die schweißnasse Stirn. Es war die zweite Nacht, die sie bei Robert übernachtete. Sie traute sich noch nicht wieder in ihr eigenes Haus zurück. Sie wollte nicht allein sein. Ihr Blick glitt zu der Uhr auf dem Nachttisch hinüber. „Habe ich dich geweckt?“ Sie teilten sich das breite Bett. Immerhin wusste sie bei Robert, dass er keinerlei Interesse an ihr hatte. Er seufzte. „Es ist schon okay. Ich weiß, dass es gerade hart ist.“ Nach den Worten presste er die Lippen aufeinander. „Also zumindest habe ich so viel verstanden.“ Pakhet nickte langsam. „Ja. Es ist …“ Verflucht. Das letzte Mal, dass es so schlimm gewesen war, war in Irak. Sie kannte Trauma, aber das hier war anders. Die Angst, die sie dort gehabt hatte, die Angst, die sie verspürt hatte, während sie dort gehangen und langsam ausgeblutet war. Sie wäre wirklich beinahe gestorben. Da war wieder das Brennen in ihren Augen. Aber sie würde nicht weinen. Sie war zu stolz. „Joanne …“, murmelte Robert vorsichtig. „Vielleicht solltest du dir jemanden zum Reden suchen.“ Sie nickte. Sie wusste sehr genau, dass er es nicht hören wollte. So lieb er auch war, so sehr er ihr auch helfen wollte, konnte er einfach nicht ertragen zu hören, was sie in ihrem Job tat und was sie erlebte. Letzten Endes wollte er die vermeintliche Sicherheit, die er so spürte, nicht aufgeben. Wahrscheinlich würde er ihre Freundschaft nicht ertragen, würde er darüber nachdenken, wie viele Menschen sie bereits getötet hatte. Sie wusste nicht einmal wie viele es waren. Ach, sie wusste nicht einmal mehr, wie viele es dort in Shanghai gewesen waren. „Vielleicht.“ Sie rückte zum unteren Ende des Bettes. Sie wollte sich das Gesicht waschen. Die Wahrheit war, dass sie niemanden hatte, mit dem sie reden konnte. Sicher, es gab Smith, aber Smith war kein Freund. Niemand zum Reden. Und ein Psychologe? Nein, das war nichts, das sie riskieren wollte. Nicht solange Michael lebte. Nein. Allgemein nicht. Was sollte sie mit einem Psychologen auch besprechen? Sie öffnete die Tür zu Roberts Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Trotz des Schlafmittels hatte sie Ringe unter den Augen. Sie war auch blasser, als normal. Ach, hoffentlich wurde sie nicht krank. Das konnte sie nicht auch noch gebrauchen. Vorsichtig stellte sie das Wasser an und ließ es über ihre Hand laufen. Es fühlte sich angenehm an. Dann bückte sie sich und wusch sich das Gesicht. Das kalte Wasser wirkte erfrischend. Beruhigend. Für einen Moment schloss sie die Augen, konzentrierte sich auf ihre Atmung und versuchte alle Gedanken, Erinnerungen, Gefühle zu verdrängen. Dann kehrte sie in das Hauptzimmer von Roberts recht kleiner Wohnung zurück. „Alles in Ordnung?“, fragte er. Sie seufzte. „Im Moment nicht. Aber es wird wieder.“ Sie schenkte ihm ein mattes Lächeln und kroch wieder zu ihm ins Bett. „Danke, dass ich hier bleiben kann.“ „Schon okay.“ Er seufzte. „Es ist ja nicht so, als hätte ich häufig Besuch hier.“ Damit streckte er sich aus und schaltete das Licht aus. Natürlich bemühte Pakhet sich nicht, einen Psychologen zu finden. Dennoch war ihr Gewissen nach drei Nächsten schlecht genug, als dass sie Robert versicherte, dass es schon besser ging und in ihr eigenes Haus zurückkehrte. Eigentlich sollte es ihr ein Gefühl von Sicherheit geben, lebte sie doch in einem Stadtteil mit eigener lokaler Sicherheit, doch das tat es nicht. Sie hatte ihr Haus nur mit dem nötigsten eingerichtet. Minimalistisch, hätten einige es genannt, während andere von einem Mangel an Identität gesprochen hätten. So oder so kamen ihr die Räume im Moment seltsam leer vor. Es fühlte sich seltsam an. Beängstigend. Ein Teil von ihr wollte irgendetwas kaufen im die Leere zu füllen, doch sie hielt sich davon ab. Später käme ihr alles zu voll vor, wenn sie das täte. Sie brauchte nur eine Weile. Sie brauchte eine Weile, in der sie heilen konnte. Wenigstens hatte sich Michael bei ihr nicht gemeldet. Wahrscheinlich wusste er zumindest, dass sie heilen musste. Nicht psychisch, aber körperlich. Besser wurde es jedoch nicht. Sie wachte am vierten Morgen zurück in Südafrika mit einem Fieber und deutlichen Erkältungssymptomen auf. Es war nicht wirklich verwunderlich. Selbst wenn ihre latente Magie sie ein wenig resistenter gegen Infektionen machte, so war sie schwer verletzt gewesen, hatte Blut verloren, war ziemlich lange geflogen und noch länger an einem Flughafen in einem europäischen Land rumgehängen, während in Europa gerade Erkältungszeit war. Dazu kam ihre noch immer offene Wunde, die ihr Immunsystem in Anspruch nahm. Sie hatte alles da, was sie brauchte. Medikamente um die Symptome zu bekämpfen. Einige Bonbons zum Lutschen. Tee. Und Kaffee, der dank der von vielen Albträumen durchbrochenen Nächte das einzige war, das sie bei Verstand hielt. So lag sie auf der Couch in ihrem Wohnzimmer und zappte durch die Fernsehprogramme. Sie brauchte irgendetwas, um sich abzulenken. Normalerweise hätte sie Sport gemacht, hätte sich bis zur Erschöpfung ausgepowert, um so in den Schlaf und zur Ruhe zu finden, aber ihre Gesundheit verhinderte es. Auch die Alternative – sich betrinken und dann irgendjemanden für einen One-Night-Stand finden – war so außer Frage. Sie wusste dabei nicht mal, ob sie sich das trauen würde. Nicht im Moment. Die Erinnerungen an die Berührungen der Männer waren nur zu deutlich und schien beständig nur knapp unter der Oberfläche ihres Bewusstseins zu lauern, wartete auf einen Moment der Schwäche, in dem sie hervorkommen konnte, um sie zu überfallen. Dabei war Pakhet sich nicht einmal sicher, was es genau war. Es war nicht das erste Mal, dass sie jemand gegen ihren Willen berührt hatte. Es würde nicht das letzte Mal sein. Eigentlich sollte es die Folter sein, die ihr in Erinnerung bleiben sollte. Dennoch waren die Berührungen das erste, was in ihre Erinnerung kam, wenn sie nicht wachsam war. Die Berührungen und das Gefühl von Hilflosigkeit. Die Berührungen und der Ekel. Es schien ihnen einen besonderen Kick zu geben, zu wissen, dass sie verletzt war. Zu wissen, dass sie starb. Langsam. Ganz langsam. Irgendwann hatte Li bemerkt, was ihre Angst war. Und er hatte es genutzt. Sie schauderte. Da war ein Teil von ihr, der es immer noch in Betracht zog einen Magier zu beauftragen, ihre Erinnerungen zu löschen. Aber das Risiko konnte sie nicht eingehen. Es war damals im Irak genau so gewesen. Anders. Denn es war ein anderes Trauma. Doch die Symptome waren ähnlich. Die Albträume. Die Erinnerungen, die lauerten. Der Schweiß. Das Herzrasen. Sie hatte damals geschafft, es zu verarbeiten, es weit genug zu verdrängen, dass es sie nicht mehr aufweckte. Es hatte gedauert. Verdammt, es hatte Monate gedauert. Aber am Ende hatte sie es geschafft. Und dieses Mal würde sie es auch schaffen. Selbst wenn die Monate hart waren. Matt streckte sie die Hand nach der Tasse mit dem Tee aus und trank einen Schluck. Sie hatte eine frische Zitronenscheibe mit hineingelegt. Wenigstens beruhigte es ihren kratzigen Hals. Würde es nur auch ihre Gedanken beruhigen. Sie hasste es zu warten, bis die Zeit die Wunden heilte. Es brauchte zwei Tage, bis die Erkältungssymptome besser wurden. Natürlich. Selbst wenn sie geschwächt war, halfen die magischen Kräfte, es schneller zu beenden. Auch ihre physischen Wunden heilten langsam. Die Kratzer am Hals hatten sich bereits geschlossen, waren nur noch rot auf ihrer Haut zu sehen und selbst die beiden Schusswunden schlossen sich nun auch. Einzig die an der Seite wässerte noch ein wenig, offenbar ein Überbleibsel der Entzündung. Dennoch. Physisch ging es besser. Langsam. Sie erlaubte es sich rauszugehen. Es war heiß, aber sie genoss die Sonne. Sie half ein wenig ihre Gedanken zu erleichtern und die bedrückenden Erinnerungen etwas weiter zu verscheuchen. Jedenfalls solange sie draußen war. Saß sie abends drinnen auf ihrem Sofa oder lag im Bett kamen sie wieder. Erinnerungen an die Berührungen. An ihr Lachen. An die Schadenfreude. Natürlich half das Schlafmittel, doch bei weitem nicht so sehr, wie sie es sich erhofft hatte. Sicher, es erlaubte ihr einzuschlafen, doch konnte es Albträume nicht verhindern. Albträume, die wieder und wieder sie in das Gefühl der Machtlosigkeit zurückversetzten. Dann war sie gefesselt. Ihr Körper schmerzte. Sie weinte. Männer ohne Gesichter berührten sie. Es gab nichts, was sie tun konnte, bis sie atemlos und mit brennenden Augen erwachte. Pakhet seufzte, als sie sich in die Kissen zurückfallen ließ. Ihre Wangen waren feucht. Sie hatte im Schlaf geweint. Sie hasste es so sehr. Sie hatte nicht mehr geweint, seit sie ein Kind gewesen war. Es machte alles noch schlimmer, gab ihr das Gefühl auch jetzt noch keine Kontrolle zu haben. Doch was konnte sie tun? Müde legte sie sich auf die Seite und schaute zum großen Balkonfenster ihres Schlafzimmers. Von draußen fiel das Licht der Straßenlaternen herein. Vielleicht in einem Versuch nicht sofort wieder in den Schlaf und die Träume zurückzufallen, zog sie eins ihrer Kissen weiter herunter, so dass sie sich dagegen lehnen konnte. Sie wusste einfach nicht, was sie tun konnte. Wie gern hätte sie mit Robert darüber gesprochen? Aber sie wusste, dass es ihm gegenüber nicht fair war. Er wollte mit ihrer Welt dahingehend nichts zu tun haben. Es würde ihn wahrscheinlich nur traumatisieren davon zu hören. Was, wenn sie ihn als Freund verlor? Deswegen behielt sie es für sich. Was sollte sie auch sonst tun? Ausnahmsweise wünschte sie sich wirklich, jemanden zu haben, der ihr zuhörte. Der davon wusste. Der verstand. Doch so jemanden gab es nicht und würde es nicht geben. Am Ende war das hier nur eine Phase. Und dann? Nein. Sie wollte keinem ihrer Kollegen in der Hinsicht näher kommen. Denn in ihrem Job waren die Chancen zu groß, dass einer von ihnen starb. Enge Bindungen machten die Wahrscheinlichkeiten größer, dumme Entscheidungen zu treffen. Und dumme Entscheidungen waren tödlich. Außerdem würde es Michael nicht gefallen. Und dann? Warum machte sie sich überhaupt Gedanken, was ihm gefiel und was nicht? Doch die Wahrheit war, dass er so etwas jeder Zeit wieder tun konnte. Er konnte sie jederzeit auf eine Selbstmordmission schicken. Sie kannte Menschen wie ihn aus ihrer Zeit bei der Army – aber wenigstens waren die Arschlöcher dort offen damit gewesen, was es war. Michael dagegen war ein manipulatives Arschloch. Sie konnte ihm nicht vertrauen und war doch auf ihn angewiesen. Ach, zur Hölle. Vielleicht hätte sie sich hierdrauf nie einlassen sollen. Vielleicht wäre es besser gewesen, hätte sie die ehrenhafte Entlassung in Kauf genommen. Aber was hätte sie danach gemacht? Wäre sie dann zu einer der Veteraninnen geworden, die auf die Hilfe der VA angewiesen wären? Drüben? In den USA? Den Gedanken hasste sie noch mehr. Verdammt. Sie wollte nicht in die USA zurück. Sie hatte es dort gehasst. Und dabei war es ihr nicht einmal wirklich schlecht gegangen. Aber irgendwie … Ja, irgendwie war es nie eine „Heimat“ gewesen. Wenigstens hatte sie hier das. Wenigstens war Kapstadt so etwas wie eine Heimat. Zumindest das war ein tröstlicher Gedanke, der sie schließlich in den Schlaf begleitete. Es brauchte eine ganze weitere Woche, bis die Wunden gänzlich verheilt waren. Natürlich zeichneten sich noch immer Rötungen auf ihrer Haut ab. Doch zumindest sah es so aus, als hätte die Schulterwunde nicht einmal eine Narbe hinterlassen. Wenigstens etwas. Sie betrachtete sich im Spiegel ihres Badezimmers, das wie alles in diesem Haus aktuell zu groß und leer auf sie wirkte. Leider war eine Narbe an ihrer Taille geblieben, doch das ließ sich wohl nicht vermeiden. Immerhin fehlte ihr ein Arm. Im Vergleich war die Narbe nur ein kleiner Markel. Ja, es würde weitere Narben geben. Sie strich über die alte Narbe, die seit zwei Jahren auf ihrer Schläfe zu sehen war. Sie war mittlerweile genug verblasst, als dass die meisten sie nicht einmal bemerkten. Dem magischen Auge zum Dank vergaß sie selbst manchmal, dass linke Auge nicht ihr echtes war. Selbst ihre Lider zuckten zusammen, wenn sie sich mit den Fingern näherte. Es sah echt aus. Sie konnte sehen. Was für einen Unterschied machte es, dass sie es von Zeit zu Zeit rausnehmen musste, um es zu reinigen? Dennoch seufzte sie. Verdammt. Sie war gerade einmal 28 und bereits eine verdammte Ruine. Eigentlich plante sie irgendwann ein Kind zu haben. Aber wenn sie so weitermachte … Wahrscheinlich wäre es nicht verantwortlich. Am Ende würde sie auf irgendeiner Mission sterben und eine Waise zurücklassen. Es war einer der Gründe, warum sie es noch nicht getan hatte. Sie wollte sich ein Polster anlegen. Genug, als dass sie ein, zwei Jahre zumindest vom Job aussteigen konnte. Genug, um eine Pause zu machen. Das würde es einfacher machen. Selbst wenn sie sich damit wahrscheinlich nur etwas vormachte. Es war eine weitere Sache, die Michael nicht zulassen würde. Und wahrscheinlich war es allgemein eine beschissene Idee. Wahrscheinlich wäre sie eine beschissene Mutter. Auch wenn sie nicht viel beschissener sein konnte, als ihre eigene Mutter. Zumindest wollte sie ein Kind – und das nicht als Statussymbol. Sie schloss die Augen und seufzte. Mehr unangenehme Gedanken und Erinnerungen. Diese aber erfüllten sie vor allem mit Wut und Frustration, nicht mit dem Gefühl von Hilflosigkeit. Das war etwas besser. Ach, verflucht. Sie war lange genug im Haus rumgehangen. Das Traurigste war, dass sie nachwievor keine richtigen Hobbys hatte. Sie trainierte. Sie schraubte mit Robert an Autos rum. Doch was machte sie sonst? Da war nur die eine Sache, die ihr zumindest für eine Weile ein gutes Gefühl gab. Die Sache, die sie sich in den letzten zwei Wochen nicht getraut hatte. Verdammt. Langsam reichte es. Noch immer wachte sie Nachts von Albträumen auf und sie hatte genug. Sie musste es einfach wieder wagen, das Haus zu verlassen. Rauszugehen. Zu feiern. Und irgendjemanden zu finden. Deswegen war sie überhaupt hier. Im Bad. Hatte sich geduscht, hatte die Beine rasiert. Selbst wenn ein Teil von ihr sich fürchtete … es würde nicht besser werden, wenn sie noch länger im Haus versauerte. Also zog sie die recht offen geschnittene Bluse, die sie sich herausgelegt hatte, an. Sie brauchte es. Das Gefühl von Kontrolle. Sie konnte die Kontrolle zurückgewinnen. Auf ein Kleid würde sie erst einmal verzichten, entschied sich daher für eine enge, schwarze Hose und betrachtete sich im Spiegel. Ja, es ging definitiv als sexy durch. Mit einem Seufzen holte sie ihre Make-Up Parlette hervor. Normal verzichtete sie darauf sich richtig zu schminken – abgesehen von ein wenig Lidschatten und Lippenstift. Heute aber gab es ihr zwei Dinge: Die Möglichkeit ihren Abend etwas herauszuzögern und eine weitere Möglichkeit der Kontrolle. Sie würde entscheiden, wie sie aussah. Welchen Eindruck sie erweckte. Das lernte man nicht einmal beim Militär. Der Gedanke ließ sie tatsächlich Lächeln. Sie holte auch eine blonde Perücke hervor. Auch wenn sie ihre kurzen Haare bevorzugte, waren die meisten Männer eher von langen Haaren angetan. Und heute war auch das ein Teil des Spiels. So schließlich zufrieden seufzte sie. Kein Grund es weiter herauszuzögern. Sie brauchte es. Sie würde schon sehen, dass es die Dinge besser machen würde. Oder? Kurz hielt sie inne und überlegte Robert anzurufen. Nur damit er wusste, wo sie war. Ja, und auch ein wenig in der Hoffnung, dass er mitkam. Doch wer war sie, dass sie einen Wingman brauchte? Nein. Robert hielt diese Art von Umgang ebenfalls für unschön. Sie würde sich nur Dinge anhören dürfen deswegen. Also ging sie so. Sie zog den Armreif über die Prothese, der für normale, nicht magische Menschen zumindest den Eindruck erwecken würde, dass sie zwei Arme hatte. Es war nicht einmal so, als würde sie sich dafür schämen. Aber es war eine weitere Sache, die es leichter machte. Natürlich war es eine Lüge. Alles daran. Das Make-Up, die Perücke, der Zauber, der die Prothese verbarg. Doch einmal ehrlich: Wer, der sich auf einen One-Night-Stand einließ, war auf die Wahrheit aus? Sie brauchte es, rief sie sich in Erinnerung. Sie brauchte die Chance, sich wieder in Kontrolle zu fühlen. Sie brauchte Sex. Sex, bei dem sie die Kontrolle behielt. Es würde helfen. Das wusste sie. Bisher hatte es immer geholfen. Also fuhr sie Richtung Westen, wo die besseren Bars und die Touristenhotels waren. Sie musste einfach darüber hinwegkommen. Noch zwei Mal atmete sie tief durch, als sie den Wagen abstellte. Dann stieg sie aus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)