Blut und Gold von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 10: TEIL I - KAPITEL X: Takaos -------------------------------------- Hyromias Hand lag kühl auf seiner Braue, als Takaos mit einem Keuchen aus dem Schlaf aufschreckte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sein Atem sich wieder beruhigt hatte. Er rieb sich über das Gesicht und atmete tief durch, dann sank er zurück in die Kissen aus ägyptischem Leinen und nahm dankbar die sanften, tröstenden Berührungen an, die Hyromia ihm spendete. „Hattest du einen schlechten Traum?“, fragte sie sachte. Ihre Stimme war kaum mehr ein Flüstern in einem Raum, der vom diffusen Licht der Morgendämmerung durchdrungen wurde. Takaos gab ein zustimmendes Geräusch von sich, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. „Es hat sich so seltsam … real angefühlt.“ „Möchtest du mir davon erzählen?“ „Ich habe von zwei Drachen geträumt“, sagte Takaos langsam und nachdenklich, „beide wurden sie vom Sturm begleitet. Ich kann nicht sagen, woher ich es wusste, aber sie kannten sich - Gefährten vielleicht, Geschwister oder Liebhaber oder enge Freunde. Aber sie kämpften miteinander. Es ging um …“ Er dachte mit gerunzelter Stirn nach, dann erhellte die Erinnerung sein Gesicht. „Es ging um ein goldenes Füllhorn. Es war so bitter, die Art und Weise, wie sie miteinander kämpften, ich kann es nicht einmal richtig beschreiben …“ Hyromias kluge, dunkle Augen lagen fortwährend auf ihn gerichtet, während er sprach. Als sein Satz verklang, neigte sie sich ein wenig mehr zu ihm und drückte einen sanften Kuss auf seine Wange. „Was ist dann passiert?“ „Der Ältere verwundete in seinem Streben nach dem Horn den Jüngeren tödlich“, sagte Takaos traurig, „aber dann bäumte der Jüngere sich sterbend noch ein letztes Mal auf und zerriss ihn, und das Blut des Älteren floss über das Gold des Horns und färbte es rot.“ Sie schwiegen. Takaos nahm Hyromias Hand zwischen die eigenen und drückte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen, dann ließ er sie los und griff nach dem Krug, der neben seinem Bett stand, um sich einen Becher voll Wasser einzuschenken. Sein Mund war seltsam trocken, als ob der Sturm in seinem Traum seine Spuren auch an seinem Körper hinterlassen hatte. „Ich kann nicht anders, als zu denken, dass das ein schlechtes Omen ist“, sagte er schließlich und stellte den Becher ab, um sich zurück zu Hyromia zu drehen. „Es war nur ein Traum“, sagte diese beschwichtigend, was er schon erwartet hatte. Seine Frau war pragmatisch, eine Denkerin mit Idealismus, das war, was er so an ihr schätzte. Sie glaubte an Gott auf eine Art und Weise, die sehr persönlich und schwer zu greifen war, fand Sicherheit und Routine in den religiösen Ritualen ihres Lebens, aber an so etwas wie göttliche Zeichen zu glauben fiel ihr schwer. „Mein Großvater träumte von Drachen, ehe die Lateiner Konstantinopel einnahmen“, wandte er ein, „ein geflügelter Drache, der einen Lindwurm besiegte. Und der Traum gab ihm Recht.“ „Träume sind nichts als Interpretationssache, Liebster“, erwiderte Hyromia beschwichtigend, aber überzeugt. Sie griff nach ihm und zog ihn zu sich, bis sein Kopf auf ihrer nackten Brust ruhte. „Denk nicht zu viel darüber nach, was die Nacht dir gebracht hat, wenn dir die Gaben des Tages noch bevorstehen.“ „Ich weiß nicht, ob man das einfach so von der Hand wischen kann.“ Hyromia schüttelte den Kopf. „Es war nur ein Traum“, wiederholte sie, „du hast in letzter Zeit hart gearbeitet, es ist kein Wunder, wenn du sehr lebhaft träumst. Aber es ist auch nur das: Ein Zeichen von Übermüdung. Wir haben unser Schicksal selbst in der Hand, die Zukunft ist nicht festgeschrieben, Takaos.“ „Ich bin froh, dass ich dich habe“, sagte Takaos ehrlich und strich über ihren Arm, dann sah er zu ihr auf. Einen Moment lang lächelten sie sich an, dann ergänzte er leise: „Ich hoffe, dass ich dich genauso vor dem Verlorengehen bewahre, wie du es für mich tust.“ „Immer“, sagte Hyromia, ihre Augen hell und glänzend, schlang die Finger um seine und hielt ihn fest, bis es an der Zeit war, sich den Herausforderungen des Tages zu stellen. Trotz ihrer beschwichtigenden Worte verfolgte der Traum Takaos durch den ganzen Tag hindurch. Er grübelte darüber während des Frühstücks und er grübelte darüber, als er in seinem Besprechungsraum über den Dokumenten brütete, die für die Zusammenkunft mit seinen Beratern am Nachmittag vorbereitet werden mussten. Die Dokumente verschwammen vor seinen Augen; plötzlich schien er in der Tinte nur noch das Blut des sterbenden Drachen zu sehen, der verlassen von Sturm und Kräften über dem goldenen Horn verendete. Was war mit dem zweiten Drachen geschehen, dem jüngeren? War auch er verendet? Hatte ihm das Schicksal des Älteren das Herz gebrochen? Er wünschte sich Hyromias Sicherheit darüber, dass es nur eine seltsame Laune seiner Fantasie war, die ihn im Schlaf heimgesucht hatte. Es wäre nicht das erste Mal, denn sein Verstand war höchst rege und produzierte auch in seinen Ruhephasen die interessantesten Bilder. Und doch konnte er das Gefühl, dass es sich hier um eine seltsame Vorwarnung handelte, nicht abschütteln. Sein Großvater hatte ihn gelehrt, dass Gottes Wege unergründlich und seine Zeichen vielschichtig waren. Als er jung gewesen war, hatte er dies nie verstanden, aber mittlerweile war er besser darin geworden, die Augen danach offen zu halten. Takaos wurde durch das wiederholte, respektvolle Rufen seines Namens aus seinen Überlegungen ausgeschreckt und blickte ein wenig verwirrt auf den Bediensteten, der sich augenblicklich tief verneigte, sobald der Blick des Kaisers auf ihm ruhte. „Der ehrwürdige Vater Maxim bittet darum, zu Euch vorgelassen zu werden, Basileus“, murmelte er demütig, woraufhin Takaos augenblicklich zustimmend mit der Hand winkte. „Er soll zu uns vorgelassen werden“, beschied er ihm, woraufhin der Bedienstete sich erneut verneigte und den Raum verließ. Wenig später trat Maxim mit den üblichen raschen, motivierten Schritten ein und umrundete lächelnd den Tisch, um Takaos freundschaftlich mit einem Kuss auf die rechte und die linke Wange zu begrüßen. Es war wohltuend, ihn zu sehen. Takaos verband mit Maxim wesentlich mehr als nur eine politisch-geistlich motivierte Verbindung, im Gegenteil, der Patriarch war einer der wenigen Menschen, die Takaos ehrlich als seine Freunde bezeichnete. Nicht viele Leute wussten, wie es wirklich um sein Herz beschieden war und wie der Mann hinter dem Kaiser, dem General, dem Byzantiner aussah, aber Maxim gehörte dazu und hatte sich dieses Vertrauens schon tausendmal würdig erwiesen. „Du wirkst müde“, stellte Maxim fest und musterte ihn besorgt. „Ist alles in Ordnung? Hast du schlecht geschlafen?“ „Ach, es ist nichts“, winkte Takaos ab, ehe er doch zögerte. Maxim musste dieses Zögern bemerkt haben, denn er legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du kannst frei heraus mit mir sprechen, mein Freund. Du weißt, dass ich dich nicht verurteilen werde.“ Takaos, dankbar um die Möglichkeit, gab sich nun doch einen Ruck und berichtete seinem Freund von dem Traum der letzten Nacht, der nun seine Gedanken beherrschte, und Hyromias Worten, die sie nach dem Aufwachen an ihn gerichtet hatte. Während er erzählte, strich Maxim sich nachdenklich über den goldblonden Vollbart. Als Takaos geendet hatte, verschränkte er die Arme hinter dem Rücken und wanderte langsam auf und ab. „Ich möchte die Worte der Basilissa nicht vollkommen abwinken“, sagte er schließlich und blieb neben Takaos stehen, um ihn aufmerksam anzusehen. „Aber ich stimme ihr auch nicht vollkommen zu. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir zu verstehen imstande sind, und die Wege des Herrn sind unergründlich. Er lächelt hinab auf die, die seinen Willen tun und belohnt jene, die aufmerksam zuhören, mit seinem Wort. Sicherlich könnte es sich hier nur um lebhaftes Hirngespinst handeln.“ Ein herzhaftes Lachen entwich ihm. „Wir wissen beide, dass die letzten Wochen vor dieser Besprechung hart für dich waren. Geringere Herrscher als du wurden da schon von schlimmeren Träumen geplagt. Aber dass es ausgerechnet Drachen in deinem Traum waren …“ „Das hat auch mir zu denken gegeben“, merkte Takaos an. Seine Familie hatte eine jahrhundertealte Verbindung zu Drachen. Manch einer seiner Vorfahren, unter anderem auch sein geliebter Großvater, hatte sogar behauptet, dass sich ihre Linie bis auf einen griechischen Drachentöter zurückverfolgen ließ. Maxim wiegte gedankenvoll den Kopf. „Der Herr ist auf deiner Seite, Takaos, du bist sein erwählter Herrscher über das Erbe Roms, das heiligste Reich der Welt. Begib‘ dich in seine Hand und akzeptiere diesen Traum als eines seiner Zeichen, aber lass dir nicht von ihm die Sinne verwirren. Das ist sicher nicht der Sinn der Sache.“ „Vermutlich hast du recht“, sagte Takaos mit einem tiefen Seufzer, „ich bekomme es nur einfach nicht aus meinem Kopf.“ „Ich denke, dass die heutige Zusammenkunft dir schon sehr schnell andere Denkaufgaben geben wird“, erwiderte Maxim mit einem kleinen Schmunzeln. „Ich bin gespannt, ob die Sache mit den Bulgaren endlich gelöst werden kann.“ „Ich auch.“ Takaos rieb sich über das Gesicht. „Byzanz braucht dringend Stabilität und mehrere Jahre ohne Krieg. Ich weiß, Kriege sind glorreich, aber die ganzen sterbenden Söhne und Ehemänner sind es nicht, und selbst wenn wir Bulgarien einnehmen könnten, ist es mehr als fraglich, ob wir diese Landstriche auch noch wirtschaftlich versorgen könnten. Wir müssen uns dringend auf den Ausbau innenpolitischer Strukturen konzentrieren, dann kann man auch darüber nachdenken, die Genueser loszuwerden.“ „Du weißt, dass ich in dieser Angelegenheit auf deiner Seite bin.“ „Ich weiß.“ Takaos klopfte ihm auf die Schulter. „Ich bin wirklich dankbar für deine unerschütterliche Unterstützung, weißt du das?“ Maxim lächelte warm und ehrlich, dann verneigte er sich tief vor ihm. „Es ist mir eine Ehre, mit dir gemeinsam Byzanz zu dienen, mein Freund.“ „Das kann ich nur zurückgeben.“ Takaos schmunzelte und beugte sich wieder über die Dokumente, die vor ihm ausgebreitet waren. „Ich fürchte, jetzt muss ich dich allerdings hinauskomplimentieren. Ich muss hier noch einiges vorbereiten.“ „Ich bin tödlich getroffen“, lachte Maxim, wurde dann jedoch wieder ernst. „Gibt es einen Grund, warum Kai nicht in deinem Schatten wacht, mein Freund?“ „Was sagt dir, dass er das nicht tut? Eine seiner Vorteile besteht doch genau darin, dass man ihn nicht gleich sieht.“ Maxim schüttelte den Kopf. „Ich weiß mittlerweile, wann er da ist und wann nicht.“ Takaos seufzte und rieb sich über die Braue. Ohne es zu wissen hatte Maxim einen wunden Punkt getroffen, über den er nicht gerne nachdachte. Kai sonderte sich seit Tagen von ihm und Hyromia ab, ohne dass er sagen konnte, was der Grund dafür war. Natürlich, Kai war ihm keine Rechenschaft schuldig - er hatte die Lebensschuld immer ernster genommen als Takaos, dem es seit dem Tag ihrer ersten Begegnung gereicht hatte, in inniger Freundschaft, vielleicht sogar Liebe mit ihm verbunden zu sein. Jahrelang hatten er, Hyromia und Kai in einem gut geölten Rad fungiert, das allein ihre Sache war und so viele Vorteile mit sich brachte. Er hatte gedacht, dass er mehr über Kai wusste als jeder andere, Hyromia ausgeschlossen, hatte gedacht, dass Kai ihm genauso das Herz entblößt hatte wie er ihm das seine. Aber nun gab es etwas, das er ihm verschwieg, und Takaos wusste nicht einmal, ob er wirklich wissen wollte, was es war. Als Kaiser war er an gewisse Dinge gebunden, die Kai freistanden. Es war ihm bisher nur nie in den Sinn gekommen, dass Kai von diesen Dingen vielleicht auch Gebrauch machen wollte, und der Gedanke ließ sein Herz auf eine Weise bluten, die ein Kaiser sich nicht erlauben konnte. „Du magst Recht haben“, gab er dennoch zu, „etwas lenkt ihn ab, aber ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Ich werde mich darum kümmern, sobald endlich der außenpolitische Kurs für die nächsten beiden Jahre geregelt ist.“ Maxim nickte, aber da war ein sorgenvoller Ausdruck in seinen Augen. „Wir sehen uns später?“ „Natürlich“, sagte Takaos lächelnd. Das Lächeln blieb bestehen, bis die Tür sich hinter Maxim schloss, dann glitt es von seinen Lippen und tropfte auf die Dokumente vor ihm. Er starrte darauf und lauschte auf die Stille in den Schatten, die tatsächlich leer und kalt blieben. Dann machte er einen tiefen Atemzug und gab sich einen Ruck. Es gab Dinge zu tun, und das Reich scherte sich nicht um die persönlichen Befindlichkeiten des Kaisers, der es in die Zukunft lenkte. Das war der Preis, den er bezahlt hatte. Als seine Berater schließlich zur vereinbarten Zeit in den Besprechungssaal hereintröpfelten, stand die Sonne schon etwas gen Westen geneigt, nicht mehr in ihrer vollen Höhe. Der Raum wurde mit Licht geflutet, als Takaos sie willkommen hieß: Manabos, der sich vor ihm verneigte und dann emsig seine Unterlagen vorbereitete, um seine Rolle so gut wie möglich einzunehmen. Rei mit seinem rätselhaften Lächeln und dem Glimmen in seinen katzenhaft unergründlichen Augen, deren Ausdruck erneut ruhige, aber deutliche Einwände gegen Takaos‘ Kurs versprachen. Maxim, der ihm nur noch einmal zunickte und sich dann zu seiner anderen Seite positionierte, um sich über Manabos‘ Papiere zu neigen und ihm leise etwas zuzumurmeln. Eine Handvoll der einflussreichsten Generäle seiner Streitkräfte, die ebenfalls ein Mitspracherecht hatten. Kai fehlte in ihrem gewohnten Spiel wie die zerrissene Saite einer Laute. Takaos versuchte sich nicht davon beirren zu lassen. Er wartete, bis alle versammelt waren und ihre Plätze um den Tisch eingenommen hatten, dann hob er eine Hand und ließ das Stimmengewirr verstummen. „Wir haben euch hierhergerufen, um über die Zukunft des Reichs zu entscheiden“, sagte er ohne viele Umschweife. „Seit Wochen haben wir uns mit euch über die Position des byzantinischen Reichs zu den Genuesern, den Bulgaren und der Goldenen Horde beraten, Informationen aus dem ganzen Reich und von allen Grenzen abgewogen und miteinander verglichen, um zu einem Ergebnis zu kommen. Sicherlich stimmt man uns mittlerweile zu, dass die Bulgaren das bei weitem größte Problem aus momentaner Sicht darstellen.“ Zustimmendes Gemurmel und Genicke machte sich breit. Takaos wartete einen Moment, bis es wieder erstorben war, dann fuhr er energisch fort: „Wir haben uns bereits für einen Pfad entschieden und werden unsere Gründe dafür darlegen. Zuvor möchten wir dennoch allen noch einmal die Gelegenheit geben, frei ihre Meinung zu äußern und ihre Argumente darzulegen.“ Wie er es erwartet hatte, hob Rei als Erster die Hand und verneigte sich tief, als Takaos ihm zunickte. „Wenn Ihr es erlaubt, ehrenwerter Basileus, möchte ich als Erster das Wort ergreifen.“ „Wir stimmen zu“, sagte Takaos und nickte ihm zu. Rei holte Luft. Noch ehe er jedoch ein einziges Wort herausbringen konnte, wurden die schweren, goldbeschlagenen Türen des Besprechungssaals wie von einem Windsturm aufgestoßen. Ein einzelner Bote war es, der Takaos‘ Leben unumstößlich, von einem Moment auf den anderen, für immer veränderte und jeden Gedanken an Kai oder die Bulgaren aus seinem Verstand fegte. „Er ist zurückgekehrt!“, rief der Bote außer Atem und mit sich überschnappender Stimme, „Ein Wunder ist geschehen, Dank sei Gott dem Herrn!“ „Du sprichst in Rätseln“, schnappte Takaos, der spüren konnte, wie ein dumpfes Gefühl der Vorahnung über seinen Rücken kroch und ihm die Haare auf den Armen aufstellte. Es war das gleiche Gefühl wie kurz vor einem Angriffsbefehl. Es war das gleiche Gefühl wie bei seinem triumphalen Einritt in das eroberte Konstantinopel, eine Mischung aus Gräuel und Höheflug. „Dank sei Gott dem Herrn“, rief der Bote erneut mit glänzenden Augen, „denn er hat den verlorenen Sohn heimgebracht - Irenéo ist vor den Toren Konstantinopels!“ -ENDE VON TEIL I- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)