Blut und Gold von Mitternachtsblick ================================================================================ Prolog: -------- Man sagte, dass Konstantinopel in der Nacht, in der der Maler erschien, von dichtem Nebel bedeckt war. Er reiste simpel, weil er ein simples Leben gewohnt war, und so brachte er in die Goldene Stadt nur das, was er am Leib trug oder in seinen Rucksack passte. Und den großen Wolfshund, der vollkommen lautlos in seinem Schatten ging und nicht von seiner Seite wich. Der Maler ging aufrecht, mit gelassener Ruhe durch die gepflasterten Straßen der Stadt. Lange war er nur durch die Wildnis gereist, entlang steiniger und weniger steiniger Landstraßen und durch kleine Dörfer. Man hatte ihm ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt, um die Reise einigermaßen komfortabel bewältigen zu können, aber der Maler war immer schon ein pragmatischer Mann gewesen, dem es lieber war, die Welt gehend und nicht fahrend zu bereisen, nur sich selbst und dem Wolfshund verpflichtet und nur von sich selbst abhängig. Er hatte das Land seiner Vorfahren hinter sich gelassen und war über das Schwarze Meer gesegelt, bis seine Augen Konstantinopel hinter seinen mächtigen Mauern geschaut hatten. Man hatte den Maler hereingelassen, weil seine Kleidung ihn als Mann des Glaubens auszeichnete, und weil man jemandem wie dem Maler nicht seinen Willen verweigerte. Es reichten der Wolfshund zusammen mit Gesten und einem Blick aus den gletscherblauen Augen in seinem bleichen Gesicht, um die Menschen dazu zu bewegen, ihn passieren zu lassen. Wie ein Geist, die Kapuze tief in die Stirn gezogen, wanderte er durch die stille Stadt, die um ihn herum den Atem anzuhalten schien. Der Große Palast lag auf dem Hügel hinter der Hagia Sophia. Er blieb vor dem Gebäude stehen, wegen dem er hier war, und legte den Kopf in den Nacken, wobei die Kapuze ein wenig verrutschte und blutrotes Haar im Licht der flackernden, windgebeutelten Fackeln zum Vorschein kam. Die Geste war nicht genug; die Dimensionen der Kirche waren zu gewaltig, um sie ganz von seiner Position aus wahrnehmen zu können. Der Maler schaute und schaute, ruhig, ohne eine Regung seines Gesichts, mit dem vollkommen still sitzenden Wolfshund in seinem Schatten. Obwohl eine leichte Brise, die vom Meer hereingetrieben worden war, an seiner Kutte zerrte, sah er aus wie eine Statue. Dann, endlich, schien wieder Leben in ihn zu kommen. Der Wolfshund erhob sich und schüttelte sein Fell aus, als der Maler sich abwandte, die Kapuze erneut tief ins Gesicht zog und weiter dem Palast zustrebte. Hier waren noch Menschen trotz der späten Stunde unterwegs, die ihn verblüfft ansahen, gelegentlich auch stehenblieben und einander etwas zuwisperten. Der Maler ignorierte sie alle, wanderte stumm weiter, bis er den Eingang des Großen Palastes erreicht hatte, wo zwei Soldaten ihn davon abhielten, weiterzugehen. Er wurde mit sichtlicher Verblüffung gemustert und erwiderte die Blicke ruhig, ohne ein Anzeichen von Nervosität oder ein Blinzeln. Im Gegenteil waren es die Soldaten, die ein wenig nervös zu werden schienen und einen Blick miteinander wechselten, ehe der Rechte von ihnen Haltung annahm. „Kein Eintritt ohne Befugnis“, sagte er in einem Tonfall, der wohl gebieterisch sein wollte. „Besonders nicht um diese Uhrzeit“, fügte der zweite Soldat hinzu. Der Maler hob eine Augenbraue. Aber er sagte nichts, sondern griff lediglich stillschweigend in seinen weiten Ärmel, löste ein Band, das ein zusammengerolltes Pergament enthielt, und reichte es den Soldaten. Sie konnten es nicht lesen, aber das war auch nicht nötig: sie erkannten das Siegel des Metropoliten Maxim, seines Zeichens Führer der Kirche im Patriarchat von Konstantinopel. Sie erbleichten und wechselten erneut einen Blick, dann löste einer von ihnen sich und verschwand im Innern des Palastes. Der andere beäugte besorgt den Wolfshund, der sich nicht von der Seite seines Herren rührte und ihn mit goldenen Augen beobachtete. Der Maler steckte die Pergamentrolle wieder ein, band sie erneut fest und wartete. Es dauerte eine Weile, bis der Soldat zurückkam. Er war nicht allein, doch anstatt des blonden, blauäugigen Metropoliten Maxim mit seinem sonnigen Gemüt folgte ihm jemand, den der Maler nicht kannte. Er richtete sich ein wenig mehr auf und musterte die Gestalt, die sich aus den Schatten des Palastes schälte und ins Licht der Fackeln vor den Palastmauern trat. Es war eine Frau in dem Gewand einer Äbtissin, die ihn mit scharfen, blaugrauen Augen hinter einer Brille betrachtete. Ein Schleier bedeckte ihre Haare und doch meinte der Maler ein orangerotes Blitzen wie von Morgensonne darunter wahrzunehmen. Ihre Hautfarbe deutete darauf hin, dass sie nordische Vorfahren haben mochte. Zumindest nordischer, als es Byzanz war. Er verneigte sich stumm. Die Äbtissin tat nichts dergleichen. Stattdessen musterte sie ihn von oben bis unten, ehe der Blick lange auf dem Wolfshund verweilte. „Meister Iwanov“, sagte sie schließlich mit dunkler Stimme. Ihre Zunge stolperte ein wenig über die sichtlich ungewohnten Silben, die so anders als Griechisch waren. Sie nahm keine Rücksicht darauf, dass er eventuell kein Griechisch verstehen mochte, sondern machte forsch von ihrer Muttersprache Gebrauch. „Wenn ich mich recht entsinne, hat Seine Exzellenz Euch bereits letztes Monat erwartet.“ Der Maler erwiderte nichts, sondern nickte nur. Die Äbtissin betrachtete ihn erneut, als ob sie versuchte, aus ihm schlau zu werden. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich bin Äbtissin Emilia. Ihr seid zwar mitten in der Nacht hier erschienen, aber wir können Euch wohl kaum hier draußen stehen lassen.“ Ihre Augen wanderten erneut über seine staubbedeckten Kleider, den zerschlissenen Rucksack und den Wolfshund, dann schnaubte sie. „Auch wenn ich nicht übel Lust dazu hätte.“ Der Maler erwiderte nichts, sondern wartete. „Habt Ihr ein Schweigegelübde abgelegt, von dem ich wissen wollte“, erkundigte Äbtissin Emilia sich irritiert, „oder seid Ihr einfach nur vor Ehrfurcht verstummt?“ Da schnaubte der Maler und sagte, sein Griechisch harsch und kantig durch die Sprachmelodie, die er von seiner Erstsprache übernahm: „Ihr habt bisher nichts gesagt, das einer Antwort bedurft hätte. Habt Ihr weitere Fragen oder gibt man mir nun endlich ein Bett?“ Einen Moment lang schien es, als ob ihr eine bissige Bemerkung auf der Zunge lag, dann schien sie sie mühsam hinunter zu schlucken. „Folgt mir“, sagte sie kühl, „ich weiß einen Platz, wo Ihr für heute unterkommen und Euch waschen könnt. Morgen könnt Ihr den Dienst antreten, zu dem man Euch gerufen hat.“ Kapitel 1: TEIL I - KAPITEL I: Takaos ------------------------------------- „Mein Maler ist gekommen“, sagte Maxim und zupfte sich vergnügt am blonden Vollbart, „jetzt können wir der Hagia Sophia endlich zu neuer Glorie verhelfen.“ „Du weißt, dass ich auf dein Urteil vertraue und dir niemals einen Wunsch abschlagen könnte“, sagte Takaos lachend, „aber du wirst mir dennoch noch einmal erklären müssen, wieso es unbedingt dieser Mann hat sein müssen. Sind dir unsere griechischen Maler nicht gut genug?“ Sie hatten sich zu einem Mittagsmahl auf einer der Terrassen niedergelassen, von der aus man nicht nur die langsam baufällig werdenden Wände des Bukoleon-Palasts, sondern auch die sanft im Sonnenlicht glitzernden Wellen des Marmarameers betrachten konnte. Es war ein wundervoller Tag und die Sonne stand bereits hoch, hatte jedoch ihren Zenit noch nicht ganz erreicht. Takaos, der aufgrund ungewollten politischen Exils in seiner Kindheit lange Jahre der Erziehung in Rom genossen hatte, ehe er zu Reisen aufgebrochen war und sich schließlich die Stadt zurückerobert hatte, die von jeher sein Geburtsrecht gewesen war, hatte sich auf einer Liege ausgesteckt und angelte nach den dicken, saftigen weißen Trauben, die auf dem Mosaiktisch neben ihm standen. Ein Land zu regieren, Konstantinopel zu neuem Glanz zu verhelfen war anstrengend, aber es hatte definitiv seine lichten Momente. Maxim prostete ihm mit einem Weinbecher zu und nahm einen großzügigen Schluck, ehe er die blauen Augen über das Meer gleiten ließ. „Er ist ein interessanter Mann mit einer interessanten Geschichte, und das merkt man an seiner Arbeit. Ja, ich denke, dass du viel Freude mit seinen Verbesserungen der Malereien in der Hagia Sophia haben wirst. Nur auf private Fragen reagiert er allergisch.“ „Ah, mit Männern dieser Art kenne ich mich aus!“, rief Takaos lachend aus, wohl wissend, dass jedes ihrer Worte von einem weiteren Paar Ohren mit angehört wurde. „Die Frage ist, ob er gewillt ist, meinen triumphalen Sieg auf einer der Wände des Blachernen-Palasts festzuhalten oder ob ihm solche Darstellungen zu weltlicher Natur sind.“ Maxim wiegte den Kopf, dann senkte er ein wenig die Stimme. „Unter Umständen habe ich ein blindes Auge dafür, dass der Glaube von Meister Iwanov nicht halb so fest ist, wie er sein sollte.“ Takaos horchte auf, doch gerade als er zu einer weiteren Frage ansetzen wollte, kam ein junger Mönch auf die Terrasse, verneigte sich tief erst vor Takaos, dann vor Maxim, um schließlich letzterem etwas ins Ohr zu murmeln. Takaos beobachtete, wie sich die Miene seines Freundes daraufhin erhellte und er den Weinbecher absetzte, um sich zu erheben. „Scheinbar hat Meister Iwanov sich ausreichend von seiner Reise erholt“, meinte er an Takaos gewandt, „und bittet um ein Gespräch. Wenn ich um Eure Erlaubnis bitten darf, verehrter Basileus…?“ Takaos bekundete mit einem Zeichen seiner Hand seine Zustimmung, woraufhin der junge Mönch sich erneut tief verneigte und davon eilte. Mit einem Seufzer schenkte Takaos sich ebenfalls Wein ein. „Meine Gattin wird nicht erfreut sein, dass wir ihr diese illustre Gestalt vorenthalten.“ Maxim schmunzelte. „Die verehrte Basilissa wird es uns meiner Einschätzung nach eher übel nehmen, wenn wir sie dafür von den Plänen für die Renovierung des Bukoleon-Palasts fortholen.“ „Da magst du Recht haben. Seit sie die Kalkulation unserer Staatskassen abgeschlossen hat und weiß, was wir uns leisten können und was nicht, sehen diese Pläne mehr von ihr als ich.“ Die blauen Augen des Metropoliten blitzten amüsiert. „Geduld, mein Freund, Geduld. Pläne halten die verehrte Basilissa nachts nicht warm.“ „Als ob die Nächte hier kalt genug werden würden, um jemanden zum Frieren zu bringen!“ Der Maler betrat die Terrasse zu Maxims ungebändigtem Lachen. Er war eine fremdartige Gestalt. Takaos senkte den Weinbecher, den er an die Lippen hatte führen wollen und starrte ihn an. Der Maler war weiß wie ein Gespenst und sehnig, aber dünn wie jemand, der sich viel bewegte, ohne genug zu essen. Man hatte ihn sichtlich mit neuer Kleidung ausgestattet, bei der er nur das angenommen hatte, was einem Asketen der orthodoxen Kirche entsprach: eine grob gewebte, schmutzigweiße Tunika mit langen Ärmeln, darunter eine schwarze Sunnahose und hohe Lederstiefel, die im Gegensatz zur gängigen Praxis schmucklos geblieben waren. Wesentlich bemerkenswerter waren aber die langen, feuerroten Haare, die in einen Zopf gebändigt worden waren und mit einem dünnen, goldenen Haarband zurückgehalten wurden. Der Maler hatte ein Gesicht, das mit seinen vielen Ecken und Kanten an einen zerborstenen Gletscher erinnerte, wozu die kalten, hellen Augen nur beitrugen. Takaos konnte sich vorstellen, dass es einladender wirken mochte, wenn man dem Mann den Hunger ausgetrieben hatte. So oder so war seine Gestalt erstaunlich genug, dass der Kaiser erst nach einigen Momenten den großen Wolfshund bemerkte, der lautlos seinem Schatten folgte. Das Tier wirkte nicht, als ob es sich unter zivilisierter Bevölkerung herumtreiben sollte - und gleichzeitig konnte man ihm keinen Vorwurf zu seinem Verhalten machen. Was hatte Maxim ihm da in die Stadt geschleppt? Takaos war so überrumpelt, dass er ein wenig zu spät reagierte, als Meister Iwanov sich stumm vor ihm, dann vor Maxim verneigte. Letzterer war allerdings schneller und kam auf den Maler zu, der daraufhin den Kopf vor ihm neigte und mit rauer Stimme auf stark akzentuiertem Griechisch sagte: „Ich erbitte Euren Segen, Vladyko Maxim.“ „Der Herr segnet Euch, Meister Iwanov“, erwiderte Maxim fröhlich, „wie froh ich bin, dass Ihr endlich in Konstantinopel angekommen seid! Verehrter Basileus-“ Er nahm den Maler trotz dessen konsternierten Blickes am Arm und zog ihn zu Takaos, „Ich darf den Maler vorstellen, den ich für die neuen Wandbilder in der Hagia Sophia vorgesehen habe: Meister Yuriy Iwanov.“ Es lag keine Demut, aber auch keine offene Aufsässigkeit und der Art und Weise, wie Meister Iwanov sich noch einmal vor ihm verneigte. Es war jedoch die Manier eines Mannes, der es gewohnt war, mit Kaisern und Königen umzugehen, und den keiner davon sonderlich beeindruckte. Takaos widerstand dem Drang, einen Blick auf den hohen Baum ganz in der Nähe zu werfen und lächelte stattdessen. „Seid willkommen“, sagte er herzlich, „jeder, von dem der Metropolit in solch hohen Tönen spricht, ist mir ein Freund.“ Etwas zuckte um die Mundwinkel des Malers, als ob ihm eine flapsige Bemerkung auf der Zunge lag. Stattdessen sagte er jedoch nur: „Ich werde mich bemühen, dieses Vertrauens würdig zu sein.“ „Ihr kommt aus dem Norden?“ „Aus dem Großfürstentum Moskau, Basileus.“ „Ah“, sagte Takaos und schnippte nachdenklich mit den Fingern, „stand dort nicht alles unlängst noch unter dem Einfluss der Goldenen Horde?“ Maxim lächelte besorgt, schwieg jedoch. Etwas blitzte in den hellen Augen und Meister Iwanov richtete sich langsam zu voller Größe auf. Einen Moment lang wirkte er ganz und gar nicht wie ein Asket, ganz und gar nicht wie ein Mann des Glaubens, sondern eher wie ein Raubtier, das zum Sprung bereit war. Dann hob der Wolfshund den Kopf und blickte geradewegs zu dem dicht belaubten Ölbaum, dessen Blätter leise in einer Brise wogten. Meister Iwanov hielt inne. Einen Moment lang stand er reglos an und sah den Baum mit einem undefinierbaren Blick an, ehe er fast schon gewaltsam ausatmete. Der Hund senkte seinen riesigen, weißgrauen Kopf und der Maler richtete seine Augen zurück auf Takaos. „Moskau war siegreich“, sagte er schließlich nur, mit einer Schwere in der Stimme, die darauf schließen ließ, dass er vieles andere nur verschluckte, weil er dem Kaiser von Byzanz gegenüber stand. Takaos stützte nachdenklich den Arm auf der Lehne seiner Liege auf. „Sagt mir, wie heißt der Mann, der Moskau regiert?“ Meister Iwanov zögerte kaum merklich, doch Takaos‘ Augen registrierten die Bewegung augenblicklich. Er schien sich einen Ruck geben zu müssen, um fast schon unhöflich knapp zu erwidern: „Fürst Volkov, Basileus.“ Takaos warf Maxim einen Blick zu, der kaum merklich den Kopf schüttelte. Interessant. Meister Iwanov schien dem Fürsten nicht gerade gut gesonnen zu sein und Takaos nahm sich vor, seinen Freund später genauer danach zu befragen. Für den Moment lehnte er sich nur zurück und griff erneut nach den Trauben, während Maxim erneut das Wort an den Maler richtete und ihm detailreich die Ideen für die Wandmalereien schilderte, die sie sich vorgestellt hatten. Meister Iwanov hörte zu und machte nur wenige, präzise Einwürfe, um seine eigenen Ideen zu präsentieren. Es war offensichtlich, dass er und Maxim nicht zum ersten Mal miteinander sprachen, stellte Takaos fest und nippte an seinem Weinbecher, während er die Unterhaltung aufmerksam verfolgte. „Ich werde mir die Wände ansehen und Euch eine Liste der benötigten Materialien für die Arbeit zukommen lassen“, sagte Meister Iwanov schließlich in einem Tonfall, der besser in einen Kriegsrat gepasst hätte. Maxim schmunzelte nur und auch Takaos fand den Mann vor sich zu interessant, um ihn wegen seines Tonfalls zu rügen. Zumindest für den Moment. „Übt Ihr Euch auch in weltlichen Darstellungen?“, fragte er. Meister Iwanov richtete die hellen Augen auf ihn. „Es liegt in meinen Fertigkeiten, Basileus, auch wenn ich mich zu Gottes Gefallen vor allem der Darstellung unserer Heiligen widme.“ „So wäre es euch möglich, eine Darstellung meines Sieges über die lateinischen Besetzer von Konstantinopel im Blachernen-Palast anzufertigen, wenn ich es wünsche?“ Einen Moment lang schien es, als ob der Maler sich weigern würde. Dann jedoch deutete er eine Verbeugung an und sagte, der Mund schmal und keineswegs glücklich: „Wenn es Euer Wille ist, stehe ich zu Diensten.“ Enthusiasmus sah sicher anders aus. Dann wiederum war Takaos seit seiner Thronbesteigung jeder willkommen, der nicht hirnlos seine Sandalen leckte, und so nickte er. „Es ist mein Wille. Wir werden darüber sprechen, sobald Ihr Euren Auftrag in der Hagia Sophia beendet habt. Die Basilissa und ich werden über einen geeigneten Gehilfen für Euch beraten, um Euch zu entlasten.“ Meister Iwanov verneigte sich erneut. „Zu gütig, Basileus.“ Nach den üblichen Verabschiedungen sah Takaos Maxim mit einem kleinen Schmunzeln an. „Der größte Menschenfreund scheint er mir nicht zu sein.“ „Er ist ein intelligenter Mann“, merkte Maxim an, „mit sehr interessanten Ansichten, wenn man die richtigen Themen erwischt und ihn damit dazu bringt, sich über etwas zu ereifern.“ „Ich werde ihn zu einem Abendessen einladen, in deiner Anwesenheit“, beschloss Takaos, „Hyromia und Iulia werden ihre Freude an frischem Blut haben, das sich eventuell noch auf langatmige Diskussionen einlässt.“ „Das halte ich für eine schlechte Idee“, sagte eine dritte Stimme dunkel. Maxim und Takaos blickten zu dem Ölbaum, zwischen dessen dichten Laub sich nun ein schwarzer Schatten löste und auf den Boden sprang. Etwas blitzte im Sonnenlicht; es war eine Klinge, die in den Gürtel ihres Besitzers gesteckt wurde, als dieser sich aufrichtete. Der junge Mann, der einen Moment lang seine schwarze, ärmellose Tunika abklopfte, dann die schwarze Hakama-Hose darunter, schritt schließlich mit raschen, festen Stiefelschritten auf sie zu, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ohne sonderlich viel Ehrfurcht mit roten Augen auf Takaos herab. Seine glänzenden schwarzen Haare waren an den Seiten stoppelkurz geschoren und das lange Haupthaar zusammen mit dem grauen Schopf über seiner Stirn in einem festen Pferdeschwanz zusammengebunden worden. Seine asiatischen Gesichtszüge und Statur verrieten, dass er eindeutig kein Grieche war. Er schürzte die Lippen, als Takaos ihm lächelnd einen dritten Weinbecher anbot, schien einen Moment zu überlegen und griff dann zu, um einen kräftigen Schluck davon zu nehmen. „Was passt dir nun schon wieder nicht an meinen Kontaktknüpfungen?“, fragte Takaos amüsiert. Er wurde mit einem weiteren scharfen Blick bedacht. „Du bist viel zu vertrauensselig.“ „Maxim bürgt für ihn.“ „Der ist auch viel zu vertrauensselig.“ „Ich bin ein Mann Gottes“, erwiderte Maxim lachend, „und auch Yuriy hat sich letzten Endes für ein Leben mit Gott entschieden. Wer sind wir, dass wir über ihn richten dürfen? Ich kenne ihn als einen ernstzunehmenden Denker und Kunstverständigen und kann mir nicht vorstellen, welche Gründe er hätte, sich gegen Takaos zu stellen, ansonsten hätte ich ihn nicht hierher eingeladen.“ „Kann es sein, dass du einfach zu paranoid bist, Kai?“, fragte Takaos und lehnte sich dabei entspannt zurück, während Maxim sich ebenfalls wieder auf seiner Liege niederließ und sich Wein nachschenkte. Kai setzte sich ans Ende von Takaos Liege und stützte die Arme auf seinen Oberschenkeln auf, ehe er ihn wieder ansah. Sein Griechisch wies einen leichten Akzent um die härteren Buchstaben auf, mit denen er ein wenig zu kämpfen schien. „Er hat etwas an sich, das mir nicht gefällt. Du solltest vorsichtig sein.“ „Ich weiß deine Sorge wie immer zu schätzen“, sagte Takaos, „aber wie immer sage ich dir auch, dass ich auf mich selbst aufpassen kann. Ich habe Konstantinopel im Handstreich eingenommen!“ „Dann pass auf, dass du nicht auch im Handstreich genommen wirst“, sagte Kai, „und lade nicht gleich jeden Maler zum Essen ein, der in diese Stadt kommt.“ „Ich lade ein, wen ich will, Kai“, erwiderte Takao fest, auch wenn er immer noch dabei lächelte. „Denn ich bin der Kaiser von Byzanz. Und-“, fügte er hinzu, als Kai Anstalten machte, den Mund zu öffnen, „ich weiß, dass mein Schatten mich schützen wird, wohin ich auch gehe.“ Kai sah ihn eine lange Weile an. Dann erweichte sein Gesicht kaum merklich, nur eine Spur, und er hob den Weinbecher. „Auf deine Gesundheit, Basileus“, sagte er, „und möge kein böser Geist Dunkelheit über dein Leben werfen, solange ich es verhindern kann.“ Kapitel 2: TEIL I - KAPITEL II: Emilia -------------------------------------- Emilia hatte so lange mit gesenktem Kopf betend vor der geflügelten, roten Ikone der heiligen Sophia gestanden, dass ihr Nacken krachte, als sie schließlich den Kopf wieder hob. Einen Moment stand sie da und betrachtete das starre, fromme Gesicht der Ikone, dann atmete sie tief durch und wandte sich unter dem üblichen Abschiedsgestus ab. Der Tag hatte noch nicht viele Stunden und es gab noch einiges zu tun. Eigentlich war sie wie jede Nonne dazu angehalten, ausschließlich in dem Kloster zu beten, dem sie auch vorstand, aber ihre Position hatte ihre kleinen Vorteile. So war es ihr mit ausdrücklicher Genehmigung des Patriarchen erlaubt, einmal am Tag ihren Glauben in der Hagia Sophia zu stärken, und von diesem Privileg machte sie auch regelmäßig Gebrauch. Die meisten Leute sahen die gewaltige Kuppel der Hagia Sophia, die auf der ganzen Welt ihresgleichen suchte, als ein Zeichen von Gottes Gnade, die den Menschen ein solches Geschenk gemacht hatte. Und tatsächlich sah auch Emilia die Kirche als jenes Geschenk. In ihrem Kopf jedoch hegte sie stillschweigend die Meinung, dass dieses Geschenk vor allem ein Zeichen dafür war, was die Menschen bewirken konnten, wenn Gott auf ihrer Seite war, und das war ein massiver Unterschied. Sie fühlte die majestätische Größe, die Leichtigkeit der Kuppel über ihrem Kopf wie eine Linderung. Konstantinopel war der Mittelpunkt der Welt, das Erbe Roms, der gottgewollte Weg. Sie mochte verdammt sein, wenn sie zuließ, dass jemand das goldene Land Byzanz in den Abgrund steuerte, solange sie am Leben war. Und doch war Gott nicht ihre erste Liebe gewesen. Ihre erste und ehrlichste Liebe war immer das Wissen gewesen, und ihr größter Fehler hatte immer darin bestanden, nicht als Mann geboren worden zu sein. In einem anderen Leben war sie der Kaiser des göttlichsten Landes der Welt, ein belesener und von der Welt gefeierter Stratege. In diesem Leben hatte man sie ins Kloster geworfen, als sie zu eigenständig gedacht und sich in jugendlicher Naivität auch dementsprechend geäußert hatte, und dann hatte man gehofft, dass man ihr damit das Rückgrat brechen würde. Aber Emilias Rückgrat war aus Schwertstahl, und sie hatte den Gott akzeptiert, den man ihr entgegen geworfen hatte. In wochenlanger Isolation, monatelanger Einsamkeit hatte sie schließlich erkannt, dass alles im Leben seinen Platz hatte und viele nur nicht wussten, wo der ihre war. Gott, so hatte sie weiter erkannt, hatte ihr diesen Kopf gegeben, um damit zu denken, und er führte dabei ihre Hand, um sein Werk zu vollbringen. Er hatte sie in den Körper einer Frau geboren, um ihr eine Prüfung aufzuerlegen, wie sie einst Hiob auferlegt worden war, und wie Hiob würde sie stark in ihrem Glauben sein und ihre weltlichen Hindernisse überwinden, bis sie dafür belohnt wurde. Sie fand seine Zustimmung in dem goldenen Licht der schönsten aller Kirchen, unter ihrer gewaltigen Kuppel mit ihren leuchtenden Fresken und Mosaiken und zwischen ihren Säulen, die von Marmor umschlossen wurden. Solche Macht, solcher Reichtum. Ihre wichtigste Vertraute war dennoch die himmlische Sophia, unter deren Schutz der Herr sie gestellt hatte. Sie hielt inne, als ihre Schritte sie weit genug über den Marmor getragen hatten, dass der Maler in ihr Gesichtsfeld gerückt war. Er stand zwischen den Säulen der Hagia Sophia und war dabei so unbeweglich, als ob er selbst eine Statue war. Meister Iwanov hatte sich nicht die Mühe gemacht, sein leuchtend rotes Haar in irgendeine Form von Frisur zu bändigen. Stattdessen ergoss es sich über seine Schultern auf seine grob gewebte, weißgraue Tunika wie bei einem Wandermönch, den es nur durch Zufall in diese heiligen Hallen verschlagen hatte. Seine Augen waren auf eine kahle Wand vor ihm fixiert, ohne dass sich in seinem Gesicht irgendein Ausdruck zeigte, der Aufschluss über seine Gedanken gegeben hätte. Emilia blickte auf seine hagere Gestalt, dann zurück auf die Wand, die noch auf ihren Schmuck wartete. Es wirkte nicht so, als ob der Maler vorhatte, etwas anderes zu tun, als den leeren Fleck anzustarren. Und dann lag noch dazu sein scheußliches, enormes Tier eingerollt zu seinen Füßen, den mächtigen Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, als ob es irgendein Recht besaß, in diesen Hallen zu sein. Der Patriarch musste verrückt geworden sein. Dann wiederum hatte Maxim zu einigen Dingen immer schon eine recht lasche Einstellung und brachte den Kaiser auch nicht von seinem Umgang mit Ungläubigen ab, wie es eigentlich seine Pflicht gewesen wäre. Und er war immer noch besser als die dämlichen, eingebildeten Mönche auf ihrem Kloster am Berg Athos, das mehr finanzielle Mittel hatte als ihres und dennoch von einer Horde unfähiger, frauenfeindlicher Gecken geführt wurde. Emilia atmete tief durch, dann redete sie sich gut zu, dass der Maler für den Moment nicht ihre Angelegenheit war. Immerhin hatte die Kaiserin nach ihr gerufen und die Kaiserin ließ man auch als Äbtissin des größten byzantinischen Frauenklosters nicht warten. Sie schüttelte noch einmal den Kopf, wandte sich ab und ging durch die schweren Doppelflügeltüren der Hagia Sophia hinaus ins Freie. Konstantinopel begrüßte sie mit strahlendem Sonnenschein. Es war warm, aber nicht so warm, wie es hätte sein können. Das Wetter war generell in den letzten Jahren kühler geworden. Sie war bereits darauf und daran gewesen, den langen Marsch zur anderen Seite der Stadt zu machen, wo der Blachernen-Palast lag, dann merkte sie auf, als sie die kaiserliche Kutsche in angemessenem Abstand zur Hagia Sophia stehen sah. Ein Dienstbote verneigte sich respektvoll, als sie nähertrat. Es war ein junger Grieche, der erst kürzlich in die Dienste des Kaisers eingetreten sein musste, denn seine Brust war stolzgeschwellt „Die Basilissa entsendet ihre Grüße“, sagte er, „und bittet Euch, die Kutsche zu nutzen, um Euren Weg angenehmer zu gestalten.“ Emilia neigte dankend ihren Kopf, nickte ihm zu und stieg ins Innere der Kutsche, das sie vor den Augen der Öffentlichkeit verbarg. Mit einem tiefen Seufzer lehnte sie den Kopf gegen die Polsterung und blickte durch die Vorhänge hinaus aus dem Fenster, als die Kutsche anrollte und sie vom ersten Hügel trug. Sie passierten das Genueser Viertel, in dem sich gar nicht mehr viele von ihnen herumtummelten. Die meisten von ihnen waren hinüber auf die andere Seite des Goldenen Horns gezogen, wo die Kolonie Galata für die Unterstützer des Kaisers eingerichtet worden war, nachdem Takaos die Stadt im Handstreich zurückgewonnen hatte. Emilia hielt nicht viel davon; der Genueser Hafen, der sich immer mehr etablierte und von den italienischen Handelsschiffen bevorzugt wurde, war ihr ein Dorn im Auge, der für den Hafen von Konstantinopel vielleicht nichts Gutes bedeuten würde. Sie war noch immer nicht sicher, ob es ihr lieber gewesen wäre, wenn sein älterer Bruder nicht im Kampf verschollen wäre, als Takao gerade einmal zehn Jahre alt gewesen war. Damals war sie selbst noch ein Kind gewesen, aber sie konnte sich noch daran erinnern. Es war ein einschneidendes Erlebnis gewesen, das die byzantinische Gesellschaft in Schock geworfen und den Weg frei für die latinische Herrschaft und die Flucht der thronberechtigten Linien gemacht hatte. Wie hätte Irenéo an Takaos‘ Stelle reagiert? Hätte er gemeinsame Sache mit den Genuesern gemacht und Byzanz damit voll in das italienische Handelsnetz geraten lassen? Es war schwer zu sagen, aber offensichtlich war es nicht Gottes Wille gewesen, Irenéo herrschen zu lassen. Sie fuhren am Rand des Genueser Viertels entlang vorbei am Hügel auf die Platea. Auf der anderen Seite des Fensters lebte die Stadt und wimmelte vor Menschen: Männer, die sich auf der Straße grüßten, Frauen aus der Unterschicht, die ihre Waren am Markt feilboten, andere Kutschen, die über die Straße ratterten, entlaufene Gänse und bellende Hunde. Konstantinopel war am Leben und solange Konstantinopel lebte, blühte Byzanz. Emilia erfreute sich daran, während sie die Aspar-Zisterne und den fünften Hügel passierten, bis sie endlich das Blachernen-Viertel erreicht hatten. Hier lebte die reiche Bevölkerung von Konstantinopel, die Botschafter und ranghohen Höflinge, die geldschweren Händler und berühmten Feldherren, was man bereits an den Häusern erkennen konnte. Sie rollte die Augen angesichts überbordender Fassaden - hielt in der Bewegung inne, als sie einen Blick auf das Haus des römischen Konsul Romulus warf, in der er mit seiner Familie lebte. Danach ließ sie den Vorhang zufallen und öffnete ihn nicht mehr, bis die Kutsche anhielt. Als sie ausstieg, ragte der Blachernen-Palast vor ihr auf. Er war durchaus beeindruckend, verblasste aber gegen die weitläufige Brillanz des Großen Palasts oder die goldene Herrlichkeit der Hagia Sophia. Sicher, er war gut befestigt und im sichersten Winkel der Stadt, aber er hatte zumindest äußerlich wenig Charme. Das änderte sich, wenn man in die Hallen trat, wie es nun Emilia tat, die sogleich von einem anderen Dienstboten - ein junges Mädchen mit dunklen Haaren - in den Empfangsraum der Kaiserin geleitet wurde. Der Empfangsraum lag in einem der neueren Gebäudeteile und Emilia kannte den Weg mittlerweile gut genug, um keine Führung zu benötigen, aber sie zügelte ihre Ungeduld und folgte dem Protokoll. Noch dazu hatte sie wohl Glück, dass besagtes Protokoll nicht ganz so rigide war, wie man es von vorherigen Kaiserpaaren gewohnt war - obwohl es wohl debattierbar war, wie glücklich es wirklich war, wenn auf die Regeln der gesitteten Gesellschaft einfach verzichtet wurde. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung und verzog nur aus eiserner Selbstdisziplin nicht vor Abscheu das Gesicht, als sie sah, wie der Inselwilde mit den roten Dämonenaugen zwischen zwei Säulen hindurchglitt und lautlos durch eine Tür verschwand. Seine ganze Existenz hier in Konstantinopel war ein Affront gegen die Kirche, den der Kaiser unverfroren durchsetzte. Emilia hätte mit einem Türken noch eher Frieden schließen können als mit diesem Barbaren, der noch immer nicht den christlichen Glauben angenommen hatte und dies wohl auch nicht mehr tun würde. Eine Führung, die solch ketzerisches Gedankengut um sich herum erlaubte, würde früher oder später den Glanz des byzantinischen Golds unentschuldbar stark dimmen lassen. Sie stellte sicher, dass keiner dieser Gedanken auf ihrem Gesicht abzulesen war, als sie in den Empfangsraum trat und sich tief vor der Kaiserin verneigte. „Basilissa.“ Hyromia wandte sich um und lächelte sie freundlich an. Goldreifen wanden sich um ihre Oberarme, Gold und Edelsteine zierten auch ihren Hals und die Finger. Ihre prachtvolle Seidendalmatik, die sie über der langärmeligen, weißen tunika interior trug, strahlte in einem satten Blau, das ein Vermögen gekostet haben musste, nachdem es nicht wie das Waidblau wirkte, das bei den Germanen üblich war. Weil dieser Empfang keines der wenigen Feste war, an denen sie ihren Chlamys trug, jenen purpurfarbenen Kurzmantel, der ihren Status als Kaiserin anzeigte, trug sie stattdessen eine Palla über der Dalmatik, die an der Brust mit einer edelsteinbesetzten Fibula zusammengehalten wurde. Das glänzende, dunkelbraune Haar war mit zahlreichen Nadeln zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt worden, die den Blick auf ihre goldenen, hängenden Ohrringe freigab. Die Kaiserin hatte ein Gesicht, das sie nicht unbedingt als schönste Frau des byzantinischen Reiches in den weltlichen Liedern unsterblich machte, aber es lag eine Herzlichkeit und ein Feuer in ihrem Lächeln und ihren dunklen Augen, das sie anziehend machte. „Hochwürdige Mutter“, sagte sie warm, trat auf sie zu und nahm Emilias Hand in die eigene, dann entließ sie ihre Dienstboten mit einem Nicken, die sich daraufhin verneigten und den Raum verließen. Hyromia wandte sich erneut an Emilia und zwinkerte ihr zu. „Nun, wo wir unter uns sind, liebe Freundin, können wir die Höflichkeiten doch ein wenig reduzieren.“ „Dazu wirst du die Äbtissin niemals bekommen“, erklang es aus einer Ecke mit einem dunklen Lachen. Da saß sie, die Römerin. Emilia erinnerte sich noch an den Tag, an dem Iulia an die Türen ihres Klosters geklopft hatte, wild-verzweifelt nach einem Ausweg suchend aus einem Leben, das sie nicht haben wollte. Ja, für eine Frau aus Rom, noch dazu eine Frau wie Iulia, war das Leben in Byzanz doppelt ungerecht. Wo Iulia es gewohnt war, keinen eigenen Namen zu haben, aber dafür unabhängig von ihrem Mann am öffentlichen Leben teilzunehmen und in allerlei Kreisen mitzumischen, musste sie sich in Konstantinopel damit abfinden, dass sie weder eigenen Namen noch Ausgangsrecht hatte. Die byzantinischen Frauen verbargen sich im Inneren und rührten innerhalb ihrer abgetrennten Räumlichkeiten still und leise an den Hebeln der Welt - wenn ihnen dazu überhaupt die Mittel gegeben waren. Freilich, als Frau eines römischen Botschafters war sie nicht so sehr an das byzantinische Recht gebunden, aber andere Fesseln hielten sie mindestens genauso fest. Iulia, die ebenfalls zu viel Willen und Feuer hatte, um für das Leben als Frau geschaffen zu sein, hatte bei ihr Rat gesucht, und Emilia war nicht mehr losgekommen von diesem Wesen, das sie besser verstand als jeder andere Mensch in dieser Stadt. Es war Gottes Wille gewesen, dass sie einander begegnet waren, und mit Gottes Gnade hatte Emilia sich ihrer angenommen, um ihr zu zeigen, wie sie innerhalb der Grenzen leben konnte, die die Gesellschaft ihr aufdrückten. Wenn man sie nun sah - in eine hellrote Seidenstola gekleidet und das dunkle Haar mit den hellen, fast orangefarbenen Schimmern darin in römischer Manier mit einem losen Seidenschleier bedeckt, die gelbe Seidenpalla zusammengehalten von einer Smaragdfibula in der Schattierung ihrer kohlumrandeten Augen -, hätte man niemals vermutet, dass Iulia einmal in solch tiefer Verzweiflung gesteckt hatte. Einen Moment lang trafen sich ihre Augen. Iulia senkte die Lider, nur einen Herzschlag lang, dann erhob sie sich von ihrer Liege und verneigte sich vor Emilia. Allein Letztere bemerkte den sanften Spott, der in der Geste lag. „Ich erbitte Euren Segen, hochwürdige Mutter“, murmelte Iulia mit rot geschminkten Lippen und sah zu ihr auf. Emilia atmete aus, hob die Hand und ließ sie einen Augenblick über ihr schweben, ehe sie sie segnete. „Der Herr sieht Euch, domina“, sagte sie rau, „und er segnet Euch.“ Iulia neigte erneut das schöne Haupt; ihre Palla verrutschte, sodass Emilia einen langen Blick auf ihren weißen, goldumschlossenen Hals werfen konnte, ehe Iulia mit anmutiger Geste den Mantel zurechtrückte und sich erneut auf der Liege niederließ. Indes war die Kaiserin zum Weinkrug getreten und hatte einen dritten Becher gefüllt, den sie nun lächelnd an Emilia reichte. „Nimm Platz, liebe Freundin“, sagte sie munter, wandte sich ab und holte eine Pergamentrolle von dem Tisch, auf dem einige Notizen ausgebreitet waren. Man konnte der Kaiserin keinen mangelnden Ehrgeiz vorwerfen. Sie widmete ihn nur den falschen Dingen. Beinahe wünschte Emilia sich, dass es anders wäre - denn sie mochte Hyromia, aber sie war ein idealistisches junges Ding, das das Gesamtbild nicht erkannte und sich lieber darauf konzentrierte, Paläste aufzubauen, die niemand brauchte, anstatt ihren Mann dazu anzuhalten, die Genueser und Bulgaren auszuschalten und Byzanz zu alter Größe zu verhelfen. Äußerlich nahm Emilia nur dankend den Becher entgegen und nippte daran, dann klärte sie sich die Kehle. „Es gibt etwas, das du mit mir besprechen wolltest?“ Hyromia lächelte. „Du weißt, dass ich deine Meinung sehr schätze. Es geht um die Verschönerungen der Hagia Sophia.“ „Ah“, sagte Emilia mit einem schmalen Lächeln. „Der verehrte Patriarch hat uns einen Maler dafür gefunden“, fuhr Hyromia fort, „aber mein Mann - und auch der verehrte Patriarch - scheinen der Meinung zu sein, dass er jemanden an seiner Seite benötigen könnte. Einen Gehilfen. Der Kaiser bat mich um meine Hilfe.“ Sie lächelte. „Ich möchte ihm Iulia vorschlagen.“ „Eine große Ehre, die ich in aller Demut annehmen würde“, sagte Iulia. An ihrem Gesichtsausdruck war nichts, aber auch gar nichts demütig. Ihr Stolz war eines der Dinge gewesen, die Emilia am meisten an ihr angezogen hatte, aber nun brachte er sie dazu, tief einzuatmen. „Verehrte Freundin“, sagte Emilia, weil man es von ihr erwartete und weil sie ihre Rolle, die sie der Welt vorspielte, auch hier nicht ablegen durfte, „ich zweifle nicht an deinem Urteilsvermögen, was die Fähigkeiten der domina angeht, doch bitte ich dich, dies zu bedenken: eine Frau als Gehilfin eines Malers?“ „Ein Mönch, scheinbar sogar ein Asket“, sagte Hyromia lächelnd mit einer gewissen Schärfe in ihren Mundwinkeln, „dem sie bei einer heiligen Aufgabe zur Hand geht, als verheiratete Frau vor aller Augen und nicht verborgen in den Schatten. Kann dies verwerflich sein in Gottes Augen?“ Emilia wiegte den Kopf und war sich bewusst, dass Iulias glühender grüner Blick auf ihr ruhte. „Die Leute werden reden.“ „Die Leute reden ohnehin über die Römerin“, sagte Iulia leichthin und zupfte ihren Schleier zurecht, „mich interessiert nur die Meinung Gottes.“ Was für eine exzellente Lügnerin sie sein konnte. Das hatte Emilia natürlich schon gewusst, aber sie war dennoch beeindruckt. Es ging Iulia nicht um Gott. Es ging Iulia immer um die Kunst - und auf diesem Gebiet nahm sie, was sie kriegen konnte, ohne nach links und rechts zu sehen. „Der Mann ist kein Byzantiner“, sagte Emilia dennoch harsch, „wir wissen nichts über ihn, domina, ich kann mir nicht vorstellen, dass es im Ermessen Eures Mannes ist, wenn Ihr ihm zur Hand geht.“ Iulias Augen blitzten, aber sie hielt ihr Temperament in Schach und spielte die Scharade würdig mit. In solchen Momenten erkannte man ihre schamvollen Wurzeln einer Schaustellerin - und die Brillanz, die ihren Mann dazu bewogen hatte, sie trotz ihrer niedrigen Abstammung zu heiraten und ihre Herkunft für immer zu vertuschen. „Mein Mann weiß, dass ich ihn aufrichtig liebe und verehre.“ Emilia hätte beinahe hell aufgelacht und beherrschte sich gerade noch. „Und er vertraut dem Urteil des ehrwürdigen Patriarchen, der für Meister Iwanov bürgt. Wer bin ich, dass ich mich gegen die Meinung von Männern stelle, die es besser wissen müssen als ich?“ Sie senkte die langen, kohlgefärbten Wimpern. „Lange habe ich auf eine Gelegenheit gewartet, Konstantinopel meinen Dank entgegen zu bringen und ihr etwas zurückzugeben für all die Annehmlichkeiten, die mir hier bereitet wurden. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass sich die Basilissa in ihrer Großzügigkeit auf mich besinnen würde.“ Emilia hatte ein ganzes Arsenal an Gründen, das sie nun abfeuern konnte, um Hyromia umzustimmen und Iulia nicht malen zu lassen. Sie konnte die Worte bereits auf ihrer Zunge spüren. Aber sie hatte ihre angemessene Besorgnis bereits kundgetan und eigentlich kein Interesse daran, gerade Iulia etwas zu entziehen, in dem sie aufgehen konnte. Also blickte sie möglichst nachdenklich drein, ehe sie schließlich den Kopf neigte. „Wie immer ist es letztendlich deine Entscheidung, verehrte Freundin“, sagte sie zu Hyromia, „und ich begrüße es ja doch, wenn Frauen ihrer Frömmigkeit Ausdruck verleihen, indem sie Gottes Werk tun.“ Hyromia lächelte und wandte sich Iulia zu. „Dann ist es beschlossen und ich werde es dem Basileus vorschlagen. Mit etwas Glück ist er geneigt, meinen Rat anzunehmen.“ „Verehrte Freundin“, sagte Iulia mit aufrichtiger Wärme, „ich kann gar nicht in Worten ausdrücken, wie sehr ich dir danke.“ Ihre Augen wanderten weiter zu Emilia und hielten sie fest. „Hochwürdige Mutter, erlaubt mir, mit Euch zu beten, um dem Herren zu danken.“ „Das ist nur recht“, erwiderte Emilia sanft, „wenn Ihr Euch morgen Nachmittag zum Kloster der heiligen Theodora begebt, werde ich Euch dort in Empfang nehmen.“ Hinter dem Rücken der Kaiserin, die sich bereits wieder über die Pläne auf ihrem Tisch gebeugt hatte, lächelten sie sich an wie zwei Frauen, die gelernt hatten, nur in vollkommener Dunkelheit und fernab von allen fremden Augen ihre Schichten abzulegen und zu sein, wie Gott sie gewollt hatte. „Es ist Zeit, Konstantinopel wieder prachtvoll zu machen“, murmelte Hyromia in Emilias Sinnierungen über Iulias rote, rote Lippen. Sie lächelte und hob den Weinbecher in die Richtung der jungen Kaiserin. „Du sprichst mir aus dem Herzen, verehrte Freundin. Du sprichst mir aus dem Herzen.“ Kapitel 3: TEIL I - KAPITEL III: Hyromia ---------------------------------------- Hyromia war erschöpft, aber zufrieden, als sie sich abends in die kaiserlichen Gemächer zurückzog. Bei ihrem Eintreten stellte sie fest, dass Takaos die Dienerschaft für heute bereits entlassen hatte. Stattdessen hörte sie neben seiner sonoren Stimme noch eine weitere, fast ebenso vertraute und musste ein wenig lächeln. Es war vorauszusehen gewesen, dass sie ihren Mann nicht komplett alleine vorfinden würde. Bei ihrem Anblick stieß Kai sich rasch von der Wand ab, an der er gelehnt hatte wie ein dunkel gekleideter Engel des Todes, um sich tief vor ihr zu verneigen. Sie wusste, dass man Kai in Konstantinopel wenig Liebe entgegen brachte: er war ein Fremdling, kein Byzantiner, nicht einmal getauft, zumindest noch nicht. Hyromia konnte nur hoffen, dass ihr Mann ihn dazu überreden konnte, wenn er ihn an seiner Seite behalten wollte. Zu vielen Leuten war seine Anwesenheit ein Dorn im Auge - allerdings auch den Feinden des Kaisers. Bisher waren beide Attentate, deren Versuche das Kaiserpaar sorgfältig geheim hielt, früher oder später an Kai gescheitert, der keine Gnade kannte, wenn es darauf ankam. Einst hatte eine Kaltblütigkeit wie seine Hyromia erschreckt. Aber einst war sie auch ein Mädchen gewesen und keine Kaiserin, und hatte nichts gewusst vom Leben und vom Sterben. Man machte immer noch den Fehler, sie zu unterschätzen. Die höfischen Amtsträger sahen überwiegend ein hübsches Gesicht in ihr und sonst nichts. Ihr Mann hatte den Fehler nur einmal gemacht und dann nie wieder, was zeigte, dass er längst nicht so beeinflussbar und dumm war, wie manche böse, unverständige Zungen munkelten, die selbst nach Jahren immer noch Irenéo hinterher trauerten. Takaos hob den Kopf von den Dokumenten, die vor ihm ausgebreitet waren, und lächelte sie an. Er sah so müde aus, wie sie sich fühlte - wie sie beide sein mussten, weil es dazugehörte, wenn man das Goldene Reich regierte. Schwer war die Krone, die auf dem Haupt der Herrschenden ruhte, und so war es auch nur recht. „Verehrte Basilissa.“ „Basileus“, erwiderte Hyromia kokett auf ihr kleines, gemeinsames Spiel und schenkte ihm einen Wimpernaufschlag, der das Lächeln auf seinem Gesicht breiter werden ließ. Aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, dass Kai begann, sich zurückzuziehen. Bevor er still aus den Gemächern hinaus in die Dunkelheit der Stadt gleiten konnte, wie es seine Art war, wandte sie sich ihm zu und lächelte ihn ebenfalls an. Er hielt in der Bewegung inne, als ob ihr Blick allein ihn an Ort und Stelle fesselte. So undurchdringlich sein Gesicht sonst war, in jenen Schwellenmomenten zwischen dem alten Tag und dem neuen, gefangen zwischen drinnen und draußen, wirkten seine Augen fast weich, wann immer er sie ansah. Hyromia hatte ihn anfangs befremdlich gefunden und sich gewünscht, dass Takaos ihn nicht aus Gründen, die ihr unverständlich waren, so nahe bei sich behielt. Nun fürchtete sie den Tag, an dem Kai seine Schuld vollkommen bereinigt haben und sie verlassen würde. „Ich hoffe, ich habe keine wichtige Unterredung gestört“, sagte sie lächelnd. Kai blinzelte. „Es gibt keine Unterredung, die Ihr nicht stören dürftet, Basilissa.“ „Du störst nie“, verkündete Takaos und trat an sie heran, um sie schwungvoll mit den Armen zu umfangen. Er störte sich dabei wenig an Kais Anwesenheit, genauso wie Hyromia sich nicht zurückhielt, als sie einen Moment lang lachend den Kopf an Takaos‘ Schulter barg. Vor einigen Monaten noch war es ihr unangenehm gewesen, in seinem Beisein Zärtlichkeit zu zeigen, die eigentlich nur für Takaos‘ Augen bestimmt sein sollte. Mittlerweile hatte sie immer öfter das heimliche, schamvolle Bedürfnis, Kai an sich und Takaos zu ziehen. Sie hatte oft das Gefühl, dass Kai bewusst Abstand zwischen sich und alle anderen Leute brachte, als ob er es tunlichst vermeiden wollte, sich irgendwem anzunähern. Oder mehr Wurzeln in der Stadt zu schlagen als nötig. Nachdem Takaos sie wieder losgelassen hatte, ergriff Kai die Gelegenheit und schenkte ihr einen Becher Wein ein, den er ihr reichte. Sie lächelte ihn erneut an, als sich ihre Finger streiften, und spürte dabei Takaos‘ wohlwollenden Blick auf sich. Kai hingegen senkte seine Augen und unterbrach den Kontakt, indem er einen Schritt zurücktrat. Hyromia atmete langsam aus, dann nahm sie einen tiefen Schluck. Der Rotwein lag fruchtig und weich auf ihrer Zunge, genau wie sie es mochte. „Kai hat soeben noch einmal seine Sorge über Meister Iwanov bekundet“, sagte Takaos und ließ sich dabei deutlich anhören, dass er über diese Besorgnis eher amüsiert war, als dass er sie ernst nahm. „Scheinbar liegt die wahre Gefahr für dieses Reich in einem einzigen, rothaarigen Wandermönch. Nicht etwa in den Osmanen oder Bulgaren.“ „Du solltest nicht die Schlange unterschätzen, die vor dir im Gras liegt, während du nach den Oni in den Bergen spähst“ sagte Kai offensichtlich nicht begeistert über Takaos‘ unbekümmerte Art. Wie immer, wenn er emotionaler wurde, zeigte sich sein Akzent etwas stärker. Hyromia schmunzelte in ihren Becher hinein. Takaos indes lachte nur herzhaft. „Oni sind diese Menschenfresser, von denen du mir erzählt hast, nicht wahr? Die würden mir wirklich mehr Sorgen machen als ein einziger Mann, der wirkt, als ob er ordentliche Kartoffeln und Speck statt das Brot der asketischen Mönche bräuchte, um es mit mir aufnehmen zu können. Ich habe immerhin Konstantinopel im Handstreich erobert!“ Man musste zugeben, dass der Kaiser eine imposante Figur war. Er hatte den Körperbau eines Kriegers, der diesen Teil von sich nie abgelegt hatte, egal wie schwer es bei seinem Streben nach Zusammenhalt statt Eroberung manchmal war, sich vorzustellen, dass er einen Krieg angeführt hatte. Takaos bemerkte Hyromias anerkennenden Blick, der an ihm entlang glitt, und zwinkerte ihr zu. Sie verdrehte unbeeindruckt die Augen, dann nahm sie lächelnd noch einen Schluck Wein und blickte über die Dokumente auf Takaos‘ Tisch, während sie mit halbem Ohr weiter den Schlagabtausch der beiden Männer verfolgte. „Und du wirst nicht müde, das zu betonen“, sagte Kai harsch, „aber du solltest zusehen, dass Konstantinopel auch in deiner Hand bleibt.“ Das Lächeln auf Takaos‘ Zügen verblasste ein wenig und er zog die Augenbrauen zusammen. „Unterstellst du mir, dass ich nicht weiß, was ich tue?“ „Ich unterstelle dir, dass du mit deinem Blick auf das große Ganze die Details übersiehst.“ Takaos lachte ungläubig. „Wir reden hier nicht über einen General aus den Rängen der Barbaren, den ich eingestellt habe, sondern über einen Maler! Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du bist aus irgendeinem absurden Grund vollkommen fixiert auf den Mann.“ Hyromia blickte gerade rechtzeitig auf, um erstaunt zu sehen, dass Kai die dunklen Augenbrauen zusammenzog und die Lippen aufeinander presste, ehe er den Kopf schüttelte, als ob Takaos tatsächlich einen Nerv getroffen hatte. „Ich bin hier, um dich zu schützen“, erklärte er rau, „aber ich muss mir deine Worte nicht länger anhören, auch wenn du die Stadt im Handstreich genommen hast. Wenn du es nicht ernst nimmst, muss ich mich eben selbst darum kümmern.“ Er verneigte sich in Hyromias Richtung. „Verzeiht diese Auseinandersetzung in Eurer Gegenwart, Basilissa. Ich wünsche Euch eine gute Nacht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ihr beide seid Kindsköpfe, dass ihr über solche Dinge streitet“, erklärte sie bestimmt, schenkte ihm dann zur Abmilderung jedoch ein Lächeln. „Gute Nacht.“ „Kai“, begann Takaos, doch der Angesprochene verneigte sich nur stumm vor ihm, die Augen blitzend, ehe er nun doch stillschweigend ins Dunkel des Blachernen-Palasts hinausglitt. Takaos seufzte, rieb sich über die Augen und ließ sich auf dem Bettrand nieder. „Er ist immer noch ein wenig empfindlich“, sagte Hyromia beschwichtigend, stellte den Becher ab und kam zu ihm, um mit den Fingern durch sein dunkles Haar zu gleiten, das im flackernden Licht der Fackeln beinahe einen blauen Schimmer hatte. „Der letzte Anschlagsversuch ist erst zwei Wochen her.“ „Vielleicht ist es egoistisch von mir, aber ich wünschte, Leute würden aufzuhören mit den Versuchen, mich zu ermorden“, stellte Takaos mit einer Trockenheit fest, die an sich nur Kai in ihm hervorbringen konnte. Hyromia schmunzelte und massierte mit den Fingerspitzen seine Kopfhaut, bis er sich zu entspannen begann. Takaos trug all seine Emotionen immer auf der Oberfläche. Sie standen im buchstäblich ins Gesicht geschrieben, was seine größte Stärke, aber auch seine größte Schwäche war. Das wusste Hyromia genauso gut wie Kai. „Er meint es nur gut. Auf seine Art.“ „Ich weiß.“ Takaos seufzte erneut. Dann schloss er eine Hand um ihr Handgelenk und zog sie zu sich herab, bis sie auf seinem Schoß saß. „Ich hab dich heute vermisst.“ Es war manchmal schwer, sich daran zu erinnern, wie holprig ihr Anfang miteinander gewesen war, stellte Hyromia fest, während sie die Lippen auf Takaos‘ legte. Der byzantinische Kaiser hatte das Recht, sich seine Frau aus einer Anzahl an Anwärterinnen aus den richtigen Familien auszusuchen, und sie war ihm mit ihrer furchtlosen, frechen Antwort aufgefallen. Takaos war nie jemand gewesen, der vor einer Herausforderung zurückgeschreckt war oder einen Duckmäuser an seiner Seite wollte, aber sie waren beide eigensinnige Persönlichkeiten, die erst zueinander hatten finden müssen. Hyromia schlang die Arme um seinen Nacken und glitt mit den Lippen über seine Schläfen. „Ich hatte Besuch von Äbtissin Emilia.“ „Oh?“, sagte Takaos ein wenig überrascht, aber durchaus willig, sich in ihre Berührungen zu ergeben. „Ich habe sie um ihren Rat gebeten“, für Hyromia mit Bedacht fort, „bevor ich dich frage. Denn letzten Endes ist es deine Entscheidung.“ Takaos schmunzelte gegen ihre Fingerspitzen und drückte dann einen Kuss dagegen. „Du weißt genauso gut wie ich, dass ich deinen Rat meistens berücksichtige.“ „Dann bitte ich dich, das auch diesmal zu tun.“ Hyromia drückte einen Kuss auf seinen Scheitel. „Es geht um die helfende Hand, die wir Meister Iwanov gewähren wollen. Ich würde gerne Iulia dafür einsetzen.“ Sie spannte sich an, als Takao innehielt, ehe er ihre Hände in die eigenen nahm und mit gerunzelter Stirn zu ihr aufsah. „Hyromia…“ „Sie hat die nötigen Fähigkeiten und du weißt es“, fuhr Hyromia unerschütterlich fort. Takao seufzte tief. „Sie ist eine Römerin. Überhaupt nur hier, weil Romulus als Spion unter den Lateinern wichtige Informationen für die Rückeroberung geliefert hat und zu einem meiner Höflinge erkoren wurde. Eine Lateinerin die Hagia Sophia dekorieren lassen?“ „Es würde dein mildtätiges Herz zeigen und Bereitschaft zur Vergebung signalisieren.“ „Möglich. Trotzdem löst das nicht das Problem, dass sie eine Frau ist.“ Takaos‘ braune Augen waren voller ehrlicher Reue, dennoch fühlte Hyromia, wie ihr Temperament aufflammte. Sie löste sich aus seinen Armen und von seinem Schoß, um die Arme vor der Brust zu verschränken. „Und das macht sie unfähig?“, fragte sie beißend. „Ich bin auch eine Frau.“ „Du bist die Kaiserin“, sagte Takaos und erhob sich ebenfalls. „Und wenn ich nicht mitspielen würde...“ Sie hob eine Augenbraue und starrte ihn mit der stillschweigenden Herausforderung an, weiterzusprechen. Takaos wurde ein wenig kleiner. Dennoch räusperte er sich. „Fakt ist, dass ich das nicht durchsetzen kann. Es tut mir Leid, aber eine Frau von hohem Stand zur Malergehilfin zu machen-“ „Es ist zur Ehre der Stadt! Zum Glanz der Hagia Sophia!“ „Es ist Handwerk“, sagte Takaos nun ebenfalls etwas lauter, „und wir haben Spielregeln, die wir zu befolgen haben-“ „Wir sind die Spielregeln!“, blaffte Hyromia, dann atmete sie tief durch und wandte sich ab in dem Versuch, wieder zur Ruhe zu kommen. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass Takaos ihr eine Hand auf die Schulter legen wollte, aber sie wich ihm aus. In diesem Moment verschluckte die Wut alles - die Wut darüber, dass diese Gesellschaft nicht sehen konnte, was Frauen zu leisten vermochten. Was in den Herzen von Frauen lag und hinausging über das Dasein als stiller Hausgeist, als Eheweib und Mutter - welche Hingabe, welche Leidenschaft, welche Intelligenz und welcher Mut. Es war ein Kampf. Jeder Tag war ein Kampf und Hyromia war eine Kriegerin, aber manchmal war es so ermüdend, wenn jeder Schritt nach vorne so zäh errungen werden musste. Hatte Kaiserin Theodora I. sich so gefühlt, als sie ihren Mann überredet hatte, die Gesetze zur Prostitution zu verschärfen? Hatte sie sich so gefühlt in dem Moment, in dem sie vor dem versammelten Rat und dem Kaiser gestanden und zur Schlacht aufgerufen hatte? Hatte sie zwischen diesen Augenblicken die gleiche Mutlosigkeit und rasend machende Hilflosigkeit verspürt? „Wir wollten eine bessere Welt“, sagte sie, ohne sich umzudrehen, „wir wollten Byzanz ins nächste Jahrhundert führen. Waren das nur leere Versprechen, die ihren Platz nur in der Nacht zwischen uns haben?“ „Du weißt, dass es nicht so ist“, sagte Takaos leise, „aber wir können es uns gerade nicht leisten. Ich brauche jede Zustimmung in der Stadt, die ich bekommen kann, wenn ich den Bulgaren ein Bündnis vorschlagen will. Und auch wenn Kai auf die Details beharrt, wir müssen unsere Aufmerksamkeit auf das große Ganze lenken. Es tut mir Leid, Hyromia. Vielleicht ein andermal - in einigen Jahren, wenn ich meine Herrschaft genügend gefestigt habe. Dann können wir etwas in dieser Art überlegen. Aber selbst dann kann ich mir nicht vorstellen, wie wir das durchbekommen sollen. An gewisse soziale Konventionen müssen wir uns eben halten. Vielleicht, wenn sie eine Frau von niedrigerer Schicht wäre, aber so…“ Hyromia rieb sich die Nasenwurzeln. Es wäre in gewisser Hinsicht in diesem Moment einfacher gewesen, wenn Takaos ein frauenfeindlicher Idiot gewesen wäre, aber leider hatte er in gewisser Hinsicht Recht, und es gab gerade nichts, was sie mehr hasste als genau diese Tatsache. Allerdings war es eine Tatsache, mit der ambitionierte Frauen wie sie schon seit Jahrhunderten umgehen mussten und sie alle hatten die eine oder andere Strategie, das eine oder andere Geheimnis entwickelt, um das System zu unterwandern. Hyromia log nicht gern, aber wenn es eines gab, das sie gelernt hatte, dann war es, dass eine Kaiserin so einige Geheimnisse wahren musste. Einige davon, die meisten sogar, waren nur nicht ihre oder die ihres Mannes. Sie wandte sich um. „Dann lass es Raulus werden.“ „Raulus?“ Takaos zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Iulias Zwillingsbruder.“ „Ich weiß, wer Raulus ist“, sagte Takaos, „aber ich dachte, dass er gerade im Osten des Landes ist, um dort den Zustand der Handelsrouten zu überprüfen.“ Hyromia bemühte sich um ein Gesicht, das sich ihre Nervosität nicht anmerken ließ. Es war nicht einfach, zu lügen - denn Raulus befand sich tatsächlich im Osten des Landes und würde so schnell nicht wieder zurückkehren. Was sie hier tat, war, für ihre talentierte Freundin zu lügen, die eine ausgezeichnete Schauspielerin war und ihrem Bruder in der richtigen Aufmachung zum Verwechseln ähnlich sah. Man musste seine Ressourcen kennen. Und Hyromia verlor so, so ungerne. Manchmal musste man ungewöhnliche Wege gehen, um ans Ziel zu gelangen. Offenheit wäre ihr lieber gewesen, aber offensichtlich war man dafür noch nicht bereit. „Er ist vor zwei Tagen aus gesundheitlichen Gründen zurückgekehrt“, sagte sie also, um bei Takaos‘ besorgtem Blick rasch hinzuzufügen: „Nichts Ernstes - aber eine kleine Pause und künstlerische Betätigung würden ihm gut tun. Und es würde das wohlmeinende Zeichen setzen, von dem ich gesprochen habe. Es setzt sogar ein nicht so wohlmeinendes Zeichen an die Leute, die gegen die Anwesenheit der Familie in Konstantinopel sind.“ „Weil ich einen Patrizier zum Malergehilfen mache?“ Takao nickte nachdenklich und strich sich über das Kinn. „Wie sieht Raulus das? Ich würde mir ungern den Unmut des Mannes einhandeln. Er hat ein Händchen für die Handhabung der Handelsrouten, das findet man nicht schnell wieder.“ „Oh, er ist künstlerisch genauso interessiert wie Iulia“, erwiderte Hyromia rasch, „oder woher, denkst du, hat sie ihr Wissen? Laut Iulia hat er es sogar angeregt, falls seine Schwester sich nicht selbst darum kümmern ließ.“ Sie machte keinen Hehl aus der ehrlichen Bitterkeit in ihrer Stimme, die ihr in diesem Moment noch mehr Glaubwürdigkeit verlieh. Takaos seufzte bei ihrem Gesichtsausdruck und umfasste ihre Schultern. „Würde es dich zumindest ein bisschen mit der Sache versöhnen?“ „Ich kann nicht wirklich damit versöhnt werden“, gab sie zu, „aber es wäre besser als nichts.“ „Dann lass es so sein“, entschied Takaos. Seine Lippen drückten einen Kuss auf ihren Mundwinkel und strichen ihr über Schultern und Arme, bis sie nicht anders konnte, als ihren Groll zu verlieren. Auch wenn es sie ärgerte, dass es so schnell ging. Er merkte es und schmunzelte, küsste sie mehr, inniger, bis sie schwerer atmete und sich näher an ihn drängte. „Komm ins Bett mit mir“, sagte Takaos schließlich, „für heute habe ich genug von allem. Ich will allein mit dir sein.“ Kapitel 4: TEIL I - KAPITEL IV: Yuriy ------------------------------------- Der Schrei steckte noch halb in Yuriys Kehle, als er erwachte. Seine Hand zuckte aus Gewohnheit an seine linke Bettseite, dann ballte er sie zu einer Faust und drückte sie gegen seine Brust, in der sein Herz hämmerte. Augenblicklich war Nadeschda bei ihm und stemmte aufgeregt die Pfoten gegen den Bettrahmen, um ihm über das Gesicht zu lecken. Er atmete tief ein und aus, dann drückte er das Gesicht gegen ihr dichtes, silbrig-graues Fell, während die Geister von blutigen Erinnerungen durch seinen Kopf sausten. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder im Griff hatte, und selbst dann war an Schlaf nicht mehr zu denken. Selbst nachdem er beschwichtigend ihren Kopf gekrault hatte, blieb Nadeschda in wachsamer Haltung, als er die Beine aus dem Bett schwang und sich über das Gesicht rieb. Man hatte ihm als Wandermönch ein Kellion im Hodegonkloster zur Verfügung gestellt, worüber er nicht undankbar war. Im war bewusst, dass ein Grund dafür, dass man ihn nicht in einem der Schlafsäle einquartiert hatte, Nadeschda war, aber das war Yuriy nur mehr als recht. Sein Kellion lag am äußersten Rand der Klosteranlage in einem Trakt, der ansonsten unbewohnt war. Es war winzig, hatte nur einen kleinen Schlitz als Fenster, der Licht hereinließ und grobe, kalte Steinmauern, aber mehr brauchte er auch nicht. Im Endeffekt war es mehr, als er in den ganzen letzten Monaten gehabt hatte, in denen er meistens draußen geschlafen oder eine Nacht lang die Gastfreundschaft gläubiger Bauern angenommen hatte. Yuriy rieb sich erneut über das Gesicht. Es war früh, auch wenn das Klosterleben früh begann, und er konnte nichts hören außer seinem eigenen und Nadeschdas Atem. Er rieb sich das Knie, das seit einer schweren Verletzung vor einigen Jahren nie mehr das gleiche gewesen war und jetzt gerade morgens gerne Probleme machte, bevor er sich nicht aufgewärmt hatte. Daher war sein Schritt ein wenig hinkend, als er zu dem schlichten Holztisch in der Ecke ging, auf dem sich eine große Tonschüssel und ein mit Wasser gefüllter Tonkrug befanden. Er goss etwas von dem Wasser in die Schüssel und wusch sich das Gesicht, bis die Kälte in seinen Wangen brannte und endlich die letzten Reste seines Traums fortfegte. Mit einem tiefen Durchatmen schloss Yuriy einen Moment lang die Augen. Er hatte in der Nacht sein Unterhemd durchgeschwitzt, so sehr hatten die Dämonen ihn in ihrem Griff gehalten. Aber auch heute war die Sonne wieder über Konstantinopel aufgegangen, Moskau war weit, weit entfernt, getrennt von ihm durch Meer und Eis, und ein durchgeschwitztes Unterhemd war nichts, was ein Gang ins Wasser nicht wieder richten würde. Yuriy öffnete die Augen wieder, zog sich das Unterhemd über den Kopf und legte es zum Trocknen aus, ehe er nach Tunika und Sunnahose griff und sich anzog. Seine Haare waren schnell gebändigt. Als er das Band verknotete, war Nadeschda bereits auf den Beinen und schob sich erwartungsvoll zur Tür. Er erlaubte sich ein kleines Lächeln in ihre Richtung, öffnete die Tür und ließ sie hinaushuschen, um ihr zu folgen. Still wanderten sie hinaus, bis sie den Innenhof erreicht hatten. Nadeschda stieß mit der Schnauze sachte gegen seine Hüfte, dann trabte sie davon. Yuriy machte sich wenig Sorgen, dass sie wieder zu ihm finden würde. Nadeschda war scheu und klug genug, dass sie sich von anderen Menschen eher fernhielt und war von ihren Ausflügen bisher jedes Mal zu ihm zurückgekehrt. Die Morgensonne hatte das Kloster mit einem goldenen Schimmer versehen und es versprach jetzt schon, ein warmer Tag zu werden. Die ersten Gesichter waren bereits zu sehen, aber sie nahmen keine sonderliche Notiz von ihm. Er war ein Gast, kein Teil des Klosters, auch wenn er sich an dessen Regeln halten musste, solange er unter seinem Dach einkehrte. Das war durchaus zu verkraften. Er streckte sich einen Moment lang und sah in den weiten, blauen Himmel, während er hören konnte, dass einer der Mönche mit einem Hammer auf das klangvolle Chirosimandro zu schlagen begann. Der Rhythmus war hypnotisch. Während er in den Himmel blickte und die Glocken des Glockenturms sich mit dem Klangholz verbanden, um die Mönche zum Gottesdienst zu rufen, waren seine Gedanken bei einem Schlachtfeld, auf dem die Hufe seines Pferdes wie Paukenschläge über Leichen ritten und sich mit dem zerrissenen Geschrei von Sterbenden mischte. Seine Hand zuckte an seine Seite, die genauso leer war wie heute Morgen. Er verbiss sich einen Fluch, öffnete die Augen wieder und marschierte in die Kirche, um sich stillschweigend in einer der hinteren Reihen zu stellen, um am Morgengebet teilzunehmen. Gott war ihm heute nicht zugänglich; er spürte es, während der Gesang um ihn herum begann. Aber das war in Ordnung. Es war ein tägliches Ringen, ein tägliches Fragen, und er hatte noch lange nicht die Antworten bekommen, nach denen er suchte. Als Yuriy den Kopf hob, stellte er fest, dass Ivan neben ihm Platz gefunden hatte und ihn verschmitzt anblinzelte, als er Yuriys Blick bemerkte. Der Schreiber war einer der wenigen Mönche, mit denen er in engeren Kontakt gekommen war. Obwohl man für gewöhnlich achtzehn Jahre alt sein musste, um ins Kloster einzutreten, hatten seine Eltern, gläubige und vermögende Slawen, ihn der Kirche schon früher überantwortet. Der Grund war wohl, dass er kleinwüchsig und früher oft krank gewesen war. Niemand hatte gewusst, ob er lange leben würde, und so hatten sie es wie alle Leute gemacht und die Entscheidung über sein Leben Gott überlassen. Nun war er einer der begabtesten Schreiber des Hodegonklosters und konnte wohl besser lesen als die meisten Leute in Konstantinopel, Yuriy mit eingeschlossen. Unter Ivans sorgfältigen Händen und geübtem Blick entstanden die schönsten Handschriften von Byzanz, und er schien mit seinem Leben innerhalb der Klostermauern sehr zufrieden zu sein. Er zupfte ohne viel Scheu an Yuriys Ärmel, als sie die Kirche verließen und dem Speisesaal entgegenstrebten. Yuriy hatte immer schon eine Art gehabt, die andere Leute eher einschüchterte und auf Abstand gehen ließ, was in seinem früheren Leben sehr hilfreich gewesen war. Als Wandermönch nicht immer. So oder so schien Ivan wenig beeindruckt zu sein. „Hast du endlich mit den Fresken begonnen?“, fragte er ohne viele überleitenden Worte und zog dabei die dunklen Brauen in die Höhe. Yuriy blinzelte zu ihm hinab. „Nein. Ich befinde mich noch in der Planungsphase.“ „Wenn du dich nicht langsam ranhältst, fällt die Hagia Sophia in sich zusammen, bevor du nur einen Strich auf diese Wand bekommen hast“, prophezeite Ivan. „Fresken“, entgegnete Yuriy verärgert, „benötigen sorgfältige Planung. In eine Schlacht reitet man auch nicht ohne Taktik.“ „Eine geplante Schlacht, die nicht ausgeführt wird, ist ein Luftschloss“, sagte Ivan unbeeindruckt. „Ein Buch, das ich nur zu schreiben plane, ohne es zu schreiben, ist kein Buch.“ „Wahrlich, Bruder Ivan, Eure Weisheit kennt keine Grenzen“, sagte Yuriy trocken. „Meine Güte“, korrigierte Ivan, „meine Güte kennt keine Grenzen. Aber meine Weisheit wohl auch.“ „Und die Bescheidenheit. Die übrigens eine Tugend ist.“ „Das nehme ich sehr bescheiden zur Kenntnis“, sagte Ivan und fädelte es so ein, dass sie auch an einem der drei langen Tische im Speisesaal nebeneinander saßen. Es war vorgeschrieben, dass nur so lange gegessen werden durfte, wie einer der Mönche aus der Bibel vorlas. Glücklicherweise hatte man im Hodegonkloster einen Weg darum herum gefunden, indem man den fast blinden Mönch Nikolaios vorlesen ließ, der sehr schleppend vorlas und regelmäßige Pausen machte. Es wurde während dem Essen nicht gesprochen, was Yuriy durchaus gelegen kam. Wie zu jeder der beiden Tagesmahlzeiten, die Yuriy seit seiner Bekanntschaft mit Ivan im Kloster eingenommen hatte, überreichte dieser ihm seinen Anteil Brot. Er schaffte es irgendwie, dass Yuriy von Brot über Eintopf alles aß, was ihm zur Verfügung stand, ohne dass Yuriy nachher sagen konnte, wie er es gemacht hatte. Nach monatelanger Einsamkeit, die zu einem Großteil schweigend oder mit einem Wolfshund als Gesprächspartner verbracht worden war, brannten Ivans simple Gesten der Freundlichkeit in Yuriys Brust. Es war so eine unbedeutende Sache, aber er konnte fühlen, dass er dem Schreiber freundlich zugeneigt wurde und das war eigentlich etwas, das er hatte verhindern wollen. Er hatte bewusst keine Bande mehr aufbauen wollen, zu niemandem. Einen Moment lang dachte er an Boris und die letzten Worte, die er zu ihm gesagt hatte, und er hatte das Gefühl, dass ihm der Eintopf wieder hochkam. Er atmete tief durch, legte den Löffel beiseite und erhob sich, um hinauszugehen, bevor er etwas tun konnte, das er bereute. Es war kein Wunder, dass Ivan ihm auf dem Fuße folgte, genauso wie er wenig überrascht war, Nadeschda zu sehen, die in absehbarer Entfernung zur Tür des Speisesaals im Innenhof saß und sich die letzten Reste Blut von der weißen Schnauze leckte. Sie merkte auf, als sie Yuriy sah, kam aber nicht näher. Stattdessen begann sie mit dem Schwanz zu wedeln, als er herankam, Ivan im Schlepptau, der sie sofort hinter den Ohren kraulte. Der Schreiber hatte sich Nadeschdas Liebe sehr schnell gekauft, indem er es immer wieder irgendwie schaffte, für sie einen Knochen aus der Küche zu schmuggeln. Ivan war tatsächlich nicht zu unterschätzen. In einem anderen Leben wäre er ein großartiger Quartiermeister gewesen. Yuriy atmete aus und fragte sich, warum er heute so schwer von den Geistern der Erinnerung freikam. „Komm‘ heute Abend mit mir und Sergios einen trinken“, sagte Ivan, wie er es fast jeden zweiten Tag sagte. Den Schreiber verband eine gute Freundschaft mit dem Arzt, der das Hagios Samson, eines der größten Hospize in Konstantinopel, mit sicherer Hand leitete. Yuriy hatte ihn bisher trotz wiederholter Aufforderung nicht begleitet, aber Ivan war hartnäckig. „Wenn du mit der Hagia Sophia fertig bist. Von dort ist es ja nur ein Katzensprung in die Taverne.“ Yuriy öffnete den Mund zu einer weiteren Absage, dann hielt er aus einem Grund, der ihm selbst nicht ganz klar war, inne. Er musterte Ivan, der ihn erwartungsvoll ansah, dann fragte er: „Warum bemühst du dich so?“ Ivan zog die Augenbrauen hoch. „Weil du es nicht tust. Deswegen solltest du dich dankbar sein und mir heute Abend einen ausgeben.“ Yuriy konnte sich nicht helfen und drehte sich zu Nadeschda, um das Zucken seiner Mundwinkel zu verbergen. „Wir werden sehen.“ Er verließ mit schnellen Schritten gefolgt von Nadeschda das Kloster, ehe Ivan noch etwas erwidern konnte. Die Sonne brannte ihm im Nacken; er hatte seinen Hut vergessen und würde es scheinbar bereuen. Glücklicherweise war es nicht weit bis zu seinem Arbeitsplatz und der Vorteil der frühen Stunde war, dass ihm nicht viele entgegen kamen - jene, die es taten, waren zu beschäftigt mit anderen Dingen, um ihm sonderlich viel Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. So fanden er und Nadeschda still und unbehelligt ihren Weg durch die erwachende Stadt. Mit jedem Schritt entfernten sie sich vom Meeresrauschen, das einen im Kloster stets begleitete, und gelangten tiefer in die Geräuschkulisse von Stimmengewirr, rollenden Rädern und Hufgetrappel. Und irgendwo, außerhalb seines Blickfelds und doch nahe genug, dass sein Nacken davon prickelte, war jemand, der ihn beobachtete. Yuriy hatte keine Ahnung, wer das sein konnte. Er hatte sich bisher so unauffällig wie möglich verhalten und schloss die Stadtwachen aus. Aber er hatte die Anwesenheit schon am Abend zuvor gespürt. Für den Moment beschloss er, abzuwarten und nicht zu reagieren. Es war manchmal besser, auf der Hut zu sein und den Feind zu sich kommen zu lassen, statt blindlings auszuschlagen. Also setzte er seinen Weg ungerührt fort, bis die Pracht der Hagia Sophia in sein Sichtfeld kam. Stunden und Nächte hatte er in ihr verbracht und sich dennoch nicht satt gesehen. Wenn es Gott gab - wenn er ihn finden konnte -, dann war es hier. In der Hagia Sophia fand noch regulärer Gottesdienst statt, sodass er Nadeschda mit einem Blick und einer stummen Geste auf den Boden bedeutete, draußen auf ihn zu warten. Ohne Protest ließ Nadeschda sich verborgen hinter zwei Büschen auf dem staubigen Boden nieder und bettete den großen Kopf auf ihren Vorderpfoten, während Yuriy die Kirche betrat. Einen Moment lang blieb er stehen, der prachtvolle Marmorboden der Hagia Sophia unter seinen Fußen ausgebreitet, und lauschte, den Blick himmelwärts zur goldenen Kuppel gewandt, auf den tiefen, volltönenden Gesang, der die Wände durchdrang. Er sah in die blendenden Fenster aus Sonnenlicht, das hereinfiel und die verschlungenen Muster der Säulen aufleuchten ließ, und er dachte an Boris und seine Stimme, die ihn immer aus dem Dunkel ins Licht hatte bringen können, wenn sonst nichts mehr funktioniert hatte. Die Kehle wurde Yuriy eng und er schloss die Augen. Mit den Wänden verschmelzen, dachte er sinnlos, das eigene menschliche Herz in Gottes Hand auflösen und nichts wissen von Fehltritten und Schuld. Vielleicht gab es nirgendwo auf dieser Welt noch Platz für ihn. Er wandte sich ab, entfernte sich von den Gläubigen und ging mit dumpfen Schritten zu der Wand, mit der er Buße tun wollte. Mittlerweile hatte man ein stabiles Gerüst aufgestellt, mit dem er später würde arbeiten können. Yuriy fand wieder Ruhe und Gleichgewicht in der Betrachtung des Holztisches, den man ebenfalls aufgestellt hatte, und die langen, beschichteten Leinenplanen, die noch zusammengerollt ihrer Arbeit als Abdeckung harrten. Man hatte versichert, dass die Materialien spätestens heute in die Hagia Sophia gebracht werden würden und tatsächlich befanden sich einige der gröberen Utensilien bereits auf und um den Tisch herum. Er trat heran, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und blätterte durch die Stöße an Papier, die man ihm für Skizzen bereitgestellt hatte. Die Bögen waren nach einem recht neuen Verfahren hergestellt worden, das man vor etwa zehn Jahren in der italienischen Stadt Fabriano entwickelt hatte. Yuriy musste zugeben, dass dieses Papier wesentlich billiger und leichter handzuhaben war als Pergament, auch wenn man zumindest im Hagionkloster immer noch viel auf Pergament zurückgriff. In der Ferne endete der Gottesdienst, aber er achtete nicht sonderlich darauf, zu vertieft darin, seine Materialien zu sortieren und nachzusehen, was noch fehlte. Die Pigmente natürlich, auch wenn das Leinöl schon bereitstand. Er musterte es einen Moment lang und debattierte, ob er für die Ölskizzen auch nach Sonnenblumenöl verlangen sollte, das die Farben weniger nachdunkeln ließ. „Meister Iwanov!“ Yuriy blickte auf. Ein junger Mann stand vor ihm, gekleidet nach der Art der wohlhabenden Oberschicht. Er trug eine lange weiße Tunika und darüber eine Dalmatik aus blauer Seide. Die Chlamys, die an seiner rechten Schulter mit einer goldenen Fibel in der Form eines Pegasus zusammengehalten wurde, strahlte in einem satten Dunkelgrün. Er hatte das braune Haar, das in einem verirrten Sonnenstrahl einen rötlichen Schimmer besaß, im Nacken mit einer grünen Schleife zusammengebunden. Seine Gesichtszüge waren weich genug, dass sie auf ein junges Alter schließen ließen, vielleicht gerade erst in den Stand eines vollständig handlungsberechtigten Bürgers erhoben. So farbenfroh seine Kleidung war, am meisten stachen die intensiven grünen Augen hervor. Als er Yuriys Aufmerksamkeit hatte, verneigte er sich. Bei der Bewegung polterte beinahe ein großer Sack von seinen Schultern, doch der Fremde konnte ihn gerade noch vor einem Absturz bewahren. „Seid gegrüßt, Meister Iwanov“, sagte er forsch. Yuriy bildete sich ein, einen feinen Akzent in seinem Griechisch auszumachen, aber er war nicht sicher. Boris war in diesen Angelegenheiten immer wesentlich treffsicherer gewesen. „Mein Name ist Raulus. Ich werde Euch bei Eurer Arbeit zur Hand gehen.“ Yuriy blinzelte. Dann blickte er sich einen Moment lang um, als ob sogleich jemand hinter einer Säule hervorspringen und das Ganze für einen Witz erklären würde. Als nichts dergleichen geschah, blickte er wieder zu dem Jungen vor sich. „Hoffentlich nehmt Ihr es mir nicht übel, wenn ich Euch sagte, dass Ihr nicht unbedingt wie ein Malergehilfe gekleidet seid.“ Raulus zuckte nicht mit der Wimper. Er hatte sehr lange Wimpern. Da war eine gewisse Schärfe in seinen Augen und seinen hohen Wangenknochen, die ihm die Weichheit nahmen, aber seine Lippen waren dennoch in einem perfekten Amorbogen geformt, der sich nun bewegte, als er sagte: „Es ist eine Ehre, an der Verschönerung der Hagia Sophia teilzunehmen.“ Yuriy erkannte eine hohle Floskel, wenn man sie ihm entgegen warf. Aber er zwang sich, den Jungen nicht unter Druck zu setzen, bis er ihm alles verriet, was ihn hierher gebracht hatte. Menschen hatten ihre Geheimnisse und er hatte keine mehr zu hüten und keine mehr herauszufinden. Er hatte nur zu malen und wenn der Junge ihm dabei assistieren wollte, sollte es ihm recht sein. Wenn er sich als unfähiger Bengel mit weichen Händen erwies, konnte er ihn immer noch zum Teufel jagen. Er nickte auf den Sack, den Raulus mit sich führte. „Bringt Ihr die restlichen Utensilien? Es muss heute mit den Ölskizzen begonnen werden, wir brauchen Pigmente.“ Etwas in Raulus‘ Schultern entspannten sich kaum merklich, als ob er bis zuletzt damit gerechnet hatte, dass Yuriy ihn sofort ablehnen würde. Einen Moment lang verengte Yuriy die Augen, ohne sich davon abhalten zu können, dann wurde seine Aufmerksamkeit davon abgelenkt, dass Raulus nickte. Er war immerhin weise genug, den Inhalt nicht einfach auf den Tisch zu kippen, sondern den Sack darauf abzustellen, um der Reihe nach drei oder vier sorgsam verschlossene Kisten in variierenden Größen hervorzuholen und auf der Holzfläche aufzureihen. Yuriy öffnete eine davon und atmete aus, als ihm eine Reihe kleiner Glasfläschchen entgegensah, die sorgfältig beschriftet worden waren und diverse Farbpigmente enthielten. Vorsichtig hob er eines der Fläschchen heraus und hielt es ins Licht. Die Knie wurden ihm weich - Kobaltblau, eine so teure Farbe, dass man sie in ganz Rus nur schwerlich bekam. Und hier war nicht nur eine davon, wie er nach einem Blick in das Kistchen feststellte, sondern gleich mehrere. Byzanz kleckerte nicht, wenn es um die Hagia Sophia ging, sondern es klotzte, aber Yuriy würde sich wahrlich als Letzter darüber beschweren. Er hob den Kopf. „Habt Ihr bereits mit Ölfarben gearbeitet oder hat man mir einen blutigen Anfänger zur Hand gegeben?“ Raulus‘ grüne Augen blitzten vor Empörung. Da hatte jemand ein Temperament, stellte Yuriy fest, aber das war ihm ganz gleich; er konnte auch eines besitzen, wenn man ihn reizte. Er hob eine Augenbraue, als Raulus erneut in den Sack griff und ihm ein zusammengeschnürtes Bündel aus Pergament und Papier reichte. „Ich bin kein blutiger Anfänger“, sagte er gepresst, während Yuriys lange Finger rasch den Bindfaden aufknoteten und durch die Blätter raschelten - Skizzen, stellte er rasch fest, Skizzen aus Kohle und aus Öl. Sie waren an gewissen Stellen noch rau, als ob der Maler zu ungeduldig für eine ordentliche Beendigung gewesen war, und Yuriy machte sogleich einige handwerkliche Makel aus, die ausgemerzt gehörten. Aber die Strichführung war kräftig und sicher, der Umgang mit den Ölfarben und ihre Mischung eindeutig kundig. Er legte das Bündel auf den Tisch und musterte erneut Raulus‘ Gewandung, dann schüttelte er den Kopf. „So fasst Ihr mir hier nichts an“, erklärte er ruhig, „wir brauchen Schürzen. Lauft los und gebt welche bei der nächsten Näherin in Auftrag. Wenn Ihr wieder zurück seid, dann werden wir mit den Vorskizzen zu den Skizzen beginnen.“ „Vorskizzen zu den Skizzen?“, wiederholte Raulus, „Ist das nicht absolut umständlich? Sollten wir nicht gleich zu den Ölskizzen übergehen?“ Yuriy hob eine Augenbraue. „Sagt mir, Raulus, habe ich gestottert?“ Raulus blinzelte. „...Nein?“ „Nun“, sagte Yuriy mit einem zähnefletschenden Lächeln, „wieso seid Ihr dann noch nicht unterwegs? Ich dachte, Ihr wollt malen. Stattdessen verschwendet Ihr nur Zeit - meine ebenso wie Eure.“ Er konnte deutlich sehen, wie Raulus den Mund zu einer erbosten Antwort öffnete und es sich dann gerade noch so anders überlegte, um stattdessen mit einem knappen Kopfnicken am Absatz kehrtzumachen und in wenig angemessenem Tempo aus der Hagia Sophia zu stürmen. Yuriy blickte ihm hinterher, während die Schritte des jungen Mannes durch die hohen Gänge hallten, bis er schließlich im Sonnenlicht verschwand. Das, stellte er stillschweigend fest, versprach noch interessant zu werden. Kapitel 5: TEIL I - KAPITEL V: Iulia ------------------------------------ „Der Mann ist ein Wahnsinniger“, beschwerte Iulia sich vier Nächte später und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Das Bett, auf dem sie lag, war im Gegensatz zu den daunengefüllten Kissen und Matratzen, die sie gewohnt war, simpel an der Grenze zur Unbequemlichkeit. Aber ihre Gesellschaft hatte sie bisher genügend von diesem Umstand abgehalten und man gewöhnte sich daran. „Er schlägt mir jedes Mal auf die Finger, wenn ich den Stift falsch setze und gestern hat er mich eine Zeichnung vierzehn Mal machen lassen, weil ihm der Armwinkel nicht gepasst hat. Vierzehn Mal! Die komplette Zeichnung!“ „Ich habe keine Ahnung, ob das exzessiv ist oder nicht“, erwiderte Emilia geistesabwesend. Das flackernde Kerzenlicht des Leuchters, der neben ihr am Schreibtisch stand, ließ ihr offenes, unbedecktes Haar fast kupfern wirken und zeichnete Schatten über ihre milchige Haut. Der Schleier lag am Boden neben dem Bett ihres Kellions im letzten Winkel des Klosters der heiligen Theodora. Er war das erste gewesen, was Iulia ihr abgenommen hatte, nachdem die Geheimgänge des Klosters, die nur noch einige wenige kannten, sie vor einigen Stunden sicher hierher gebracht hatten. Iulia stützte sich auf und betrachtete Emilias über den Schreibtisch gebeugte Gestalt. Es war ein Bild, das es wert gewesen wäre, festgehalten zu werden, und gleichzeitig war es eines, das den Raum ihrer Erinnerung niemals verlassen und Form annehmen durfte. „Es ist reine Schikane“, erklärte sie, „es hätte gereicht, mich den Arm neu zeichnen zu lassen, aber er meinte, dass der Lerneffekt so nicht groß genug wäre und ich mich nicht so anstellen solle.“ Sie bildete sich ein, ein Schmunzeln über das Gesicht ihrer Geliebten huschen zu sehen, aber es war von ihrer Position aus schwer zu bestätigen. Dennoch zog sie empört die Augenbrauen zusammen. „Machst du dich lustig über mich? Du sollst mich bemitleiden!“ „Du wolltest malen und lernen“, merkte Emilia an, ließ den Federkiel sinken, den sie gerade in die Tinte hatte tauchen wollen, und drehte sich etwas mehr zu ihr, um sie anzusehen. „Nun tust du beides. Es gibt für alles einen Preis zu bezahlen.“ Wie unnachgiebig sie war, stellte Iulia fest. Aber sie wusste ja, dass Emilia Recht hatte - Frauen wie sie wussten immer, dass alles im Leben seinen Preis hatte, am meisten von allen die Freiheit. Was sie miteinander hatten, konnte sie den Kopf kosten, wenn man sie entdeckte. Und was Iulia tat, wenn sie in Raulus‘ Haut schlüpfte und durch die Stadt streifte, ebenfalls. Aber alles davon war die Gefahr und den Preis so, so wert. Sie konnte sich kein anderes Leben vorstellen und sie wollte es auskosten, solange sie konnte. „Wenn du mich schon nicht bemitleidest“, sagte sie, „komm zurück ins Bett zu mir.“ „Ich muss diesen Brief noch fertig schreiben“, erwiderte Emilia kurz. Iulia blickte himmelwärts und fragte sich einen Moment lang, warum sie sich nicht eine sanftere Frau ins Bett hatte holen können. Aber Emilia hatte etwas an sich, das instinktiv zu ihr gesprochen hatte und es immer noch tat. Sie verstanden sich, erkannten einander auf einer instinktiven Ebene, die man nicht oft mit Menschen erreichte. Letzten Endes kümmerte Venus sich nicht darum, welche Personen Liebe und Leidenschaft in einem auslösten. Und Venus war in Iulias Augen greifbarer, vorstellbarer als ein Gott, der Menschen nicht gleich zu behandeln schien und verlangte, dass man ihn liebte, nur ihn, und dass die Menschen Leidenschaft wenn überhaupt, dann nur in der Ehe finden sollten. Ja, die Welt war vielleicht besser daran gewesen, als Rom noch mächtig gewesen war und die alten Gottheiten verehrt worden waren. Das einzige, was das Christentum ermöglicht hatte, war die Möglichkeit zu Macht für Frauen in seinem Dienst, und auch das war nichts anderes als die Priesterinnen der alten Zeit. Deswegen gab Iulia sich nach außen hin als gute Christin und war auch getauft, wie es sich gehörte, aber insgeheim hing sie den alten Gottheiten an. Iulia schüttelte die Gedanken ab und erhob sich, um auf nackten Füßen über den kalten Boden zu gehen und sich von hinten an Emilia zu schmiegen. Ihr Blick fiel auf die Zeilen des Briefes, den Emilia gerade schrieb, und sie hob erstaunt die Augenbrauen. „Was hast du mit General Michalis zu tun?“ General Michalis leitete eines der größten Bataillone des byzantinischen Heers. Er hatte eine vorlaute Persönlichkeit und viel Einfluss innerhalb des Militärs, womit er auch einigen Einfluss bei Hof hatte. Von Romulus wusste Iulia, dass er damals Takaos bei der Übernahme der Stadt maßgeblich assistiert hatte und dementsprechend immer noch oft und gerne vom Kaiser zu Beratungen herangezogen wurde. Emilia runzelte unmutig die Stirn und schob ein leeres Blatt Papier über den Brief, um sie am Weiterlesen zu hindern. „Nichts Besonderes.“ Iulia starrte sie an und fragte sich, ob Emilia sie wirklich für so dämlich hielt. Doch nein: Emilia war immer eine der wenigen gewesen, die sie nie unterschätzt hatten. Das hier war einfach nur eine klassische Situation, in der sie keine Antwort geben wollte. Iulia atmete tief durch, dann legte sie die Hände auf Emilias Schultern und drückte einen Kuss auf ihren Scheitel. „Gibst du mir Bescheid, wenn du die Weltherrschaft planst?“ „Natürlich“, sagte Emilia mit samtiger Stimme. Eine ihrer Hände legte sich auf Iulias, dann erhob sie sich von ihrem Stuhl und strich über ihre Wange. Iulia atmete aus, grub die Hände in kupfernes Haar und küsste das Kerzenflackern auf Emilias sommersprossigen Schultern, küsste ihren Hals, die weiche Stelle unter ihrem Ohr, das Ohrläppchen, Schläfe und kupferne Braue, bis Emilia erschauerte und die Finger in Iulias Hüften grub. „Du musst gehen“, murmelte sie gegen Iulias Lippen und konnte dann doch nicht widerstehen, sachte in ihre Unterlippe zu beißen, dann eine Hand in ihren Nacken zu legen und sie in einen tiefen Kuss zu sehen. Iulias Herz schlug schmerzhaft fest gegen ihre Rippen, während ihre Hände über Emilias Schultern und Arme wanderten, über die Schwellung ihrer Brüste und hinab zu ihren Hüften, zwischen ihre Beine. Kein Mann war jemals dort gewesen, wo Iulias Finger nun hinglitten und Emilia ein Keuchen entlockten. Der Gedanke war verlockender als vieles andere. „Bald“, wisperte Iulia und zog sie mit sich zum Bett zurück. „Irgendwann“, murmelte Emilia gegen ihre Lippen, grub die Fingernägel in ihre Schultern, bis es fast wehtat und drückte sie gegen die dünne Matratze, „irgendwann werde ich dich bei mir behalten können, bis der Morgen graut. Irgendwann werden wir nebeneinander aufwachen können, und ich werde dich neben mir im Sonnenlicht sehen.“ „Wann?“, fragte Iulia und wölbte ihr die Hüften entgegen, keuchte auf und hielt sich an Emilias kupfernen Locken fest, als diese ihre Lippen einen Moment lang um Iulias Brustwarze schloss und mit sanftem Saugen die Zunge darum spielen ließ. Da war ein heftiges Sehnen in Iulia, das an ihr zog vom Bauch bis zum Herz, ein Sehnen nach Leben und Atem und Freiheit, ein Sehnen nach den Dingen, die Emilia beschrieb und mehr. „Bald“, wisperte Emilia und ließ ihren Mund zwischen Iulias Beine sinken. Es war noch dunkel, als Iulia durch die gleichen geheimen Korridore, die sie zu Emilia gebracht hatten, wieder aus dem Kloster entkam. Sie hatte die Kapuze ihres Mantels tief über das Gesicht gezogen und versuchte, sich in den Schatten zu halten. Bis die Sonne aufging dauerte es noch ein paar Stunden und Konstantinopel war wie ausgestorben, was ihr nur recht war. Mit schnellen Schritten ließ sie die Straßen der Stadt zurück. Das Kloster der heiligen Theodora lag auf halber Höhe am fünften Hügel, womit der Weg heim zumindest nicht so weit war. Zu ihrer Linken ragte die Theodosianische Mauer auf, die das westliche Ende von Konstantinopel markierte und die Stadt durch ein doppeltes Mauersystem von einem Einfall auf der Landseite sicherte. Man glaubte, dass sie unter dem direkten Schutz der heiligen Jungfrau Maria standen, die die byzantinische Bevölkerung vor Überfällen sicherte. Und tatsächlich war die Stadt bisher noch nie eingenommen worden, wenn es nicht durch Verrat geschehen war. Ein paar Spätzügler und Betrunkene kamen Iulia entgegen, als sie den Fuß des Berges erreichte und in die Wohngebiete eintauchte. Sie ging sicher, den Kopf gesenkt zu halten und die Kapuze tief in die Stirn zu ziehen, als sie an den Tavernen, die gerade die letzten Gäste zur Tür hinauswarfen, und den Prostituierten, die noch ein Geschäft bei nicht mehr ganz zurechnungsfähigen Trinkern zu machen versuchten, vorbei eilte. Eine davon sprach auch Iulia an, ihr rot geschminkter Mund grell in dem flackernden Licht der Fackeln, die die großen Straßen erhellte. Sie machte eine abwehrende Geste und ging weiter, die rüden Worte der Prostituierten ignorierend, die ihr hinterher gerufen wurden. Hier, in den Vierteln unmittelbar um das Blachernen-Viertel, in dem sie lebte, war alles ein bisschen blank geputzter als in den meisten anderen Vierteln außer dem Palastviertel. Das schloss auch die Prostituierten und Tavernen ein. Der Tag war lang gewesen und die Nacht nicht sehr viel kürzer. Nun, als ihr Haus in Sichtweite kam, spürte sie die Müdigkeit, die sich wie eine unsichtbare Decke auf ihre Schultern gelegt hatte. Sie blickte sich prüfend um, dann, als keine Beobachter sichtbar waren, glitt sie zur Rückseite ihres Hauses. Die Tür zu den Dienstbotenquartieren war offen; sie schlüpfte durch und huschte auf leisen Sohlen durch die Culina. Sie hielt den Atem an und lauschte, ob aus den angrenzenden Cubicula, wo die Dienstboten schliefen, irgendwelche Geräusche drangen. Aber es dauerte noch eine Weile, bis der Hausalltag aufgenommen wurde und so war es noch still. Erleichtert huschte sie weiter den Gang entlang bis zum Peristylium. Fahles Mondlicht filterte durch die offene Säulenhalle, die den wohlgepflegten Innengarten umgab. Iulia durchquerte sie rasch, um zu den Cubicula zu gelangen, die dem Hausherren und seiner Familie vorbehalten war. Das Haus war während der Herrschaft der Lateiner nach römischem Vorbild erbaut worden und das war Iulia nur recht, denn es hatte die Eingewöhnung in der Stadt zumindest einfacher gemacht. Sie hielt inne, als sie das leichte Gequängel eines Kleinkinds aus dem kleineren der beiden herrschaftlichen Cubicula hörte. Ein Stich des schlechten Gewissens durchdrang sie; das war jene ihrer Pflichten, die sie am meisten vernachlässigte. Sie biss sich auf die Lippen, debattierte einen Moment lang schweigend mit sich selbst und schlug dann die Kapuze zurück, um in das Cubiculum zu treten. Salima, die Amme von Iulias Sohn Bellerophon, blickte mit müdem Blick auf. Sie hatte den kräftigen Knaben, der vor drei Monaten seinen ersten Geburtstag gefeiert hatte, in den Armen und schaffte es dennoch, eine Verneigung vor der Hausherrin anzudeuten. Iulia wusste wirklich nicht, wo sie ohne die Dienstbotin wäre; die Frau war gutherzig und verschwiegen, und dankbar darum, dass sie in einem Haushalt arbeitete, wo sie stillschweigend ihre Religion ausüben konnte. Sowohl Romulus als auch Iulia blickten demonstrativ in die andere Richtung, solange ihre Dienstboten sich den byzantinischen Regeln anpassten, wann immer es die Öffentlichkeit betraf. Persönlich sah Iulia kaum einen Unterschied darin, ob man einen Schleier für Allah oder für den christlichen Gott trug. Und im Gegenzug zu ihrem Toleranz schwieg Salima über das Kommen und Gehen ihrer Hausherrin und kümmerte sich fast rund um die Uhr um den Erben des Hausherren. Ohne Salima hätte Iulia keine Chance gehabt, ihr Leben so zu führen, wie sie es führte. „Er bekommt Zähne“, erklärte sie nun und wirkte ein wenig erleichtert, als Iulia die Arme nach ihrem Sohn ausstreckte. „Daher sind die Nächte momentan unruhig.“ Iulia summte und glitt mit den Fingern durch Bellerophons wilde dunkle Locken, die sie immer an Raulus in seinen Kindheitstagen erinnerten. Bellerophon hatte Romulus‘ dunkle Augen und ihre Haare; wem er später ähnlicher sehen würde konnte sie nicht sagen. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen waren kleine Kinder für sie immer mindestens bis zum vierten oder fünften Jahr undefinierbar in ihren Gesichtszügen. In ihren Augen war es ungerechtfertigt, solche Beobachtungen an einem Kleinkind anzustellen, das gerade einmal erste Spuren einer Persönlichkeit zeigte. Aber er war grundsätzlich ein gesundes, fröhliches Kind, das wenig Schwierigkeiten machte, obwohl er sie bei seiner Geburt beinahe umgebracht hatte. Die Monate nach der Geburt waren schwer gewesen. Sie hatte keinen Bezug zu diesem Kind gefunden, das ihres war, und fürchtete insgeheim, dass es immer noch so war, auch wenn sie sich immer wieder darum bemühte. Sie hatte keine Ahnung, ob ihr Sohn überhaupt erkannte, dass sie seine Mutter war, oder ob er sie auch nur entfernt mochte. Im Grunde ihres Herzens dachte Iulia, dass sie niemals hätte Mutter werden sollen. Aber das war, was man von einer Ehefrau erwartete, und die von ihr geführte Ehe war ein gegenseitiges Geben und Nehmen. In dieser Hinsicht hatte sie es noch sehr gut getroffen. Und immerhin war gleich das erste Kind ein gesunder Sohn gewesen. „Dein Mann arbeitet mit Holz, nicht wahr?“, fragte sie schließlich. Als Salima mit einem Nicken bejahte, bat sie: „Lass ihn ein paar Beißringe anfertigen. Ich zähle dir das Geld dafür aus.“ „Natürlich, domina“, erwiderte Salima erfreut lächelnd. Sie blickte auf, als eine Gestalt im Türrahmen erschien, die sie eine rasche Verneigung machen ließ. Die Bewegung veranlasste Iulia, sich umzudrehen. Romulus stand dort mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck, der sich deutlich erweichte, als er Bellerophon in Iulias Armen sah. Er war immer noch ein gutaussehender Mann, auch wenn er fast fünfzehn Jahre älter als Iulia war und erst unlängst seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Da war schon leichtes Grau in seinen Haaren, aber man sah es in den blonden Wellen kaum und seine Schultern waren immer noch breit und kräftig. Es war kein Wunder, dass die meisten Dienstmägde und auch einige der höherstehenden Frauen von Konstantinopel regelmäßig seinem Charme verfielen. „Lass uns allein“, wies er Salima an, woraufhin diese sich mit einem Blick zu Iulia erneut verneigte und lautlos aus dem Raum glitt. Zweifellos würde sie irgendwo in der Nähe warten, bis Iulia sie erneut rief. Iulia blickte ihren Mann unverwandt an, während sie hören konnte, dass der Haushalt langsam erwachte und an die Arbeit ging. Nicht mehr lange und die Sonne würde Konstantinopel in Gold tauchen. Schließlich stieß Romulus einen tiefen Seufzer aus und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wo warst du?“ Iulia zog ihre Augenbraue in die Höhe und festigte ihren Griff um Bellerophon, der drohte, sich aus ihren Armen zu winden. „Du fragst mich doch sonst nie. Ich dachte, wir hatten eine Vereinbarung.“ Romulus nickte langsam. „Ja. Aber du bist heute viel zu spät dran. Wir haben darüber gesprochen, Iulia, du musst vorsichtig sein. Ich lasse mir vieles gefallen, aber ich kann dich nur bitten, um Himmels Willen diskret zu sein - in meinem und in deinem Sinn.“ Iulia zog die Augenbrauen zusammen und atmete tief durch, während sie Bellerophon ein wenig mehr an sich drückte. Der Knabe war in diesem Moment gleichermaßen Belastung wie Anker. „Ich bin vorsichtig und es ist alles gut gegangen.“ „Heute ja. Aber du kannst dir keine Fehler erlauben.“ Romulus sah sie eindringlich an. „Nicht einen einzigen, Iulia. Du balancierst auf einem dünnen Hochseil und ein falscher Tritt kann dir das Genick brechen. Und mich Ehefrau und Ruf kosten. Wenn die Öffentlichkeit herausfindet, was du treibst, dann werde ich gezwungen sein, zu handeln und das will ich vermeiden.“ Er atmete tief durch. Iulia atmete ebenfalls tief durch. Bellerophon wurde langsam ruhiger und legte den Kopf an ihre Schulter. „Ich weiß“, sagte sie schließlich angespannt, weil sie wusste, dass Romulus einen Punkt hatte - und weil sie wusste, dass sie dankbar dafür sein musste, dass er mit ihr kooperierte, ihr dieses Leben überhaupt erst möglich machte. Er war ein guter Mann und manchmal erinnerte sie sich noch deutlich daran, warum sie einmal geglaubt hatte, wirklich verliebt in ihn zu sein. Auch wenn sie eigentlich nur jung und verliebt in das, was er ihr bieten konnte, gewesen war. Das hieß nicht, dass zwischen ihnen keine freundschaftlichen Gefühle bestanden. Sie waren immer schonungslos ehrlich miteinander gewesen, was ihre Bedürfnisse und Wünsche betraf, und das hatte ihnen immer gut getan - vermutlich besser als so mancher Ehe in dieser und anderen Städten. Besonders, weil Romulus sie immer als Person gesehen hatte, vielleicht ein wenig als Trophäe, aber nie als reines Besitzobjekt, das keine Wünsche zu haben hatte, als ihm zu Willen zu sein. Sie hob den Kopf und sah ihn an. „Bereust du es, mich geheiratet zu haben?“ Er blickte geradezu überrascht drein. Dann schüttelte er den Kopf und trat weiter in das Cubiculum, bis er vor ihr stand und eine Hand an ihre Wange legen konnte. „Nie. Ohne dir wäre mir bestimmt langweiliger - und ich schätze es genauso sehr, dass ich meine Freiheiten habe, ohne eine Furie in meinen eigenen Wänden fürchten zu müssen.“ Er grinste flüchtig, sodass Iulia nicht anders konnte, als das Grinsen zu erwidern. Sie sahen sich einen langen Moment an, dann atmete Iulia langsam aus, als er mit der Unterseite seines Daumens ihren Mundwinkel streichelte. Sie musste an Emilias Lippen denken, die sie noch vor wenigen Stunden gekostet hatte und immer nur in der Dunkelheit haben konnte. Aber Iulias Gottheit war immer schon der zweigesichtige Janus gewesen, Herr über die Schwellen, Herr über Anfang und Ende, Gott der ewigen Dualitäten. Sie war es gewohnt, ihren Platz zwischen Tag und Nacht, männlich und weiblich zu schaffen. Es war das Leben, das sie sich ausgesucht hatte - und es war nicht das einfachste oder ungefährlichste, aber Iulia wollte weder einfach noch ungefährlich leben. Sie wollte brennen, wieder und wieder, bis sie sich mit jeder Faser spürte. Sie wollte am Ende ihres Lebens sagen können, dass sie da gewesen war und einen Namen gehabt hatte. Und wenn das bedeutete, dass sie auf einem Hochseil balancieren musste, dann würde sie lernen, verdammt noch einmal darauf zu tanzen. Kapitel 6: TEIL I - KAPITEL VI: Kai ----------------------------------- Der Maler ließ Kai keine Ruhe. Er konnte nicht einmal genau sagen, woran es lag. Da war etwas an dem Mann, in seinen Augen, das ihn wie ein Blitz durchfahren hatte, als er ihn das erste Mal aus den Ästen des Baums heraus auf der Palastterrasse beobachtet hatte. Es machte ihn wahnsinnig. Die blauen Augen verfolgten ihn bis in seine Träume. Er war sich stillschweigend bewusst, dass es nicht nur daran lag, dass er nach wie vor das starke Gefühl hatte, dass der Maler kein Wandermönch war - dass das Malen und das angelegte Mönchsgewand nur Masken waren, hinter denen sich ein Wolf verbarg, dessen Motive noch unklar waren. Kai hatte sich zu früheren Zeiten schon zu Männern hingezogen gefühlt, die eine gewisse Stärke demonstriert hatten. Hier jedoch, fern von der Heimat, zu der ihm eine Rückkehr für immer verwehrt war, und mit einem Leben, das nicht seines war und das er schützen musste, durfte er sich eine solche Faszination eigentlich nicht leisten. Und doch. Und doch. Er schreckte aus seinen Grübeleien auf, als eine Stimme neben ihm mit freundlichem Amüsement sagte: „Du bist heute sehr geistesabwesend, Kai.“ Da war ein Funkeln in Maxims Augen, das Kai das Gesicht zu einem gequälten Lächeln verziehen ließ. Sie waren keine Freunde und konnten es auch nie sein, denn Maxim war der Patriarch von Konstantinopel und Kai war ein ungetaufter Heide, der nicht einsah, wieso er sich auch nur zum Schein zu einem Gott bekennen musste, an den er nicht glaubte. Der ganze Pomp, die aufgebauschten Gottesdienste und das ständige Gebete zu einem einzigen Gott, der beanspruchte, alles zu sein und dennoch einen Sohn hatte oder auch nicht irritierten ihn eher, als dass er irgendeine Spiritualität darin fand. Es war fast schade, denn Kai hätte Maxim unter anderen Umständen sicherlich gemocht und tat sich auch jetzt sehr schwer damit, sich von ihm zu distanzieren. Das mochte an der Art des Geistlichen liegen, die ihm gegenüber weiterhin freundlich und nur selten bevormundend war. Außerdem war Maxim ein kluger Kopf, der seine scharfe Auffassungsgabe gerne hinter seinem Lächeln verbarg. Er war sicher nicht umsonst bereits in so jungen Jahren zum Patriarchen von Konstantinopel gemacht worden, und Kai wollte eigentlich gar nicht so genau wissen, was er aufgeführt hatte, um sich diese Position zu sichern. „Meine Geistesabwesenheit wird nicht wieder vorkommen.“ Er bemühte sich, eine etwas aufrechtere Haltung anzunehmen. Die Tür, an deren Rahmen er lehnte, war fest verschlossen. Dahinter befand sich der Saal des Großen Palasts, in dem Takaos gerade eine Besprechung mit dem Kanikleios Manabos, der gleichzeitig den Posten des Mesazon innehatte, und dem Megas Logothetes Rei, der Takaos in wichtigen diplomatischen Außengelegenheiten beriet, genau wie einigen anderen wichtigen Hofbeamten, mit denen Takaos seine Strategie bezüglich der Bulgaren plante. Kai war der Zutritt zu dieser Besprechung verwehrt, aber das hielt ihn nicht davon ab, seine Runden um den Saal zu ziehen und zu beobachten, nur für den Fall. Es war ein wenig überraschend, den Patriarchen hier zu sehen, aber dann wiederum auch wieder nicht allzu ungewöhnlich. Maxim lächelte. Er musterte ihn einen Moment, schien zu einer Bemerkung anzusetzen und es sich dann mit einem Kopfschütteln anders zu überlegen. „Es ist gut, wenn du auf den Basileus achtest“, sagte er stattdessen nur milde. Kai erwiderte nichts. Stattdessen deutete er nur eine stumme Verbeugung an und sah dem Patriarchen nach, als er nur über Kais mangelnde Reaktion zwischen den Wachen durch die Tür des Besprechungssaals glitt. Zu warten war eine undankbare Aufgabe; Kai kam dem unruhigen Gefühl in seinen Gliedern bei, indem er sich in Bewegung setzte und erneut durch die unmittelbar herumliegenden Gänge, öffentliche wie geheime, glitt und nach potentiellen Gefahren Ausschau hielt. Mittlerweile traute er sich zu, dass er den Großen Palast wie auch den Blachernen-Palast so gut kannte wie kaum ein anderer. Er hatte sich intim mit den Gebäuden vertraut gemacht, in denen der Kaiser sich am meisten aufhielt, um über alle möglichen Ein- und Ausgänge Bescheid zu wissen. Das hatte Takaos beim letzten Attentat das Leben gerettet. Heute schien er Glück zu haben. Gerade, als er seine ausführliche Runde beendet hatte und wieder zum Haupteingang des Saals gekommen war, öffneten sich die Türen desselben und entließen Takaos‘ Berater. Manabos nickte Kai zerstreut zu. Er war ein eher dünner, kleiner Mann mit braunem Haar und Brillen, die dick genug waren, um seine Augen komisch zu verkleinern, aber er trug das kaiserliche Tintenfass in Form eines Hundes, mit dessen purpurner Tinte der Kaiser die Erlasse zu unterzeichnen pflegte, mit allerhöchster Vorsicht. Er war ein intelligenter, besonnener Kopf, der Takaos bereits öfter gute Ratschläge erteilt hatte. Dass er zwei der wichtigsten Ämter neben Kaiser und Patriarch zugleich besetzte war in Kais Augen kein schlechter Schachzug. Er wusste, dass Hyromia sich sehr für ihn eingesetzt hatte und es bewies ihr gutes Gespür für andere Leute. Wenn es jemanden in Takaos‘ unmittelbarem Umfeld gab, den Kai für mehr oder weniger ungefährlich hielt, dann war es Manabos. Er blickte ihm prüfend nach, als der Mesazon davoneilte, ohne nach links und rechts zu sehen - vermutlich schnurstracks in die großzügige Bibliothek von Konstantinopel. Hinter ihm kam Rei aus dem Saal, mit dem Kai wesentlich kompliziertere Gefühle verband und dem er nur so weit vertraute, wie er ihn werfen konnte. Dabei hätte man annehmen können, dass monatelange gemeinsame Gefangenschaft unter den Mongolen eine gewisse Sympathie hatte aufkommen lassen. Und das war in der Tat ja auch der Fall: Kai konnte Rei gut leiden und war auch maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass dieser seine ebenfalls verschleppte Frau Mao unter den widrigsten Umständen und dem Segen der Götter in einem der mongolischen Lager wiedergefunden hatte, die die von Takaos geführten nicänischen Truppen erobert hatten. Zu diesem Zeitpunkt waren sie beide bereits dem späteren Kaiser von Byzanz begegnet - und wo Kai für seine Befreiung nur eine Lebensschuld anbieten konnte, hatte Rei mit Informationen über die Goldene Horde und die chinesischen Machthaber über sein Leben verhandelt. Er war ein kluger Kopf, der rasch zu kommunizieren gelernt hatte und ein Gespür für fernöstliche Taktiken besaß. Seine Kenntnisse über Guerilla-Attacken waren nicht unwesentlich für die Rückeroberung von Konstantinopel gewesen und es hatte auch Sinn gemacht, dass Takaos ihn zum Megas Logothetes gemacht hatte, denn Rei verstand sich auch auf die Kunst der Diplomatie. Es gab keinen Grund, warum er Takaos Übles wollen sollte: der Kaiser ermöglichte ihm und Mao ein bequemes, einflussreiches Leben in Konstantinopel auf einem Lebensstandard, den Rei in China wohl niemals erlangt hätte, und unter der Goldenen Horde schon gar nicht. Trotzdem konnte Kai nicht anders, als ein gewisses, latentes Misstrauen gegenüber seinen Zielen zu hegen. Er hatte sehr wohl mitbekommen, dass Rei für Zurückschlagung statt Bündnis plädierte, was die Bulgaren anging. Rei lächelte ihn an und blieb vor ihm stehen, die Arme voller Papier. Er trug ähnliche Kleidung wie Kai im Alltag, die eine Mischung aus byzantinischer und fernöstlicher Mode darstellte: eine weiße Tunika aus byzantinischer Seide, aufwändig mit Gold bestickt und dementsprechend wesentlich teurer als Kais Kleidung, zusammen mit einer weißen, Hakama-ähnlichen Hose, die ebenfalls aus byzantinischer Seide bestand. Das Fremdartigste an ihm waren neben den Gesichtszügen wohl die meterlangen, schwarzen Haare, die er stets zu einem festen Zopf zusammengebunden trug. „Ich denke, du kannst bereits hinein“, sagte er in dem seltsamen Gemisch aus Chinesisch und Japanisch, das sie sich während der Gefangenschaft angeeignet hatten. Dann besah er sich Kai genauer. „Ist alles in Ordnung?“ „Natürlich“, sagte Kai ein wenig verdutzt. Rei betrachtete ihn forschend. „Man hat mir gesagt, dass du dich auf einen gewissen Maler eingeschossen hast.“ Kai öffnete den Mund zu der Bemerkung, dass Takaos sich viele Dinge einbilden konnte, wenn der Tag lang war und dennoch gerne die Gefahr übersah. Dann überlegte er es sich anders. „Ich bin nur vorsichtig.“ „Natürlich“, sagte Rei mit einem feinen Lächeln. „Du kannst gerne auch einmal ganz vorsichtig zum Essen in mein Heim kommen. Ich denke, Mao würde sich freuen.“ „Ich überlege es mir“, sagte Kai kurz und stieß sich von der Wand ab, um an ihm vorbei in den Saal zu gleiten. Tatsächlich hatte sich die Sitzung bereits aufgelöst. Neben Takaos selbst war nur noch Maxim im Raum, der eindringlich auf ihn einredete und erst stoppte, als er Kai sah. Takaos hob den Kopf von den Papieren, die er intensiv angestarrt hatte und lächelte bei Kais Anblick. Er gab den Dienstboten ein Zeichen, dass sie die Papiere zusammenräumen und in den Blachernen-Palast zur weiteren Inspektion bringen sollten, dann drückte er zum Abschied Maxims Schulter und kam mit weiten Schritten auf Kai zu. „Begleite mich“, raunte er ihm zu, „ich muss an die frische Luft. Wenn mich heute noch irgendjemand auf irgendwelche politischen Verpflichtungen anspricht, dann schreie ich.“ „Das ist deine Pflicht“, erwiderte Kai unbeeindruckt, aber er folgte Takaos immer zwei Schritte hinter ihm gehend hinaus auf die Terrassen den Großen Palasts und hinunter in die beeindruckenden Gartenanlagen. Takaos seufzte tief. „Das ist mir schon klar, aber ich brauche eine Pause. Manchmal kommt es mir vor, als ob außer Politik nicht mehr viel von mir übrig ist.“ Kai schwieg. Je länger sie durch die gepflegten Grünflächen und üppigen Blumenbeete wanderten, desto näher kamen sie dem Meer. Ein leichter Wind wehte und brachte Takaos’ Haare in Unordnung. Kai betrachtete ihn von hinten und widerstand dem Drang, nach ihm zu greifen. Stattdessen ließ er den Blick über die Blumen schweifen, die an allen Ecken und Enden den Garten mit Farbschauern übergossen. Sie duckten sich unter einem herrlichen grünen Blätterbogen hindurch und gelangten auf eine der kleineren Terrassen, die dem Meer zugerichtet waren. Gewohnheitsmäßig glitt Kais Blick prüfend über Nah und Fern, um mögliche Gefahrenquellen zu erfassen. Als er nichts erkennen konnte, entspannte er sich ein wenig und stützte sich neben Takaos mit den Ellbogen an der Steinmauer auf, die die Terrasse begrenzte, um auf das Meer hinabzusehen, das friedlich vor ihnen lag. In der Ferne schaukelten Fischerboote auf den Wellen. Wenn Kai einatmete, konnte er Salz auf seinen Lippen schmecken. Es erinnerte ihn an die fernen Tage seiner Kindheit, und für einen kurzen Moment hatte er tatsächlich so etwas wie Heimweh. Takaos schien seine Gedanken erraten zu haben. „Vermisst du Japan manchmal?” Kai überlegte einen Moment, wie er darauf antworten sollte. Dann sagte er ruhig: „Ich bin genau da, wo ich sein soll.” „Eine Kopfantwort von einem Kopfmensch”, stellte Takaos mit einem Lächeln fest, das zeigte, dass er es nicht böse meinte. Ein weiterer Seufzer von seinen Lippen ließ Kai aufblicken; weiterhin fanden sich tiefe Falten auf der Stirn des Kaisers, die zeigten, dass die Besprechungen ihn nicht losgelassen hatten. Vielleicht war es auch etwas anderes, das ihn quälte. Kai war nie besonders gut darin gewesen, irgendeine Form von Trost zu geben und sie sprachen bewusst nicht über politische Dinge miteinander, außer wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Meistens schien es Takaos zu reichen, wenn Kai einfach schwieg und mit ihm das Meer betrachtete. Er rückte ein wenig näher, bis sich ihre Unterarme berührten. Takaos blickte ihn mit einem Lächeln von der Seite her an. Es lag etwas Wehmütiges darin, auch wenn es warm und ehrlich war. „Manchmal“, sagte er, „habe ich das Gefühl, als wären du und Hyromia die einzigen Menschen auf der Welt, die mich noch kennen.“ Kai schwieg. Aber er dachte an kühle blaue Augen und Haar so rot wie Feuer, und er fühlte sich fast schuldig dafür. Das Schuldbewusstsein hielt nicht lange an. Der Maler war wie ein Sog, der Kai in den frühen Abendstunden hinaus auf Konstantinopels Straßen und zur Hagia Sophia trug. Sein ganzes Leben hatte er damit verbracht, wie ein Schatten zu sein - war durch lange, harte Stunden des Übens und Trainierens und Meditierens dazu erzogen worden, das Schwarze Feuer zu sein: Eins mit der Dunkelheit, bis es zu spät war und alle, die ihm zu nahe kamen von den Flammen verschlungen wurden. Er hatte viel Zeit dafür verwendet, um diese Stadt so gut zu kennen wie er konnte, und bei solchen Ausflügen machte es sich bezahlt, denn so konnte er lautlos durch ihre dunklen Ecken gleiten, bis er sein Ziel erreicht hatte. Abendgold hatte die Stadt ergriffen und ließ die Hagia Sophia glänzen. Die Gottesdienste waren schon längst vorbei, die Kirche lag still. Er verbarg sich hinter einer der Säule, als doch noch jemand über den Marmorboden dem Ausgang zustrebte. Es war Raulus, der Malergehilfe, dem man dem Wandermönch zur Seite gestellt hatte. Er hatte mehrere Rollen unter seinen Arm geklemmt und das Gesicht war sturmumwölkt. Kai hatte bei seinen stundenlangen stillen Beobachtungen festgestellt, dass Raulus und der Maler Persönlichkeiten hatten, die sowohl aneinandergerieten als sich auch zu beflügeln schienen. Sehr feierlich war das Gezanke, mit dem sie die Ölskizzen für das Fresko vorbereiteten, jedenfalls nicht. Die militärische Präzision, mit der der Maler seine Instruktionen gab, bestätigten Kai allerdings nur darin, dass er nicht sein ganzes Leben als Maler verbracht hatte. Er atmete aus. Dann verschwand er in den Eingeweiden der Hagia Sophia um sich dem Ort anzunähern, an dem der Maler immer noch über einen Holztisch gebeugt vor einer noch leeren Wand stand und Ölfarbe mischte. Er musste behutsam vorgehen, denn dem Ungetüm an seiner Seite blieb nur wenig verborgen. Auch jetzt blieb er hinter einer Säule verborgen und beobachtete die langen, farbverschmierten Finger des Malers, die im flackernden Licht dutzender großer und kleiner Kerzenständer in sicheren Strichen mit einem Kohlestift über ein Stück Papier vor ihm glitten. Er hatte die roten Augenbrauen zusammengezogen, eine steile Falte über seiner Nasenwurzel und die Lippen zu einem festen, abweisenden Strich aufeinandergepresst. Im Spiel aus Licht und Schatten wirkte er wie ein Dämon - wie etwas, das selbst in Kais durch und durch heidnischer Ansicht sicher nicht in die Hagia Sophia gehörte, sondern ausgetrieben werden musste. Der Maler verharrte, als ob er seine Gedanken gehört hatte. Einen Moment lang stand er mit gebeugtem Rücken und stillstehenden Fingern einfach nur da. Dann sah er zu dem Wolfshund, der wie auf einen unausgesprochenen Befehl zielsicher in Kais Richtung sah. Kai unterdrückte einen leisen Fluch und atmete vollkommen flach, lautlos weiter. Der Maler wischte in aller Ruhe seine Finger an einem Lappen ab. Dann drehte er den Kopf in Kais Richtung und sagte laut genug, dass es hörbar durch den Gang hinüber zu Kai hallte: „Das ist der siebte Tag, an dem du mich verfolgst. Was immer es ist, das dir auf der Seele brennt, such deine Antwort anderswo. Ich habe keine Geduld für die Spielchen von jemandem, der sich in den Schatten verbirgt.“ Da war etwas in seiner Stimme, seiner ganzen lauernden Körperhaltung, das Kai tatsächlich aus den Schatten treten ließ. Er wusste selbst nicht, warum. Es widersprach jeglicher Logik und allem, was er gelernt und verinnerlicht hatte. Aber es war die Sache fast wert, als die blauen Augen des Malers aufblitzten mit etwas, das heiß und kalt zugleich war und direkt in Kais Lenden fuhr. „So“, sagte er mit leiser, klirrend kalter Stimme, „du wanderst nicht nur durch die Schatten, du kleidest dich auch in sie.“ Kai sagte nichts. Es stimmte, dass er die traditionelle Kleidung angelegt hatte, in der er in seiner Heimat die Aufträge ausgeführt hatte, für die man ihn geholt hatte. Das Schwarze Feuer konnte nur in der Dunkelheit existieren, und um in der Dunkelheit existieren zu können, musste man mit ihr verschmelzen. Dunkelgraue Kleidung vom Tenugui, den er um Nase, Mund und Kopf geschlungen hatte, bis hinunter zu den Chikatabi war die einzige Möglichkeit dazu. Einen Moment lang maßen sie sich schweigend mit Blicken. Da schien widerwillige Faszination im Gesicht des Malers zu sein, ja, Kai war sich sicher, dass es ihm in diesen Minuten, in denen ihre Blicke aufeinandertrafen, genauso ging wie ihm selbst - dass er ihn erkannte. Dass er genauso spürte, dass da etwas zwischen ihnen war, ein seltsames Gefühl der Vertrautheit, eine Energie, für die es keine Erklärung gab. Es war der Maler, der zuerst den Blickkontakt abbrach, indem er die Augen schloss. Kai atmete lautlos, aber bebend gegen den Stoff des Tenugui aus, als eine Spannung sich entlud, die er gar nicht richtig wahrgenommen hatte. „Geh mir aus den Augen“, sagte der Maler und senkte den Kopf, „es gibt hier nichts für dich.“ Kai entfuhr ein Schnauben, das den Maler seinen Kopf wieder ruckartig heben und wie ein misstrauisches wildes Tier die Augen verengen ließ. „Ich traue dir nicht weiter, als ich dich werfen kann.“ Der Maler verzog die Lippen zu einem Lächeln, das mehr einem Zähnefletschen glich. „Ich bin ein einfacher Mönch. Das einzige, was ich will, ist, dass man mich in Ruhe malen lässt, statt mir auf den Nerven herumzutanzen.“ „Du bist ein Lügner“, raunte Kai und sah, wie das Lächeln vom Gesicht des Malers fiel und kalter Wut Platz machte. „Ich frage mich nur, wen du hier mehr belügen willst - mich oder dich?“ „Ich muss dir nichts beweisen“, sagte der Maler hart. „Oh nein“, sagte Kai, „aber du wirst es dennoch tun.“ In einer fließenden Bewegung zog er das Wakizashi aus der Scheide an seinem Gürtel und ließ ihm gerade noch genug Zeit, um die Augen in aufkeimendem Verstehen zu weiten, ehe er auf ihn zusprang und noch im Sprung mit dem Kurzschwert ausholte. Der Maler reagierte mit den Reflexen eines wilden Tiers. Wachs spritzte über den Marmorboden der Hagia Sophia und das Feuer drohte Kai einen Moment lang zu blenden, als er nach einem der handlicheren Kerzenständer griff, um seinen Angriff zu blockieren. Die Klinge stieß mit einem klingenden Geräusch auf Metall. Das Gesicht des Malers war wie verwandelt und expressiver, als er es bisher jemals gesehen hatte. Die Wut, der Zorn hatte tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben, die Augen flackerten voller Irrlichter. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment und die Luft zwischen ihnen schien sich zu entzünden, als Kai sich unter einem Schlag durchduckte und einen Dolch aus seinem rechten Tebukuro holte. Seine Bewegung wurde von einem Arm abgeblockt, der gegen sein Handgelenk donnerte, hart genug, um ihm den Dolch aus den Fingern zu schlagen. Der Mann war schneller und unnachgiebiger, als er erwartet hatte - und er hörte nicht auf, ihn zu überraschen, denn als der Wolfshund sich zu seiner ganzen Größe aufrichtete und mit einem wilden Knurren losstürzen wollte, hielt er ihn mit einem scharfen Pfiff zurück, der durch die ganze Kirche hallte. Seine Aufmerksamkeit war nur eine Sekunde abgelenkt, doch das war alles, was Kai, der ihn seit Tagen beobachtete, benötigte, um ihn ins Wanken zu bringen. Er wirbelte herum und trat gegen das Knie, das der Maler all die Tage über weniger belastet hatte als das andere. Rote Haare peitschten ihm ins Gesicht, als der Maler stolperte, dann den Kerzenständer in einer fließenden, deutlich von Gewohnheit geprägten Bewegung in seine linke Hand wechselte. Eine letzte Überraschung, erkannte Kai gerade noch, da wurde ihm der Kerzenständer in die Seite gerammt, dass er meinte, eine Rippe nachgeben zu spüren. Die Luft blieb ihm weg; er rollte sich ab, brachte Distanz zwischen sie, aber etwas war in dem Maler entfesselt worden. Er kam auf die Beine und seine Augen waren kalt, so kalt, als er den Kerzenständer erneut hob. Das waren nicht die Augen eines Wandermönchs oder Malers. Das waren die Augen von Yuriy Iwanov - von jemandem, der einmal getötet hatte, bis es zur Gewohnheit geworden war. Kai erkannte es, weil er sich selbst darin erkannte. Erneut ein kreischendes Geräusch, als das massive Gold gegen Kais Wakizashi stieß, ein Geräusch, das ihm in den Ohren klingelte. Er duckte sich weg, wirbelte herum, biss die Zähne zusammen unter dem Ansturm, den Yuriy leistete, dann beschloss er, dass es genug war. Bei der nächsten Wendung fuhren seine Hände in die versteckten Taschen seiner Hakama-Hose und fanden zwei der spitzen, quadratischen Shuriken darin. Kai war immer für seine hohe Präzision mit Shuriken bekannt gewesen und auch jetzt verließ sie ihn nicht. Gewaltvoll schleuderte er sie gegen Yuriy, sodass einer ihm den linken Arm mitsamt des Tunikenärmels aufriss und seinen Griff um den Kerzenständer deutlich lockerte. Blut spritzte über den Marmorboden; der Wolfshund heulte, als der zweite Shuriken Yuriy im Gesicht erwischte und nur um ein Haar sein Auge verfehlte. Es war genug, um Kai den Kerzenständer aus seinen Händen schlagen zu lassen. Es hätte genug sein sollen. Doch die blauen Augen loderten mit etwas auf, das die Haare in Kais Nacken aufstellte. Dann warf er in einer einzigen Sekunde den Kerzenständer fort und sprang direkt unter Kais Wakizashi hindurch gegen seine Brust wie ein Dämon. Es war die Aktion eines Wahnsinnigen, weshalb Kai es nicht hatte kommen sehen. Das Kurzschwert wurde aus Kais Hand geschlagen, als sie über den Boden der Hagia Sophia schlitterten und ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Weiße Finger schlossen sich um seine Kehle, ohne zuzudrücken und Yuriy starrte auf ihn herab, schwer atmend und in tausend Splitter aus Licht und Schatten gebrochen durch die wild flackernden Kerzen um sie herum. „Sieh mich an“, befahl er dann, die Stimme kaum mehr als ein harsches Wispern. Kai konnte die Augen nicht von ihm nehmen. Es brannte in seiner Brust, als Yuriy ihn lange anstarrte und dann lächelte. Ohne den Blick von ihm zu nehmen leckte er sich über die Lippen, über die sein Blut auf Kai hinabrann. Er spürte die Tropfen auf seinen Wangen und seinem Hals, wo Yuriys Finger ihn nicht hielten, und er wusste in einem unfassbar klaren Moment, dass er noch nie jemandem so nahe gewesen war und es auch nie wieder sein würde. „Es ist besser für alle, wenn ich ein Lügner bin“, sagte Yuriy nach einem unendlich langen Moment. Jetzt lächelte er nicht mehr. Die Irrlichter waren aus seinen Augen gewichen und hatten nur dunkle Erschöpfung übrig gelassen. Er nahm die Hand von Kais Kehle, dann kämpfte er sich in die Höhe, beinahe wieder einknickend, als das Knie unter ihm nachzugeben drohte. „Hör auf, mich daran zu erinnern, dass es nicht wahr ist.“ Kai rappelte sich auf. Yuriy hielt den heftig blutenden Arm gegen die Brust gepresst. Blut rann über sein Gesicht aus dem Schnitt, der eine seiner Brauen zerteilt hatte; es war schwer zu erkennen, wie tief und weit er ging. Sie sahen sich erneut an und Kai brannte. Er konnte den Kampf immer noch in seinen Knochen spüren, aber nun war da auch etwas anderes: Ein Sehnen, das er zuvor nicht hatte zulassen wollen und das auch nun nicht verschwunden war. Im Gegenteil. Ganz im Gegenteil. Schlimmer noch war es, dass er nun nach dem Kampf das gleiche stille Sehnen in den Augen des anderen zu erkennen schien und nicht wusste, ob es Wunschdenken war oder nicht. „Sag mir deinen Namen“, wisperte Yuriy schließlich in einem Tonfall, der ein prickelndes Gefühl der Sicherheit, dass es kein reines Wunschdenken gewesen war, durch Kai sandte. „Damit ich weiß, wie ich die Schatten dieser Stadt nennen muss.“ Kai strich mit der Unterseite des Daumens einen Tropfen von Yuriys Blut von seinem Mundwinkel. Dann sah er auf und betrachtete das rote Haar, das im Kerzenlicht einen goldenen Schimmer erhielt. Er wusste nicht mehr, für wen dieser Kampf ein Test gewesen war, für sich oder für Yuriy, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie beide verloren hatten - oder sie hatten beide gewonnen. Die Zeit würde es zeigen; die Zeit, und Yuriys Reaktion auf seine nächste Handlung. Er sah auf, begegnete Yuriys blauen Augen und sagte: „Ich bin Kai.“ Kapitel 7: TEIL I - KAPITEL VII: Yuriy -------------------------------------- Bei Yuriys Anblick erhob sich Ivan so schnell von seinem Platz auf einer der Tavernenbänke, auf denen er mit einem hühnenhaft großen, blonden Mann zusammengesessen war, dass er beinahe den tönernen Weinkrug vor sich umgeworfen hätte. „Lieber Gott, was ist passiert?“ Yuriy ließ sich auf den Platz neben ihn fallen und griff mit blutverkrusteten Fingern nach dem Weinkrug, um sich einen Becher voll einzuschenken. Das Blut war von der langen Wunde in seinem Arm auf seine Hand getropft und dort getrocknet, bevor er die Wunde wenig ansehnlich, aber für den Moment ausreichend effizient mit einem abgerissenen Streifen seines Tunikasaums verbunden hatte. „Das ist ein furchtbarer Verband”, sagte der blonde Hühne gegenüber augenblicklich und ließ sich seinen Schrecken, der an persönlicher Beleidigung durch diese traurige Entschuldigung eines Verbands grenzte, durchaus anmerken. „Lasst mich das ansehen, so könnt Ihr um Gottes Willen nicht herumlaufen.” Yuriy schloss die Augen und trank den dunkelroten Wein hastig in langen Zügen hinunter, bis wieder Leben in seine bleichen Lippen kam. Er hatte das Gefühl, dass die Auseinandersetzung mit Kai ihm sämtliche Sinne geöffnet hatte. Die Geräusche der Taverne schienen doppelt so laut zu sein wie sonst, das Stimmengewirr beinahe unerträglich für ein Gehör, in dem das metallische Geräusch einer scharfen Klinge noch so präsent war. Der Geruch nach deftigem Essen und vielen Körpern war geradezu ein Schock nach der kühlen, weihrauchgeschwängerten Atmosphäre der Hagia Sophia. Sein Gesicht pulsierte im Takt mit seinem harschen, wie plötzlich aufgeweckt schlagenden Herzen dort, wo die Klinge des Wurfgeschosses durch sein Fleisch geglitten war. Er schenkte sich nach in dem Versuch, sich zu beruhigen, aber seine Haut kribbelte weiterhin wie von tausend Feuerameisen gebissen. An das faszinierte Begehren in Kais Augen denkend nahm er noch einen tiefen Schluck, doch der Wein konnte das Brennen in seiner Brust und seinen Lenden nicht abtöten. Ivan packte ihn an der Schulter und zwang ihn, zu ihm aufzusehen. Die Stirn des Schreibers war gerunzelt. Er sah Yuriy lange und forschend an, dann schüttelte er den Kopf, ließ ihn los und fiel neben ihm auf die Bank zurück. Seine Hände fanden Nadeschda, die sofort nach Betreten der Taverne mit eingeklemmtem Schwanz unter den Tisch gehuscht war und sich jetzt gerne verhätscheln ließ. „Man kann dich nicht alleine lassen. Was in Gottes Namen ist passiert? Nun sag’ doch!” Yuriy reagierte nicht, sondern trank auch den zweiten Becher leer. Langsam bekam er wieder das Gefühl, dass sein Herz nicht außer sich versuchte, in ein anderes Leben zu stürzen, das einmal gewesen war und das er eigentlich nicht mehr zurückhaben wollte - nicht so, wie es gewesen war. Er blickte auf und musterte den Blonden, dann nickte er ihm zu. „Ihr müsst Sergios sein.” Der Mann nickte. Sein Lächeln schwankte irgendwo zwischen Amüsement und Verzweiflung, als er erneut den Verband um Yuriys Arm und die Wunde in seinem Gesicht anstarrte. „Das rote Haar, die Freundschaft mit Ivan - Ihr müsst Pyrros sein, der Maler in der Hagia Sophia.” „Pyrros?” Yuriy lachte kurz und amüsiert. Er lehnte nicht ab, als Ivan ihm zum nächsten Weinbecher sehr nachdrücklich Brot und Käse reichte. „So nennt man mich? Recht einfallslos, um ehrlich zu sein, aber man hat mich schon schlimmere Dinge genannt. Eigentlich bin ich Yuriy.” „Ich weiß”, sagte Sergios milde lächelnd, „Ivan hat von Euch erzählt.” „So?” Yuriy hob eine Augenbraue und sah Ivan an. „Was hast du ihm erzählt?” „Nichts, was nicht stimmt”, sagte Ivan unbeeindruckt. Yuriy war nicht besonders überzeugt von dieser Aussage, aber er sah wieder zu Sergios, der sich ein Lächeln zu verkneifen schien. „Ihr seid der Archiatroi des Hagios Samson, nicht wahr?” „Können wir uns bitte über das Blut in deinem Gesicht unterhalten, bevor du Sergios nach seiner zugegeben beeindruckenden Laufbahn fragst?”, mischte Ivan sich ungläubig ein. „Ich frage dich noch ein letztes Mal: Was ist passiert?” Yuriy, erweicht durch Wein und Blutverlust, gab eine Zusammenfassung der Geschehnisse von sich, die so kurz und neutral wie möglich gehalten war, bevor er sich wieder Brot und Käse widmete. Nachdem er geendet hatte, sah Ivan ihn so prüfend von der Seite an, dass Yuriy ihn beinahe fragen wollte, ob er es mitbekommen hatte, diese seltsame Spannung, die für Yuriy von Kai ausging. Aber Ivan sagte nichts und so sagte auch Yuriy nichts. Sergios wiederum hatte die Brauen zusammengezogen. „Kai hat Euch attackiert?“, fragte er in einem Tonfall, der verriet, dass der Name ihn nicht erst seit Yuriys Schilderung geläufig war. Yuriy senkte den Käse. „Ihr kennt ihn?“ „Kennen ist vielleicht zu viel gesagt“, erwiderte Sergios und wirkte, als ob er noch mehr sagen wollte. Seine Augen schweiften durch die Taverne, dann schien er einen Entschluss zu fassen. „Esst auf und kommt mit mir”, sagte er ohne die Stimme zu heben in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. „Man muss diese Verletzungen vernünftig behandeln, ansonsten beginnt es noch zu eitern und sich zu etwas Gröberem auszuwachsen.” „Das sind nicht die ersten Kampfverletzungen in meinem Leben”, erwiderte Yuriy, der mit dem Wein redseliger wurde, als ihm gut tat. Sergios zuckte nicht mit der Wimper, fragte aber immerhin auch nicht nach. „Dann solltet Ihr es eigentlich besser wissen.” „Die Hände haben an sich nichts abbekommen“, sagte Yuriy, „das reicht.“ Sergios wechselte einen langen Blick mit Ivan, der nur die Hände in einer universalen Geste der Resignation hob. Yuriy trank weiter, atmete tief durch und leckte sich gerade den Wein von den Lippen, als Sergios milde, aber fest sagte: „Ich nehme Euch einfach mit. Wenn man Euch keinen Kerzenleuchter in die Hände spielt, dürfte es ja kein Problem sein.“ „Na schön“, sagte Yuriy, der nicht in Stimmung war, sich unnötig querzulegen. Immerhin hatte der Arzt tatsächlich Recht; er hatte mehr als einmal bei anderen gesehen, was passieren konnte, wenn Feldärzte nicht genug Zeit oder Sorgfalt hatten und Wunden entsprechend nicht gesäubert wurden. Der Schnitt in seinem Gesicht war nicht besonders tief, aber der an seinem Arm war eine andere Sache. Außerdem, und das war der viel wesentlichere Grund, wollte er wissen, was Sergios über Kai wusste. Er trank aus und schob Ivan ein paar Münzen zur Beteiligung zu, der jedoch nur abwinkte und sie zurückschob. Yuriy zuckte mit den Achseln und steckte das Geld wieder ein, erhob sich und strich Nadeschda flüchtig mit den Fingerknöcheln über den Kopf, als sie lautlos an seine Seite kam. „Das Mädchen sieht aus, als hätte sie Euch gut verteidigen können“, bemerkte Sergios mit einem bewundernden Blick auf die Wolfshündin, die ihn mit ihren scheuen, klugen Augen ansah, als ob sie jedes Wort verstand. „Ein prächtiges Tier.“ „Ich habe sie zurückgehalten“, erwiderte Yuriy und folgte mit Ivan im Schlepptau dem Arzt hinaus aus der Taverne. Er warf Ivan einen vernichtenden Blick zu, als der ihm angesichts des ausgeprägten Hinkens durch Kais gezielten Tritt gegen sein Knie den Arm zur Stütze anbieten wollte. Ivan rollte mit den Augen und zog den Arm wieder zurück. „Wieso?“, fragte Sergios ehrlich erstaunt, „Mit dem Hund wäre der Fall doch in ein paar Augenblicken erledigt gewesen.“ „Ich wusste, dass er mich nicht töten wollte“, sagte Yuriy und dachte an das wilde, geradezu enthusiastische Brennen in seinen Eingeweiden, das Kais Angriff in ihm verursacht hatte. „Ich wollte wissen, was er kann.“ Sergios gab einen unidentifizierbaren Laut von sich, sagte aber nichts mehr. Ivan schwieg ebenfalls, auch wenn er Yuriy immer wieder von der Seite her ansah wie eine besonders interessante Rarität. Aber Yuriy dachte an andere Dinge als Ivans forschenden Blick, während sie den kurzen Weg von der Taverne zum Hagios Samson zurücklegten. Er dachte an sein Blut, das im flackernden Licht der Kerzen fast schwarz gewirkt hatte auf Kais Haut. Er dachte daran, wie er über ihm gewesen war, die Hand um Kais Kehle, nur Sekunden davon entfernt, zuzudrücken und zuzudrücken, bis all sein Atem ihm gehörte. Manchmal lagen nur Seidenfäden zwischen Lust und Tod, und es schien, als ob er sich einmal mehr in diesem Netz aus Seidenfäden zu verstricken drohte. So in Gedanken bemerkte er nicht, dass sie das Krankenhaus erreicht hatten. Es war ein großer, viereckiger Komplex, der nur aus einem Stockwerk bestand. Als sie eintraten und Sergios sie mit sicheren Schritten einen Gang entlang führte, stellte sich heraus, dass das Krankenhaus vor allem aus kleinen Zimmern bestand, in denen Kranke allein oder zu zweit lagen und betreut wurden. Im Zentrum des Komplexes lag ein nicht überdachter Kräutergarten, der aus sorgfältig gepflegten Beeten bestand und von allen vier Gängen, die darum herum hingen, bequem erreicht werden konnte. Eine Frau kniete vor einem der Beete, einen breiten Weidekorb neben sich. Sie war klein und zart, ihr Haar vollständig verborgen von einem Schleier. Sie hatte die lebhaften braunen Augen auf die Staude vor sich gerichtet, von der sie Blätter schnitt. „Mathilda“, rief Sergios ihr zu, woraufhin sie den Kopf hob und lächelte, als ob sie die Sonne erblickt hatte. Rasch wischte sie die Hände an ihrer Schürze ab, erhob sich mit ihrem Korb und kam auf sie zu. Als sie neben Sergios trat, zeigte sich erst, wie klein sie neben ihm wirkte, denn im Stehen hätte sie ihren Kopf mühelos auf seine Brust legen können. Sie war noch jung, aber nicht mehr blutjung, denn das Leben hatte schon ein paar Falten in ihr herzförmiges Gesicht gegraben, auch wenn es dabei bisher gut zu ihr gewesen sein musste, denn die Falten schienen überwiegend vom Lachen zu stammen. Bei Nadeschdas Anblick strahlte sie, war aber klug genug, nicht weiter auf sie zuzugehen, als die Wolfshündin unter so viel neuer Aufmerksamkeit hinter Yuriy wich. Mit einer zärtlichen Behutsamkeit, die man einem so großen Mann gar nicht zutraute, nahm er sie bei der Hand, um sie Yuriy vorzustellen: „Das ist meine Frau, Mathilda. Ohne sie würde hier nichts funktionieren. Mathilda, das hier ist Meister Iwanov - Ivans Freund, der in der Hagia Sophia arbeitet.“ Mathilda errötete ein wenig vor Freude über sein Lob und lächelte erst einmal Ivan an, der ihr bereits vertraut zu sein schien. „Schön, Euch wiederzusehen, Meister Papov.“ Sie musterte sodann besorgt die Verletzung in Yuriys Gesicht. „Ich habe von Euch gehört, Meister Iwanov, seid herzlich willkommen. Was immer auch da passiert ist, das sieht übel aus … Ich bringe gleich die Verbände.“ Sie war davon, noch ehe man sie aufhalten konnte und eilte mit raschen, sicheren Schritten den Gang hinunter. Sergios blickte ihr einen Moment lang mit warmem, aufrichtigem Lächeln hinterher, dann gab er sich einen Ruck und führte Yuriy in einen leeren Raum, wo er ihn auf eines der Betten drückte. Ivan ließ sich auf das andere fallen und sah zu, wie Sergios den Übergangsverband von Yuriys Arm wickelte, nur um mit der Zunge zu schnalzen. „Keine Schwertwunde“, stellte er fest. Hinter ihm kam Mathilda herein und bereitete auf einem niedrigen Tisch mehrere Dinge vor: Eine Kerze, die sie anzündete, zwei Schüsseln Wasser, von denen eine kleiner und eine größer war, mehrere saubere Stofftücher, zwei noch verschlossene Tontiegel, Nadel, Faden und mehrere Rollen Verbandsstoff. Sie hielt Sergios die kleinere Wasserschüssel hin, der daraufhin dankend seine Hände eintauchte und wusch. „Es war ein…“ Yuriy dachte nach, wie er es am besten beschrieb. „Eine Art geworfenes Metallstück“, sagte er schließlich. „Viereckig. Sehr scharf. Ich habe zugegeben so etwas noch nie vorher gesehen.“ „Kai hat viele Tricks, die man noch nie gesehen hat“, sagte Sergios und lächelte Mathilda entgegen, die ihm geschäftig die Hände trocknete und dann die Nadel über die Kerzenflamme hielt, um schließlich in beeindruckender Geschwindigkeit den Faden durch das Öhr zu ziehen. Yuriy zog die Brauen zusammen. „Ihr kennt ihn.“ „Flüchtig“, gab Sergios zu und reichte seinerseits Mathilda eines der sauberen Tücher, das er zuvor in die größere Waschschüssel getaucht hatte. Mathilda begann die Wunde auf Yuriys Arm umsichtig zu waschen, während Sergios die Nadel noch einmal im Kerzenlicht betrachtete und dann offensichtlich zufrieden nickte. Als Mathilda fertig war und beiseite trat, meinte er: „Das wird jetzt unangenehm.“ „Ich bin hart im Nehmen“, sagte Yuriy, „woher kennt Ihr ihn?“ „Sergios und Mathilda assistieren auch der kaiserlichen Familie“, schaltete Ivan sich ein und streichelte dabei Nadeschdas Kopf, die ihren wachsamen Blick nicht von Yuriy und Sergios nahm, aber auch an Ivans Seite blieb. „Er ist eine recht illustre Gestalt in Konstantinopel. Fällt ja auch ziemlich auf. Die Gerüchte sagen, dass der Kaiser ihn von irgendeiner Insel im Osten aufgeklaubt hat.“ „Er wird irgendwie durch irgendeinen Krieg an ihn geraten sein“, sagte Sergios achselzuckend und musterte die Nadel noch einmal, ehe er Yuriy weiter ins Kerzenlicht rückte. „Was ich allerdings weiß, ist, dass er normalerweise die Seite des Kaisers nicht verlässt. Viele am Hof wollen ihn nicht dort haben, wo er jetzt ist, aber der Kaiser ist in der Sache unbelehrbar. Ich beginne jetzt.“ Yuriy runzelte die Stirn und unterdrückte trotz Warnung ein Fluchen, als die Nadel durch seine Haut stieß. Er biss die Zähne zusammen, atmete tief durch und fragte dann gepresst: „Er verfolgt mich seit einer ganzen Weile. Wieso will man ihn nicht bei Hof haben?“ Sergios nähte ungerührt weiter, die Hände sicher und stetig. „Er ist ein Heide und ein Fremdling. Man sieht ihm ja schon an, dass er nicht aus diesen Breitengraden kommt. Es gibt viele, die es einfach nicht gerne sehen, dass er so eng mit dem Kaiser verbunden ist.“ „Man fürchtet einen unguten politischen Einfluss“, schaltete Mathilda sich ein und tupfte von der anderen Seite kundig Yuriys Gesicht um die Wunde herum sauber, während Sergios nähte. „Aber…“ Sie gab einen tiefen Seufzer von sich und schwieg. „Sag‘ nur, was du dir denkst, Liebling“, sagte Sergios sanft und zog die Nadel aus Yuriys Fleisch. Die Wunde war sauber und gerade vernäht. Yuriy musterte die Naht und nickte anerkennend. „Ich denke, man hätte ihn gerne aus dem Weg“, sagte Mathilda schließlich, als Sergios bereits dabei war, die Verletzung in Yuriys Gesicht zu untersuchen, die er rasch als halb so wild diagnostizierte, auch wenn unter Umständen eine kleine Narbe in Yuriys Braue zurückbleiben mochte. Yuriys Blick zuckte zu ihr; sie erwiderte ihn stetig und ruhig mit ihren braunen Augen. Eine sanfte Person, dachte er unwillkürlich, aber keine, die er unterschätzen wollte. „Warum denkt Ihr das?“, wollte er wissen, während Sergios den Schnitt auf seinem Gesicht mit einer scharfriechenden Paste einrieb, die ein Prickeln auf der Haut um die Wunde hinterließ. Mathilda zuckte mit den Achseln. „Es ist nur ein Bauchgefühl“, sagte sie, „aber das Bauchgefühl sagt mir, dass Konstantinopel brodelt. Das ist nichts Neues, das ist normal für diese Stadt. Aber irgendwas kommt auf uns zu, ich spüre es.“ Yuriy dachte in den nächsten beiden Tagen immer wieder über die Worte der Heilerin nach. Er hatte keine Ahnung, ob an Mathildas Bauchgefühl etwas daran war oder nicht; dafür hatte er nicht einmal ansatzweise genug Informationen über oder Beziehungen zu Leuten, auf die es innerhalb der Stadt ankam, was er auch gar nicht wollte. Mittlerweile hatte er den Kampf mit Kai schon wieder verdaut, das Feuer hinabbezwungen in die Tiefen seines Herzens und Hirns, wo es hingehörte. Die Faszination für den anderen war geblieben und gegen diese konnte er sich auch nicht wehren. Aber er weigerte sich, die Lebendigkeit, die er während des Kampfes verspürt hatte, weiter zu verfolgen. Kai hatte ihn einen Lügner genannt. Ja, vielleicht log er, vielleicht konnte er niemals ein Mann des Friedens werden, aber es war die Lüge, für die er sich entschieden hatte, weil er die Wahrheit nicht mehr leben wollte. Wenn es einen Gott gab - wenn dieser Gott sich auch nur ansatzweise für ihn interessierte - dann würde er es ihm möglich machen, die Lüge zu leben, bis er starb. Yuriy hatte kein Interesse mehr an Blut. Er hatte genug davon vergossen, dass es für drei Leben reichte. „Ihr seid abgelenkt“, sagte Raulus anklagend, „was fesselt Eure mentale Aufmerksamkeit so sehr?“ Er blinzelte und blickte auf. Sein Gehilfe, der sich als temperamentvoll, aber immerhin brauchbar herausgestellt hatte, sah ihn mit gehobener Augenbraue an. Er hatte nichts gesagt, als Yuriy mit Verband um den Arm, neuer Tunika und verkrustetem Schnitt im Gesicht am Tag nach dem Kampf wieder in der Hagia Sophia erschienen war, was Yuriy ihm stillschweigend hoch angerechnet hatte. Auch jetzt befanden sie sich in der Hagia Sophia, und Yuriy war gerade noch einmal die endlich fertig getrockneten Ölskizzen des Freskos durchgegangen, um sicherzugehen, dass alles auch wirklich seine Richtigkeit hatte. Seit seinem Kampf mit Kai war der Ort voll mit Echos, die ihm den Kopf vernebelten. Sie hatten gemeinsam in undurchdringlichem Schweigen das Wachs vom Marmorboden gekratzt und Yuriy würde niemals das Bild davon vergessen, wie Kai sein Blut, das er überhaupt erst vergossen hatte, fast nachlässig mit dem Tuch, das zuvor die untere Hälfte seines Gesichts verdeckt hatte, von den Fliesen gewischt hatte. Einen Moment lang dachte er an Boris, dessen Erinnerung dieser Tage wie ein Geist hinter ihm zu stehen schien, egal, was er tat. Yuriy verdrängte sein von bittersüßen Gefühlen getränktes Bild gewaltsam und sah erneut auf die Ölskizzen hinab. „Ich denke, es ist gut“, sagte er endlich statt einer richtigen Antwort, „packt sie zusammen und bringt sie mit mir in den Palast. Wir müssen sie dem Kaiser vorstellen.“ Daraufhin machte Raulus ein merkwürdiges Gesicht. Er sagte mehrere Sekunden lang nichts, dann ließ er langsam den Atem entweichen. „Ich kann Euch nicht begleiten.“ Yuriy blinzelte irritiert. „Wie bitte?“ „Ich kann Euch nicht begleiten“, wiederholte Raulus fest. Da war etwas fast Drängendes in seinem Gesicht, das Yuriy in seiner mental bereits formulierten Standpauke über Faulheit und Unzuverlässigkeit innehalten und ihn stattdessen den jungen Mann beobachten ließ. „Und wieso nicht?“, fragte er schließlich. Raulus starrte ihn wortlos an. Seine Hände waren in den Stoff seiner Dalmatik vergraben, aber Yuriy war sich recht sicher, dass es ihm nicht auffiel. Er schien einen Moment lang sichtlich mit sich zu ringen, dann presste er heraus: „Es sind … persönliche Gründe.“ „Persönliche Gründe“, wiederholte Yuriy langsam. „Bitte“, sagte Raulus, und das Wort schien ihm auf der Zunge zu brennen, „bitte fragt mich nichts Genaueres.“ Yuriy musterte ihn einen langen Augenblick, so lange, dass Raulus begann, sich unter der Stille zu winden. Er hatte schon länger das Gefühl gehabt, dass es etwas gab, das sein Gehilfe vor ihm verschwieg, und diese Situation verschärfte besagtes Gefühl nur noch weiter. „Seid Ihr in Schwierigkeiten?“ „Nicht direkt“, sagte Raulus ausweichend, „aber es wäre mir momentan lieber, wenn man mich nicht im Palast oder im Blachernen-Viertel sehen würde.“ „So“, sagte Yuriy, musterte erst die bespannten Keilrahmen und dann wieder seinen Gehilfen, der entgegen seines sonst so deutlich hervorkommenden Stolzes diesmal mit gebeugtem Kopf zu Boden starrte. Yuriy seufzte und rieb sich über die Braue, durch die der verkrustete Schnitt verlief, dann sagte er: „Schön. Dafür will ich zu gegebenem Zeitpunkt den Grund dafür wissen und ich habe etwas gut.“ Raulus leckte sich flüchtig über die Lippen, nickte dann jedoch. „Danke. Ich … ich weiß es zu schätzen.“ Yuriy schenkte ihm ein wölfisches Grinsen. Der Junge wusste noch nicht, was es bedeuten konnte, ihm einen Gefallen zu schulden. Aber er wies ihn nicht darauf hin, sondern packte die drei gespannten Leinwände ein und knüpfte einen Faden so zwischen ihnen, dass er sie auch alleine tragen konnte. „Wir sehen uns morgen wieder“, sagte er an Raulus, dann verließ er mit Nadeschda die Hagia Sophia und machte sich auf den Weg hinüber in den Großen Palast, wo der Kaiser heute Besucher und Besucherinnen empfing. Es war ein kurzer Weg, auf dem er nicht lange allein blieb. „Man hat mir gesagt, dass du nicht oft die Seite des Kaisers verlässt“, sagte er, als Kai fast lautlos neben ihm auftauchte und ihn mit seinen rostbraunen Augen ansah. „Muss ich mich geehrt fühlen?“ Kai schenkte ihm etwas, das wie die Anflüge eines Lächelns wirkte. „Vielleicht.“ Die Luft zwischen ihnen hatte deutlich die Aggression des Kampfs in der Hagia Sophia verloren. Es war, als ob Dinge geklärt worden waren, obwohl sie nur wenig miteinander gesprochen hatten. Er dachte an Boris, dann schob er ihn weg. Es brachte nichts, ständig in die Vergangenheit zu sehen, wenn er in die Zukunft wollte. Boris war weit weg, aber Kai war hier, und sein Blick brannte auf Yuriys Haut. Er verfolgte Kais Blick auf die Leinwände in seinen Armen und sagte unaufgefordert: „Die Skizzen für das Fresko. Ich möchte sie dem Kaiser zur Inspektion überreichen.“ „Wie bist du Maler geworden?“, fragte Kai nach einer Weile, in der sie sich bereits deutlich dem Großen Palast genähert hatten. „Du warst Soldat. Du hast es nicht gesagt, aber es gibt keine andere Erklärung. Wie hat ein Soldat zu malen begonnen?“ „Ich war nicht nur irgendein Soldat“, sagte Yuriy leise, als sie bereits beinahe den Palasteingang erreicht hatten, „und das Malen war eine Reise, die vielleicht meine Seele retten wird.“ Ein Lächeln kräuselte erneut Kais Mundwinkel, ein Lächeln, das sanft und fast traurig wirkte. „Denkst du wirklich, dass das möglich ist?“ „Ich mache es möglich“, sagte Yuriy. Kai sah ihn an. „Und wenn dein Gott andere Pläne hat?“ Es lag viel in dieser Frage, und viel von dem, was dahinter lag, konnte Yuriy nur erahnen, aber nicht benennen. Er blieb stehen, nur wenige Schritte vom Palasteingang entfernt, der von zwei Wachen flankiert wurde, die sie misstrauisch beobachteten. Was für ein Paar sie abgeben mussten, dachte Yuriy unwillkürlich, der seltsame rothaarige Wandermönch aus dem Land des Eises und der fernöstliche Fremdling mit den rostbraunen Augen wie getrocknetes Blut. Sie waren wie zwei Nägel in einer Schublade voller Holzspäne. Er realisierte, dass er keine Antwort auf Kais Frage hatte, und auch Kai schien es zu merken, denn er neigte kaum merklich den Kopf und sah ihn an, ohne zu blinzeln. „Folge mir“, sagte er schließlich, „ich bringe dich zum Basileus. Und unterwegs kannst du mir erklären, was du so spannend daran findest, in extrem unbequemer Haltung Farbe gegen irgendwelche Oberflächen zu klatschen.“ Eine Spannung in Yuriys Brust löste sich; er hatte nicht einmal gemerkt, dass sie da war. Er nickte, umfasste die Ölskizzen und folgte Kais lautlosen Schritten hinein in den Großen Palast, während er von Farbe sprach, und von Licht, immer wieder von Licht. Kapitel 8: TEIL I - KAPITEL VIII: Emilia ---------------------------------------- „Ich sage dir, ich kann gar nicht in Worte fassen, wie erleichtert ich bin, dass der Kaiser die Skizzen abgesegnet hat“, sagte Iulia vom Bett aus, „jetzt können wir endlich mit dem richtigen Fresko beginnen. Meister Iwanov hat schon damit gedroht, dass ich mich beim Ausstellen der Skizzen mit den maßstabsgetreuen Ausschnitten besonders bemühen muss.“ Emilia gab einen unbestimmten Laut von sich zum Zeichen, dass sie zugehört hatte, auch wenn dies nicht unbedingt den Tatsachen entsprach. Iulias Geschnatter wusch über sie hinweg, während sie bei dem Licht ihres Kerzenleuchters über ihrem Dokument saß und die Feder über das Papier kratzen ließ. Es interessierte sie zunehmend weniger, was ihre Geliebte zu sagen hatte, die nur über Fresken sprach, wenn das Land so viel größere Probleme hatte. Leider war Iulia nicht nur schön, sondern auch aufmerksam. Natürlich, ihre Intelligenz und ihr Ehrgeiz waren es gewesen, die Emilia in erster Linie gefesselt hatten. Nun jedoch war es irritierend, besonders, als Iulia einen Stoßseufzer ausstieß und sich erhob, um zu ihr zu kommen, die Bürste vom Tisch aufzuheben und damit durch Emilias Haare zu streichen. „Bist du überhaupt bei mir?“ „Bitte lass das“, sagte Emilia und versuchte nicht so verärgert über die Störung zu sein, wie sie sich fühlte. „Ich kann so nicht arbeiten.“ Iulia hielt in ihren Bewegungen inne. Dann legte sie mit sehr kurzen, präzisen Handgriffen die Bürste beiseite, die deutlich ihren Unmut über diese Antwort verrieten. „Schön. Wenn ich dich so sehr störe, dann gehe ich eben.“ Emilia gab einen tiefen Seufzer von sich, debattierte einen Moment lang stillschweigend mit sich selbst und wandte sich dann um, als Iulia bereits zu der Truhe vor dem Bett gegangen war, um sich die darauf liegende Tunika Interior überzustreifen. „Ich habe nur wichtige Dinge zu erledigen.“ „Du hast immer wichtige Dinge zu erledigen“, sagte Iulia hart, „aber ich bin immer nur ein paar Momente hier, in denen ich dich dann auch gerne für mich hätte.“ Sie hielt inne und sah Emilia an. „Erinnerst du dich nicht an all die guten Gespräche, die wir schon hatten? Ich vermisse das. Es kommt mir vor, als wärst du seit Wochen abwesend.“ „Es gibt viel zu tun“, sagte Emilia so neutral wie möglich. Iulia presste einen Moment lang die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, dann warf sie sich die langen, dunklen Haare über die Schulter und griff nach der Seidendalmatik, um sie über sich zu drapieren. „Ich frage mich, was es auf einmal so viel zu tun gibt“, sagte sie fast schon kalt, auch wenn Iulia zu wirklicher Kälte nicht fähig war. Ihre Kälte war die eines Feuerkerns, wenn er heiß genug wurde, um durch Knochen zu brennen. „Wir haben nicht einmal irgendeinen besonderen Feiertag in den nächsten Wochen.“ Emilia sagte nichts, sondern rieb sich nur die Nasenwurzel. Iulia, so erkannte sie, würde sich nicht mit Schweigen abspeisen lassen. Also ließ sie die Hand sinken und sagte: „Ich kann nicht mit dir darüber sprechen, Iulia.“ „So“, sagte Iulia hart. Sie maßen sich einen Moment lang mit Blicken, dann wandte Iulia sich mit einem verächtlichen Laut, der Emilia unangenehm in der Brust widerhallte, ab und warf den Schleier über ihr Haar. „Nun, nachdem wir den Sex schon abgefeiert haben, werde ich dir nicht mehr zur Last fallen. Das nächste Mal sollte ich Geld für meine Dienste verlangen.“ „Iulia“, sagte Emilia. Etwas in Iulias Stimme brachte sie dazu, die Feder beiseite zu legen und sich zu erheben. Da war etwas ehrlich Verletztes, das für den Bruchteil einer Sekunde über Iulias Gesicht huschte. Dann wurde es von Ärger verschluckt, den Iulia immer vorschob, wenn sie nicht weiter wusste. Erneut zog sich ein unangenehmer Stich durch Emilias Brust. Es war nicht befriedigend, den Stolz einer Frau wie Iulia zu verletzen. Sie griff nach ihr, legte die Hand sachte auf ihren Arm und sah sie an. „Es ist nur noch ein bisschen länger. Bald wird alles anders sein.“ Iulia sagte einen Moment lang nichts. Dann schloss sie die Augen und atmete langsam aus, sichtlich darum bemüht, nicht in die Luft zu gehen. „Du sprichst immer nur in Rätseln zu mir, weil du mir nicht vertraust.“ „Ich vertraue dir mehr als anderen“, sagte Emilia ehrlich. „Das heißt nicht viel“, sagte Iulia trocken. Sie öffnete die Augen wieder, diese unendlich grünen Augen, die nur heller wurden, je mehr ihr Feuer aufloderte. „Ich weiß wirklich nicht, ob wir hier noch auf der gleichen Linie sind, Emilia. Wenn ich mich als Spielzeug benutzen lassen will, das man nach Belieben benutzt und dann ignoriert, dann brauche ich dich nicht dazu - dann könnte ich mich einfach dieser Gesellschaft ergeben und demütig das Haupt neigen. Ich könnte es verschmerzen, wenn es ein Abend wäre. Aber das geht jetzt schon seit Wochen. Und ich bin es leid, in deinem Körper nach einer Verbindung zu suchen, die ich von deiner Seele haben will. Und deine Seele sind deine Gedanken.“ Ihre Worte waren wie Peitschenschläge, aber die Art, wie sie mit den Fingerspitzen über Emilias Handgelenk strich, waren sanft genug, dass Emilia wusste, dass dies hier nicht die Endstation war. „Gerade deine Seele. Bitte mich erst wieder zu dir, wenn du bereit bist, sie wieder mit mir zu teilen.“ Emilias Mund war trocken. Es war seltsam, dachte sie, dass sie vor wenigen Minuten noch auf genau dies gehofft hatte - auf Ruhe ohne Ablenkungen. Jetzt erkannte sie, dass Iulia so viel mehr als nur eine Ablenkung war. Und dennoch war alles, was sie sagen konnte: „Wenn du das für richtig hältst.“ Iulias brennender Blick glitt über ihr Gesicht, suchend, ehe sie einsah, dass sie nicht finden konnte, was sie suchte. Sie nickte abrupt, ein zersplitterter, verwundeter Ausdruck in ihren Augen, ehe sie sich die Palla überstreifte, die Kapuze über den Kopf warf und lautlos ohne ein weiteres Wort des Abschieds durch den geheimen Gang verschwand, der sie auch hergeführt hatte. Einen Moment lang stand Emilia reglos in der Mitte ihres Zimmers. Natürlich, es gab immer einen Preis zu bezahlen, und das Wohl und Ansehen von Byzanz hatte immer an oberster Stelle der Prioritäten zu liegen. Aber Iulia war die eine Sache, die nur für sie selbst war und nun musste sie erkennen, dass es wehtat, sie aufs Spiel zu setzten. Es half nichts. Wenn man nicht dafür bluten und büßen musste, war es eine Sache nicht wert. Sie atmete tief durch, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Dann setzte sie sich zurück an den Schreibtisch und versuchte zu ignorieren, wie still es plötzlich um sie herum war. Iulia stand zu ihrem Wort, was zu erwarten gewesen war, und ließ die ganze nächste Woche nicht von sich hören oder sehen. Emilia redete sich ein, dass ihr das nur recht war, denn sie hatte anderweitig zu tun. Langsam, unbeobachtet von den Augen der Welt, spitzten sich die Dinge zu. Tagsüber gab sie die dienstbeflissene Äbtissin, die in der Ausübung ihrer Pflichten weder nach links noch nach rechts blickte und dem Kaiserpaar treu ergeben war. Nachts jedoch widmete sie sich der Sache, der sie sich verschrieben hatte: Die Rettung des Landes. Und wer hätte erahnen können, dass sich diese Rettung so unverhofft ergeben würde. Sie waren unvorbereitet gekommen, diese Informationen, mit denen sie nun arbeitete und die ihr Handeln maßgeblich beschleunigt hatten. Es war nicht damit zu rechnen gewesen, dass die Totgeglaubten sich aus dem Nichts des Vergessens erhoben, doch gleichzeitig bestärkten sie diese neuesten Entwicklungen darin, dass sie Recht hatte. Byzanz brauchte einen anderen Herrscher, seinen rechtmäßigen, der nicht zögerte noch zauderte und den Feinden des Reiches den Kampf ansagte, anstatt Bündnisse anzustreben, die ohnehin so fragil waren wie frisch gewobene Seidenfäden. Es war ein Zeichen Gottes, dieser Weg, der sich ihr und ihren Verbündeten erst vor wenigen Tagen offenbart hatte. Ein neuer Kaiser musste her, jemand mit Kampfgeist und Entscheidungskraft, jemand, der gewillt war, den harten Weg zu beschreiten. Das war der Wunsch, der sie mitten in der Nacht mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze und der Palla voller darin vernähter Informationen in die Nähe des Goldenen Tors hasten ließ, wo ihr Kontakt bereits auf sie wartete. Sie hielt sich in den Schatten und bewegte sich mit äußerster Vorsicht - wenn man sie hier erwischte, würde es schwer werden, sich zu erklären. Das Goldene Tor selbst war bewacht, aber sie ließ es zu ihrer Rechten zurück und schlüpfte in eine schmale Seitengasse, wo eine einzige Person an die schäbige Hauswand gelehnt stand und im Schein einer Fackel auf sie wartete. Ein Rabe saß auf seiner Schulter und hob verschlafen den Kopf, als Emilia sich näherte. Die Kapuze war ihrem Kontakt etwas heruntergerutscht und legte ein paar bronzefarbene, im Fackellicht fast orangefarben wirkende Haarsträhnen frei. Er war dunkel und simpel gekleidet, aber an seiner Hüfte glitzerte eine reich verzierte Schwertscheide, in der ein deutlich oft benutzter Griff darauf vermuten ließ, womit ihr Kontakt sein Brot verdiente. Aquamarinfarbene Augen sahen ihr geradezu ausdruckslos entgegen; dann, wie als ob man ihn aufgezogen hatte, lächelte er plötzlich und trat einen Schritt nach vorne. „Ehrwürdige Mutter“, sagte er leise, „schön, dass Ihr es geschafft habt.“ Emilia unterdrückte das leise Gefühl des Unbehagens, das der Mann immer noch in ihr auslöste - er hatte etwas an sich, das falsch wirkte, ohne dass sie sagen konnte, was es war. Sie nickte ihm zu. „General Zenon.“ „Habt Ihr die Informationen?“ Sie nickte erneut und holte ein kleines Messer heraus, mit dem sie rasch die Fäden löste, die die Papiere in der Innenseite ihrer Palla gehalten hatten. Als sich ihre Finger bei der Übergabe streiften, konnte sie erneut nicht anders, als ein Gefühl des Unbehagens zu verspüren. General Zenons Haut war eiskalt. „Habt keine Angst“, sagte General Zenon leise mit seiner sanften Stimme, sichtlich ihre Körperspannung und ihren Gesichtsausdruck missinterpretierend, „Eure Mithilfe ist von unfassbarem Wert für die Vorbereitung der Rückkehr des wahren Kaisers.“ Er lächelte und da lag ein seltsamer Glanz auf seinem Gesicht, der Emilia einen Moment lang fast in ihrem Tun zaudern ließ, doch sie weigerte sich, tatsächlich so etwas wie Nervenflattern zu verspüren. Stattdessen reckte sie das Kinn. „Alles, was ich tue, tue ich für das Wohl von Byzanz“, sagte sie ruhig. „Glaubt mir“, sagte General Zenon weiterhin lächelnd, „Basileus Irenéos sieht das genauso wie Ihr.“ Kapitel 9: TEIL I - KAPITEL IX: Iulia ------------------------------------- „Ihr seid abgelenkt“, sagte Meister Iwanov mit einer Stimme, die deutlich sein Missfallen über diese Tatsache ausdrückte. Das konnte Iulia nicht einmal wirklich abstreiten. Der Streit mit Emilia lag schon einige Tage zurück, und doch fühlte er sich wie ein Stein in ihrem Magen an. Sie blinzelte und blickte von den Skizzen auf, an denen sie gerade mit Meister Iwanov arbeitete. Die Ölskizzen mussten nun in Originalgröße als Ausschnitte auf Papier gebracht werden, um sie später an die Wand zu bringen. Wenn Meister Iwanov bei den Ölskizzen schon streng gewesen war, war er nun geradezu drakonisch, aber inzwischen konnte Iulia mit seiner Art umgehen. Seine Kritik war immer berechtigt und je schneller und besser sie darauf reagierte, desto schneller waren auch die Wogen wieder geglättet. Jetzt aber hatte er sie erwischt und war nicht begeistert, vermutlich zu Recht. Sie bemühte sich um ein entschuldigendes Lächeln und wischte ihre tintenfleckigen Finger an einem Lappen ab. „Entschuldigt. Jetzt war ich wohl einen Moment in Gedanken“, sagte sie in Erinnerung an eine ähnliche, aber umgekehrte Unterhaltung vor einiger Zeit. Meister Iwanov musterte sie eine ganze Weile wortlos mit seinen hellen Augen, dann schüttelte er den Kopf. „Einen Moment kann man das nicht mehr nennen, wenn es Euch schon die ganze Zeit beschäftigt. Also heraus mit der Sprache.“ Iulia starrte ihn verdattert an. Natürlich, sie kamen mittlerweile gut miteinander zurecht, aber ihre Gespräche beschränkten sich vor allem auf Kunst und Handwerk, was Iulia nur recht war. Diese Aufforderung zum Teilen von Sorgen war … überraschend. Scheinbar musste etwas von ihrer Überraschung auf ihrem Gesicht gestanden haben, denn Meister Iwanov seufzte ungeduldig: „Ihr arbeitet lahmer als eine, wie sagt man, angeschossene Ente, wenn Ihr die ganze Zeit vor Euch hin grübelt. Ist es eine Frau?“ „Äh“, sagte Iulia und wunderte sich, wie sie in die bizarre Situation gekommen war, ganz offen - nun, mehr oder weniger - über ihre Liebesprobleme mit dem Maler sprechen zu können. Der Maler seufzte erneut, diesmal noch ungeduldiger. „Natürlich, es ist eine Frau. Lasst mich raten: Sie ist verheiratet.“ „Seid Ihr nicht so etwas wie ein Mönch?“, fragte Iulia empört, wenn auch nicht unbelustigt über die Ironie seiner Aussage. „Dürft Ihr mit mir überhaupt über solche Angelegenheiten sprechen?“ „Jaja, ich verurteile Euch dann im Anschluss auch gebührend für Euer lasterhaftes Leben“, sagte Meister Iwanov weiterhin ungeduldig, aber sie erhaschte dennoch einen Blick auf ein Schmunzeln, als er den Kopf abwandte und sich wieder über das Blatt beugte, auf das er gerade einen vergrößerten Ausschnitt der Skizze zeichnete. „Allerdings war ich nicht immer Mönch. Ihr müsst natürlich nicht, Gott weiß, dass es mir lieber wäre. Aber dann reißt Ihr Euch jetzt auch zusammen und arbeitet weiter, ohne dass ich mir Euer ständiges Geseufze und ins-Leere-Gestarre antun muss, denn so sind wir erst in zehn Jahren fertig.“ Iulia verkniff sich ein Lachen, weil die ganze Situation absurd war, dann fuhr sie sich über die Haare der Perücke, unter der ihre echten Haare kratzten. Sie hatte ein Vermögen für diese Perücke bezahlt, aber dafür wirkte sie täuschend echt. „Ja, es geht um eine Frau“, gab sie schließlich zu, „und ja, sie ist … einem anderen versprochen.“ Sie schätzte, dass das Emilias Status als Geistlicher noch am nächsten kam, ohne offen zu lügen oder sie zu entblößen. Meister Iwanov hob eine rote Braue und sah sie über die Länge des Tischs hinweg an. Er hatte in den letzten Wochen an Gewicht zugelegt, das seine harten Gesichtszüge ein wenig mehr ausgefüllt hatte und seinen Körper gesund-sehnig statt ausgemergelt-sehnig wie zu Beginn wirken ließ. Die tiefe Wunde in seiner Braue war am Verkrusten und würde sicherlich vernarben, was seinem verwegenen Äußeren nur ein Element hinzufügte. „Ist sie in guter Hoffnung von Euch?“ Iulia blinzelte, dann brach sie in Gelächter aus. „Nein, das ist es nicht. Ist Euch das etwa schon einmal passiert?“ Meister Iwanov zuckte mit den Achseln. „Ich war kein Kind von Traurigkeit in meiner Jugend, kann schon sein, dass irgendwo ein paar Bastarde von mir herumlaufen.“ Iulia musterte ihn. Die Kaltblütigkeit von Männern überraschte sie nicht mehr, aber sie konnte nicht anders, als eine Sekunde lang an die namenlosen Frauen zu denken, die durch die flüchtige Begegnung mit einem charismatischen Mann ihr Leben lang auf irgendeine Art Leid erlitten. Meister Iwanov musterte sie, dann schenkte er ihr ein kleines, hartes Lächeln, das ehrlicher war als jedes andere Lächeln, das sie jemals erhalten hatte. „Warum, glaubt Ihr, wird man in der Mitte seines Lebens Mönch? Meistens nicht, weil man zuvor so ein beschauliches, gottgefälliges Leben geführt hat. Also, was ist jetzt mit dieser Frau, wenn sie nicht schwanger ist, ist ihr Mann dahinter gekommen?“ Iulia schüttelte den Kopf und ignorierte ihren trockenen Mund. „Wir hatten einen Disput. Sie … ist in letzter Zeit mit sehr vielen anderen Dingen beschäftigt, selbst wenn ich bei ihr bin.“ „Ah“, sagte Meister Iwanov, „Ihr seid eifersüchtig. Das ist alles? Meine Güte. Dann zeigt Ihr eben, wie wichtig Ihr seid.“ „Ich respektiere ihre Grenzen“, sagte Iulia angespannt. Meister Iwanov hob erneut eine Augenbraue und starrte sie ein paar Herzschläge an, dann legte er den Stift nieder. „Ich glaube, Ihr missversteht mich oder schätzt mich aufgrund meiner vorherigen Aussage falsch ein. Ich sage Euch nicht, dass Ihr nicht ihre Grenzen respektieren sollt - was ich im Übrigen mit jedem meiner Bettpartner immerzu getan habe.“ Sie horchte auf, weil er die maskuline Form von „Bettpartner“ in seinem Griechisch anwandte, doch sie konnte sich nicht sicher sein, dass es nicht einfach ein grammatikalischer Fehler war, der ihm gelegentlich unterlief und er sprach sogleich weiter: „Ich sage Euch, dass Ihr sie daran erinnern sollt, aus welchen Gründen sie sich mit Euch einlässt. Und das könnt Ihr interpretieren, wie Ihr wollt.“ Iulia starrte ihn an, dann lachte sie. „Gebt Ihr mir gerade den Rat, dass ich sie an meine Fähigkeiten als Liebhaber erinnern soll?“ „Wenn es das ist, was Ihr daraus entnehmt, dann ist es wohl so“, sagte Meister Iwanov. Seine Lippen zuckten, als ob er lachen wollte, dann zog er die Brauen streng zusammen und die Mundwinkel herunter. „Aber erst einmal arbeitet Ihr vernünftig, habt Ihr gehört? Ansonsten ist die beschäftigte Geliebte Euer geringstes Problem!“ Erstaunlicherweise fiel es Iulia danach einfacher, konzentriert arbeiten zu können. Das Leben, das sie lebte, bedurfte eines Hochseilaktes, der seinen Preis hatte. So gab es nur wenige Menschen, mit denen sie über gewisse Dinge sprechen konnte, und keinen einzigen, mit dem sie über alles sprechen konnte. Ihr Bruder hatte alles von ihr gewusst, als sie noch gemeinsam unter einem Dach gelebt hatten. In Zeiten wie diesen vermisste sie ihn, mit dem sie nur Briefe austauschen konnte, in denen sie aus Sorge um fremde Mitlesende auf der Strecke bei weitem nicht alles sagen konnte. Raulus‘ Weg führte ihn nur noch ein oder zwei Male im Jahr nach Konstantinopel, was zwar bedeutete, dass sie seine Identität nutzen konnte, aber auch hieß, dass er nicht hier war. Mit Romulus über ihre Liebschaften zu sprechen empfand sie als seltsam unangebracht. Sie hatten ein Arrangement, das für sie beide funktionierte, aber es gab gewisse Grenzen. Und Emilia wiederum kümmerte es nicht, besonders viel von Romulus oder ihrem Sohn zu hören. Es war erfrischend gewesen, mit jemandem zumindest in Ansätzen über ihre Probleme mit Emilia zu sprechen. „Gut“, sagte Meister Iwanov einige Stunden später schließlich, als das Licht, das durch die Fenster der Hagia Sophia fiel, bereits schlechter wurde und sich orange färbte. „Ich denke, wir sind heute ein gutes Stück vorangekommen. Morgen noch, dann können wir endlich damit beginnen, die Skizzen auf die Wand zu übertragen.“ Er überraschte Iulia erneut, indem er eine Hand auf ihre Schulter niedersausen liess. „Kommt mit mir in die Taverne.“ „Oh“, sagte Iulia überrascht, aber erfreut, denn ihr war gerade heute noch nicht danach, heimzukehren, „ja, wieso nicht!“ Hinter ihnen folgte Nadeschda auf ihren lautlosen, großen Pranken, als sie die Kirche verließen. Iulia lächelte der Wolfshündin zu, dann sah sie zu dem Maler. „Wie seid Ihr zu ihr gekommen?“ „Ich war bereits auf der Reise“, sagte Meister Iwanov nach einer kleinen Pause, „die mich durch die Wälder Sibiriens führte. Ihre Mutter dürfte angefallen worden sein - eine Hündin, groß und kräftig, aber eindeutig nicht Teil des Waldes. Sie war tot. Die anderen Welpen auch. Nadeschda war kaum noch am Leben und sie war sehr klein.“ „Ihr habt sie mitgenommen“, schlussfolgerte Iulia. Er war ein Mann von erstaunlichen Widersprüchen. Vermutlich war sie die letzte, die ihn dafür verurteilen konnte oder wollte. Dennoch war diese weiche Seite an ihm erstaunlich. Meister Iwanov nickte. „Ehrlich gesagt dachte ich, dass ich sie nur zum Sterben mitnehme, aber sie war zäh. Der Herr dürfte ein Herz für sie gezeigt haben.“ „Und klein ist sie definitiv auch nicht geblieben“, stellte Iulia fest. Meister Iwanov schmunzelte. „Nein, das ist sie nicht.“ Sie gingen an der Straße entlang, die vor abendlicher Betriebsamkeit summte. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung war und ihre Überraschung hielt sich in Grenzen, als der Dämon des Palasts an Meister Iwanovs Seite erschien. Sie hatte den Maler mit Fragen bestürmt, nachdem er hinkend und mit Verletzungen am Arm und im Gesicht in die Kirche gekommen war, bis er schließlich nachgegeben und ihr erzählt hatte, was passiert war. Zugegeben hatte sich Iulia an dieser Sensation noch immer nicht sattgehört und -gesehen, denn Kai war normalerweise nie weit vom Kaiserpaar entfernt. Dies war das erste Mal, dass sie nahe aneinander kamen. Sie spannte sich an, als seine rostbraunen Augen über sie schweiften, denn immerhin kannte er Iulia von deren Besuchen im Palast, doch seine Aufmerksamkeit galt sofort wieder Meister Iwanov. „Kommst du etwa mit uns mit in die Taverne?“, fragte der ihn amüsiert und ohne Begrüßung, blieb jedoch einen Moment stehen. Kai schüttelte den Kopf und berührte flüchtig seinen Arm. Dann neigte er sich zu ihm - der Maler senkte ihm ohne nachzudenken den Kopf entgegen - und murmelte so leise etwas in sein Ohr, dass Iulia nichts verstand. Meister Iwanov hingegen richtete sich wieder auf und nickte ihm zu. Das war scheinbar alles, was Kai benötigt hatte, denn sein Blick glitt noch einmal über Iulia, dann, wesentlich hitziger, über den Maler, ehe er die Hand von seinem Arm nahm und so lautlos verschwand, wie er gekommen war. Meister Iwanov setzte seinen Weg fort, als ob nichts gewesen war. Iulia starrte ihn von der Seite her an. „Wollen wir über den Palastdämon sprechen?“ „Definitiv nicht“, sagte Meister Iwanov umgehend, „und nennt Ihn nicht so, er hat einen Namen. Dämonen sehen anders aus.“ „Ich habe nichts gegen ihn“, erwiderte Iulia beschwichtigend. Sie hatte allerdings Fragen zu dem Verhältnis zwischen dem Maler und Kai, Fragen, von denen sie noch nicht wusste, wie sie sie stellen sollte - besonders, ohne sich selbst zu kompromittieren. Meister Iwanov warf ihr einen scharfen Blick zu, aber er sagte nichts, sondern hielt ihr nur die Tür auf. „Ah“, sagte er dann mit einem Blick hinein, „Ivan und Sergios sind schon da.“ „Oh?“ Iulia warf einen Blick auf den Tisch, auf den sein langer, dünner Finger zeigte, und erstarrte. Sie kannte den großen, blonden Mann, der dort saß, nur zu gut. Er hatte geholfen, ihren Sohn auf die Welt zu bringen. Und er hatte sie zusammen mit seiner Frau Mathilda in den Monaten davor intensiv begleitet, während sie mit ihrer schwierigen Schwangerschaft gekämpft hatte. Sie konnte unmöglich dort hinein. Sergios würde sie definitiv erkennen, alleine schon, weil er wusste, wie der wahre Raulus aussah. Iulia räusperte sich. „Ich habe vergessen, dass ich schon etwas vorhabe.“ Meister Iwanov zog die Brauen zusammen. „Aha?“ Sie wich seinen bohrenden, hellen Augen aus und nickte nur, trat rasch einen Schritt zurück, bevor sie doch noch aus der Taverne heraus gesehen werden konnte. „Ein andermal vielleicht.“ „Das klingt nach einer faulen Ausrede“, stellte Meister Iwanov fest, „habt Ihr etwa Streit mit Ivan? Sergios?“ Er klang ein wenig ungläubig bei dieser Möglichkeit, was Iulia gut nachvollziehen konnte, denn der Arzt war einer der sanftmütigsten Männer, die Iulia jemals untergekommen waren. Rasch schüttelte sie den Kopf. „Nichts dergleichen, denkt Euch nichts dabei. Ich bin morgen wieder zur gleichen Zeit in der Kirche.“ Meister Iwanov blickte drein, als ob er sich gerne streiten wollte, dann nickte er jedoch nur. „Nun gut, dann ein andermal.“ Sie bemühte sich um ein Lächeln und eilte davon, ehe einer von Meister Iwanovs Freunden noch nachsehen kommen konnte. Das Herz hämmerte ihr in der Brust, als sie sich erlauben konnte, darüber nachzudenken, wie brenzlig die Situation hätte werden können. Iulia hatte das Gefühl, dass die Luft in Konstantinopel irgendwie dünner wurde. Sie würde aufpassen müssen. Kapitel 10: TEIL I - KAPITEL X: Takaos -------------------------------------- Hyromias Hand lag kühl auf seiner Braue, als Takaos mit einem Keuchen aus dem Schlaf aufschreckte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sein Atem sich wieder beruhigt hatte. Er rieb sich über das Gesicht und atmete tief durch, dann sank er zurück in die Kissen aus ägyptischem Leinen und nahm dankbar die sanften, tröstenden Berührungen an, die Hyromia ihm spendete. „Hattest du einen schlechten Traum?“, fragte sie sachte. Ihre Stimme war kaum mehr ein Flüstern in einem Raum, der vom diffusen Licht der Morgendämmerung durchdrungen wurde. Takaos gab ein zustimmendes Geräusch von sich, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. „Es hat sich so seltsam … real angefühlt.“ „Möchtest du mir davon erzählen?“ „Ich habe von zwei Drachen geträumt“, sagte Takaos langsam und nachdenklich, „beide wurden sie vom Sturm begleitet. Ich kann nicht sagen, woher ich es wusste, aber sie kannten sich - Gefährten vielleicht, Geschwister oder Liebhaber oder enge Freunde. Aber sie kämpften miteinander. Es ging um …“ Er dachte mit gerunzelter Stirn nach, dann erhellte die Erinnerung sein Gesicht. „Es ging um ein goldenes Füllhorn. Es war so bitter, die Art und Weise, wie sie miteinander kämpften, ich kann es nicht einmal richtig beschreiben …“ Hyromias kluge, dunkle Augen lagen fortwährend auf ihn gerichtet, während er sprach. Als sein Satz verklang, neigte sie sich ein wenig mehr zu ihm und drückte einen sanften Kuss auf seine Wange. „Was ist dann passiert?“ „Der Ältere verwundete in seinem Streben nach dem Horn den Jüngeren tödlich“, sagte Takaos traurig, „aber dann bäumte der Jüngere sich sterbend noch ein letztes Mal auf und zerriss ihn, und das Blut des Älteren floss über das Gold des Horns und färbte es rot.“ Sie schwiegen. Takaos nahm Hyromias Hand zwischen die eigenen und drückte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen, dann ließ er sie los und griff nach dem Krug, der neben seinem Bett stand, um sich einen Becher voll Wasser einzuschenken. Sein Mund war seltsam trocken, als ob der Sturm in seinem Traum seine Spuren auch an seinem Körper hinterlassen hatte. „Ich kann nicht anders, als zu denken, dass das ein schlechtes Omen ist“, sagte er schließlich und stellte den Becher ab, um sich zurück zu Hyromia zu drehen. „Es war nur ein Traum“, sagte diese beschwichtigend, was er schon erwartet hatte. Seine Frau war pragmatisch, eine Denkerin mit Idealismus, das war, was er so an ihr schätzte. Sie glaubte an Gott auf eine Art und Weise, die sehr persönlich und schwer zu greifen war, fand Sicherheit und Routine in den religiösen Ritualen ihres Lebens, aber an so etwas wie göttliche Zeichen zu glauben fiel ihr schwer. „Mein Großvater träumte von Drachen, ehe die Lateiner Konstantinopel einnahmen“, wandte er ein, „ein geflügelter Drache, der einen Lindwurm besiegte. Und der Traum gab ihm Recht.“ „Träume sind nichts als Interpretationssache, Liebster“, erwiderte Hyromia beschwichtigend, aber überzeugt. Sie griff nach ihm und zog ihn zu sich, bis sein Kopf auf ihrer nackten Brust ruhte. „Denk nicht zu viel darüber nach, was die Nacht dir gebracht hat, wenn dir die Gaben des Tages noch bevorstehen.“ „Ich weiß nicht, ob man das einfach so von der Hand wischen kann.“ Hyromia schüttelte den Kopf. „Es war nur ein Traum“, wiederholte sie, „du hast in letzter Zeit hart gearbeitet, es ist kein Wunder, wenn du sehr lebhaft träumst. Aber es ist auch nur das: Ein Zeichen von Übermüdung. Wir haben unser Schicksal selbst in der Hand, die Zukunft ist nicht festgeschrieben, Takaos.“ „Ich bin froh, dass ich dich habe“, sagte Takaos ehrlich und strich über ihren Arm, dann sah er zu ihr auf. Einen Moment lang lächelten sie sich an, dann ergänzte er leise: „Ich hoffe, dass ich dich genauso vor dem Verlorengehen bewahre, wie du es für mich tust.“ „Immer“, sagte Hyromia, ihre Augen hell und glänzend, schlang die Finger um seine und hielt ihn fest, bis es an der Zeit war, sich den Herausforderungen des Tages zu stellen. Trotz ihrer beschwichtigenden Worte verfolgte der Traum Takaos durch den ganzen Tag hindurch. Er grübelte darüber während des Frühstücks und er grübelte darüber, als er in seinem Besprechungsraum über den Dokumenten brütete, die für die Zusammenkunft mit seinen Beratern am Nachmittag vorbereitet werden mussten. Die Dokumente verschwammen vor seinen Augen; plötzlich schien er in der Tinte nur noch das Blut des sterbenden Drachen zu sehen, der verlassen von Sturm und Kräften über dem goldenen Horn verendete. Was war mit dem zweiten Drachen geschehen, dem jüngeren? War auch er verendet? Hatte ihm das Schicksal des Älteren das Herz gebrochen? Er wünschte sich Hyromias Sicherheit darüber, dass es nur eine seltsame Laune seiner Fantasie war, die ihn im Schlaf heimgesucht hatte. Es wäre nicht das erste Mal, denn sein Verstand war höchst rege und produzierte auch in seinen Ruhephasen die interessantesten Bilder. Und doch konnte er das Gefühl, dass es sich hier um eine seltsame Vorwarnung handelte, nicht abschütteln. Sein Großvater hatte ihn gelehrt, dass Gottes Wege unergründlich und seine Zeichen vielschichtig waren. Als er jung gewesen war, hatte er dies nie verstanden, aber mittlerweile war er besser darin geworden, die Augen danach offen zu halten. Takaos wurde durch das wiederholte, respektvolle Rufen seines Namens aus seinen Überlegungen ausgeschreckt und blickte ein wenig verwirrt auf den Bediensteten, der sich augenblicklich tief verneigte, sobald der Blick des Kaisers auf ihm ruhte. „Der ehrwürdige Vater Maxim bittet darum, zu Euch vorgelassen zu werden, Basileus“, murmelte er demütig, woraufhin Takaos augenblicklich zustimmend mit der Hand winkte. „Er soll zu uns vorgelassen werden“, beschied er ihm, woraufhin der Bedienstete sich erneut verneigte und den Raum verließ. Wenig später trat Maxim mit den üblichen raschen, motivierten Schritten ein und umrundete lächelnd den Tisch, um Takaos freundschaftlich mit einem Kuss auf die rechte und die linke Wange zu begrüßen. Es war wohltuend, ihn zu sehen. Takaos verband mit Maxim wesentlich mehr als nur eine politisch-geistlich motivierte Verbindung, im Gegenteil, der Patriarch war einer der wenigen Menschen, die Takaos ehrlich als seine Freunde bezeichnete. Nicht viele Leute wussten, wie es wirklich um sein Herz beschieden war und wie der Mann hinter dem Kaiser, dem General, dem Byzantiner aussah, aber Maxim gehörte dazu und hatte sich dieses Vertrauens schon tausendmal würdig erwiesen. „Du wirkst müde“, stellte Maxim fest und musterte ihn besorgt. „Ist alles in Ordnung? Hast du schlecht geschlafen?“ „Ach, es ist nichts“, winkte Takaos ab, ehe er doch zögerte. Maxim musste dieses Zögern bemerkt haben, denn er legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du kannst frei heraus mit mir sprechen, mein Freund. Du weißt, dass ich dich nicht verurteilen werde.“ Takaos, dankbar um die Möglichkeit, gab sich nun doch einen Ruck und berichtete seinem Freund von dem Traum der letzten Nacht, der nun seine Gedanken beherrschte, und Hyromias Worten, die sie nach dem Aufwachen an ihn gerichtet hatte. Während er erzählte, strich Maxim sich nachdenklich über den goldblonden Vollbart. Als Takaos geendet hatte, verschränkte er die Arme hinter dem Rücken und wanderte langsam auf und ab. „Ich möchte die Worte der Basilissa nicht vollkommen abwinken“, sagte er schließlich und blieb neben Takaos stehen, um ihn aufmerksam anzusehen. „Aber ich stimme ihr auch nicht vollkommen zu. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir zu verstehen imstande sind, und die Wege des Herrn sind unergründlich. Er lächelt hinab auf die, die seinen Willen tun und belohnt jene, die aufmerksam zuhören, mit seinem Wort. Sicherlich könnte es sich hier nur um lebhaftes Hirngespinst handeln.“ Ein herzhaftes Lachen entwich ihm. „Wir wissen beide, dass die letzten Wochen vor dieser Besprechung hart für dich waren. Geringere Herrscher als du wurden da schon von schlimmeren Träumen geplagt. Aber dass es ausgerechnet Drachen in deinem Traum waren …“ „Das hat auch mir zu denken gegeben“, merkte Takaos an. Seine Familie hatte eine jahrhundertealte Verbindung zu Drachen. Manch einer seiner Vorfahren, unter anderem auch sein geliebter Großvater, hatte sogar behauptet, dass sich ihre Linie bis auf einen griechischen Drachentöter zurückverfolgen ließ. Maxim wiegte gedankenvoll den Kopf. „Der Herr ist auf deiner Seite, Takaos, du bist sein erwählter Herrscher über das Erbe Roms, das heiligste Reich der Welt. Begib‘ dich in seine Hand und akzeptiere diesen Traum als eines seiner Zeichen, aber lass dir nicht von ihm die Sinne verwirren. Das ist sicher nicht der Sinn der Sache.“ „Vermutlich hast du recht“, sagte Takaos mit einem tiefen Seufzer, „ich bekomme es nur einfach nicht aus meinem Kopf.“ „Ich denke, dass die heutige Zusammenkunft dir schon sehr schnell andere Denkaufgaben geben wird“, erwiderte Maxim mit einem kleinen Schmunzeln. „Ich bin gespannt, ob die Sache mit den Bulgaren endlich gelöst werden kann.“ „Ich auch.“ Takaos rieb sich über das Gesicht. „Byzanz braucht dringend Stabilität und mehrere Jahre ohne Krieg. Ich weiß, Kriege sind glorreich, aber die ganzen sterbenden Söhne und Ehemänner sind es nicht, und selbst wenn wir Bulgarien einnehmen könnten, ist es mehr als fraglich, ob wir diese Landstriche auch noch wirtschaftlich versorgen könnten. Wir müssen uns dringend auf den Ausbau innenpolitischer Strukturen konzentrieren, dann kann man auch darüber nachdenken, die Genueser loszuwerden.“ „Du weißt, dass ich in dieser Angelegenheit auf deiner Seite bin.“ „Ich weiß.“ Takaos klopfte ihm auf die Schulter. „Ich bin wirklich dankbar für deine unerschütterliche Unterstützung, weißt du das?“ Maxim lächelte warm und ehrlich, dann verneigte er sich tief vor ihm. „Es ist mir eine Ehre, mit dir gemeinsam Byzanz zu dienen, mein Freund.“ „Das kann ich nur zurückgeben.“ Takaos schmunzelte und beugte sich wieder über die Dokumente, die vor ihm ausgebreitet waren. „Ich fürchte, jetzt muss ich dich allerdings hinauskomplimentieren. Ich muss hier noch einiges vorbereiten.“ „Ich bin tödlich getroffen“, lachte Maxim, wurde dann jedoch wieder ernst. „Gibt es einen Grund, warum Kai nicht in deinem Schatten wacht, mein Freund?“ „Was sagt dir, dass er das nicht tut? Eine seiner Vorteile besteht doch genau darin, dass man ihn nicht gleich sieht.“ Maxim schüttelte den Kopf. „Ich weiß mittlerweile, wann er da ist und wann nicht.“ Takaos seufzte und rieb sich über die Braue. Ohne es zu wissen hatte Maxim einen wunden Punkt getroffen, über den er nicht gerne nachdachte. Kai sonderte sich seit Tagen von ihm und Hyromia ab, ohne dass er sagen konnte, was der Grund dafür war. Natürlich, Kai war ihm keine Rechenschaft schuldig - er hatte die Lebensschuld immer ernster genommen als Takaos, dem es seit dem Tag ihrer ersten Begegnung gereicht hatte, in inniger Freundschaft, vielleicht sogar Liebe mit ihm verbunden zu sein. Jahrelang hatten er, Hyromia und Kai in einem gut geölten Rad fungiert, das allein ihre Sache war und so viele Vorteile mit sich brachte. Er hatte gedacht, dass er mehr über Kai wusste als jeder andere, Hyromia ausgeschlossen, hatte gedacht, dass Kai ihm genauso das Herz entblößt hatte wie er ihm das seine. Aber nun gab es etwas, das er ihm verschwieg, und Takaos wusste nicht einmal, ob er wirklich wissen wollte, was es war. Als Kaiser war er an gewisse Dinge gebunden, die Kai freistanden. Es war ihm bisher nur nie in den Sinn gekommen, dass Kai von diesen Dingen vielleicht auch Gebrauch machen wollte, und der Gedanke ließ sein Herz auf eine Weise bluten, die ein Kaiser sich nicht erlauben konnte. „Du magst Recht haben“, gab er dennoch zu, „etwas lenkt ihn ab, aber ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Ich werde mich darum kümmern, sobald endlich der außenpolitische Kurs für die nächsten beiden Jahre geregelt ist.“ Maxim nickte, aber da war ein sorgenvoller Ausdruck in seinen Augen. „Wir sehen uns später?“ „Natürlich“, sagte Takaos lächelnd. Das Lächeln blieb bestehen, bis die Tür sich hinter Maxim schloss, dann glitt es von seinen Lippen und tropfte auf die Dokumente vor ihm. Er starrte darauf und lauschte auf die Stille in den Schatten, die tatsächlich leer und kalt blieben. Dann machte er einen tiefen Atemzug und gab sich einen Ruck. Es gab Dinge zu tun, und das Reich scherte sich nicht um die persönlichen Befindlichkeiten des Kaisers, der es in die Zukunft lenkte. Das war der Preis, den er bezahlt hatte. Als seine Berater schließlich zur vereinbarten Zeit in den Besprechungssaal hereintröpfelten, stand die Sonne schon etwas gen Westen geneigt, nicht mehr in ihrer vollen Höhe. Der Raum wurde mit Licht geflutet, als Takaos sie willkommen hieß: Manabos, der sich vor ihm verneigte und dann emsig seine Unterlagen vorbereitete, um seine Rolle so gut wie möglich einzunehmen. Rei mit seinem rätselhaften Lächeln und dem Glimmen in seinen katzenhaft unergründlichen Augen, deren Ausdruck erneut ruhige, aber deutliche Einwände gegen Takaos‘ Kurs versprachen. Maxim, der ihm nur noch einmal zunickte und sich dann zu seiner anderen Seite positionierte, um sich über Manabos‘ Papiere zu neigen und ihm leise etwas zuzumurmeln. Eine Handvoll der einflussreichsten Generäle seiner Streitkräfte, die ebenfalls ein Mitspracherecht hatten. Kai fehlte in ihrem gewohnten Spiel wie die zerrissene Saite einer Laute. Takaos versuchte sich nicht davon beirren zu lassen. Er wartete, bis alle versammelt waren und ihre Plätze um den Tisch eingenommen hatten, dann hob er eine Hand und ließ das Stimmengewirr verstummen. „Wir haben euch hierhergerufen, um über die Zukunft des Reichs zu entscheiden“, sagte er ohne viele Umschweife. „Seit Wochen haben wir uns mit euch über die Position des byzantinischen Reichs zu den Genuesern, den Bulgaren und der Goldenen Horde beraten, Informationen aus dem ganzen Reich und von allen Grenzen abgewogen und miteinander verglichen, um zu einem Ergebnis zu kommen. Sicherlich stimmt man uns mittlerweile zu, dass die Bulgaren das bei weitem größte Problem aus momentaner Sicht darstellen.“ Zustimmendes Gemurmel und Genicke machte sich breit. Takaos wartete einen Moment, bis es wieder erstorben war, dann fuhr er energisch fort: „Wir haben uns bereits für einen Pfad entschieden und werden unsere Gründe dafür darlegen. Zuvor möchten wir dennoch allen noch einmal die Gelegenheit geben, frei ihre Meinung zu äußern und ihre Argumente darzulegen.“ Wie er es erwartet hatte, hob Rei als Erster die Hand und verneigte sich tief, als Takaos ihm zunickte. „Wenn Ihr es erlaubt, ehrenwerter Basileus, möchte ich als Erster das Wort ergreifen.“ „Wir stimmen zu“, sagte Takaos und nickte ihm zu. Rei holte Luft. Noch ehe er jedoch ein einziges Wort herausbringen konnte, wurden die schweren, goldbeschlagenen Türen des Besprechungssaals wie von einem Windsturm aufgestoßen. Ein einzelner Bote war es, der Takaos‘ Leben unumstößlich, von einem Moment auf den anderen, für immer veränderte und jeden Gedanken an Kai oder die Bulgaren aus seinem Verstand fegte. „Er ist zurückgekehrt!“, rief der Bote außer Atem und mit sich überschnappender Stimme, „Ein Wunder ist geschehen, Dank sei Gott dem Herrn!“ „Du sprichst in Rätseln“, schnappte Takaos, der spüren konnte, wie ein dumpfes Gefühl der Vorahnung über seinen Rücken kroch und ihm die Haare auf den Armen aufstellte. Es war das gleiche Gefühl wie kurz vor einem Angriffsbefehl. Es war das gleiche Gefühl wie bei seinem triumphalen Einritt in das eroberte Konstantinopel, eine Mischung aus Gräuel und Höheflug. „Dank sei Gott dem Herrn“, rief der Bote erneut mit glänzenden Augen, „denn er hat den verlorenen Sohn heimgebracht - Irenéo ist vor den Toren Konstantinopels!“ -ENDE VON TEIL I- Kapitel 11: TEIL II - KAPITEL I: Takaos --------------------------------------- Takaos glaubte es erst, als er ihm gegenüberstand. Und selbst dann war er sich noch immer nicht ganz sicher, ob er nicht in einem sehr einnehmenden Traum gefangen war. Aber das war sein Bruder. Irenéos sah anders aus, als er ihn in Erinnerung hatte. Wann immer Takaos an seinen Bruder dachte, war er auf einem Pferd gesessen, während die langen, zusammengebundenen Haare im Wind flackerten. Er hatte ihn nie anders als in Rüstung gesehen, nie anders als im Fortgang begriffen - hin zur nächsten Schlacht, zur nächsten Grenze, zur nächsten Auseinandersetzung. Der Mann vor ihm stand auf dem Boden, gekleidet in eine staubige Tunika und noch staubigere Sandalen. Da waren keine Goldreifen auf seinen Oberarmen, sein Bart wucherte ungestutzt vor sich hin und wies wie sein Haupthaar die ersten grauen Strähnen auf, und er wirkte müde und erschöpft. Aber die Augen waren die gleichen. Takaos hätte ihn überall ohne Zweifel wiedererkannt. Und auch die Stimme war die gleiche. Sie sahen sich lange an, dann sagte Irenéos mit einem plötzlichen Auflachen: „Bei Gott, Takaos, aus dir ist tatsächlich ein Mann geworden!“ „Bruder“, wisperte Takaos und stürzte auf ihn zu, um sich in seine Arme zu werfen, als ob er immer noch ein kleiner Junge war und nicht der mächtigste Mann in Byzanz. Irenéos schloss die Arme schraubstockartig fest um ihn. Takaos vergaß auf alles, was um ihn herum passierte: auf das gaffende Volk, das zum Großen Palast geströmt war, auf seine Wachen, auf Hyromia, die rot gewandet hinter ihm auf den Stufen des Palasts stand und auf Kai, der sich vielleicht oder vielleicht auch nicht in den Schatten verbarg. Er vergaß auf den lächelnden Mann mit den türkisblauen Augen hinter Irenéos, auf den finster blickenden General mit indischen Zügen neben ihm und auf den nicht unansehnlichen Trupp, der Irenéos begleitet hatte. Er vergaß auf die Stadt, für die er so hart gekämpft hatte, und sah nur noch den Bruder vor sich, den er so lange vermisst hatte. Er atmete tief ein, dann löste er sich genug aus der Umarmung, um seinen Bruder zu betrachten. „Du bist es wirklich. Ich habe nie aufgehört, für deine Rückkehr zu beten, und jetzt hat Gott dich tatsächlich heimgebracht.“ „Wir müssen ihm dafür danken“, bestätigte Irenéos und blickte sich um, dann machte er einen tiefen Atemzug. „Es ist so seltsam, wieder daheim zu sein. Ich habe dir so viel zu erzählen.“ Er lächelte ihm zu. „Und ich denke, du mir auch.“ Takaos nickte. „Aber zuerst musst du dich ausruhen, frisch machen - und meine Gemahlin kennenlernen.“ „Oh?“ Hyromia lächelte huldvoll, als Takaos seinen Bruder die Stufen hinaufgeleitete und sie einander vorstellte, woraufhin Irenéos ihr seine respektvolle Aufwartung machte. „Seid willkommen, mein lieber Schwager.“ „Es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen, meine liebe Schwägerin“, versetzte Irenéos. „Ich denke, wir werden in Zukunft viel Zeit miteinander verbringen.“ „Lass uns ins Blachernen-Viertel aufbrechen“, schlug Takaos vor, „damit du im Blachernen-Palast zur Ruhe kommen kannst.“ Irenéos zog überrascht eine Braue hoch. „Ihr residiert nicht im Großen Palast?“ Takaos schüttelte den Kopf. „Es hat sich leider erwiesen, dass er momentan nicht sicher genug ist. Außerdem gibt es einige Räume, die der Restaurierung bedürfen, aber das steht auf unserer Liste der Erledigungen nicht ganz oben.“ „Es sollte weiter oben stehen“, stellte Irenéos fest, „der Große Palast ist das Herz dieser Stadt und damit das Herz von Byzanz. Ein Herz, das nicht schlägt, ist schwach.“ Er klopfte Takaos auf die Schulter. „Aber keine Sorge, nun bin ich hier. Wir kümmern uns darum.“ Es war nach drei Tagen noch immer beinahe nicht zu glauben. Dabei sah Irenéos nach ein paar ausgiebigen Mahlzeiten, Bädern und dem Stutzen seines Bartes wieder aus wie er selbst, auch wenn er keine Rüstung anlegte, sondern in edlen Stoffen durch den Blachernen-Palast stolzierte. Takaos fühlte ein wildes Gefühl des Glücks in seiner Brust, wenn er ihn dabei beobachtete, wie er Dienstboten Anweisungen gab oder neben Takaos stehenblieb, um seine Pläne und Dokumente zu studieren. Takaos hatte ihm den Flügel überlassen, der für die Prinzen der königlichen Familie vorbestimmt war - nachdem er und Hyromia noch keine gemeinsamen Kinder hatten, stand dieser ohnehin leer. Takaos gewöhnte sich an ihn, genau wie er sich an General Zenon und General Apollonios gewöhnte, die zwar Villen im Blachernen-Viertel zugewiesen bekommen hatten, aber dennoch häufig mit Irenéos zusammenkamen. Takaos konnte nachvollziehen, dass Irenéos seine Vertrauten um sich haben wollte. Er war wieder daheim, aber was er durchgemacht hatte, war unglaublich. Ein schwächerer Mann wäre vielleicht daran zerbrochen, aber sein Bruder war aus hartem Holz geschnitzt. In der ersten Nacht nach seiner Ankunft hatte Irenéos ihm erzählt, was passiert war: Wie er beinahe gestorben war in jener Schlacht, in der er verschwunden war. Er wurde verschleppt, schwer verletzt, dann gepflegt, aber nur soweit, dass man ihn als Geisel benutzen konnte. Das war zumindest, was Irenéos angenommen hatte. In Wahrheit hielt man ihn jahrelang gefangen, fern von Byzanz im Einflussgebiet der Goldenen Horde. Wenn Takaos sich vorstellte, dass er an dem Lager, in dem man Irenéos gefangen gehalten hatte, vielleicht vorbeigeritten war in den Jahren, in denen er sich darauf vorbereitet hatte, die Herrschaft in Byzanz wieder an sich zu reißen … es war unfassbar, wie nahe Erlösung und Tragödie manchmal nebeneinander lagen. Aber Irenéos war nicht hilflos gewesen. Er versammelte die anderen Gefangenen um sich - unter anderem Zenon und Apollonios, die damals noch mit der Goldenen Horde kollaboriert hatten - und nahm dann das Lager ein. Von dort aus ging es rasch weiter, bis er eine stattliche Gefolgschaft gesammelt hatte und bereit für den Heimweg war. Die Distanz, Krankheit und politische Unruhen hatten ihn lange aufgehalten. Aber nun war er hier, genau dort, wo er hingehörte. Es war tatsächlich ein Wunder Gottes. Takaos fand keine andere Erklärung dafür. Und so gut war sein Bruder, so großherzig, dass er nicht einmal daran dachte, den Thron für sich zu beanspruchen. „Es ist dein Thron“, beschied er Takaos eines Tages, als sie gemeinsam in einem der Besprechungssäle standen, „das Schicksal wollte es so, Bruder. Ich bin dankbar dafür, dass ich dir zur Seite stehen können werde, falls du krank oder verwundet wirst und bis dahin noch keinen Sohn hast, der dich darin unterstützen kann.“ Takaos lächelte und drückte seine Schulter. „Du weißt nicht, wie glücklich es mich macht, meinen Bruder an meiner Seite zu wissen. Mit dir, Hyromia und Kai kann mir nichts passieren. Byzanz wird einen Aufschwung erleben, wie man es schon seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt hat!“ Irenéos lächelte nachsichtig. „Du hältst viel auf deine Frau und den Inselwilden.“ „Nenn‘ ihn nicht so“, erwiderte Takaos zerstreut und beugte sich wieder über den Plan, auf dem die geplanten Bautätigkeiten in der Stadt verzeichnet waren. „Er ist mein hochgeschätzter Freund, natürlich respektiere ich seine Meinung.“ „Ich dachte, du sagtest, dass du ihn aus einem Gefangenenlager gerettet hast und er dir im Gegenzug sein Leben versprach.“ „In der Tat. Und er weiht es mir auch.“ Irenéos seufzte. Takaos blickte auf und neigte fragend den Kopf. Sein Bruder wand sich einen Moment, dann sagte er vorsichtig: „Ich weiß es natürlich nicht genau, aber … Kai …. ist ein Fremder. Man kann Byzanz nicht verstehen, wenn man hier nicht geboren wurde. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass man immer vorsichtig sein muss mit Leuten, die nichts anderes haben, als ihr Leben.“ Takaos runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ Irenéos sah ihn an. „Wer nur sein Leben hat, der ist stolzer als jeder andere und wird alles tun, um vollkommene Freiheit über dieses Leben zu erlangen. Was würdest du tun, wenn dein Leben an das eines anderen gebunden ist?“ Takaos starrte ihn einen Moment lang an, dann schüttelte er den Kopf. „Kai ist mein Freund. Er würde mich niemals hintergehen“, sagte er, aber er konnte selbst hören, dass seine Stimme nicht fest war dabei. Sein Bruder hatte so viel mehr Lebenserfahrung als er. Konnte er wirklich vollkommen vom Tisch fegen, was ihn sorgte? „Hyromia und Kai sind immer zu hundert Prozent hinter mir gestanden.“ Irenéos nickte langsam. „Die Basilissa und Kai sind oft zusammen, nicht wahr?“ „Nicht, ohne dass ich darüber Bescheid weiß.“ „Die Basilissa ist eine ehrenhafte Frau, Takaos, dessen bin ich mir sicher.“ Irenéos klopfte ihm auf die Schulter. „Sie ist außerdem äußerst … freigiebig mit ihrer Meinung, wie ich in den letzten drei Tagen feststellen durfte.“ „Natürlich“, sagte Takaos skeptisch, „ich möchte keine Kaiserin an meiner Seite, die immer nur den Mund hält. Wir müssen gemeinsam ein Reich regieren.“ Irenéos lachte. „Ja, ich kann mir vorstellen, dass sie die Art Frau ist, die gerne regiert.“ Takaos ließ nun endgültig von dem Plan vor sich ab. „Was willst du damit sagen?“ Irenéos hob beschwichtigend die Hände. „Nichts, Takaos, wirklich nicht. Ich habe nur mitbekommen, dass sie gerne das letzte Wort hat.“ „Das hat sie“, gab Takaos zu und kratzte sich verlegen am Hinterkopf, „sie hat nicht gerne Unrecht.“ „Nun, wie du sagst, eine Frau mit Charakter hat etwas Anziehendes“, sagte Irenéos, „solange sie akzeptiert, dass am Ende des Tages du der Kaiser bist und das letzte Wort haben solltest, nicht sie. Immerhin gibt es keine höhere Instanz als den Kaiser - und die Kaiserin sollte eigentlich ihr Bestes geben, diese höchste Instanz vor allem zu stützen und zu fördern.“ „Da mag etwas Wahres dran sein“, murmelte Takaos, nur um dann leicht zu lachen: „Sie wäre wohl nicht sehr begeistert zu hören, dass du das gesagt hast.“ „Nun“, sagte Irenéos mit einem Augenzwinkern, „dann behalten wir es wohl besser unter uns. Ein Geheimnis unter Brüdern.“ Takaos stimmte lächelnd zu, aber Irenéos‘ Worte beschäftigten ihn immer noch, als er abends in seine Gemächer zurückkehrte, wo Hyromia an ihrem Tisch saß, mit aufrechtem Rücken und im Schoß gefalteten Händen, die Dienstboten bereits fortgeschickt. Neben ihr auf der Bank lag wie achtlos hingeworfen der Schleier, den sie sonst über den Haaren trug. Hinter ihr, die schwere, silberne Bürste der Basilissa in seinen Händen, stand Kai und strich mit so behutsamen Bewegungen durch ihr langes Haar, als ob er mit zerbrechlichem Glas hantierte. So fokussiert war er darauf, nicht an Hyromias Locken zu ziehen, dass er Takaos‘ Ankunft kaum zur Kenntnis nahm. Die Basilissa hingegen, die bis dahin ihren Gedanken nachgehangen zu sein schien, blickte auf, als Takaos‘ Schritte erklangen, und lächelte ihn sanft an. „Du wirkst müde“, bemerkte sie ohne eine Spur ihrer üblichen Kampflustigkeit. Im Gegenteil wirkte auch sie ein wenig müde. Takaos dachte gar nicht weiter darüber nach, sondern trat an sie heran und umfing ihr Gesicht zärtlich mit den Händen. Sie neigte ihm den Kopf entgegen und schloss die Augen, als er sie küsste und mit den Daumen über ihre Wangen glitt, von denen sich unter seiner Berührung der zarteste Schimmer roten Pigments löste. Sie behielt die Augen weiterhin geschlossen, als Takaos die Lippen von ihren nahm und den Kopf hob, um in Kais unergründliche, rostrote Augen zu blicken. Lange hatte er ihn nicht mehr in diesen Umständen bei sich und Hyromia gefunden. Takaos war nicht dumm, auch wenn viele ihm eine gewisse Einfältigkeit unterstellten. Er fühlte, dass jemand Kais Herz einzunehmen drohte, dass er nicht nur aus Gründen des Schutzes und der Beobachtung eventueller Gefahren in letzter Zeit so oft den Palast verlassen hatte. Kai hatte Geheimnisse vor ihm und Takaos wusste nicht warum. Aber in einer Sache hatte Irenéos Unrecht: Kais Leben hatte nie wirklich ihm gehört, sondern nur Kai allein. Zu bestimmen, was Kai damit machte, stand nicht in Takaos‘ Macht. Nicht, wenn er ihn behalten wollte. Und noch war es vielleicht nicht zu spät. „Gehörst du also doch noch ein wenig zu mir?“, fragte er leise und streckte die Hände aus, um Kais Gesicht auf dieselbe Weise zu umfassen, wie er es mit Hyromias getan hatte. Diese schmiegte ein Lächeln gegen Takaos‘ Hüfte, das er selbst durch den Stoff seiner Kleidung deutlich spürte. Kais Augenlider senkten sich, die dunklen Wimpern glitten wie Schatten über seine Wangen. Dann hob er den Blick und in seinen Augen loderte ein geheimes, leidenschaftliches Feuer, das Takaos in den letzten Wochen schmerzlich vermisst hatte. Er legte die Hände um Takaos‘ Handgelenke und hob ihm das Gesicht entgegen, wie Hyromia es getan hatte. Dann sagte er: „Was auch immer passiert, Basileus, du hast mein Wort: Auf die eine oder andere Weise werde ich immer zu dir gehören.“ Kapitel 12: TEIL II - KAPITEL II: Kai ------------------------------------- Auf einmal waren Irenéo und seine Männer überall. Kai beobachtete den Vorgang mit Skepsis. Er wusste nicht, was ihn so sehr daran störte, denn eigentlich war alles ganz normal. Es war normal, dass der Bruder des Kaisers angemessenes Quartier erhielt. Es war normal, dass seine Männer angemessen versorgt wurden. Es war normal, dass er angemessen gekleidet durch die Residenz im Blachernen-Viertel stolzierte und an Sitzungen im Großen Palast teilnahm, dass er das Hippodrom besuchte und sich vom Volk ehrfürchtig betrachten ließ, das außer sich war und sich tagelang nicht beruhigen ließ. Nur dass er überhaupt zurückgekommen war, war so überhaupt nicht normal. Es war nicht normal, dass ein verschwundener Prinz nach Jahren, ja, eigentlich sogar Jahrzehnten einfach so wieder auftauchte, noch dazu mit einer kleinen, aber gut trainierten Einheit an Soldaten im Schlepptau. Kai hatte nie behauptet, dass er sich sonderlich gut mit Politik auskannte und anfangs gedacht, dass es einfach daran lag, dass er sich nicht gerne an Veränderung gewöhnte. Aber zwei Wochen vergingen, dann drei, Irenéo und seine Männer waren überall, Irenéo und seine Schritte durchmaßen jeden Gang, Irenéo und seine Stimme waren in jedem Zimmer zu hören. Noch schlimmer war nur sein Blick, der sofort auf Kai zu fallen schien, wann immer er den Raum betrat. Takaos hatte begonnen, Kai immer wieder darum zu bitten, zurückzubleiben, besonders wenn er sich mit Irenéo allein traf, und diese Bitte kam eindeutig auf dessen Wunsch hin. Es war ebenso deutlich, dass Irenéo ihn nicht hier haben wollte. Und Kai war daran gewöhnt, in Byzanz an den wenigsten Orten gerne gesehen zu werden und stets als der Makel im Ansehen des Basileus zu gelten. Aber Irenéo hatte neben Hyromia die Macht, ihn vielleicht auch tatsächlich von Takaos’ Seite zu entfernen - und im Gegensatz zur Basilissa schien er es absolut darauf anzulegen. Es hinterließ einen schalen Geschmack in Kais Mund, denn Takaos schien durchaus geneigt, dem Wispern seines Bruders Glauben zu schenken. Kai und Hyromia waren sich absolut einig in ihrer wachsenden Besorgnis, mit der sie verfolgten, wie Takaos Irenéo geradezu anbetete und dabei gar nicht zu merken schien, wie gönnerhaft er gelegentlich von diesem behandelt wurde. Kai glaubte keine Sekunde lang, dass Irenéo sich einfach so mit dem zweiten Platz zufrieden geben würde. Er kannte Männer wie ihn. Er hatte Männer wie ihn getötet, als er noch dafür bezahlt worden war. Aber Takaos liebte seinen Bruder, vertraute ihm blind, und so war die Lösung zu diesem Problem leider nicht so einfach, dass es mit einem wohlgesetzten Shuriken gelöst worden wäre. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als stattdessen zu versuchen, permanent an Takaos’ Seite zu bleiben und ihn nicht aus den Augen zu lassen. Auch wenn es bedeutete, Yuriy nicht mehr zu treffen. Der Gedanke an den Maler sandte ein heißes Kribbeln durch seine Lendengegend, das er sich gar nicht wirklich eingestehen mochte. Die Spannung zwischen ihnen war unverändert und wurde nicht besser dadurch, dass sie begonnen hatten, sich an so einigen Abenden verborgen vor den Blicken der Welt an einem abgelegenen Strandabschnitt miteinander im Kampf zu üben. Ihre Kampfstile waren sehr unterschiedlich - Kai war auch noch immer nicht sicher, ob Yuriy ihm wirklich alles zeigte -, sodass sie beide gut voneinander lernen konnten. Yuriys Beweggründe blieben ihm ein Rätsel, denn er fragte nicht und war sich recht sicher, dass er ohnehin keine richtige Antwort bekommen hätte. Sie übten mit Stöcken und flachen Rindenstücken, und wann immer sich auch nur ihre Finger streiften, rann es durch Kai wie ein sanfter Blitzeinschlag. Manchmal war er sich sicher, das gleiche Gefühl in Yuriys Augen zu erkennen. Manchmal wusste er nicht, ob er irgendetwas an ihm erkannte. All das war angesichts der Anwesenheit von Irenéo nicht mehr wichtig - durfte nicht mehr wichtig sein, denn das Leben des Kaisers stand über seinem eigenen. Er hörte auf, zu ihren Verabredungen zu kommen, verließ die Seite des Basileus nicht mehr, versuchte nicht daran zu denken, ob Yuriy abends am Strand auf ihn wartete, um irgendwann einfach aufzugeben. Kai würde ihm eine Nachricht schicken müssen, es war nur angemessen. Die Frage war nur, wem er dafür genug vertrauen konnte, denn es gab nur eine kleine Anzahl an Leuten, bei denen er darüber überhaupt nachdenken konnte, und unter diesen befand sich unter anderem Hyromia, die den Palast abseits von offiziellen Anlässen niemals verließ und zu jeder Zeit unter Beobachtung stand. Er grübelte über diese Frage auch nach, als er an seinem Posten vor dem Besprechungszimmer lehnte, in das Irenéo und Takaos vor einer Weile verschwunden waren. Durch das plötzliche Auftauchen des Prinzen war die Strategie gegenüber den Bulgaren noch immer nicht eindeutig festgelegt worden; stattdessen waren mehr Gespräche gefolgt und Takaos hatte Irenéo aktiv in diese eingebunden - oder vielmehr, hatte es klaglos zugelassen, als dieser begann, sich selbst darin einzubinden. Allein dafür hatte Kai gute Lust, ihm irgendwann in der Stille der Nacht einen Dolch durch den Fuß zu treiben - nicht genug, dass er starb, aber genug, dass er es für den Rest seines Lebens spüren würde. Manchmal war so etwas sogar schlimmer. „Du gehörst nicht hierher.“ Er blickte auf. Einer von Irenéos Generälen stand vor ihm - Zenon, der ihn mit seinen türkisfarbenen Augen lächelnd betrachtete. Er lächelte immer, egal was geschah, aber Kai hatte schon bei seinem ersten Blick auf den General die Leere hinter diesem Lächeln gespürt. Ein Mann wie Zenon ließ sich auf einem Schlachtfeld sicherlich nicht aus der Ruhe bringen - nicht, weil er nie verlor, sondern weil er seinen Gewinn auf der Opferung anderer ausführte, ohne sich darum zu kümmern. Auch Kai war einmal so gewesen. Aber das war lange her, war Teil eines anderen Lebens. Er hatte gelernt, was es hieß zu verlieren und zu leiden. Er hatte gelernt, dass er nicht unfehlbar war und dass Gnade manchmal die größte Stärke eines Menschen sein konnte - die härteste Lektion in seinem ganzen Leben, aber eine, die er niemals wieder vergessen würde. Zenons Blick brannte, als er auf Kai ruhte, aber anders als Yuriys war er unangenehm und stellte Kai die Haare im Nacken auf. Dennoch verzog er nicht einmal die Miene. „Ich denke nicht, dass es Euch zusteht, mir zu sagen, wo ich hingehöre und wo nicht.“ Zenons Lächeln verrutschte keinen Zentimeter. Stattdessen kam er näher, eine Gestalt vollkommen in Weiß gewandet von der Tunika zu der golddurchwirkten Dalmatika und Chlamys darüber und der Hose darunter. Er kam so nahe, dass Kai deutlich die feinen Fäden seiner zart gewebten Kleidung und die Details an dem Goldring in seinem Ohr erkennen konnte, aber auch die allumfassende Leere in seinen Augen. Es war eine Leere, von der man verschluckt werden konnte, wenn man nicht aufpasste, eine Leere, die verschlang und verschlang, weil sie nie gelernt hatte zu geben. „Eines Tages“, sagte er leise, geradezu sanft, „werde ich Euch sagen, wo Ihr hingehört. Und Ihr werdet dankbar sein, genau wie jeder andere. Menschen lassen sich gerne sagen, wo ihr Platz ist, sie warten nur auf Führung.“ Kai verzog die Lippen zu einem trockenen, amüsierten Grinsen. „So? Nun, Ihr wisst wohl, wovon Ihr sprecht, immerhin hängt Ihr ja auch an den Lippen des Prinzen.“ Eine Sekunde lang entgleiste das Lächeln auf Zenons Gesicht, nur eine Sekunde lang. Aber es war genug, um die Maske so weit verrutschen zu lassen, dass sie einen Herzschlag lang den Blick auf etwas Hässliches, etwas für immer Unfertiges freigab. „Ihr haltet Euch für klug“, sagte Zenon weiterhin leise, aber eine Spur der Hässlichkeit war in seine sanfte Stimme gekrochen, „aber kluge Männer sterben genauso schnell wie dumme. Ich werde es kurz und schmerzlos machen, wenn es so weit ist … oder vielleicht auch nicht.“ „Oder vielleicht“, erwiderte Kai, der keine Lust mehr hatte, sich bedrohen zu lassen, „werdet Ihr die Gelegenheit nie bekommen. Vielleicht wacht Ihr eines Tages auf und müsst feststellen, dass Euch nur noch ein Atemzug bleibt, nur einer, ehe Ihr an dem Messer in Eurer Brust verblutet.“ Zenon öffnete den Mund zu einer Antwort, doch bevor er nur einen Ton herausbringen konnte, wurden sie von sich rasch nähernden Schritt unterbrochen. Maxim tauchte vor ihnen auf, die goldenen Augenbrauen forschend zusammengezogen und der Blick, mit denen er sie musterte, uncharakteristisch streng. „Ehrenwerter Vater“, begrüßte Kai ihn, während Zenon sich langsam aufrichtete und einen Schritt zurückmachte. Er neigte ein wenig den Kopf in Maxims Richtung, doch kein Wort des Grußes kam über seine Lippen - ein unglaublicher Affront dem Patriarchen gegenüber, der nicht unbemerkt blieb. „Gibt es hier ein Problem?“, fragte Maxim ruhig und mit einem Lächeln, das eine gewisse Härte beinhaltete. Manche dachten, dass Maxim schwach war, weil er von ausgesuchter Freundlichkeit war und Dinge diplomatisch zu lösen versuchte, wenn er konnte. Kai wusste es besser. Er schüttelte den Kopf. „Nein, ehrwürdiger Vater. Aber darf ich Euch einen Moment sprechen?“ „Natürlich.“ Maxim hob eine Augenbraue und taxierte Zenon mit einem intensiven Blick. „Nehmt Ihr nicht an der heutigen Sitzung teil, General?“ „Ich war gerade auf dem Weg hinein, ehrwürdiger Vater“, erwiderte Zenon lächelnd und erneut lammfromm. Maxim nickte, aber Kai wusste an seinem Gesichtsausdruck, dass er gesehen hatte, was Kai gesehen hatte. „Würdet Ihr mich entschuldigen und erklären, dass ich gleich bei dem hochverehrten Basileus sein werde?“ Zenon deutete eine leichte, wirklich nur sehr leichte Verbeugung an. „Mit Vergnügen.“ Er warf Kai noch einen letzten Blick zu, dann nickte er den Wachen vor den Toren des Besprechungssaals zu und rauschte hinein. Maxim nahm Kai an der Schulter und führte ihn ein paar Schritte fort, damit sie ungehört miteinander sprechen können. „Mir gefällt nicht, was hier passiert“, eröffnete Kai wenig zeremoniell das Gespräch. Maxim ließ die Augen wachsam durch den Flur wandern, dann nickte er leicht. „Ich bin bei dir, Kai. Aber momentan bleibt uns nichts anderes übrig, als wachsam zu sein und die Augen offen zu halten. Wir können nicht klagen, wo noch nichts geschehen ist.“ Er senkte die Stimme noch ein wenig mehr. „Es gibt viele Stimmen im Volk, die Irenéo auf dem Thron fordern. Und leider nicht nur im Volk.“ Kai runzelte die Stirn. „Was meint Ihr? Wo noch?“ Erneut glitt Maxims Blick durch den Flur. Dann wisperte er: „Es gibt mächtige Kräfte im Klerus. Noch bin ich an der Macht und ich plane, dass es auch so bleibt. Aber man muss nicht immer an der obersten Stelle stehen, um Dinge steuern zu können.“ Er drückte Kais Schulter, ehe dieser etwas sagen konnte. „Du musst auf ihn aufpassen. Er braucht nicht nur einen Beschützer, er braucht auch einen Freund. Wir müssen jetzt zusammenhalten - ich bin die Außenwand, aber ein Haus hat auch Innenwände. Du und die ehrwürdige Basilissa müsst diese Wände sein, sonst weht es uns das Dach schneller um die Ohren, als wir schauen können.“ Trotz der ernsten Lage konnte Kai nicht anders, als sachte zu schmunzeln, dann nickte er. „Ihr habt mein Wort. Maxim-“ „Was gibt es?“ Kai atmete tief ein. „Es ist gut, dass ich Euch erwische“, sagte er, „ich muss Euch um einen Gefallen bitten.“ Maxim lächelte warm, sodass sich kleine Fältchen um seine Augen bildete. „Immer, mein Freund.“ „Könnt Ihr eine Nachricht für mich überbringen? An den Maler.“ „Meister Iwanov?“, fragte Maxim und wirkte dabei wenig überrascht, was wiederum Kai nicht wunderte - Maxim hatte seine Augen und Ohren überall, und aus dem Kloster war vielleicht das eine oder andere Gerücht zu ihm gedrungen, mit wem der Maler seine Zeit verbrachte, wenn er nicht in seinen Mauern oder in der Hagia Sophia weilte. „Das sollte kein Problem sein. Was soll ich ihm sagen?“ Kai zögerte einen Moment. Es war schwieriger als gedacht, trotz der Entschlossenheit, die er gehabt zu haben glaubte. Aber Yuriy war ein Stück, das nur ihm gehört hatte - und jemand, der ihm auf eine Art vertraut war, wie es die Hitze einer Flamme war. Es war schwer, loszulassen, ganz egal, was Kai sich einzureden versuchte. Aber es musste sein. Es musste sein. Und er würde darüber hinwegkommen, genau wie Yuriy. Und wirklich, was war denn schon geschehen? Nichts, nichts außer ein paar Nächten am Strand, mit nichts als dem Mondlicht und ein paar flüchtigen Blitzschlagberührungen zwischen ihnen. Er gab sich einen Ruck. „Sagt ihm, dass er nicht mehr auf mich warten soll.“ Maxim musterte ihn einen langen Moment still. Vielleicht wusste er mehr, als er sich anmerken ließ, aber schließlich nickte er sachte. „Ich werde es ihm ausrichten, sei unbesorgt. Gibt es noch etwas, das ich für dich tun kann?“ „Nein“, sagte Kai mit trockener Kehle, „das ist alles.“ Maxim nickte und drückte sanft seine Schulter, ehe er sich von ihm löste und mit raschen Schritten in den Besprechungssaal verschwand. Kai sah ihm hinterher, dann stützte er sich an der Wand ab und schloss die Augen, um tief durchzuatmen. Ja, er hatte Takaos und Hyromia. Aber er war sich auch bewusst, was es hieß, der Dritte im Bunde mit dem kaiserlichen Paar zu sein. Es würde immer etwas geben, was sie voneinander trennte, egal, was sie alle sich erhofften oder lieber gehabt hätten. Er nahm sich einen Moment Zeit, um mit all dem Schmerz, den es ihm bereitete, die Wünsche tief in seinem Herzen zu versiegeln, die er gehabt hatte: der Wunsch nach einem Blitz statt nur einem Blitzkräuseln, nach einem Kuss, nach einer Hand, die seine fand und einfach festhielt. Dann löste er sich von der Wand, aus den Schatten, und ging zurück an seinen Platz. Kapitel 13: TEIL II - KAPITEL III: Iulia ---------------------------------------- Der Blachernen-Palast hatte sich verändert. Es war nicht unbedingt etwas Sichtbares. Aber etwas lag in der Luft, eine gewisse Anspannung, als ob der ganze Ort auf der Lauer lag. Iulia erwischte sich dabei, wie sie sich besonders aufrecht hielt, als sie sich in einer grünen Seidenstola mit kostbarer, dunkler Palla darüber von einem Diener durch die Gänge des Palasts führen ließ. Sie war hier, um eine Freundin zu besuchen. Aber wenn diese Freundin die Kaiserin von Byzanz war, dann war selbst Atmen an gewissen Orten ein politischer Akt. Selten war ihr das bewusster gewesen als heute, wo sie spüren konnte, wie die Blicke fremder Soldaten ihren Schritten folgten und dabei teilweise unangenehm lange an ihren sandalenumschlossenen Fesseln hängen blieben. Iulia gab es nicht gerne zu, aber sie war insgeheim fast ein wenig erleichtert, als der Diener die Flügeltür zu Hyromias Empfangsraum mit einer Verbeugung für sie öffnete und hinter ihr wieder schloss, nachdem sie eingetreten war. Selten war man in den Palästen von Konstantinopel jemals wirklich vollkommen allein, aber dies hier was das nächste, das sie erreichen konnte. Hyromia lag auf einer der Liegen und blickte über die Terrasse hinweg gedankenvoll hinaus, wo man weit entfernt das Stadttor der heiligen Anastasia und das glitzernde Wasser des Goldenen Horns sehen konnte. In ihrer Hand befand sich ein silberner Trinkbecher, den sie sinken ließ, als sie ihre Freundin erblickte. Lächelnd schwang sie die Beine von der Liege und erhob sich, um auf Iulia zuzukommen und sie auf die Wange zu küssen. Auf den ersten Blick wirkte alles wie immer, aber Iulia kannte sie schon zu lange, um nicht die körperlichen Anzeichen von Stress zu erkennen: Dunkle Ringe unter den Augen, ein gewisser kummervoller Zug in ihrem Lächeln, eine untypische Blässe. Die Vorgänge in Konstantinopel machten Hyromia deutlich zu schaffen. „Ich freue mich so, dich zu sehen“, bekannte sie und umarmte Iulia noch einmal zusätzlich. „Es ist schön, ein vertrautes Gesicht von der Außenwelt um mich zu haben.“ Iulia war sich bewusst, dass sie eine Tendenz dazu besaß, in vielen Situationen ungeduldig zu reagieren. Nun aber fiel es ihr leicht, sanft über Hyromias Wange zu streichen. „Ich sehe deinen Kummer.“ „Ach!“, seufzte Hyromia, wandte sich nun doch ab und ließ sich zurück auf die Liege fallen. Iulia wanderte zu der Anrichte, auf der weitere Becher und ein gut gefüllter Weinkrug standen, um sich einzuschenken. „Kann man mir verdenken, dass ich mir Sorgen mache? Und dabei kann ich nicht einmal genau einschätzen, wie die Stimmen im Volk aussehen, weil ich nicht aus dem Palast herauskomme - jetzt weniger denn je.“ Iulia schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihr auf die Liege, damit sie leise und vertraulich miteinander sprechen konnten. Dann berichtete sie ihr, was sie wusste. „Die Gesellschaft wirkt stark zwiegespalten. Der verehrte Basileus hat immer noch viele treue Anhänger, besonders unter den einfachen Leuten - man schätzt seine besonnene Art und eure Versuche, die Stadt wieder zu restaurieren und zu altem Glanz zurückzubringen, mit einem Wort: Die Besinnung auf Innenpolitik.“ „Das klingt nach einem Aber, und das gefällt mir nicht“, seufzte Hyromia und massierte sich die Schläfen. Iulia zuckte mit den Achseln. Sie war nicht besonders gut darin, Dinge sensibel zu verpacken, aber sie gab sich dennoch Mühe. „Besonders unter den Patriziern lechzt man nach Krieg. Und es ist ein offenes Geheimnis, wie Irenéo im Fall der Bulgaren eingestellt ist. Außerdem gibt es viele, die sagen, dass ihm als Erstgeborenen der Thron zusteht, auch wenn Takaos diesen rechtmäßig aus den Händen der Latiner zurückerobert hat.“ „Ja, diese Stimmen habe ich auch mitbekommen, und auch Takaos kennt sie wohl.“ Hyromia rieb sich erneut die Schläfen und seufzte. „Es ist alles so verworren, Iulia, das sind Probleme, die sich Byzanz eigentlich nicht leisten kann. Und ich mache mir Sorgen um Takaos.“ Iulia runzelte die Stirn. „Inwiefern? Befürchtest du einen weiteren Anschlag?“ „Das auch, das immer.“ Hyromia lächelte flüchtig. „Aber wenn die momentane Situation einen Vorteil gebracht hat, dann jenen, dass Kai nun wieder mehr bei uns ist. Und ich vertraue ihm das Leben meines Mannes ohne zu zögern an. Solange Kai uns treu ist und lebt, mache ich mir um Mordanschläge keine großen Sorgen.“ „Was quält dich dann?“ „Bitte, das muss unter uns bleiben“, beschwor Hyromia sie und Iulia versprach es augenblicklich bei allem, was ihr heilig war. Dennoch zögerte Hyromia eine Weile, ehe sie schließlich verriet: „Seine Gesundheit macht mir in letzter Zeit Sorgen. Er schläft schlecht, klagt über Übelkeit und Kopfschmerzen. Ich glaube, dass es der Stress ist. Es kommt so viel zusammen - die Bulgaren, Irenéo, die generelle finanzielle Lage des Reichs. Er muss sich über viele Dinge Gedanken machen, es ist kein Wunder, dass es ihm momentan nicht gut geht. Aber ich fürchte das, was passieren kann, wenn an die Öffentlichkeit dringt, dass die Gesundheit des Kaisers in Mitleidenschaft gezogen ist. Er kann und darf es sich nicht leisten, jetzt schwach zu wirken, das ist traurig, aber wahr.“ Iulia biss sich auf die Lippen, weil sie die Sorgen ihrer Freundin gut verstehen konnte. Es gab wenig, was sie dagegen sagen konnte, daher beschloss sie, Hyromia wenigstens für eine Weile abzulenken. Und so steuerte sie das Gespräch in andere Richtungen, weg von Politik und hin zu amüsanten Erzählungen aus ihrem Alltag als Malergehilfe bei der Verschönerung der Hagia Sophia. Als sie den Palast ein paar Stunden später schließlich wieder verließ, lachte Hyromia immerhin deutlich ehrlicher als noch zu Beginn ihres Besuchs. In Zeiten wie diesen war auch das immer etwas wert, wie Iulia befand. Sie tat ihr Bestes, die Stimmung des Blachernen-Palasts hinter sich zu lassen. Für heute Nacht war ein geheimes Treffen mit Emilia vereinbart, und sie freute sich darauf, auch wenn beileibe nicht behauptet werden konnte, dass ihre Treffen so amüsant und vollkommen reizvoll waren wie zu Beginn ihrer Beziehung. Ein gewisser angespannter Unterton hatte sich auch hier zwischen sie geschlichen und Iulia war wohl nicht ganz unschuldig daran. Sie konnte Emilia nicht verzeihen, dass diese sie manchmal behandelte wie ein Kind, das nichts von der Welt wusste, oder wie eine Geliebte, für die sie nicht alles riskierte. Die Leidenschaft zwischen ihnen war das, was Iulia an ihrer Beziehung immer so geliebt hatte. Wann immer sie und Emilia zusammengekommen waren, war es nicht immer nur schön, aber jedes Mal echt und mit vollkommener Aufmerksamkeit füreinander gewesen. Ihre Liaison mit Emilia ließ Iulia leben, atmen, ganz bewusst - nur dass es eben seit längerer Zeit nicht mehr so war. Zwischen den Leben, die sie untertags führten, und den Verpflichtungen, die damit einhergingen, aber auch durch ihre doch sehr unterschiedlichen Ansichten zu vielen Belangen hatten sie begonnen, zu zerfasern. Und Iulia wusste nicht, wie sie es aufhalten konnte. Sie war gut darin, Dinge in Brand zu setzen und das Feuer dann am Laufen zu halten. Sie war nie gut darin gewesen, fehlerhafte Dinge wieder zu reparieren. Lieber warf sie sie weg und suchte neuen Ersatz. Und doch. Und doch. Sie wollte Emilia sehen, wahrhaftig sehen. Da war immer noch etwas zwischen ihnen, etwas Wahrhaftiges, und Iulia war überzeugt, dass sie beide nur ein wenig mehr Zeit darauf verwenden mussten, um wieder zueinander zu finden. Motiviert von diesen Gedanken waren ihre Schritte leichtfüßig, als sie ihre Villa betrat und durch die Schritte ihres Alltags ging, während sie die Nacht herbeisehnte. Aber das Leben hatte oft schon wenig Verständnis für Iulias Wünsche gezeigt, und auch jetzt versuchte es, ihr Steine in den Weg zu legen. Dieser besondere Stein trug den Namen Romulus, und er kam ins Rollen, als Iulias Ehemann gegen Abend ihre Gemächer betrat. Das war an sich nichts Außergewöhnliches, weil sie oft zusammensaßen und miteinander sprachen. Aber etwas in seiner Mimik und Gestik alarmierte Iulia ein wenig. „Ich habe gehört, dass du heute die ehrwürdige Basilissa besucht hast“, sagte er und ließ sich dabei in dem zweiten Stuhl im Raum nieder. Iulia nickte und sah von den Notizen auf, die sie sich zur neuen Begrünung des heimatlichen Innenhofs überlegt hatte. „Ja, ich habe dir doch auch heute Morgen davon erzählt.“ Romulus nickte langsam. Jetzt sah sie sehr deutlich, dass ihm etwas auf der Zunge lag, denn er richtete etwas umständlich die Falten seiner Toga, ehe er schließlich zum Sprechen ansetzte. „Ich nehme an, dass du gemerkt hast, dass die Stimmung in der Umgebung der kaiserlichen Familie momentan angespannt ist.“ „Bitte rede einfach frei heraus“, sagte Iulia mit einem schweren Seufzer. „Ja, ich habe die Anspannung bemerkt und ja, ich habe die Lagerbildung bemerkt. Willst du darauf hinaus?“ „Unter anderem. Es hat zumindest damit zu tun.“ Romulus seufzte und strich sich über das glattrasierte Kinn. „Ich weiß jetzt schon, dass dir nicht gefallen wird, was ich zu sagen habe.“ „Das ist immer eine ausgezeichnete Art, ein Gespräch einzuleiten.“ Romulus lächelte flüchtig, doch sein Gesicht wurde schnell wieder ernst. „Iulia, ich möchte, dass du deine Aktivitäten in der Hagia Sophia für eine Weile einstellst. Die Lage ist ernster, als du vielleicht denkst.“ Er senkte ein wenig die Stimme. „Es ist kein Geheimnis, dass wir den Basileus unterstützen. Irenéo ist nicht besonders großzügig gegenüber den Römern und mir gefällt seine Taktik für den Umgang mit den Bulgaren nicht, ich will ihn nicht als Kaiser haben. Aber das bringt uns in Gefahr. Wir werden sehr eingehend beobachtet, und wir sind nicht die einzigen.“ „Du hattest Recht“, sagte Iulia nach einem Moment der Stille, „mir gefällt absolut nicht, was du zu sagen hast.“ „Ich würde es nicht sagen, wenn es nicht nötig wäre.“ Iulia schüttelte den Kopf. „Ich bin es gewohnt, mich unter den Blicken der Leute hinwegzuschleichen. Schwierigkeiten in dieser Hinsicht sind mir nicht fremd.“ „Das hier ist ernster als sonst, Iulia“, fuhr Romulus ungewöhnlich heftig auf, „hör auf, die Dinge auf die leichte Schulter zu nehmen - Konstantinopel ist ein brodelndes Pulverfass und wir müssen aufpassen, dass wir in der anstehenden Explosion nicht umkommen! Wenn ich dir sage, dass du daheim bleibst, dann bleibst du daheim. Wenn es nicht mit deiner Einverständnis und Mitarbeit ist, dann muss ich eben härtere Geschütze auffahren.“ „Du kannst mich nicht einsperren“, wisperte Iulia. Ihre Wut loderte so hoch, dass sie kaum ein Wort herausbrachte, weil sie an der Hitze zu ersticken glaubte. Romulus lächelte humorlos. Plötzlich fiel ihr auf, wie alt er wirkte - wie tief die Falten auf seiner Stirn und um die Augen waren. „Ich kann alles“, sagte er ruhig, „du vergisst das nur sehr gerne. Genauso, wie du gerne vergisst, dass du nicht unsterblich bist. Ich werde nicht zusehen, wie meine Frau, die Mutter meines Sohnes, von dieser Stadt zermalmt wird, weil sie es nicht schafft, ein paar Wochen zuhause zu bleiben.“ „So verlierst du mich vollkommen“, sagte Iulia kalt. „Ich weiß nicht, ob ich dich nicht schon vor langer Zeit verloren habe“, erwiderte Romulus fast sanft. Beinahe empfand sie etwas wie schlechtes Gewissen, nur einen Hauch davon, bei der traurigen Akzeptanz in seinen Augen. „Aber immerhin bleibst du so am Leben. Manchmal muss man Prioritäten setzen.“ „Du setzt die falschen. Du hast immer schon die falschen gesetzt. Was ist ein Leben hinter Gittern wert, ein Leben im goldenen Käfig?“ Romulus schüttelte erneut den Kopf. „Ich wünschte, es wäre anders. Aber in diesem Fall bleibt mir nichts anderes übrig.“ Iulia war wie erstarrt vor Wut und dem Gefühl der Betrogenheit, als Romulus sich erhob, einen kurzen Moment Anstalten machte, ihre Schulter zu berühren und dann doch davon absah. Seine Schritte, als er den Raum verließ, fühlten sich wie jene des Scharfrichters auf dem Weg zur Enthauptung durch das Schwert an. Sie rieb sich über das Gesicht, stand auf und wanderte ziellos, rastlos durch den Raum. Ihre Brust war eng, das Atmen fiel ihr schwer, sie schnappte in großen Zügen nach Luft, der Luft, die ihr so knapp zu werden schien. Nein, das war nicht, wer sie war - sie würde sich nicht dem Schicksal beugen, das die Gesellschaft für sie vorgesehen hatte, still und brav daheim versteckt, damit man möglichst wenig von ihr sah und hörte. Sie machte ihr Schicksal selbst, und sie war nur den Göttern verpflichtet, nicht den Menschen. Wenn die Götter beschlossen, dass die Freiheit sie das Leben kostete, dann war es ihr Wille und musste so sein. Und wenn sie beschlossen, dass Iulia frei leben würde, dann war es ebenfalls ihr Wille und musste so sein. Sie musste Emilia sehen, egal, was Romulus gesagt hatte. Iulia griff nach ihrer Palla und machte sich fertig. Kapitel 14: TEIL II - KAPITEL IV: Emilia ---------------------------------------- Emilia stellte fest, dass sie sich nicht konzentrieren konnte. Es gab Korrespondenz, die geschrieben werden wollte und vor ihr war alles, was sie dazu benötigte: Papier, Schreibfeder, Tinte, ausreichend Kerzenlicht. Normalerweise hatte Emilia einen festen Rhythmus, den sie einhielt und der ihr Struktur und Komfort brachte. Nun erwischte sie sich dabei, wie sie gedankenverloren das gefiederte Ende der Schreibfeder befingerte und auf die Rußflecken an der kahlen Wand hinter dem Schreibtisch starrte. Sie hatte gewusst, dass es nicht einfach werden würde, mehr Macht zu bekommen und vor allem zu halten. Aber es war immer anders, mitten in der Sache zu sein als kurz davor. Sie blickte auf, als ein Kratzen hinter der Tür, die nur wie ein weiteres Stück kahle Wand wirkte, erklang. Winzige Brocken Stein lösten sich, als die schwere Tür aufgeschoben wurde, gerade so weit, dass eine schlanke Gestalt hindurchschlüpfen konnte. Die dunkelblaue Kapuze rutschte Iulia von den Locken, die im Kerzenlicht wie altes, gebürstetes Kupfer wirkten, als sie die Tür hinter sich wieder einrasten ließ. Uncharakteristisch verweilte sie einen Moment lang in dieser Pose, der Kopf gesenkt, die Hände flach gegen den Stein gepresst, als ob sie zu einem Gott betete, an den sie eigentlich nicht glaubte. Emilia hatte lange gedacht, dass sie Iulias Seele retten konnte, wenn sie sie nur genug liebte. Aber Iulia konnte nicht vor dem Untergang gerettet werden, weder durch Liebe noch durch Strafe, weil sie den Untergang schlichtweg nicht als solchen sah. „Iulia“, sagte sie leise. Eine Weile rührte Iulia sich nicht. Dann machte sie einen tiefen Atemzug und wandte sich um, und ihre grünen Augen fanden zielsicher Emilias. „Liebst du mich?“ Emilia blinzelte, dann neigte sie den Kopf. „Warum fragst du mich das?“ Iulia schwieg einen Moment, die feinen, rotgoldenen Brauen zusammengezogen, sodass sich eine tiefe Falte zwischen ihnen gebildet hatte. „Mein Mann hat mir verboten, das Haus zu verlassen“, sagte sie dann ruhig. „Nicht nur heute Nacht, sondern bis auf weiteres. Er … stellt sich auf Unruhen ein, er denkt, dass die Lage kurz vor dem Kippen steht.“ Sie holte tief Luft. „Emilia, was weißt du?“ Emilia war wie erstarrt. „Wovon redest du?“ „Ich musste auf dem Weg hierher die ganze Zeit daran denken.“ Iulia schüttelte den Kopf. „Deine Andeutungen, deine Korrespondenz, deine Abwesenheiten … du weißt mehr, als du mir sagst. Und ich habe bisher nie gefragt, kein einziges Mal, weil es deine Angelegenheit ist und ich mir dachte, dass du mich schon einweihen wirst, wenn du es möchtest.“ Sie holte tief Luft. „Aber ich habe realisiert, dass du mich niemals einweihen wirst. Genauso wie mein Mann mich niemals wirklich frei sein lassen wird. Dieses ganze System ist ein System, innerhalb dessen Leute wie wir - Frauen wie wir - nie wirklich das bekommen werden, was wir verdienen. Ich habe es satt, nach den Regeln zu spielen.“ „Du bist verrückt geworden“, sagte Emilia mit wachsendem Erstaunen. „Du bist vollkommen außer dir. Beruhige dich erst einmal.“ „Ich bin vollkommen ruhig“, erwiderte Iulia kalt, aber mit flammenden Augen. „Und ich will wissen, was du weißt.“ Emilia schüttelte den Kopf. „Du verstehst von diesen Dingen ohnehin nichts, Iulia. Dein Kopf ist immer in den Wolken und dein Herz balanciert irgendwo zwischen Himmel und Erde. Politik hat dich doch noch nie interessiert.“ Iulia stemmte die Hände in die Hüften. „Mein Vater war ein Senator“, sagte sie angespannt, „und mein Mann ist ein Botschafter. Politik hat mich noch nie interessiert? Im Gegensatz zu dir bin ich unter Politikern aufgewachsen. Nur weil ich diesen Themen nicht mein Leben widmen will, habe ich deswegen nicht automatisch keine Ahnung davon. Hör auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln und sieh mir endlich in die Augen. Ich weiß manchmal nicht, ob du mich jemals als Gleichrangige gesehen hast.“ Emilia starrte sie an, ehe sie die Brille abnahm und sich die Nasenwurzel massierte. Ein Teil von ihr war erstaunt von Iulias harten Worten, ein anderer brodelte vor Wut. Was maßte Iulia sich an - Iulia, die niemals irgendwelche Ambitionen gehegt hatte, die nicht ihre künstlerischen Bestrebungen betrafen? Sie lehnte sich zurück und strich sich über die Haare, dann sah sie Iulia wieder an. „Warum interessiert es dich plötzlich, was ich weiß?“ Iulia presste die Kiefer aufeinander. „Ich will wissen, welche Kräfte mich lenken. Und ich will, dass endlich keine Dinge mehr zwischen uns stehen.“ „Zwischen uns werden immer Dinge stehen.“ Sie hatte es sanft sagen wollen, aber einmal mehr musste Emilia feststellen, dass sie nicht zur Sanftheit gemacht worden war. Als Iulia getroffen die Lippen zu einem festen, dünnen Strich zusammenpresste, gab Emilia einen tiefen Seufzer von sich. „Ich meine das nicht böse. Das ist einfach, wie das Leben ist. Wir können nicht alles haben.“ „Du hast nie auch nur dafür gekämpft, dass wir einen Bruchteil davon haben“, erwiderte Iulia rau. „Und du kämpfst auch jetzt nicht dafür.“ „Was um Gottes Willen willst du von mir?“ „Ich will, dass du mir sagst, dass du mich liebst“, sagte Iulia leise, „und dass du mich in deinem Leben brauchst, und dass du mich weiter sehen willst. Und dass du nichts damit zu tun hast, dass der ältere Sohn der Kaiserfamilie plötzlich wieder nach Konstantinopel zurückgekehrt hat und Ansprüche auf den Thron hätte, falls der Basileus stirbt - oder vor Krankheit unfähig zu regieren wird.“ Emilia atmete aus und ignorierte das eisige Band des Schreckens, das sich um ihre Brust legte. „Du denkst, dass ich den Kaiser vergiften lasse?“ Iulias Augen waren sehr weit in ihrem plötzlich sehr bleichen Gesicht. „Ich habe nie etwas von einer Vergiftung gesagt.“ Schweigend starrten sie sich an. Emilia öffnete den Mund und stellte fest, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Schließlich jedoch schüttelte sie den Kopf. „Das ist lächerlich, Iulia. Die Dinge kommen so, wie sie kommen. Ja, ich habe meine Eisen im Feuer und versuche das Beste zu machen, aber-“ „Das Beste für Byzanz, oder das Beste für dich?“, fragte Iulia schneidend. „Denn mittlerweile bin ich nicht mehr sicher, ob diese beiden Dinge übereinstimmen, auch wenn du es so gerne behauptest.“ Aber Iulia war ein Sturm, immer schon gewesen, ein Kind der Lüfte und genauso schnell drehte sie sich auch. Daher war es nicht überraschend, als ihr Gesicht beinahe sofort darauf sanfter wurde. „Es ist Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen, Amata. Es wird schwieriger werden, hierher zu kommen-“ „Du solltest gar nicht mehr kommen“, unterbrach Emilia sie. Iulia klappte der Unterkiefer herab. „Wie bitte?“ „Iulia, ich stimme deinem Mann zu“, sagte Emilia fest und entschlossen, sich nicht von dem Ausdruck äußerster Verletztheit auf Iulias Gesicht aus dem Konzept zu bringen. „Es ist wichtig, dass du sicher bist. Du musst doch verstehen, dass du dich in Gefahr begibst mit dem, was du tust - hierher zu kommen, in der Hagia Sophia zu malen - bisher war es schon riskant. Aber es in Anbetracht der Lage weiter zu tun ist lebensmüde. Wenn du nicht willst, dass man dich wie ein Kind behandelt, dann verhalte dich nicht so närrisch wie eines.“ Es war falsch gewesen, dies zu sagen. Emilia erkannte es in genau dem Augenblick, in dem die Worte ihren Mund verließen. Aber dann war es schon zu spät. „Jetzt zeigst du also dein wahres Gesicht“, sagte Iulia leise, „deine wahre Meinung über mich und über die Welt. Ich dachte immer, dass du freigeistig bist wie ich - dass du stark und klug bist und die Welt verändern willst, damit sie für alle ein bisschen besser ist. So wie die Basilissa. Ich habe dich immer so schön gefunden, Emilia. Ich habe mich in deinen Armen frei gefühlt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du musst wirklich denken, dass ich eine Närrin bin, so sehr, wie ich mich habe blenden lassen.“ „Iulia“, sagte Emilia mit trockenem Mund. „Meine Gefühle für dich waren aufrichtig.“ „Für mich, oder für diesen Körper? Oder für einen Geist, den du formen wolltest?“ Iulia lächelte traurig. Sie hob eine Hand und legte sie an Emilias Wange, und die Sanftheit der Berührung traf härter als jede Ohrfeige. „Ich glaube, wir haben einander etwas vorgemacht, weil wir die Wahrheit nicht erkennen wollten. Ich bin nicht aus der Rippe eines Mannes geformt, Emilia, und ich werde mich weder von dir lenken lassen, noch von irgendjemand anderem.“ Sie stieß ein kleines, verzweifeltes Lachen aus. „Wenn ich nur dieses Herz aus meiner Brust stoßen könnte - wenn ich nur aufhören könnte, dich zu lieben, oder überhaupt zu lieben. Das würde so viele Dinge einfacher machen.“ „Deine Liebe ist eine deiner besten Eigenschaften“, sagte Emilia leise, weil es stimmte und weil Iulias Blick und die Hand an Emilias Wange nach einem Abschied schmeckten, für den sie noch nicht bereit war. „Gott liebt dich, auch wenn du noch nicht zu ihm gefunden hast.“ „Für den Preis, den er verlangt, werde ich niemals zu ihm finden“, sagte Iulia fest. Ihr Blick suchte Emilias Gesicht ab, als wollte sie sich jeden ihrer Züge für hungrige Zeiten einprägen. „Ich erfülle dir deinen Wunsch. Ich werde nicht mehr hierherkommen, und ich werde auch keine Fragen mehr stellen, nie mehr. Aber du solltest dir Fragen stellen - nämlich ob das, was du tust, mit deinem Gott überhaupt vereinbar ist oder ob du dir anmaßt, über Dinge zu richten, die du nicht in der Hand haben solltest.“ „Iulia …“ Geh nicht, formte Emilias Geist hilflos die Worte, die es nicht über ihre Zunge schafften, auch wenn sie umso lauter in ihrem Kopf schrien. Iulia sah sie an. Dann lächelte sie wehmütig, voller offener Trauer, und lehnte sich vor, um einen Kuss auf Emilias Stirn zu drücken. „Leb wohl“, sagte sie, ließ sie los und warf die Kapuze wieder über ihr rotgoldenes Haar, um seinen Schein zu unterdrücken, ehe sie die verborgene Tür öffnete und hindurch verschwand. Emilia hielt sie nicht auf. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihr nach, selbst als ihre Schritte schon lange verklungen waren. Ihr Herz, traurig und schwer in ihrer Brust, schien sein Bestes zu tun, sich trostsuchend in ihre Knochen zu krümmen. Sie hielt sich an der Tischkante fest und atmete schwer ein und aus, aber es brachte ihr keine Erleichterung. Etwas in ihr wollte weinen, aber keine Tränen schafften es aus ihren Augen. Alles verlangte Opfer, das wusste sie. Das hatte sie immer gewusst. Aber jetzt, wo sie Iulia tatsächlich verloren hatte, fühlte es sich weniger wie ein Opfer, als wie eine Verstümmelung an. Lautlos sank Emilia auf den Bettrand und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie rührte sich lange nicht. Aber die Welt kümmerte sich nicht um ihren Schmerz, und sie war nicht ganz unschuldig daran. In den Schatten und Palästen von Byzanz arbeitete es weiter, ob mit ihr oder ohne sie, und wenn sie schon ein derartiges Opfer bringen musste, sollte es sich lohnen. Also gab sie sich ein paar Stunden, in denen sie mit den Knien auf dem kalten Steinboden zu Gott und der heiligen Sophia betete und beide um ihren Beistand bat. Dann richtete sie sich auf und ging weiter, denn das war es, was das Leben von einem verlangte. Und es ging. Sie verrichtete ihre Pflichten als Äbtissin gewissenhaft und versorgte weiterhin Irenéo über den immer lächelnden General Zenon mit Informationen. Sie führte Buch über die Vorgänge, hielt Ordnung in ihrer Korrespondenz und fühlte sich nur minimal schlecht, wenn sie eine Audienz bei der Basilissa erhielt und ihr gut zuredete. Iulias Worte verbannte sie ganz und gar aus ihrem Kopf; entgegen Iulias Annahme vergiftete Emilia den Kaiser nicht, hielt sich von ihm sogar komplett fern. Und wenn sie auf direkte Nachfrage des Prinzen einige Überlegungen geäußert hatte, welche Möglichkeiten sich ihm boten, die Regentschaft zu übernehmen - was tat das schon? Sie hatte die hohe moralische Verwerflichkeit etwaiger Tätigkeiten in dieser Richtung jederzeit betont, aber auch sie konnte die Handlungen anderer Menschen nicht vollkommen beeinflussen. Den Stich schlechten Gewissens ignorierte sie. Man konnte ihr einiges vorwerfen, sie warf sich ja selbst einiges vor, aber das bestimmt nicht. Die Dinge nahmen ihren gottgewollten Lauf, und sie war nur ein kleines Rad in seinen Diensten. Trotzdem verschlug es sie vermehrt in die Hagia Sophia. Sie verbrachte wieder mehr Stunden vor der roten Ikone der heiligen Sophia und betete, und wenn sie dabei Trost durch die goldene, weihrauchgeschwängerte Ruhe der Kirche empfand, dann blieb dies zwischen ihr und der Heiligen. Aber alleine die Anwesenheit zwischen den Säulen und dem Marmor unter den Augen der Engel lockerte den Druck um ihre Brust und ließ sie etwas freier atmen. Schlimmer wurde es nur in den Momenten, in denen sie an der Wand vorbeikam, vor der der Maler alleine auf seinem Gerüst saß und in seiner Muttersprache dumpf zu sich selbst murmelnd das Wandgemälde zu malen begonnen hatte. Niemand ging ihm dabei zur Hand, und Emilia wandte jedes Mal rasch die Augen von der Szene ab, ehe sie zu sehr darüber nachdenken konnte. Dass es sie dennoch verfolgte - genau wie General Zenon sie bis in die Hagia Sophia verfolgte -, lag wohl daran, dass Gott sie prüfen wollte. Und noch einer beobachtete sie. Emilia klammerte ihn gerne aus, weil sie ihn für ungeeignet für seine Position befand. Es gab andere, die besser dafür geeignet gewesen wären, die mehr für Byzanz beitragen würden - aber Fakt war nun einmal, dass Maxim der Patriarch von Konstantinopel war und kein anderer. Und auch wenn sie einander nie besonders hatten leiden können, Maxim war ihr immerhin stets mit Respekt entgegen getreten. Sie konnte selbst nicht erklären, was sie so sehr an ihm störte. Vielleicht war es die Tatsache, dass er gutherzig und warm war auf eine Weise, die Menschen in einflussreichen Positionen in Teufels Küche bringen konnte. Ganz zu schweigen, dass es ein offenes Geheimnis war, dass der Patriarch nicht unbedingt der größte Feind des Lusttriebes war und allein in Konstantinopel vermutlich bereits mehrere Bastarde herumlaufen hatte. Aber dann wiederum: Durfte sie, ausgerechnet sie, ihm dies wirklich ankreiden? Emilia dachte darüber nach, als sie Maxim einige Tage nach dem Gespräch mit Iulia über den Weg lief. Wie auch sonst immer, wenn sie dem Patriarchen begegnete, schenkte sie ihm ein angespanntes Lächeln und eine halbe Verneigung, ehe sie weiter ging. Diesmal jedoch hielt Maxim sie auf, indem er zielstrebig weiter auf sie zukam und dann lächelnd vor ihr stehen blieb. „Wir unterhalten uns so wenig, liebe Schwester“, meinte er freundlich, „man sieht Euch in den letzten Tagen öfter hier in diesen heiligen Hallen. Liegt Euch etwas auf der Seele?“ „Wenn, dann ist es zwischen mir und unserem Herren“ erwiderte Emilia ein wenig zu bissig. Doch Maxim lächelte nur warm und verständnisvoll und betrachtete sie aufmerksam aus seinen blauen Augen. „Nicht, dass Ihr mir vom rechten Weg abkommt“, sagte er dann leise. Ausgehend von seinem Gesichtsausdruck und der offenen Körperhaltung hätte man annehmen können, dass er diese Worte vielleicht aus Sorge aussprach. Doch Emilia konnte ganz deutlich einen stählernen, warnenden Unterton aus seiner Stimme heraushören, der sie dazu brachte, sich anzuspannen. „Das Böse trägt viele Gesichter, und auch wir müssen uns stets fragen, ob das, was wir tun, noch im Sinne des Herren ist.“ Emilia holte tief Luft und straffte die Schultern. „Ich danke Euch für Euren Ratschlag, lieber Vater, doch der Weg liegt klar vor mir.“ „Dann ist es gut.“ Maxims Lächeln wurde noch etwas tiefer und nachdrücklich. „Sollte die Dunkelheit Euch dennoch einmal berühren - was nur menschlich ist -, so erinnert Euch daran, dass Ihr in mir immer einen Vertrauten haben werdet, der Euch gerne dabei behilflich ist, auf den rechten Pfad zurückzufinden.“ Emilia presste die Lippen aufeinander und neigte den Kopf vor ihm. „Eure Sorge ehrt mich. Dennoch muss ich Euch nun leider verlassen. Gottes Arbeit will getan werden.“ Sie wandte sich um und hielt mit festen, betont ungehetzten Schritten der Pforte zu. Dennoch konnte sie dabei die ganze Zeit über den bohrenden Blick des Patriarchen in ihrem Rücken spüren. Kapitel 15: TEIL II - KAPITEL V: Yuriy -------------------------------------- Yuriy träumte. Er wusste, dass er träumte, weil er wieder in Russland war und wieder sein Schwert in der Hand hatte. Das Pferd unter ihm schnaubte und stieß einen Schwall warmer Atemschwaden in die kühle Luft. Er fühlte die Schneeflocken auf seinen Wimpern und Haaren, und er fröstelte, weil ihm der Mantel fehlte. Im Dienst von Volkov hatte er mehr Zeit auf einem Pferderücken verbracht, als auf seinen eigenen Beinen. Für Volkov war er losgezogen, für Volkov hatte er erobert, für Volkov hatte er geschlachtet. Er träumte nie von Volkov. Wovon er träumte, war das Morden. Aber er träumte immer nur von seinen Folgen, wenn das eigentliche Morden bereits vorbei war. Auch jetzt hob Yuriy die Augen und blickte auf das weite Feld vor sich, das getränkt war von Blut und gekrümmten, toten Körpern, über die sich bereits der Frost hermachte. Zwischen ihnen: Der Rest von Volkovs Soldaten - Yuriys Soldaten - wie Totenreiter in ihren langen, dunklen Fellmänteln, als sie mit ihren Pferden verborgene Pfade zwischen den Leichen suchten. „Es ist etwas Göttliches daran, über Leben und Tod zu entscheiden”, sagte Boris. Der Satz kam aus seinem Mund, aber es war etwas, das Volkov zu sagen und Yuriy zu leben pflegte, damals, in einer anderen Zeit. Yuriy wandte den Kopf. Es war seine verdiente Strafe, dass er Boris nur noch so sah, wie er ihn jetzt sah und wie er ihn eigentlich in der Realität nie gesehen hatte: Bläuliche Lippen mit einem gefrorenen Lächeln. Glänzende, leblose Augen. Yuriys prächtiger Mantel mit der goldenen Spange um seine Schultern, tropfnass vor dunklem Blut, das aus einer Wunde in seinem Bauch sickerte. Yuriy sah zu, wie er die Hand gegen die Wunde presste und mit jeder Minute schwerer atmete. „Menschen sollten sich nicht wie Gott verhalten”, sagte Yuriy leise. Boris verzog die Lippen erneut zu einem toten, frierenden Lächeln, das nichts mit seinem . „Gott hat die Menschen nach seinem Abbild geschaffen. Warum sollten wir nicht genauso grausam sein?” „Das bist nicht du”, sagte Yuriy und kam sich albern vor. Er wusste, dass es nur ein Traum war. Das machte die Enge in seiner Brust aber auch nicht besser. „Diese Aussagen, diese Haltung, das bist du nicht.” Boris sah ihn mit seinen hellen Augen an. Dann nahm er die blutgetränkte Hand von seiner Bauchwunde und legte sie Yuriy auf den Arm, um ihn einen Moment lang schraubstockartig zu umklammern. „Du weißt nicht einmal, wer du bist”, sagte er, „du weißt nicht einmal, was du tust und wo du bist. Aber keine Sorge.” Er neigte die kalten Lippen zu Yuriys Wange und drückte einen Kuss auf seine Haut. „Ich werde dich immer finden. Und das ist alles, worauf es ankommt.” Dann ließ er los, noch ehe Yuriy ihn aufhalten konnte, und fiel mit geweiteten Augen von seinem Pferd, genau so, wie er es auch in der Realität getan hatte. Und genau wie damals machte Yuriys Pferd einen Satz nach vorne und trug ihn fort, während Boris von toten Leibern und gefrorener Erde verschluckt wurde. Yuriy wachte auf. Nadeschda schob besorgt die Schnauze gegen seinen Arm und er schaffte es, sie einen Moment lang beruhigend hinter den Ohren zu kraulen. Dann krümmte er sich zusammen wie ein verwundetes Tier und schnappte nach Luft, versuchte zu atmen, ohne dass es ihm so recht zu gelingen schien. Wie lächerlich, dass es immer noch so wehtat, dass er sich immer noch so schuldig fühlte, dass er aber auch nicht die leise Hoffnung ablegen konnte, ob Boris nicht doch … Denn immerhin hatte er nie eine Leiche gefunden, auch wenn er noch einmal zurückgekommen war, später, und das ganze Feld nach ihm abgesucht hatte, bis das Blut in seinen Gewändern begonnen hatte, starr zu frieren. Boris’ Tod hatte ihn in tiefe Verzweiflung gestürzt, aber er hatte ihn auch befreit - von Volkov, von seiner eigenen Raserei, von einem alten Leben, das er auch nicht mehr zurück wollte. Vielleicht war Konstantinopel nicht das Endziel seiner Reise, aber er war hier mit dem Pinsel in der Hand eine bessere Version von sich selbst, als in der Heimat mit dem Schwert. Yuriy vermisste Kai. Die Träume waren wesentlich weniger gewesen, als sie sich noch regelmäßig gesehen hatten. Kai hatte etwas an sich, das Yuriy fesselte und da war eine unleugbare Spannung zwischen ihnen, die über regelmäßiges Kampftraining nur mäßig abgeleitet werden konnte. Kai hatte eine rasche Auffassungs- und eine scharfe Beobachtungsgabe, und einen trockenen Humor, der sich erst nach und nach gezeigt und Yuriy begeistert hatte. Dass er sich zu Kai hingezogen fühlte war etwas, das er schon länger wusste und akzeptierte. Manchmal glaubte er, dass es Kai genauso ging: Da war immer wieder ein Aufblitzen von Interesse in seinen Augen, das über bloße Freundschaft hinausging. Gleichzeitig war es schwierig zu beurteilen, weil Kai sich bei Avancen, die Yuriy ihm machte, in den entscheidenden Momenten immer zurückzog. Es war frustrierend. Noch frustrierender war nur, dass Kai seit ein oder zwei Wochen überhaupt nicht mehr auftauchte und ihm lediglich über Maxim eine Nachricht hatte überbringen lassen, die Yuriy nicht gerade viel sagte. Dass Maxim ihm in der gleichen Unterhaltung auch erstaunlich schonungslos angedeutet hatte, dass die Dinge politisch nicht gut standen und man nicht sagen konnte, ob seine Arbeit in der Hagia Sophia auf längere Sicht weitergehen würde, hatte nicht unbedingt dazu beigetragen, dass es Yuriy besser ging. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Nadeschda den Kopf hob und die Ohren spitzte. Immerhin hatte er sich emotional zumindest wieder einigermaßen gefangen, als es kurz darauf an der Tür seines Kellion klopfte. „Morgenstund’ hat Gold im Mund”, erklang dann auch sogleich Ivans Stimme etwas zu energisch und fröhlich, um mit Yuriys Stimmung zu korrelieren. Dementsprechend rieb Yuriy sich seufzend über das Gesicht in der Hoffnung, damit die letzten Spuren des Traums zu verscheuchen, ehe er die Beine von der Schlafstätte schwang und sich über die Schüssel gebeugt Wasser ins Gesicht spritzte. Der Schreiber klopfte erneut, während Yuriy sich in aller Ruhe die Tunika über den Kopf zog und glattstrich. Nadeschda wartete bereits an der Tür darauf, dass er sie ihr öffnete, und huschte dann sogleich hinaus, um sich Streicheleinheiten von Ivan einzuholen. Ivan hatte eine Energie, der man sich schwer entzog, auch oder vielleicht gerade wenn man die Auswirkungen einer schlechten Nacht nicht so ganz abzuschütteln vermochte. Glücklicherweise brauchte Ivan aber keine oder nur wenige Antworten auf seinen Strom an Klatsch und Tratsch über das Kloster im Besonderen und Konstantinopel im Allgemeinen, sondern gab sich mit gelegentlichen, gegrunzten Lauten zufrieden. Es war immer wieder erstaunlich, wieviel Ivan wusste; dann wiederum war er absolut kein Einsiedler und auch wenn nicht alle mit seinem spröden, bisweilen fast zynischen Humor zurechtkamen, hatte er doch ein gut aufgestelltes soziales Netzwerk in Konstantinopel, besonders für einen Mönch. Nach dem morgendlichen Gottesdienst und dem gemeinsamen Frühstück fragte Ivan: „Kommst du heute mit zu Sergei?” Yuriy schüttelte den Kopf. „Ich mache mit dem Fresko weiter, bevor das Zeitfenster sich schließt. Ein paar Farben sind schon angerührt und müssen aufgebraucht werden.” „Immer nur Arbeit im Kopf”, seufzte Ivan. Er hielt Yuriy jedoch nicht auf, weshalb dieser sich wenig später in Nadeschdas Begleitung wieder auf dem Weg in die Hagia Sophia befand. Auch wenn er heute keinen Sinn für seine Umgebung übrig hatte und sich beeilte, zu seinem Ziel zu gelangen, anstatt den Weg zu genießen, wie er es sonst doch manchmal gerne machte, fielen ihm subtile Unterschiede zu der Stadt vor Irenéos Rückkehr auf. So waren wesentlich mehr Stadtwachen positioniert, die bei genauerem Hinsehen alle das Emblem des Prinzen trugen. Sie taten nichts, waren sogar freundlich oder zumindest nicht unfreundlich, aber die Bevölkerung zeichnete sich dennoch durch eine gewisse Unruhe aus, die nicht einmal so richtig greif-, aber dennoch spürbar war. Yuriy mochte diese Soldaten nicht. Er mochte die Soldaten nicht, er mochte die ihm folgenden Blicke nicht, er mochte Kais Abwesenheit nicht und er mochte es nicht, dass kein Raulus ihn begrüßte, als er die Hagia Sophia betrat und seinen Arbeitsplatz erreichte. Einen Moment lang stand er einfach nur da, fassungslos über dieses Fehlen, nachdem er Raulus fest eingebläut hatte, wie wichtig es war, die Tagesstunden mit besonders gutem Licht nach Möglichkeit zu nutzen. Und dabei hatte er gedacht, dass der junge Mann eigentlich ein gutes Auge für Details besaß und sorgfältig arbeitete, wenn man es erst einmal geschafft hatte, seine Energie auf ein Ziel zu bündeln. Aber diesen Eindruck der Sorgfalt warf Yuriy nun zum Fenster heraus. Mit einem frustrierten Schnauben massierte er sich die Nasenwurzel und atmete tief ein. Raulus hatte die letzten beiden Tage schon gefehlt und er hatte angenommen, dass er vielleicht ein zu hart gefeiert hatte, aber der dritte Tag in Folge war einfach einer zu viel. Genug war genug. Es wurde Zeit für Handlungen. Yuriy hatte Glück, denn Maxim war in einer Ecke der Hagia Sophia zu finden, wo er sich angeregt mit einer noch recht jung wirkenden Nonne unterhielt, deren jadegrüne Augen Yuriy prüfend musterten, als er mit raschen Schritten auf sie und den Patriarchen zutrat. Es dauerte einen Moment, ehe er in ihr die Diakonissa Mariam erkannte, die er bisher nur einige Male im Vorübergehen gesehen hatte, wenn sie auf dem Weg zu einer Taufe gewesen war. Obwohl man nur das Aufblitzen dunkler Haare unter dem Schleier erkennen konnte, zeigte sich doch schon allein an ihrem Gesicht, dass sie eine außergewöhnliche Schönheit war, die eine fast kraftvolle Ausstrahlung besaß. Yuriy neigte erst vor Maxim, dann vor ihr den Kopf, was ihren Zügen ein wenig die Arroganz nahm, um stattdessen einem befriedigten Lächeln Platz zu machen. Das Lächeln, mit dem Maxim ihn bedachte, war wiederum so warm wie immer. „Mein lieber Freund! Wie kann ich dir helfen?“ „Mit Verlaub, ehrwürdiger Vater“, sagte Yuriy und versuchte seine Ungeduld und Frustration dabei mühevoll im Zaum zu halten, „der Gehilfe, der mir zugeteilt wurde, erweist sich als faules, krankes Ross. Sicher wisst Ihr, wo ich seine Stallungen finde, damit ich diesen Gaul einmal ordentlich zureiten kann. Mit einem seit Tagen verschwundenen Gehilfen kann ich einfach nicht arbeiten.“ Maxims Lächeln wurde alarmierend besorgt, während die Diakonissa nur mühsam ein Lachen zu unterdrücken schien. „Ich lasse die Herren wohl lieber alleine“, sagte sie mit samtiger Stimme, verneigte sich vor dem Patriarchen und ging nach einem letzten Blick auf Yuriy mit festen Schritten ohne Eile davon. Yuriy verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an sie, sondern fixierte erneut den Patriarchen, der nach Worten suchen zu schien. „Die Dinge sind momentan ein wenig schwierig”, sagte er schließlich, „ich werde dir einen neuen Gehilfen zukommen lassen.” „Ich möchte keinen neuen, ich möchte diesen”, sagte Yuriy, der nichts war, wenn nicht stur, besonders wenn er sein Toleranzlevel an Frustration schon längst überschritten hatte. Maxim schenkte ihm einen Blick, als ob er sich genau darüber sehr im Klaren war, dann kratzte er seinen Bart. „Manchmal sind die Wege Gottes für uns unergründlich, mein Freund. Ich fürchte, dass du diesen Gehilfen unter Umständen nicht mehr zurückbekommst. Man hat mir gesagt, dass er wieder zurück in die Provinz gerufen wurde, um dort seiner eigentlichen Tätigkeit als Straßenprüfer nachzukommen.” Yuriy wusste mit bestimmter Klarheit, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Er konnte nicht sagen, ob Maxim log oder ebenfalls angelogen worden war und jetzt nun einfach nicht die richtigen Informationen übermittelte. Das war jedoch im Endeffekt auch nicht weiter von Belang, denn das Ergebnis war das Gleiche. „Dann ist es ja gut, dass wir die Werkzeuge Gottes sind”, sagte er mit wesentlich mehr beißendem Sarkasmus, als ein Mönch in einem Gespräch mit dem Patriarchen von Konstantinopel aufbringen sollte. „Ich habe nämlich die große Vision, dass der Herr mich in das Blachernen-Viertel schickt, um dort jemandem ordentlich das Fell zu gerben und ihn Demut und Arbeitsamkeit zu lehren.” Etwas zuckte um Maxims Lippen, als ob er sich nur mühsam ein Lachen verkneifen konnte. Dann jedoch schüttelte er den Kopf, die blauen Augen plötzlich ernst. „Yuriy, ich habe dich nicht hierher gebracht, damit du dich noch mehr in Dingen verstrickst, die nicht deine Kämpfe sind. Du sollst hier zur Ruhe kommen, dich und Gott wiederfinden. Und vielleicht dein wunderbares Talent für Schöpfung statt Zerstörung nutzen, so wie wir alle.” Da war vieles, das Maxim wusste und ihm - vielleicht auch dem Rest der Welt - verschwieg. Yuriy war sich darüber immer im Klaren gewesen, aber selten war es so deutlich gewesen wie in diesem Moment. Er starrte den Patriarchen an und überlegte einen Moment lang, die Antworten auf alles, was in dieser Stadt gerade geschah, einfach aus ihm herauszuschütteln. Etwas sagte ihm aber, dass er an Maxims Defensive einfach abprallen würde. Der Mann war nichts wenn nicht ein Bollwerk in allen Fällen, in denen er etwas zu verteidigen hatte. Yuriys rohe Kraft würde gar nichts bewirken. Also zwang er sich dazu, tief durchzuatmen. Dann sagte er leise: „Eure Sorge ehrt mich. Aber Raulus kennt sich mit dem Sachverhalt schon aus und ist neben all seinen Fehlern ein heller, kreativer Kopf. Wenn ich jetzt wieder jemanden neu anlernen muss, verliere ich nur Zeit. Also bitte ich Euch, mir zu sagen, wo ich ihn finden kann.” Maxim schien einen Moment lang sorgfältig abzuwägen. Dann seufzte er und gab sichtlich auf, strich sich aber erneut durch den Bart und wiegte sorgenvoll den Kopf. „Sei vorsichtig, mein Freund. Konstantinopel ist voller silbriger Spinnfäden, die seine Teile zusammenhalten, und man fährt bisweilen besser damit, behutsam vorzugehen.” „Die Zeit für Behutsamkeit ist vorbei”, sagte Yuriy. Maxim musterte ihn einen langen Moment. Dann nickte er langsam und verzog den Mund einen kurzen Augenblick zu einem fast grimmigen Ausdruck - ein erstaunlicher Anblick für den Patriarchen, der sonst immer so ein sonniges, ausgeglichenes Gemüt zeigte. „Vielleicht hast du Recht. Nun, es gibt nicht viele Latiner, die in der Stadt geblieben sind und im Blachernen-Viertel wohnen. Das Domizil des Romulus wird von zwei großen, geflügelten Steinlöwen flankiert. Du wirst es bald sehen, wenn du der Straße in Richtung des Blachernen-Palasts folgst.” Er hielt inne, zögerte einen Moment lang sichtlich. Dann senkte er die Stimme und murmelte: „Es gibt einen Hintereingang. Du tust vielleicht gut daran, dich vor den Augen der Stadtwache zu drücken und den Weg durch den Garten zu nehmen.” Yuriy öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Maxim schüttelte den Kopf und hob die Hand in einer erstaunlich autoritären Geste. „Sei vorsichtig und überlege dir gut, welche Risiken du eingehen willst - und warum.” Seine Augen suchten noch einmal Yuriys Gesicht ab, dann nickte er ihm zu und ging. Yuriy stand einen Moment still. Dann schüttelte er den Kopf und strebte dem Ausgang zu, und Nadeschda huschte still wie ein Schatten zurück an seine Seite, als er mit festen Schritten den kühlen Marmorboden der Hagia Sophia hinter sich ließ und hinaus trat in das goldene Licht des mittäglichen Konstantinopel. Yuriy war noch nie im Blachernen-Viertel gewesen, weil er dort schlichtweg nichts zu suchen hatte. Seine Unterredungen mit dem Basileus waren immer im Großen Palast gewesen, den er nun genauso hinter sich zurückließ wie das Hippodrom, in dem schon länger keine Wagenrennen mehr abgehalten worden waren. Der Weg in das am anderen Ende der Stadt gelegene Blachernen-Viertel war lang und mühsam, besonders zu Fuß. Er schlug seine Mantelkapuze über den Kopf, damit sein Haar nicht in der Sonne leuchtete, aber Nadeschda war ein eindrucksvolles Geschöpf, das von vielen mit staunenden Blicken und Worten kommentiert wurde. Fast wünschte er sich, sie im Kloster gelassen zu haben, aber dann wiederum war alleine die Vorstellung davon absurd. Sie gehörte mittlerweile zu ihm, wie seine Arme zu ihm gehörten. Der Traum der vergangenen Nacht schien ihn bis in die Realität zu verfolgen. Als er einmal den Kopf hob, ganz in der Nähe des Deuteron und somit nicht mehr so weit von seinem Ziel entfernt, meinte er, einen Falken über seinem Kopf kreisen zu sehen. Mit einem Kopfschütteln vertrieb er das seltsam flaue Gefühl in seinem Magen, das sich in seine Knochen auszubreiten drohte und sich anfühlte, als ob etwas Großes auf ihn zukam, dessen Dimensionen er noch nicht abschätzen konnte. Es war einfacher, sich in die Wut zu stürzen, die vor allem Raulus auslöste: Raulus, wegen dem er überhaupt erst diesen elendslangen Fußmarsch durch Konstantinopel zurücklegen musste. Raulus, der nicht einmal eine Nachricht überbracht hatte. Raulus, der sich etwas anhören würde können, wenn er ihn erst einmal bei seinem Schwager aufgestöbert hatte. Zu dem Zeitpunkt, an dem er das Haus mit den Steinlöwen erreichte, war sein Ärger bereits so groß, dass er ihn schnurstracks hinter das Haus führte. Nadeschda bewies hier ihr fantastisches Gespür. Auf sein leises Pfeifen hin begann sie eifrig die überwachsene Mauer zu beschnuppern, bis sie eine halb verborgene Pforte gefunden hatte, die Yuriy mühelos überwand. Niemand hielt ihn auf, als er schnurstracks auf das Haus zuhielt. Im Atrium begrüßte ihn eine Dienerin mit dunkler Haut, die vor Schreck über sein unvermitteltes Erscheinen beinahe den Korb in ihren Armen fallen ließ. „Ich suche Raulus”, sagte er ohne sonderliche Begrüßung. Die Dienerin blinzelte und schien sich nur mit Mühe von ihrem Schreck zu erholen. „Mein Herr, hier seid Ihr falsch. Und der Dominus ist leider außer Haus …” „Dann holt mir die Herrin des Hauses.” Sicherlich konnte Raulus’ Schwester ihm auf irgendeine Weise weiterhelfen. Die Dienerin schien einen Moment zu zögern, aber ein scharfer Blick sorgte schnell dafür, dass sie sich rasch verbeugte und den Gang entlang huschte, um in einem Zimmer zu verschwinden. Yuriy hielt sich nur mühsam davon ab, im Atrium auf und ab zu marschieren wie ein eingesperrtes wildes Tier. Warten war nicht seine Stärke. Glücklicherweise stellte man seine Geduld nicht lange auf die Probe. Es dauerte nicht lange und rasche Schritte erklangen. Dann blickte er auf und sah eine Frau auf sich zukommen, deren gelber Schleier kaum ihr wildes Haar bändigen konnte. Sie trug eine kostbare Tunika aus gelber Seide und eine ebenso kostbare Palla um die Schultern, außerdem schwere, metallene Reifen um die Oberarme und in den Ohren. Sichtlich schien sie nicht erfreut über den Besuch zu sein, aber als sie erkannte, um wen es sich handelte, blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte ihn mit halb offenem Mund an. Yuriy konnte den Blick nicht von ihren unfassbar vertrauten, grünen Augen nehmen, genauso wie er nicht anders konnte, als sich zu fragen, ob Maxim genau gewusst hatte, was ihn im Haus des Romulus erwarten würde. Einen Moment lang starrten sie sich schweigend an, während Yuriy stillschweigend verarbeitete, dass Raulus und Iulia scheinbar ein und dieselbe Person waren. Dann machte Yuriy einen tiefen Atemzug und donnerte: „Nun? Willst du mir nicht erklären, was in Dreiteufelsnamen hier vor sich geht?” Kapitel 16: TEIL II - KAPITEL VI: Hyromia ----------------------------------------- Kai kniete vor Takaos‘ Bett, als Hyromia in die kaiserlichen Gemächer trat. Sie war müde und erschöpft, aber der Anblick vor ihr ließ sie stehenbleiben und mit weiten, wachen Augen das Bild aufsaugen, das sich ihr bot: Kai, der niemals betete und wenn, dann zu Gottheiten, die nicht die ihren waren, hatte die Hände auf dem Bettrand gefaltet, die Finger so nahe an der schlafenden Gestalt des Kaisers, dass sie ihn beinahe berührten. Nur ein Atemhauch trennte sie voneinander. Kai hatte den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen, das Katana auf seinen Knien balanciert. Ein wenig löste sich die Spannung in seinen Schultern, als Hyromia herantrat und die Fingerspitzen federleicht über sein glänzendes, hochgestecktes Haar gleiten ließ, ehe ihre Hand auf seiner Schulter zum Ruhen kam. „Ich habe nach dem Arzt rufen lassen. Er sollte bald hier sein”, sagte Hyromia leise. Kai nickte zur Antwort und schwieg, um ein wenig verdattert aufzuschrecken, als sie sich ungeachtet jeder Förmlichkeit neben ihm niederließ. Sie waren einander so nahe, dass ihre Schultern sich streiften. Unsittlich, dachte Hyromia. Aber für Sittlichkeit war es wohl ohnehin zu spät. „War er wach?”, fragte sie schließlich. „Er war sogar am Schreibtisch”, erwiderte Kai und Hyromia versuchte nicht allzu offensichtlich erleichtert auszuatmen. Die Art, wie er mit den Mundwinkeln zuckte, verriet ihr, dass sie nicht allzu erfolgreich damit war. „Hat es sich nicht nehmen lassen, einige Dokumente zu unterzeichnen.” „Gut.” Hyromia seufzte und fühlte wenig später Kais Hand, die sich um ihre wand und sie sanft drückte. Als sie aufblickte, sah sie direkt in seine Glutaugen. Er sagte nichts, aber sie konnte sehen, dass er ihr stillschweigend Mut zuzusprechen versuchte. „War Irenéo da?”, fragte sie nach einem weiteren Moment. Augenblicklich spannte Kai sich an. Es war ein subtiler Vorgang, den man nur beobachten konnte, wenn man ihn gut kannte - aber Hyromia hatte ihn schon lange genug um sich, hatte schon lange genug Zeit damit verbracht, ihn anzusehen. Sie streckte eine Hand aus und glitt mit den Fingerspitzen über die angespannte Linie seiner Schultern, seines Nackens, seines Kinns. Er war ein schöner Mann. Exotisch, wie manche sagten, aber Hyromia verabscheute diese Bezeichnung für einen Menschen, der so viel mehr war als ein faszinierendes Raubtier, das man sich zur Unterhaltung ins Haus holte. „Er war hier”, sagte er und seine Stimme verriet nichts von dem, was er fühlte. „Er hatte eine Unterredung mit dem Basileus, dann haben sie gemeinsam zu Mittag gegessen.” „Und dann?” „Dann hat er dem Basileus empfohlen, sich zu schonen und ist gegangen.” Sie musterte ihn. „Du vertraust ihm nicht.” Ein kleines Lächeln, ein Aufflackern von Feuer, das die Glut in seinen Augen belebte. „Ich denke, ich bin hier nicht der einzige, sonst würden wir diese Unterhaltung nicht führen.” Hyromia seufzte erneut und schloss einen Moment die Augen, während sie nach Worten suchte. Normalerweise war sie nie darum verlegen, aber nun kamen sie schwerfällig zu ihr. Hier, auf dem Boden neben Kai, neben dem Bett ihres Mannes, fühlte sie zum ersten Mal seit längerem die Müdigkeit, die sie schon wochenlang begleitete. Etwas war aus der Balance geraten, etwas schwappte gefährlich am Rand zum Ruin. Ihre Stimme schien in diesen Tagen weniger gehört zu werden als sonst. Irenéo bestand darauf, sie als Schwester zu bezeichnen und zu versichern, dass er ihren Rat beherzigte, aber was er sagte und was er tat waren zwei verschiedene Dinge. Und Takaos … Takaos schien sich mehr und mehr von ihr zu entfernen. Er hing an den Lippen seines Bruders und integrierte ihn in nahezu jede Besprechung. Und Irenéo lieferte. Wohin Hyromia auch ging, überall schienen entweder er oder einer seiner Männer zu sein. Wohin sie auch lauschte, überall waren seine Worte, und seine Worte schienen die ihren vollkommen fortzuspülen. Besonders schmerzhaft war das in Verbindung mit Takaos. Sie konnte es verwinden, solange sie seine unerschütterliche Unterstützung hatte, denn dass die Kaiserin von Byzanz trotz allen Einflusses abhängig von dem Respekt ihres Mannes blieb, war nichts Neues in dieser Welt. Aber zunehmend hatte sie das Gefühl, als ob dieser Respekt - nun, nicht verschwand, aber überdeckt wurde von etwas, das ihr nicht gefiel. „Ihr müsst nicht sprechen”, sagte Kai leise mit jener erstaunlichen Einsicht und Sanftmut, die in den überraschendsten Momenten durch seine neutrale Unergründlichkeit schimmerte. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll”, gab Hyromia zu. „Es ist nur ein Gefühl, das ich an nichts Konkretem festmachen kann, und ich weiß, wie weibisch das ist.” Kai sagte einen Moment lang nichts, aber eine steile Falte erschien zwischen seinen Augenbrauen, als ob er absolut nicht mit ihr übereinstimmte. Dann drehte er sich von Takaos fort und ihr zu. Meist musste sie ihn direkt dazu auffordern, sie zu berühren und mit ihrem Namen anzusprechen; die Schranken, die ihn auch gelegentlich vor Takaos zurückscheuen ließen, waren bei ihr noch ein wenig schwerer zu durchbrechen. Nun jedoch fühlte sie seine Hand auf ihrer Wange, dann streichelte er mit dem Daumen sanft ihren Wangenknochen. „In meinem Heimatland ist es angesehener, auf die innere Stimme zu hören”, sagte er schließlich. „Intuition nennt man es hier, denke ich. Und Intuition wächst, wenn man sich lange Jahre mit etwas umgeben hat. Ihr kämpft für dieses Land. Ihr liebt dieses Land, Ihr gehört zu seinem Herzen. Ich bewundere Euch für Euer Gefühl. Seid stolz darauf.” Hyromia öffnete den Mund, aber ihr fiel keine Erwiderung ein. Ihr Herz flatterte in der Brust wie ein eingesperrter Käfig. Schritte erklangen, die sie rasch die Hand zurückziehen und auf die Beine kommen ließen. Während Kai augenblicklich eine Rolle in die Zimmerecke schlug und sich dort aufstellte wie ein flackernder Schatten zwischen dem Fackellicht, ließ Hyromia sich am Bettrand nieder, als ob sie bereits die ganze Zeit dort gewesen war. Eine Dienstbotin trat ein und verneigte sich, dann gab sie den Weg für den Arzt frei, der so hünenhaft war, dass er fast den ganzen Türrahmen ausfüllte. Trotz seiner einschüchternden Gestalt hatte Hyromia Archiatroi Sergios niemals anders als sanftmütig und auf das Wohl seiner Patienten bedacht kennengelernt. Auch jetzt lächelte er, als er sich tief vor Hyromia verneigte. Einen Moment huschte sein Blick zu Kai, dem er ein Nicken zukommen ließ, dann konzentrierte er sich wieder auf die Kaiserin. „Ich hoffe, Ihr seid wohlauf, ehrwürdige Basilissa.” „Nun, da Ihr hier seid, geht es mir definitiv besser”, erwiderte sie lächelnd und erhob sich, um ihm Platz zu machen. „Er hat heute ein wenig gegessen und sich einigen staatlichen Angelegenheiten gewidmet, aber nun schläft er bereits seit einer Weile.” Sie schüttelte den Kopf. „Seine Erschöpfung besorgt mich.” „Sie ist in der Tat ungewöhnlich für jemanden in seinem Alter und Zustand”, stimmte der Archiatroi zu und stellte seine Tasche ab, um sanft die Schulter seines Patienten zu rühren. Es dauerte einen Moment, bis Takaos auf seinen Griff reagierte. Aber schließlich schlug er die Augen auf und blickte einen Moment lang orientierungslos um sich, ehe er erkannte, wer vor ihm stand und sich aufrichtete. Die Decke rutschte von seinem Oberkörper und sammelte sich um seine Hüften. Normalerweise hätte Hyromia den Anblick seiner nackten Muskeln genossen, aber nun hatte sie nur Augen dafür, dass seine Haut ihren gesunden, goldenen Schimmer verloren zu haben schien. Sie biss sich auf die Lippen, um still zu bleiben, dann hob sie den Kopf. Über den Raum hinweg erwiderte Kai ihren Blick und blinzelte sie stumm mit der gleichen Besorgnis an. In diesem Moment realisierte sie, wie viel sie ihn in letzter Zeit gesehen hatte. Er schien noch weniger als sonst von der Seite des Kaisers zu weichen, vielleicht überhaupt nicht mehr, denn sie konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal in den vergangenen Tagen für längere Zeit nicht auffindbar gewesen war. Was auch immer Kai zuvor fortgezogen hatte, er schien sich davon losgelöst zu haben. Vielleicht hätte Hyromia besorgt um das Wohl ihres Freundes sein sollen. So, wie die Dinge standen, erfüllte sie nur stille, allumfassende Erleichterung über die Tatsache, dass sie immerhin eine Säule innerhalb der Palastwände hatte, auf die sie sich bedenkenlos stützen konnte. „Ich kann mich nicht erinnern, Euch gerufen zu haben”, sagte Takaos mit einer Stimme, die rau vor Schlaf und Verwirrung war. Sergios verneigte sich vor ihm. „Die ehrwürdige Basilissa hat mich um einen Besuch gebeten. Unsere Kaiserin macht sich Sorgen um Euch, mein Herr.” Takaos’ Augen fanden Hyromias. Er war nie besonders gut darin gewesen, seine Emotionen zu verbergen, und auch jetzt zeichneten sie sich in rascher Abfolge auf seinem Gesicht ab: Ein Anflug von Wut, der sie erstaunte und empörte, dann jedoch ein kleines, warmes Lächeln, das sie wieder beruhigte. „Das wäre nicht nötig gewesen”, sagte er dennoch mit seiner klassischen Sturheit. „Ich bin wohlauf.” „Mit Verlaub, ehrwürdiger Basileus, ich würde dennoch gerne zur Beruhigung aller einen Blick auf Euch werfen.” Sergios besaß genau die richtige Mischung aus Demut und Nachdruck. „Nun, dann waltet Eures Amtes. Es wäre wohl Verschwendung, wenn Ihr den Weg durch die Stadt vollkommen umsonst zurückgelegt hättet.” Kai hielt noch einmal Hyromias Blick fest, dann glitt er vollkommen lautlos aus dem Raum, als ob er niemals da gewesen war. Sie wusste, dass er draußen Stellung beziehen würde und fühlte dennoch deutlich seine Abwesenheit. Obwohl es warm war, schlang sie die Enden des Schleiers über ihren Haaren fester um ihren Hals und atmete aus. Der Arzt ließ sich Zeit mit seiner Untersuchung, auch wenn Takaos bei weitem nicht der geduldigste Patient war. Schließlich wurde er entlassen und Sergios packte seine Instrumente zusammen. Nach einer Reihe an Empfehlungen, die vor allem die Ernährung des Kaisers betrafen und seine Kraft stärken sollten, verneigte er sich vor Takaos und Hyromia. Als er sich wieder aufrichtete, sah er sie auf eine solch eindringliche Weise an, dass sie nur kaum merklich nickte. Sergios verließ den Raum. Takaos griff nach Hyromias Hand, aber sie entzog sich ihm. „Ich komme gleich”, beschied sie ihm und eilte dem Arzt hinterher, um im Vorraum des kaiserlichen Schlafgemachs von ihm beiseite gezogen zu werden. „Ich kann nicht erkennen, was ihm die Kraft raubt”, sagte er leise und rasch. „Es wirkt nach keiner Krankheit, die in Frage kommen könnte. Er ist blass und müde, aber sein Herz schlägt kräftig. Ich werde in einigen Tagen wiederkehren und seinen Harn untersuchen. Bitte kontaktiert mich augenblicklich, falls es bis dahin zu Verschlechterungen kommen sollte.” „Ich danke Euch”, sagte Hyromia aus tiefstem Herzen. „Bitte richtet auch Eurer Frau meine Grüße aus. „Eine große Ehre, meine Herrin.” Sergios verneigte sich nochmals und verließ sie dann endgültig. Kai löste sich aus den Schatten und kam auf sie zu. „Sag nichts”, murmelte sie. „Ich weiß es.” Vielleicht war es nichts. Vielleicht litt Takaos nur an einer kleinen Verstimmung, die von selbst wieder verschwinden würde, und die ganze neue Situation im Palast machte sie einfach unsicher, ließ sie Schatten sehen, wo keine waren. Aber dann sah sie auf und fand ihre Sorgen in Kais Augen widergespiegelt, und etwas in ihrem Magen drehte sich um. Das heftige Bedürfnis, Takaos zu beschützen, brach fast ihre Rippen auseinander. Aber sie wusste nicht einmal, in welche Richtung sie sich drehen musste, und Takaos war vollkommen blind und taub gegenüber ihren Warnungen. „Was soll ich nur tun?”, wisperte Hyromia schließlich. „Er hört mich nicht …” Sie hatte nicht damit gerechnet. Aber Kai zögerte nur einen Wimpernschlag, dann kam er auf sie zu, fasste nach ihren Händen, zog sie mit sich in die Schatten. Sie hatte sich noch nie an seinen Augen sattsehen können und auch jetzt war sie wie erstarrt unter seinem Blick. Er war so nahe, dass ihre Oberkörper einander beinahe, nur beinahe berührten, und er ließ ihre Hände nicht los. „Du gehst weiter”, sagte er schließlich. „Du bist doppelt vorsichtig - für ihn und für dich. Wir müssen seine Augen und Ohren sein, wenn ihm beides verschlossen wird.” Sie atmete ein. „Du hast einen Verdacht?” Kai schwieg, aber dann nickte er kaum merklich. Er öffnete den Mund, dann pausierte er und hob den Kopf, um über Hyromias Schulter zu sehen, was sie dazu brachte, ebenfalls den Kopf zu drehen. Takaos stand im Türrahmen des kaiserlichen Schlafgemachs. Sein Blick fand sie mühelos in der Ecke, in der sie standen, und Hyromia lief ein kalter Schauer den Rücken herunter, als sein Gesicht einen Moment misstrauisch und wütend war. Niemals, niemals hatte Takaos sie oder Kai bisher so angesehen, egal in welcher Situation. Er war temperamentvoll und stritt sich sowohl mit Hyromia als auch mit Kai nicht selten, aber das war eine andere Art von Wut - eine, als ob er ihnen nicht vertraute. Eine, als ob er nicht mehr sicher war, dass sie ihm die nächsten, liebsten, teuersten Menschen waren. „Habe ich etwas unterbrochen?”, fragte er, und sein Tonfall dabei war so zynisch, dass er sich wie eine Ohrfeige anfühlte und Kai dazu brachte, sich anzuspannen. Das war nicht Takaos. Das war nicht Hyromias Ehemann, der hier sprach. „Ich kann auch später wiederkommen.” Hyromia löste augenblicklich die Hände aus Kais Griff und kam auf ihn zu. Er wich nicht zurück, aber sein Gesicht war weiter angespannt, während sie die Hände auf seine Brust legte und zu ihm aufsah. „Takaos”, sagte sie leise, „als gäbe es irgendetwas, das Kai und ich dir nicht schenken würden. Wir machen uns nur Sorgen und ich wollte dich nicht damit behelligen.” Die Anspannung in seiner Haltung schwankte, bis sie schließlich einstürzte, als Hyromia die Hand hob und über seine Wange strich. Er schloss die Augen und etwas wie Scham flackerte über sein Gesicht, dann legte er die Hände über ihre, hob sie an und küsste ihre Fingerspitzen in einer stillen Entschuldigung, dann sah er zu Kai. „Es gibt nichts, worüber ihr euch Sorgen machen müsst”, sagte er dann fest. „Das Land ist in guten Händen. Irenéo und ich haben alles im Griff, es ist nur viel zu tun und das macht müde, das ist alles.” Hyromia lächelte, weil ihr nichts anderes übrig blieb. Aber sie hatte Kais sichere Präsenz im Rücken und noch war Takaos für sie erreichbar. Noch war er hier mit ihr, sah sie an, ließ sich erreichen. Das musste für den Augenblick genug sein. „Ich hoffe, du hast Recht”, sagte sie. Kapitel 17: TEIL II - KAPITEL VII: Iulia ---------------------------------------- „Ich kann das erklären“, sagte Iulia. Yuriys blaue Augen glühten beinahe vor Wut, aber er hielt lange genug im raschen Auf- und Abgehen im Atrium inne, um sich von ihr einen Becher Wein geben zu lassen, einen tiefen Schluck davon zu machen und sich dann grob über den Mund zu wischen. Die Wolfshündin, die immer an seiner Seite war, legte die Ohren an, während sie den Blick nicht von Iulia nahm. „Gib mir einen Grund, warum ich dir nicht eine Maulschelle verpassen sollte, dass es dich bis in die östlichen Provinzen wirft“, sagte Yuriy schließlich. Iulia konnte nicht verhindern, dass ihre Augenbrauen in die Höhe schossen. „Du würdest Hand an eine Römerin legen?“ „Du hast keine Ahnung, an wen ich schon meine Hände gelegt habe“, sagte Yuriy grimmig. „Es würde mich wirklich brennend interessieren, warum du hier in diesem lächerlichen Fetzen herumläufst, anstatt mir in der Hagia Sophia zu assistieren.“ Iulia klappte der Unterkiefer herunter. Ihr fehlten nicht oft die Worte, aber diese Ebene von Ignoranz machte sie sprachlos. „Das hier ist mein echtes Leben”, sagte sie mit kaum gezügelter Wut. Es fehlte nur eine einzige weitere Bemerkung und die Maulschelle würde an Yuriy gehen. Sie spürte, dass sie bebte, als sie mit flammender Stimme geradezu herausfordernd fortfuhr: „Ja, sieh mich ruhig an, du arroganter Bastard. Du kommst hier hineingestürzt, als hättest du ein Anrecht auf mich.” Sie lachte bitter auf. „Aber das bin ich von euch Männern ja gewohnt. Ich bin eine Ehefrau und Mutter, und das hier ist mein goldener Käfig, den ich nur verlassen kann, wenn mein Ehemann mich darin unterstützt. Also geh doch zu ihm und sag ihm, dass du deinen Assistenten zurück haben willst! Streitet euch um mich wie zwei Geier um Aas!” „Du bist wirklich unfassbar dramatisch”, grollte Yuriy. „Sagt der Mann aus der Fremde mit dem Wolf an seiner Seite!”, schoss Iulia zurück. Einen Moment maßen sie sich stumm mit verärgerten Blicken. Der besagte Wolf legte sich flach auf den Boden und ließ sie nicht aus den Augen. Dann atmete Yuriy aus und rieb sich über das Gesicht. „Du bist Mutter?”, wiederholte er dann schließlich. Iulia zuckte mit den Achseln, immer noch angespannt und frustriert, aber wenigstens nicht mehr halb blind vor Wut. „Ich habe ein Kind geworfen, in der Tat. Aber um wirklich Mutter zu sein, braucht es wohl mehr als das.” Yuriys Mundwinkel zuckten, dann schüttelte er wieder den Kopf, bevor er verlangte: „Erzähl mir alles.” Ein Teil von Iulia wollte ihm entgegen spucken, dass sie zu keiner Aussage verpflichtet war und er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte. Aber Yuriy war hier und schien sich mehr darum zu kümmern, dass sie ihn bei der Arbeit im Stich gelassen hatte, statt dass sie eine Frau war. Mehr noch: Er suchte nach Antworten und versuchte scheinbar zu verstehen. Das war, traurig- und ironischerweise, mehr, als man von Emilia behaupten konnte. Der Gedanke an sie schmerzte so plötzlich und heftig, dass Iulia tief durchatmete. Dann nickte sie und machte eine Handbewegung. „Folge mir.” Der Wolf kam lautlos auf die Beine und tappte hinter ihnen her, als Iulia ihren Gast in eines der selten benutzten Zimmer im hinteren Bereich des Hauses führte. So etwas wie perfekte Privatsphäre gab es nicht, aber das hier musste reichen. Nadeschda rollte sich in einer Ecke zusammen, während Yuriy sich auf einem der leicht verstaubten Diwane niederließ und Iulia mit einem Blick aus seinen hellen Augen fixierte. „Erzähl”, sagte er ruhig. Also erzählte Iulia. Sie begann damit, dass sie schon lange ihre Ähnlichkeit zu ihrem oft verreisten Bruder Raulus nutzte, um in männlicher Maskerade Freiheiten zu erlangen, die sie sonst nicht hatte. Die Kunst lag ihr im Blut, aber als römischer Frau, die in einen höheren Stand geheiratet hatte, waren ihr in vielerlei Hinsicht die Hände gebunden. Sie wiederholte, dass Romulus davon wusste und sie gelegentlich sogar deckte, schilderte dann den Grund für seinen plötzlichen Sinneswandel und ihr daraus resultierendes Fortbleiben, machte dabei sogar ein paar Bemerkungen zu ihren eigenen Beobachtungen hinsichtlich der Vorgänge im Palast. Emilia erwähnte sie jedoch nicht. Das ging Yuriy nichts an, und egal wie verletzt Iulia war, sie würde die Äbtissin nicht in Gefahr bringen. Yuriy hörte ihr schweigend zu, ohne sie zu unterbrechen. Als sie ihre Bedenken hinsichtlich Iréneo schilderte, erhob er sich und ging mit hinter dem Rücken verschränkten Armen im Zimmer auf und ab, das Gesicht angespannt. Erst nachdem sie geendet hatte, blieb er stehen und studierte ein Gemälde an der Wand, ohne es richtig wahrzunehmen. Iulia konnte förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. „Du denkst vielleicht, dass ich dich nicht verstehe, und in vielerlei Hinsicht stimmt das wohl auch“, sagte er schließlich, ohne sich zu ihr umzudrehen. „Wie sollte ich auch wirklich verstehen können, wie es ist, in deiner Haut zu stecken? Aber ich kann vermutlich mehr nachvollziehen, als du denkst. Ich verstehe, wie es ist, einer zugedachten Rolle entfliehen zu wollen. Ich verstehe, wie hart der Kampf für persönliche Freiheit sein kann - und wie einsam. Leute, die so etwas nie durchmachen müssen, verurteilen leichtfertig. Ich tue es nicht.“ Nun wandte er sich doch zu ihr um, und obwohl sein Gesichtsausdruck hart war, fand Iulia darin etwas seltsam Tröstliches, das sich verstärkte, als er fortfuhr: „Dein Geheimnis ist sicher bei mir.“ „Weil du etwas gegen mich und Romulus in der Hand haben willst, nur für den Fall der Fälle?“, fragte Iulia trotz ihres beruhigten Gefühls. Yuriy zuckte mit den Achseln. „In einem früheren Leben hätte ich so gedacht, das stimmt.“ „Und in diesem?“ „In diesem versuche ich genau das zurückzulassen.“ Yuriy machte einen tiefen Atemzug. „Ich bin kein guter Mann. Nie gewesen. Aber ich muss nicht noch schlechter werden, als ich es schon bin. Und in gewisser Weise suche ich einfach …“ „Glück?“ Yuriy lächelte flüchtig, aber warm. „Ruhe. Nun, wer weiß, vielleicht sind diese beiden Begriffe oftmals das gleiche.“ Einen Moment schwiegen sie sich, doch es lag nichts Bedrückendes darin. Dann ergriff Iulia, getrieben von einem plötzlichen, immer stärkeren Bedürfnis, das Wort und sagte: „Es ist schon seltsam. Bis vor wenigen Tagen dachte ich, dass mich nur eine Person versteht: Die Person, der ich mein Herz geschenkt habe. Aber-“ „Aber?“, bohrte Yuriy nach, als sie stockte. „Aber dann hat sie gezeigt, wer sie wirklich ist. Und dass sie mich die ganze Zeit nicht verstanden hat.“ Iulia atmete tief durch. „Ich dachte immer, dass es ist wie in den Geschichten: Dass es das schlimmste ist, für einen anderen, besseren Menschen verlassen zu werden. Aber das stimmt gar nicht - das schlimmste ist, für eine Überzeugung verlassen zu werden.“ Yuriy sah sie einen Moment lang an. Dann überraschte er sie, indem er an sie herantrat und auf eine fast tröstende Weise sachte eine Hand auf ihren Arm legte. „Ich würde gerne sagen, dass ich das eher respektieren könnte, aber leider stimmt es nicht so ganz“, sagte er ruhig. Dann sah sie ihn einen Moment überlegen, ehe er sich erkundigte: „Du meintest, du bist öfter im Palast, nicht wahr? Und die Situation ist nicht gut?“ „Könnte besser sein“, sagte Iulia vorsichtig und neigte den Kopf. „Wieso fragst du?“ „Es gibt da jemanden“, sagte Yuriy langsam. Sein Blick wurde geradezu forschend. „Persönlicher Beschützer des Kaisers.“ „Kai“, sagte Iulia sofort. Yuriy hielt inne. Dann nickte er. „Ich sehe, er hat sich einen Namen gemacht.“ „Alle wissen, dass Kai da ist und Irenéo ihn hasst“, sagte Iulia mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Er kann ihn nicht kaufen, er kann ihn nicht überzeugen und er kann ihn auch nicht töten, weil Kai zu klug ist. Es würde mich nicht wundern, wenn er irgendeine List ersinnt, um ihn in Ungnade fallen zu lassen - das ist der einzige Weg, um ihn von Takaos‘ Seite zu bringen. Und wenn er das geschafft hat …“ Yuriy erblasste schlagartig, als ob ihm etwas Schwerwiegendes bewusst geworden war. Er fluchte lautstark auf Russisch, dann schloss er die Hand deutlich fester um ihren Arm. „Iulia“, sagte er rau. „Zeig mir einen Weg, wie ich unbemerkt in den Palast komme. Ich muss mit ihm sprechen.“ „Oh“, sagte Iulia verdattert. Auch ihr wurde jetzt einiges klar. Vielleicht konnte sie Yuriy tatsächlich mit Emilia vertrauen, zumindest mit einem gewissen Teil der Geschichte … doch das war eine Überlegung für ein andermal. Für den Moment schürzte sie nur die Lippen, ehe sie den Kopf schüttelte. „Das ist keine gute Idee.“ „Das habe ich auch nicht gesagt, oder?“, fragte Yuriy mit hochgezogener Braue. „Also?“ „Das ist dir wirklich wichtig, oder?“, realisierte Iulia voller Erstaunen. „Nein - er ist dir wirklich wichtig. Stimmt das?“ „Vielleicht“, sagte Yuriy nach einer langen Pause und begegnete ihrem Blick fest. „Ich hätte gerne die Möglichkeit, das Ausmaß genauer festzustellen. Aber er braucht Hilfe. Und Kai … Kai denkt, dass er alles im Griff hat und die Lage im Alleingang lösen kann, aber so funktioniert das Leben nicht. So landet man nur mit dem Gesicht nach unten in einer Lache des eigenen Blutes.“ „Danke für das geschmackvolle Bild“, seufzte Iulia, dann hielt sie inne. „Du sprichst aus Erfahrung, oder?“ Yuriy zuckte mit den Achseln, zögerte einen Moment und schien dann eine Entscheidung zu treffen. „Ich war nicht immer ein Mönch“, sagte er langsam. „Die meiste Zeit meines Lebens war ich es nicht. Und Maler schon gar nicht. Ich bin in einem winzigen Dorf in der Tundra aufgewachsen, mitten im Wald. Nun, das Dorf hat mich mehr oder weniger - eher weniger - großgezogen, nachdem sie meine Mutter zum Teufel gejagt haben.“ „Warum?“ „Sie hatte rote Haare.“ Yuriy lächelte grimmig. „Mein Vater hat mir die Haare gefärbt, bis er in irgendeinem Scharmützel gefallen ist, damit sie mich nicht als Hexensohn aufknüpfen. Ob es viel gebracht hat … Nachdem Fürst Volkov mich einem Ritt durch das Dorf aufgesammelt hat, habe ich damit aufgehört. Er lehrte mich die Macht von Furcht anderer vor einem. Keine Ehrfurcht ohne Furcht, pflegte er zu sagen. Nun, damals war er noch kein Fürst. Nur ein dahergelaufener Rus, mordend und brandschatzend, aber mit einem Plan im Hinterkopf. Ambitionen … Sie sind manchmal alles, was die Spreu vom Weizen trennt.“ Yuriy machte eine Pause und Iulia realisierte, dass sie ihn mit angehaltenem Atem zugehört hatte. Nun ließ sie ihn langsam entweichen und fragte: „Was ist passiert?“ „Was passiert ist …“ Yuriys Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Sein Blick wanderte in weite Fernen, die sich Iulia nicht erschlossen. „Du musst verstehen, ich hatte lange kein Problem mit dieser Art des Lebens. Ich war Volkovs rechte Hand. Es hat mir nichts ausgemacht, zu morden - ich tat, was nötig war, um ein halbwegs angenehmes Leben zu führen. Ich denke, das kannst du verstehen.“ Er lächelte flüchtig. „Was passiert ist … Es war schleichend. Die schlimmsten Dinge passieren immer schleichend. Irgendwann ging es nicht mehr darum, Land zu sichern, ein Fürstentum aufzubauen, zu Macht zu kommen. Irgendwann hat Volkovs Armee gebrandschatzt und vergewaltigt, zerstört und gemordet, wo es nicht nötig war.“ „Wann ist eine Vergewaltigung jemals nötig?“, sagte Iulia mit bitterer Schärfe. „Das hat Boris auch gesagt“, sagte Yuriy ruhig. „Ich denke, vielleicht ist einfach nur er passiert. Ich war an irgendeinem Punkt wie berauscht von der Macht, von Volkovs Gunst. Es hat mich blind und taub und grausam gemacht … und ich musste erst verlieren, was wirklich wichtig war, um zu realisieren, dass es nicht das war, was ich wollte. Dass ich genug hatte von Grausamkeit, Machtkampf und Politik.“ „Wer ist Boris?“, fragte Iulia, ohne einen Hehl aus ihrer tiefen Faszination zu machen. „Mein Waffenbruder“, sagte Yuriy leise. „Mein Gewissen in vielen Momenten. Mein Seelenmensch.“ „Warum ist er nicht mit dir gekommen?“, wollte Iulia wissen. Doch sie ahnte die Antwort schon, und die Frage tat ihr leid, sobald sie aie gestellt hatte. „Er ist tot“, erwiderte Yuriy mit fragiler Nüchternheit. „Und es ist meine Schuld, die ich niemals begleichen kann.“ Er machte einen tiefen Atemzug. „Aber ich werde nicht zulassen, dass Kai sehenden Auges in sein Unglück rennt. Also bitte ich dich noch einmal: Sag mir, wie ich in den Blachernen-Palast gelangen kann. Wenn der Berg nicht zum Prophet kommt, muss der Prophet eben zum Berg.“ „Ich halte das immer noch für eine ausgesprochen unüberlegte Idee“, sagte Iulia mit einem tiefen Seufzer. Aber es berührte sie, dass Yuriy ihr von seiner Vergangenheit erzählt hatte - sie eingelassen und ihr Vertrauen gezeigt hatte, wo er nicht hätte müssen. Vielleicht hatte sie eine Geliebte verloren, aber einen Freund gewonnen? Sie gab sich einen Ruck. „Na schön. Ich weiß tatsächlich einen Weg und verrate ihn dir. Manus manum lavat, nicht wahr? Aber bist du dir sicher? Ich dachte, du bist fertig mit den Machtkämpfen.“ „Das dachte ich auch“, sagte Yuriy sehr grimmig. „Aber scheinbar sind die Machtkämpfe nicht ganz fertig mit mir.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)