Was gut gewesen ist von -Red-Karasu ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Was gut gewesen ist   ~*~ Ich würd' dir so gern was versprechen Sowas wie: Alles wird heil. ~*~     Ich hasse es, hier zu sein. Ich hasse es mit jeder Faser meines Körpers. Es wird mir klar, sobald ich die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fallen lasse und mit jedem Schritt, den ich durch den Flur tue, wird das Gefühl deutlicher. Es ist so stark, dass es mir beinahe den Atem nimmt, breitet sich in mir aus, wie ein Wurm, der sich langsam aber stetig durch mein Inneres frisst. Die Spannung in meinen Kiefern ist schmerzhaft und ich muss mich dazu zwingen die Muskulatur dort zu entspannen, aber je weiter ich mich umsehe, desto schwerer fällt mir das.   Das hier ist kein Zuhause mehr. Selbst in meinen Gedanken klingen die Worte unendlich bitter und für einen Moment frage ich mich, wann dieses Apartment eigentlich aufgehört hat, ein Rückzugsort zu sein. Ein Ort, der mir die Geborgenheit gegeben hat, von der ich nie wusste, dass ich sie wollte oder brauchte. Aber so oft ich auch darüber nachdenke, ich kann es einfach nicht sagen, kann keinen klar definierten Punkt finden, an dem alles gescheitert ist. An dem wir gescheitert sind. Und das nach all der Zeit. Nach allem, was wir uns gemeinsam aufgebaut hatten.   Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und gehe langsam, wie in Zeitlupe, weiter. Ich habe Schwierigkeiten damit das, was ich jetzt sehe, von dem zu trennen, was hier eigentlich sein sollte. Denn das hier ist falsch. Einfach falsch. Weil das hier nicht die leblosen Überreste eines Zuhauses sein sollten. Ich sollte nicht auf einen kahlen Küchentresen mit einer kalten, weißen Marmor-Oberfläche starren. Da sollten mindestens eine Handvoll Kleingeld und deine Schlüssel verstreut liegen, direkt neben der jämmerlichen Grünpflanze, von der du dich nie trennen wolltest. Ich frage mich, ob du sie auch in deine neue Wohnung mitgenommen hast und wie lange das Ding wohl überleben wird. Jetzt, wo ich nicht mehr zumindest alle paar Wochen aus Mitleid einen Schluck Wasser in den Übertopf schütten kann. Ein ersticktes Geräusch kämpft sich den Weg aus meiner Kehle hervor und ich muss heftig blinzeln, um das Brennen in meinen Augen zu lindern. Je länger ich hier stehe, desto bewusster wird mir, dass es eine schlechte Idee war, noch einmal herzukommen.   Wie sehr ich das alles hasse. Einfach alles an dieser Situation. Die Tatsache, dass es sie überhaupt gibt genauso wie die, dass ich mich absolut hilflos fühle, wenn ich hier so stehe. Selbst wenn mir bewusst ist, dass es nicht anders sein könnte. Denn egal, wie sehr ich mir wünsche, dass die Dinge nicht so wären, wie sie sind – ich weiß genauso gut wie du, dass es keinen Sinn hätte weiterzumachen. Weiter so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Als könnten wir einander noch glücklich machen. Als hätten wir in den letzten Monaten nicht ohnehin schon versucht, Risse zu kitten, die sich nicht mehr aufhalten ließen. Und jetzt stehen wir eben doch vor einem Scherbenhaufen von geradezu epischen Ausmaßen. Ich wünschte, ich könnte über Galgenhumor noch lachen. Nein. Ich wünschte, ich könnte dich noch glücklich machen. Uns beiden irgendwie das geben, was wir brauchen, ohne daran zugrunde zu gehen.   Und ich wünschte, ich wäre weniger bitter. Wünschte, ich hätte nicht diese furchtbare kleine Stimme in meinem Kopf, die mir sagt, dass es doch sowieso nur eine Frage der Zeit war. Weil ich eben einfach nicht dafür gemacht bin, glücklich zu sein. Oder gar dafür, jemand anderen glücklich zu machen. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht? Wie konnte ich jemals annehmen, dass das hier funktionieren würde, nur weil wir uns lieben? Nur, weil ich es mir gewünscht habe?   Mich überkommt der Drang irgendetwas zu zerstören und meinen Frust irgendwo hinlenken zu müssen. Mit einer ruckartigen Bewegung drehe ich mich von der Küchenzeile weg, ehe ich nach einem der Barhocker greifen kann. Es würde dem Verkaufswert der Wohnung vermutlich nicht unbedingt guttun, wenn ich die Einrichtung, die dazu gehört, jetzt auf den letzten Metern noch zertrümmere. Stattdessen balle ich die Hände zu Fäusten, spüre mit abartiger Genugtuung, wie meine Fingernägel sich in die Handflächen graben. Ich schließe die Augen und nehme einige tiefe Atemzüge. Ich muss ruhig bleiben. Ich muss die Fassung bewahren. Ich muss das hier irgendwie überstehen, danach kann ich mich in meinem neuen Apartment, das doch kein Zuhause ist – es vielleicht nie sein wird – verkriechen und mir gepflegt ein paar Tage lang selbst leidtun.   Ich öffne die Augen, versuche erneut vergeblich meine Haltung etwas zu entspannen. Ich durchschreite unser leeres Wohnzimmer und steuere den Balkon an, um mir dort mit zittrigen Händen eine Zigarette anzuzünden. Gierig nehme ich den ersten Zug, genieße das beißende Gefühl in meinen Lungen. Es ist eine beschissene Ersatzhandlung, aber immer noch um Meilen besser als die Alternative. Und passt zu der beschissenen Situation, in der ich bin, während um mich herum frühlingshaftes Vogelgezwitscher herrscht. Metaphorisch und tatsächlich. Das schöne Wetter kommt mir vor, als wollte die Welt mich verhöhnen, allein schon, weil es nichts an dieser Situation ändert, in der wir sind. Immerhin sitzen wir hier im gleichen Boot und wenn das kein Umstand ist, der mich manchmal in hysterisches Lachen ausbrechen lassen will, dann weiß ich ehrlich gesagt auch nicht. Es wäre wesentlich einfacher, wenn ich dich schlichtweg nicht mehr sehen müsste. Wenn ich dich kommentarlos aus meinem Leben streichen und so tun könnte, als wäre nie etwas geschehen. Als wären wir uns nie auch nur über den Weg gelaufen. Das dürfte allerdings schwierig werden. Ich stoße ein nikotingetränktes Schnauben aus. Ja, es dürfte tatsächlich schwierig werden, jemandem aus dem Weg zu gehen, mit dem man zusammenarbeitet. Mit dem man gemeinsam tourt und mit dem zusammen man kreativ sein muss. Sonst würde das Ganze vermutlich nicht weh genug tun. Ich hasse mich im selben Moment für diesen Gedanken, in dem er mir in den Sinn kommt. Nicht, weil er nicht wahr wäre, sondern, weil ich automatisch vor mir sehe, wie du mit den Augen rollst und mir sagst, dass ich das Drama mal ein bisschen runterfahren soll. Du warst nie ein Fan davon, wenn ich in meinen melodramatischen Absolutismen gesprochen habe, zumindest abseits der Bühne. Und du bist der Einzige, dem ich solche Sprüche niemals übel nehmen konnte. Oder je können werde.   Ich lehne mich nach vorn gegen die Balkonbrüstung und versuche mir einzureden, dass ich so den besseren Ausblick habe. Denn natürlich liegt es nicht daran, dass sich mein Herz gerade so schmerzhaft zusammenzieht, dass ich das Gefühl habe, nicht aufrecht stehen zu können. Abgefuckte Scheiße, das mit diesem ganzen Gefühlskram. Aber du wusstest, wie ich dazu stehe, wie schwer mir das alles fällt. Du wusstest das alles, schon bevor wir in diese Beziehung geraten sind, schließlich bist du seit locker der Hälfte meines Lebens der Mensch, der mich besser kennt, als sonst wer. Was vermutlich gut ist, weil wir sonst sicher viel eher aufgegeben hätten. Aber es ist auch zum Kotzen, weil ich mich nicht einmal wirklich von dir verraten fühlen kann. Weil es eben nicht so ist, dass du mir schlicht gesagt hättest, dass du nicht mehr kannst und einfach gegangen wärst – und selbst das hätte dir niemand verübeln können.   Kopfschüttelnd schnippe ich den Stummel meiner Zigarette von mir, nachdem ich einen letzten Zug genommen habe, und sehe ihm auf seinem Weg in den Abgrund nach. Irgendwie glaube ich, dass das Ganze sogar einfacher wäre, wenn wir im Streit auseinandergegangen wären. Wenn alles ausgeartet wäre und explodiert, und wir nichts als Trümmer und verbrannte Erde zurückgelassen hätten. Aber nein, stattdessen haben wir einfach geredet. Geredet wie die verschissenen Erwachsenen, die wir mittlerweile eben leider sind. Und wir mussten feststellen, dass es einfach nicht mehr geht, obwohl sich an unseren Gefühlen nichts geändert hat. Obwohl wir uns noch immer lieben oder vielleicht gerade, weil das so ist. Ich glaube, wir haben an diesem Abend tatsächlich beide geheult wie die Schlosshunde, uns selbst in diesem Moment Trost suchend in den Armen gelegen in der Erkenntnis, dass das unser Ende war. Einfach, weil wir es nicht anders kennen. An diesem Punkt in meinem Leben ist es für mich ein Reflex, der so selbstverständlich wie Atmen ist, bei dir Schutz zu suchen. Dass ich will, dass du bei mir Trost suchst, selbst wenn das bedeutet, dass wir ungesund voneinander abhängig sind.   Ich lasse die Balkontür etwas zu schwungvoll hinter mir ins Schloss fallen, als ich wieder nach drinnen gehe. Das leise Klirren der Scheiben erfüllt mich mit dieser seltsamen Art von Genugtuung, die nie ein gutes Zeichen für meinen Gemütszustand ist. Aber alles andere hätte mich gewundert, schließlich graut mir schon seit Wochen vor diesem Tag, selbst wenn ich anfangs nicht wusste, wann genau er sein würde. Mir graute davor, noch einmal hierherkommen zu müssen und die tote Hülle dessen zu sehen, was bisher unser gemeinsames Leben war, und das offensichtlich berechtigterweise.   Meine Füße fühlen sich bleischwer an, als ich hinüber in unser Schlafzimmer gehe, jeder Schritt ist wie eine Schlinge, die enger und enger um meinen Hals gezogen wird. Ich hatte gehofft, dass dieser Raum genauso leer ist, wie der Rest der Wohnung, aber ausgerechnet hier stehen ein paar Kisten herum, die du wohl noch abholen musst. Aus irgendeinem Grund lässt gerade das die Situation unerträglich real erscheinen. Als hätte ein winziger Teil von mir sich auch weiterhin an die Hoffnung geklammert, dass alles nur ein makabrer Scherz war. Aber so schlecht ist noch nicht einmal dein Humor.   Ich unterdrücke mit aller Gewalt den Laut, der sich in meiner Kehle empor kämpfen will, und lasse mich langsam an der Wand nach unten rutschen, bis ich auf dem kalten Boden sitze. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und starre nach oben an die weiße Zimmerdecke, versuche gleichzeitig mein Hirn davon abzuhalten, mich mit den vielen Erinnerungen zu bombardieren, die ich mit diesem Raum verbinde. Unsere erste Nacht, nachdem wir hier eingezogen sind. Unsere nur halb scherzhaften Streitereien darüber, wer von uns mehr Platz im Kleiderschrank beansprucht. Der Abend meines vierzigsten Geburtstags, an dem wir nach der Feier mit Freunden angetrunken nach Hause kamen und du der Meinung warst, mit Kerzen für romantische Stimmung sorgen zu müssen, dir am Ende aber schlicht die Haare angesengt hast. Ein erschöpftes Lächeln schleppt sich auf meine Lippen und diesmal schaffe ich es nicht, gegen das Brennen in meinen Augen anzukämpfen, lasse die Tränen einfach über meine Wangen laufen. Es in mich hinein zu fressen hätte ja doch keinen Sinn, zumal ich nicht glaube, dass ich die Gefühle, die gerade wieder auf mich einstürzen, noch aufhalten kann. Als hätte ich ein Album mit Momentaufnahmen geöffnet, das ich jetzt nicht mehr beiseitelegen kann, obwohl jedes neue Bild sich wie ein Dolch in meinem Herzen anfühlt. Da ist sie wieder, diese elende Hilflosigkeit, die mich regelrecht zu paralysieren scheint.   Nicht einmal das unangenehm kratzige Geräusch der sich öffnenden Wohnungstür kann mich daraus befreien. Ich schaffe es lediglich, lautstark die Nase hochzuziehen und mir grob mit einer Hand übers Gesicht zu wischen, ehe du im Türrahmen stehst und mich halbwegs erstaunt ansiehst. Der Schmerz, den ich in deinen Augen sehe, lässt mich tatsächlich noch ein Stück weiter zusammensinken. Du solltest nicht so aussehen. Nicht wegen mir. Nicht wegen uns. Nicht wegen etwas, das so furchtbar unvermeidlich ist. Schweigend kommst du näher und lässt dich dicht genug neben mir nieder, dass unsere Schultern sich berühren. Ich sehe dich an, lasse meine Blicke über dein fahles Gesicht wandern, über dein langes Haar, das heute ungewohnt leblos wirkt.   „Du siehst ziemlich beschissen aus“, bringe ich schließlich hervor, beschließe im gleichen Moment, zu ignorieren, wie gebrochen meine Stimme klingt.   „Ist ja auch beschissen, das hier.“   Da kann ich dir nicht widersprechen. Stattdessen lehne ich mich ein wenig gegen dich. Ich habe das Gefühl, dass ich das hier nicht durchstehen werde, ohne zu spüren, dass du tatsächlich da bist. Auch wenn ich mich gleichzeitig mit jeder Sekunde schuldiger fühle. Ich sollte es uns beiden nicht noch schwerer machen. Aber bevor ich mich auch dafür selbst geißeln kann, regst du dich, greifst nach meiner Hand und umschließt sie mit deiner. Ich habe keine Chance gegen das Schluchzen, das aus mir hervorbricht.   „Kyo?“   Ich schlucke schwer, sehe dann aber auf. Selbst so fertig, wie du gerade aussiehst, bist du so ungefähr der schönste Mensch, den ich kenne. Aber diese eine Silbe aus deinem Mund trieft förmlich vor Sorge, zwingt mich zu einer Reaktion.   „Mh?“, krächze ich also, wünsche mir, meine Kehle würde mir mehr Luft zum Atmen zugestehen.   „Gehst du zu deinen Therapiestunden?“ Die Frage kommt nicht wirklich unerwartet, also nicke ich. Bei diesem Thema würde ich es nie wagen zu lügen. Es würde einen Pakt brechen, den wir schon vor Jahren geschlossen haben. Stattdessen räuspere ich mich, atme noch einmal durch.   „Jede Woche. Auch wenn ich nicht sicher bin, ob es etwas bringt. Du?“   Jetzt bist du es, der die Augen schließt. Du wirkst, als würdest du bereuen, das Thema angeschnitten zu haben. Es könnte daran liegen, dass es eines dieser Rituale war, die sich bei uns über Jahre hinweg entwickelt haben. Sicherzugehen, dass der andere tat, was nötig war, um gesund zu bleiben. Nicht zu lügen, wenn einem diese Frage gestellt wird. Gern würde ich vermuten, dass es dir deswegen unangenehm ist, dass ich sie jetzt umgedreht habe, aber deine Körpersprache sagt mir etwas anderes. „Die?“ Mein Tonfall ist schärfer, als beabsichtigt und ich spüre, wie du dich verkrampfst.   „Es ist schwer“, gibst du dann zu. Du scheinst noch mehr in dich zusammenzusinken, siehst mich aber nicht an. „Ich weiß nicht, ob es reicht, ob ich so durchhalte.“   Am liebsten würde ich dich an mich ziehen und dich nie, nie wieder loslassen. Wie ich es hasse, dich so leiden zu sehen. Wegen mir, wegen uns. Und da ist es mir vollkommen egal, ob ich, was uns angeht, mit zweierlei Maß messe.   „Die? Schau mich an.“   Diesmal sind meine Worte nur ein Flüstern und ich stecke meine Hand nach dir aus, lege meine Fingerspitzen an deine Wange, bis sich deine Augen wieder öffnen. Vermutlich war das ein Fehler, weil mich sofort der Drang überkommt, dich zu küssen, bis die Angst aus deinen Gesichtszügen verschwunden ist. Vor allem, weil es eine Angst ist, die ich nur zu gut kenne. Diese Angst, wieder abzurutschen, wieder in alte Muster zu verfallen, wieder alles daran zu setzen, sich selbst zugrunde zu richten. Ich, indem ich mich verletze, du, indem du einfach aufhörst zu essen – nicht, dass es in letzter Konsequenz einen Unterschied machen würde.   „Du hast es mir versprochen“, erinnere ich dich deswegen, auch wenn es mir ein weiteres Mal das Herz bricht, dich so zu sehen. Ein egoistischer Teil von mir ist froh darüber, dass es mich von meinem eigenen Schmerz ablenkt.   „Ich weiß.“ Die Worte verlassen als lang gezogenes Seufzen deinen Mund.   Dann wendest du dein Gesicht von mir ab, schaust stattdessen zum Fenster hinaus. Auch wenn du aus dieser Perspektive mit Sicherheit nichts vom beginnenden Frühling, der die Stadt beherrscht, erkennen kannst. Aber ich sehe selbst jetzt noch vor mir, wie oft du morgens am offenen Fenster gestanden und einfach nach draußen geschaut hast. Ich habe diese Momente geliebt. Habe es geliebt, dich so zu sehen, wenn du gedanklich in deiner eigenen kleinen Welt warst. Du hast dabei nie so schmerzerfüllt und zerbrechlich gewirkt, wie jetzt gerade.   „Wir schaffen das doch, oder?“, willst du schließlich wissen, siehst mich aber immer noch nicht an. Stattdessen verfolgst du mit tränenglänzenden Augen die schwachen Muster, die das Sonnenlicht auf den Fußboden malt, wenn es sich hinter den Wolken hervorkämpfen kann. Alles an dir wirkt erschöpft und auf eine Art zerbrechlich, die einen bitteren Geschmack in meinem Mund hinterlässt.   „Wir müssen.“ Ich atme tief durch, starte einen letzten Versuch, heute noch etwas ruhiger zu werden, bevor ich fortfahre. „Wir haben schon anderen Scheiß überstanden, Die“, füge ich dann hinzu.   „Es fühlt sich an, wie sterben.“   „Ich weiß.“   Ich sehe hinunter auf unsere verbundenen Hände, befreie meine Finger nach kurzem Zögern aus deinem Griff. Für einen Moment schlägt mein Herz höher, ohne mir zu sagen, warum eigentlich. Möglicherweise weil jetzt gerade eine Klarheit in meinem Kopf herrscht, die in den letzten Wochen von schmerzerfülltem Rauschen überdeckt war, das mich das große Ganze nicht hat sehen lassen.   „Vielleicht …“, beginne ich, verhake unsere kleinen Finger miteinander, als würde ich meinen Satz zu einem Versprechen machen wollen. „Vielleicht müssen wir es als eine Art Wiedergeburt sehen.“   Ich brauche dir nicht in die Augen zu sehen, um zu wissen, welchen Gesichtsausdruck du gerade trägst, hebe aber trotzdem den Kopf. Es erleichtert mich, tatsächlich den Beginn eines kleinen Lächelns in deinen Mundwinkeln zu erkennen. Wie so oft, wenn du der Meinung bist, dass ich etwas unnötig kompliziert ausdrücke.   „Phönix aus der Asche, oder was?“   Widerwillig muss ich lachen. Weniger wegen dem, was du sagst, als mehr, weil es ein typischer Austausch zwischen uns ist. Etwas, das schon immer so war, auch weit bevor diese Verbindung zwischen uns zu einer Beziehung wurde. Etwas, von dem ich hoffe, dass es sich nie ändern wird.   „So in der Art.“ Ich lehne meinen Kopf an die Wand hinter mir, sehe dich aber weiterhin an. „Ich weiß, dass das hier vorbei ist. Sein muss.“ Ich schlucke gegen die Enge in meinem Hals an, bevor ich weitersprechen kann. „Aber, Die, wir sind mehr, als nur das hier.“ Ich mache mit meiner freien Hand eine halbherzige Geste in den Raum hinein. „Und ein Leben ohne dich geht sowieso nicht.“   Es überrascht mich nicht, dass du auf diese Feststellung nicht sofort antwortest, aber ich bin zugegeben verwundert, dass du stumm die Verbindung zwischen unseren Fingern löst. Und unendlich erleichtert, als du im nächsten Moment einen Arm um meine Schultern legst und mich an dich ziehst.   „Du bist manchmal so ein Idiot“, murmelst du und ich kann nicht einmal versuchen, verärgert darüber zu sein, weil mein ganzes Wesen von so viel Zuneigung und Nähe gerade vollkommen überfordert ist. Ganz automatisch wende ich mich dir noch etwas mehr zu, muss hart gegen die Versuchung ankämpfen, mich in deinen Armen zu verkriechen. „Als ob ich einfach ohne dich leben könnte“, sprichst du dann weiter und ich kann nur mit den Schultern zucken. „Als ob mich außer dir jemand dauerhaft ertragen würde.“   Diesmal rutscht mein Lachen beinahe wieder in einen Schluchzer ab.   „Das meinte ich ja“, versuche ich zu verklären. „Wir sind so verkorkst, das kann man sonst niemandem antun. Und offensichtlich verkraften wir uns ja selbst nur noch in geringen Dosen.“ Für eine Sekunde erlaube ich mir, die Augen zu schließen und deinen vertrauten Geruch einzuatmen, bevor ich es mir antue meine nächsten Worte laut auszusprechen. „Vielleicht müssen wir akzeptieren, dass das hier das Ende ist. Für diesen Teil unseres Lebens. Und dann … irgendwie von vorn anfangen?“ Ich spüre deine Hand an meiner Schulter zucken, als hättest du beinahe dem Drang nachgeben beruhigend darüber zu streicheln. Ich bin nicht sicher, ob ich mir wünsche, dass du es getan hättest oder ob ich froh sein sollte, dass du standhaft geblieben bist.   „Wenn das mal so einfach wäre, wie es klingt.“   „Ich weiß.“ Ungelenk zucke ich mit den Schultern. „Aber wann war irgendwas, was uns betrifft, denn bitte jemals einfach.“ Die Worte verlassen meinen Mund und ich bereue sie bereits im nächsten Moment. Denn diese furchtbare kleine Stimme in mir, die die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben hat, kreischt mir entgegen, dass eben alles einfach war. Und richtig. Und gut. Und nichts da jemals wieder herankommen wird.   Du scheinst zu merken, wie ich mich verspanne. Oder vielleicht fühlst du dich durch meine Worte auch nur vor den Kopf gestoßen – auf jeden Fall lässt du mich seufzend los.   „Vielleicht war es an den falschen Stellen zu einfach“, meinst du dann. Wiederholst damit sinngemäß die Worte, die dir dein Therapeut sicher ebenso oft gesagt hat, wie meiner mir. Das mit uns war schon immer in Schieflage und wir haben es uns zu leicht gemacht, zu sehr voneinander abhängig zu sein.   „Ich hasse es, wenn du recht hast“, murmle ich deswegen, wische mir noch einmal mit der Hand übers Gesicht, in der Hoffnung, dass ich die Tränen zumindest vorerst hinter mir lassen kann. „Wie gehts deiner Zimmerpflanze?“, frage ich dann und muss nicht spezifizieren, was ich meine. Das traurige Grünzeug, das in unserer Küche stand, war dein einziger Versuch in diese Richtung.   „Hab ich weggeschmissen.“ Ein schiefes Lächeln, das seine Traurigkeit nicht verbergen kann, zieht sich über deine Lippen. „Ist anstandslos vertrocknet, kaum dass ich umgezogen war.“   „Mh. Schade. Das arme Ding.“ Das erste Mal an diesem Morgen muss ich so etwas wie ein ehrliches Grinsen zurückhalten, selbst wenn es vermutlich eher an eine Grimasse erinnert. Aber auch in deinen Augen blitzt für einen Moment ein Funke von Belustigung auf.   „Vermutlich besser so. Wäre nur Quälerei gewesen, schätze ich.“   „Du könntest dir ja etwas Neues zulegen. Etwas Robusteres. Kaktus oder so.“   Du seufzt leise, lehnst deinen Kopf ebenfalls gegen die Wand und siehst mich aus den Augenwinkeln an.   „Irgendwann vielleicht.“   „Irgendwann klingt gut.“   Ich beschließe, die Bedeutung hinter den Worten vorerst zu ignorieren. Ein Seufzen unterdrückend, wende mich wieder dem Fenster zu, bleibe mit meinen Blicken aber erneut an den Umzugskartons hängen.   Irgendwann wird der Gedanke, dieses Zuhause verloren zu haben, vielleicht nicht mehr weh tun. Irgendwann werden wir vielleicht wieder nur noch beste Freunde sein können und ich mir nicht mehr wünschen neben dir aufzuwachen. Neben dir einzuschlafen. Dich bei mir zu haben. Irgendwann wird sicher alles ein bisschen leichter sein. Auch, wenn ich dir nicht mehr sagen kann, dass alles irgendwie gut wird, vielleicht können wir uns zumindest das versprechen: Wir fangen von vorne an. Auch, wenn ich noch nicht genau weiß, wie das funktionieren soll. Auch, wenn es gerade unfassbar wehtut.   „Wir … das war trotzdem gut, oder?“   Meine Frage schwebt für einen Moment zwischen uns, taumelt langsam, wie ein einzelnes Blütenblatt durch den Raum, bis du sie schließlich einfängst.   „Das Beste“, sagst du schlicht und zu meiner eigenen Erleichterung kann ich dir glauben.   Selbst, wenn unser ‚für immer‘ nur bis hier und heute gereicht hat, immerhin waren die letzten Jahre etwas, das ich nie vergessen oder vermissen will. Vielleicht muss ich all dem Schmerz zum Trotz damit zufrieden sein und einsehen, dass mir mein Dickschädel in diesem Fall ausnahmsweise nicht mehr weiterhelfen wird. Diese gedankliche Feststellung lässt mich für einen Moment erstarren, in dem ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll. Einfach, weil ein Teil von mir den Schmerz, die Wut und die Trauer noch nicht loslassen kann. Oder glaubt, es nicht zu können, weil ich so immerhin irgendetwas außer Leere habe, woran ich mich klammern kann, wenn ich alleine in meiner Wohnung sitze. Trotzdem fühle ich statt der Enge von vorhin jetzt nur noch Erschöpfung, die zwar nicht weniger bleischwer ist, mich aber zumindest etwas besser atmen lässt.   „Wenn wir wieder touren, musst du trotzdem neben mir sitzen“, stelle ich schließlich fest, ehe ich mich schwerfällig aufrichte.   Du siehst mich von unten herauf an und auch wenn dein Gesicht noch immer von Erschöpfung gezeichnet ist, bilde ich mir ein, einen Funken Hoffnung in deinen Augen zu finden. Ich strecke eine Hand nach dir aus, warte mit flatterndem Herzen darauf, dass du sie ergreifst.   „Sowieso, ich will ja nicht vor Langeweile eingehen.“ Deine Finger schließen sich warm um meine, als du dich von mir auf die Füße ziehen lässt und irgendwas daran fühlt sich tatsächlich ein bisschen wie ein Anfang an. Einen Moment verharren wir so, sehen uns nur stumm an, ehe du deinen Griff löst und etwas mehr Abstand zwischen uns bringst.   „Hilfst du mir beim Tragen?“, fragst du dann, mit einem Blick auf die Kisten, die noch immer wie ein stummes Mahnmal im Raum stehen. Wie der Grabstein unserer Beziehung. Einmal mehr schlucke ich gegen den Kloß an, der sich in meinem Hals zu bilden droht und nicke.   „Sicher. Aber danach gehen wir noch etwas essen.“   Wie du mir, so ich dir. Darin waren wir immer am besten.     ~*~ Wenn wir uns einfach schwören können, wir fangen von vorne an – Für alles das, was zählt, fangen wir von vorne an. ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)