Blut und Gold von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 4: TEIL I - KAPITEL IV: Yuriy ------------------------------------- Der Schrei steckte noch halb in Yuriys Kehle, als er erwachte. Seine Hand zuckte aus Gewohnheit an seine linke Bettseite, dann ballte er sie zu einer Faust und drückte sie gegen seine Brust, in der sein Herz hämmerte. Augenblicklich war Nadeschda bei ihm und stemmte aufgeregt die Pfoten gegen den Bettrahmen, um ihm über das Gesicht zu lecken. Er atmete tief ein und aus, dann drückte er das Gesicht gegen ihr dichtes, silbrig-graues Fell, während die Geister von blutigen Erinnerungen durch seinen Kopf sausten. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder im Griff hatte, und selbst dann war an Schlaf nicht mehr zu denken. Selbst nachdem er beschwichtigend ihren Kopf gekrault hatte, blieb Nadeschda in wachsamer Haltung, als er die Beine aus dem Bett schwang und sich über das Gesicht rieb. Man hatte ihm als Wandermönch ein Kellion im Hodegonkloster zur Verfügung gestellt, worüber er nicht undankbar war. Im war bewusst, dass ein Grund dafür, dass man ihn nicht in einem der Schlafsäle einquartiert hatte, Nadeschda war, aber das war Yuriy nur mehr als recht. Sein Kellion lag am äußersten Rand der Klosteranlage in einem Trakt, der ansonsten unbewohnt war. Es war winzig, hatte nur einen kleinen Schlitz als Fenster, der Licht hereinließ und grobe, kalte Steinmauern, aber mehr brauchte er auch nicht. Im Endeffekt war es mehr, als er in den ganzen letzten Monaten gehabt hatte, in denen er meistens draußen geschlafen oder eine Nacht lang die Gastfreundschaft gläubiger Bauern angenommen hatte. Yuriy rieb sich erneut über das Gesicht. Es war früh, auch wenn das Klosterleben früh begann, und er konnte nichts hören außer seinem eigenen und Nadeschdas Atem. Er rieb sich das Knie, das seit einer schweren Verletzung vor einigen Jahren nie mehr das gleiche gewesen war und jetzt gerade morgens gerne Probleme machte, bevor er sich nicht aufgewärmt hatte. Daher war sein Schritt ein wenig hinkend, als er zu dem schlichten Holztisch in der Ecke ging, auf dem sich eine große Tonschüssel und ein mit Wasser gefüllter Tonkrug befanden. Er goss etwas von dem Wasser in die Schüssel und wusch sich das Gesicht, bis die Kälte in seinen Wangen brannte und endlich die letzten Reste seines Traums fortfegte. Mit einem tiefen Durchatmen schloss Yuriy einen Moment lang die Augen. Er hatte in der Nacht sein Unterhemd durchgeschwitzt, so sehr hatten die Dämonen ihn in ihrem Griff gehalten. Aber auch heute war die Sonne wieder über Konstantinopel aufgegangen, Moskau war weit, weit entfernt, getrennt von ihm durch Meer und Eis, und ein durchgeschwitztes Unterhemd war nichts, was ein Gang ins Wasser nicht wieder richten würde. Yuriy öffnete die Augen wieder, zog sich das Unterhemd über den Kopf und legte es zum Trocknen aus, ehe er nach Tunika und Sunnahose griff und sich anzog. Seine Haare waren schnell gebändigt. Als er das Band verknotete, war Nadeschda bereits auf den Beinen und schob sich erwartungsvoll zur Tür. Er erlaubte sich ein kleines Lächeln in ihre Richtung, öffnete die Tür und ließ sie hinaushuschen, um ihr zu folgen. Still wanderten sie hinaus, bis sie den Innenhof erreicht hatten. Nadeschda stieß mit der Schnauze sachte gegen seine Hüfte, dann trabte sie davon. Yuriy machte sich wenig Sorgen, dass sie wieder zu ihm finden würde. Nadeschda war scheu und klug genug, dass sie sich von anderen Menschen eher fernhielt und war von ihren Ausflügen bisher jedes Mal zu ihm zurückgekehrt. Die Morgensonne hatte das Kloster mit einem goldenen Schimmer versehen und es versprach jetzt schon, ein warmer Tag zu werden. Die ersten Gesichter waren bereits zu sehen, aber sie nahmen keine sonderliche Notiz von ihm. Er war ein Gast, kein Teil des Klosters, auch wenn er sich an dessen Regeln halten musste, solange er unter seinem Dach einkehrte. Das war durchaus zu verkraften. Er streckte sich einen Moment lang und sah in den weiten, blauen Himmel, während er hören konnte, dass einer der Mönche mit einem Hammer auf das klangvolle Chirosimandro zu schlagen begann. Der Rhythmus war hypnotisch. Während er in den Himmel blickte und die Glocken des Glockenturms sich mit dem Klangholz verbanden, um die Mönche zum Gottesdienst zu rufen, waren seine Gedanken bei einem Schlachtfeld, auf dem die Hufe seines Pferdes wie Paukenschläge über Leichen ritten und sich mit dem zerrissenen Geschrei von Sterbenden mischte. Seine Hand zuckte an seine Seite, die genauso leer war wie heute Morgen. Er verbiss sich einen Fluch, öffnete die Augen wieder und marschierte in die Kirche, um sich stillschweigend in einer der hinteren Reihen zu stellen, um am Morgengebet teilzunehmen. Gott war ihm heute nicht zugänglich; er spürte es, während der Gesang um ihn herum begann. Aber das war in Ordnung. Es war ein tägliches Ringen, ein tägliches Fragen, und er hatte noch lange nicht die Antworten bekommen, nach denen er suchte. Als Yuriy den Kopf hob, stellte er fest, dass Ivan neben ihm Platz gefunden hatte und ihn verschmitzt anblinzelte, als er Yuriys Blick bemerkte. Der Schreiber war einer der wenigen Mönche, mit denen er in engeren Kontakt gekommen war. Obwohl man für gewöhnlich achtzehn Jahre alt sein musste, um ins Kloster einzutreten, hatten seine Eltern, gläubige und vermögende Slawen, ihn der Kirche schon früher überantwortet. Der Grund war wohl, dass er kleinwüchsig und früher oft krank gewesen war. Niemand hatte gewusst, ob er lange leben würde, und so hatten sie es wie alle Leute gemacht und die Entscheidung über sein Leben Gott überlassen. Nun war er einer der begabtesten Schreiber des Hodegonklosters und konnte wohl besser lesen als die meisten Leute in Konstantinopel, Yuriy mit eingeschlossen. Unter Ivans sorgfältigen Händen und geübtem Blick entstanden die schönsten Handschriften von Byzanz, und er schien mit seinem Leben innerhalb der Klostermauern sehr zufrieden zu sein. Er zupfte ohne viel Scheu an Yuriys Ärmel, als sie die Kirche verließen und dem Speisesaal entgegenstrebten. Yuriy hatte immer schon eine Art gehabt, die andere Leute eher einschüchterte und auf Abstand gehen ließ, was in seinem früheren Leben sehr hilfreich gewesen war. Als Wandermönch nicht immer. So oder so schien Ivan wenig beeindruckt zu sein. „Hast du endlich mit den Fresken begonnen?“, fragte er ohne viele überleitenden Worte und zog dabei die dunklen Brauen in die Höhe. Yuriy blinzelte zu ihm hinab. „Nein. Ich befinde mich noch in der Planungsphase.“ „Wenn du dich nicht langsam ranhältst, fällt die Hagia Sophia in sich zusammen, bevor du nur einen Strich auf diese Wand bekommen hast“, prophezeite Ivan. „Fresken“, entgegnete Yuriy verärgert, „benötigen sorgfältige Planung. In eine Schlacht reitet man auch nicht ohne Taktik.“ „Eine geplante Schlacht, die nicht ausgeführt wird, ist ein Luftschloss“, sagte Ivan unbeeindruckt. „Ein Buch, das ich nur zu schreiben plane, ohne es zu schreiben, ist kein Buch.“ „Wahrlich, Bruder Ivan, Eure Weisheit kennt keine Grenzen“, sagte Yuriy trocken. „Meine Güte“, korrigierte Ivan, „meine Güte kennt keine Grenzen. Aber meine Weisheit wohl auch.“ „Und die Bescheidenheit. Die übrigens eine Tugend ist.“ „Das nehme ich sehr bescheiden zur Kenntnis“, sagte Ivan und fädelte es so ein, dass sie auch an einem der drei langen Tische im Speisesaal nebeneinander saßen. Es war vorgeschrieben, dass nur so lange gegessen werden durfte, wie einer der Mönche aus der Bibel vorlas. Glücklicherweise hatte man im Hodegonkloster einen Weg darum herum gefunden, indem man den fast blinden Mönch Nikolaios vorlesen ließ, der sehr schleppend vorlas und regelmäßige Pausen machte. Es wurde während dem Essen nicht gesprochen, was Yuriy durchaus gelegen kam. Wie zu jeder der beiden Tagesmahlzeiten, die Yuriy seit seiner Bekanntschaft mit Ivan im Kloster eingenommen hatte, überreichte dieser ihm seinen Anteil Brot. Er schaffte es irgendwie, dass Yuriy von Brot über Eintopf alles aß, was ihm zur Verfügung stand, ohne dass Yuriy nachher sagen konnte, wie er es gemacht hatte. Nach monatelanger Einsamkeit, die zu einem Großteil schweigend oder mit einem Wolfshund als Gesprächspartner verbracht worden war, brannten Ivans simple Gesten der Freundlichkeit in Yuriys Brust. Es war so eine unbedeutende Sache, aber er konnte fühlen, dass er dem Schreiber freundlich zugeneigt wurde und das war eigentlich etwas, das er hatte verhindern wollen. Er hatte bewusst keine Bande mehr aufbauen wollen, zu niemandem. Einen Moment lang dachte er an Boris und die letzten Worte, die er zu ihm gesagt hatte, und er hatte das Gefühl, dass ihm der Eintopf wieder hochkam. Er atmete tief durch, legte den Löffel beiseite und erhob sich, um hinauszugehen, bevor er etwas tun konnte, das er bereute. Es war kein Wunder, dass Ivan ihm auf dem Fuße folgte, genauso wie er wenig überrascht war, Nadeschda zu sehen, die in absehbarer Entfernung zur Tür des Speisesaals im Innenhof saß und sich die letzten Reste Blut von der weißen Schnauze leckte. Sie merkte auf, als sie Yuriy sah, kam aber nicht näher. Stattdessen begann sie mit dem Schwanz zu wedeln, als er herankam, Ivan im Schlepptau, der sie sofort hinter den Ohren kraulte. Der Schreiber hatte sich Nadeschdas Liebe sehr schnell gekauft, indem er es immer wieder irgendwie schaffte, für sie einen Knochen aus der Küche zu schmuggeln. Ivan war tatsächlich nicht zu unterschätzen. In einem anderen Leben wäre er ein großartiger Quartiermeister gewesen. Yuriy atmete aus und fragte sich, warum er heute so schwer von den Geistern der Erinnerung freikam. „Komm‘ heute Abend mit mir und Sergios einen trinken“, sagte Ivan, wie er es fast jeden zweiten Tag sagte. Den Schreiber verband eine gute Freundschaft mit dem Arzt, der das Hagios Samson, eines der größten Hospize in Konstantinopel, mit sicherer Hand leitete. Yuriy hatte ihn bisher trotz wiederholter Aufforderung nicht begleitet, aber Ivan war hartnäckig. „Wenn du mit der Hagia Sophia fertig bist. Von dort ist es ja nur ein Katzensprung in die Taverne.“ Yuriy öffnete den Mund zu einer weiteren Absage, dann hielt er aus einem Grund, der ihm selbst nicht ganz klar war, inne. Er musterte Ivan, der ihn erwartungsvoll ansah, dann fragte er: „Warum bemühst du dich so?“ Ivan zog die Augenbrauen hoch. „Weil du es nicht tust. Deswegen solltest du dich dankbar sein und mir heute Abend einen ausgeben.“ Yuriy konnte sich nicht helfen und drehte sich zu Nadeschda, um das Zucken seiner Mundwinkel zu verbergen. „Wir werden sehen.“ Er verließ mit schnellen Schritten gefolgt von Nadeschda das Kloster, ehe Ivan noch etwas erwidern konnte. Die Sonne brannte ihm im Nacken; er hatte seinen Hut vergessen und würde es scheinbar bereuen. Glücklicherweise war es nicht weit bis zu seinem Arbeitsplatz und der Vorteil der frühen Stunde war, dass ihm nicht viele entgegen kamen - jene, die es taten, waren zu beschäftigt mit anderen Dingen, um ihm sonderlich viel Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. So fanden er und Nadeschda still und unbehelligt ihren Weg durch die erwachende Stadt. Mit jedem Schritt entfernten sie sich vom Meeresrauschen, das einen im Kloster stets begleitete, und gelangten tiefer in die Geräuschkulisse von Stimmengewirr, rollenden Rädern und Hufgetrappel. Und irgendwo, außerhalb seines Blickfelds und doch nahe genug, dass sein Nacken davon prickelte, war jemand, der ihn beobachtete. Yuriy hatte keine Ahnung, wer das sein konnte. Er hatte sich bisher so unauffällig wie möglich verhalten und schloss die Stadtwachen aus. Aber er hatte die Anwesenheit schon am Abend zuvor gespürt. Für den Moment beschloss er, abzuwarten und nicht zu reagieren. Es war manchmal besser, auf der Hut zu sein und den Feind zu sich kommen zu lassen, statt blindlings auszuschlagen. Also setzte er seinen Weg ungerührt fort, bis die Pracht der Hagia Sophia in sein Sichtfeld kam. Stunden und Nächte hatte er in ihr verbracht und sich dennoch nicht satt gesehen. Wenn es Gott gab - wenn er ihn finden konnte -, dann war es hier. In der Hagia Sophia fand noch regulärer Gottesdienst statt, sodass er Nadeschda mit einem Blick und einer stummen Geste auf den Boden bedeutete, draußen auf ihn zu warten. Ohne Protest ließ Nadeschda sich verborgen hinter zwei Büschen auf dem staubigen Boden nieder und bettete den großen Kopf auf ihren Vorderpfoten, während Yuriy die Kirche betrat. Einen Moment lang blieb er stehen, der prachtvolle Marmorboden der Hagia Sophia unter seinen Fußen ausgebreitet, und lauschte, den Blick himmelwärts zur goldenen Kuppel gewandt, auf den tiefen, volltönenden Gesang, der die Wände durchdrang. Er sah in die blendenden Fenster aus Sonnenlicht, das hereinfiel und die verschlungenen Muster der Säulen aufleuchten ließ, und er dachte an Boris und seine Stimme, die ihn immer aus dem Dunkel ins Licht hatte bringen können, wenn sonst nichts mehr funktioniert hatte. Die Kehle wurde Yuriy eng und er schloss die Augen. Mit den Wänden verschmelzen, dachte er sinnlos, das eigene menschliche Herz in Gottes Hand auflösen und nichts wissen von Fehltritten und Schuld. Vielleicht gab es nirgendwo auf dieser Welt noch Platz für ihn. Er wandte sich ab, entfernte sich von den Gläubigen und ging mit dumpfen Schritten zu der Wand, mit der er Buße tun wollte. Mittlerweile hatte man ein stabiles Gerüst aufgestellt, mit dem er später würde arbeiten können. Yuriy fand wieder Ruhe und Gleichgewicht in der Betrachtung des Holztisches, den man ebenfalls aufgestellt hatte, und die langen, beschichteten Leinenplanen, die noch zusammengerollt ihrer Arbeit als Abdeckung harrten. Man hatte versichert, dass die Materialien spätestens heute in die Hagia Sophia gebracht werden würden und tatsächlich befanden sich einige der gröberen Utensilien bereits auf und um den Tisch herum. Er trat heran, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und blätterte durch die Stöße an Papier, die man ihm für Skizzen bereitgestellt hatte. Die Bögen waren nach einem recht neuen Verfahren hergestellt worden, das man vor etwa zehn Jahren in der italienischen Stadt Fabriano entwickelt hatte. Yuriy musste zugeben, dass dieses Papier wesentlich billiger und leichter handzuhaben war als Pergament, auch wenn man zumindest im Hagionkloster immer noch viel auf Pergament zurückgriff. In der Ferne endete der Gottesdienst, aber er achtete nicht sonderlich darauf, zu vertieft darin, seine Materialien zu sortieren und nachzusehen, was noch fehlte. Die Pigmente natürlich, auch wenn das Leinöl schon bereitstand. Er musterte es einen Moment lang und debattierte, ob er für die Ölskizzen auch nach Sonnenblumenöl verlangen sollte, das die Farben weniger nachdunkeln ließ. „Meister Iwanov!“ Yuriy blickte auf. Ein junger Mann stand vor ihm, gekleidet nach der Art der wohlhabenden Oberschicht. Er trug eine lange weiße Tunika und darüber eine Dalmatik aus blauer Seide. Die Chlamys, die an seiner rechten Schulter mit einer goldenen Fibel in der Form eines Pegasus zusammengehalten wurde, strahlte in einem satten Dunkelgrün. Er hatte das braune Haar, das in einem verirrten Sonnenstrahl einen rötlichen Schimmer besaß, im Nacken mit einer grünen Schleife zusammengebunden. Seine Gesichtszüge waren weich genug, dass sie auf ein junges Alter schließen ließen, vielleicht gerade erst in den Stand eines vollständig handlungsberechtigten Bürgers erhoben. So farbenfroh seine Kleidung war, am meisten stachen die intensiven grünen Augen hervor. Als er Yuriys Aufmerksamkeit hatte, verneigte er sich. Bei der Bewegung polterte beinahe ein großer Sack von seinen Schultern, doch der Fremde konnte ihn gerade noch vor einem Absturz bewahren. „Seid gegrüßt, Meister Iwanov“, sagte er forsch. Yuriy bildete sich ein, einen feinen Akzent in seinem Griechisch auszumachen, aber er war nicht sicher. Boris war in diesen Angelegenheiten immer wesentlich treffsicherer gewesen. „Mein Name ist Raulus. Ich werde Euch bei Eurer Arbeit zur Hand gehen.“ Yuriy blinzelte. Dann blickte er sich einen Moment lang um, als ob sogleich jemand hinter einer Säule hervorspringen und das Ganze für einen Witz erklären würde. Als nichts dergleichen geschah, blickte er wieder zu dem Jungen vor sich. „Hoffentlich nehmt Ihr es mir nicht übel, wenn ich Euch sagte, dass Ihr nicht unbedingt wie ein Malergehilfe gekleidet seid.“ Raulus zuckte nicht mit der Wimper. Er hatte sehr lange Wimpern. Da war eine gewisse Schärfe in seinen Augen und seinen hohen Wangenknochen, die ihm die Weichheit nahmen, aber seine Lippen waren dennoch in einem perfekten Amorbogen geformt, der sich nun bewegte, als er sagte: „Es ist eine Ehre, an der Verschönerung der Hagia Sophia teilzunehmen.“ Yuriy erkannte eine hohle Floskel, wenn man sie ihm entgegen warf. Aber er zwang sich, den Jungen nicht unter Druck zu setzen, bis er ihm alles verriet, was ihn hierher gebracht hatte. Menschen hatten ihre Geheimnisse und er hatte keine mehr zu hüten und keine mehr herauszufinden. Er hatte nur zu malen und wenn der Junge ihm dabei assistieren wollte, sollte es ihm recht sein. Wenn er sich als unfähiger Bengel mit weichen Händen erwies, konnte er ihn immer noch zum Teufel jagen. Er nickte auf den Sack, den Raulus mit sich führte. „Bringt Ihr die restlichen Utensilien? Es muss heute mit den Ölskizzen begonnen werden, wir brauchen Pigmente.“ Etwas in Raulus‘ Schultern entspannten sich kaum merklich, als ob er bis zuletzt damit gerechnet hatte, dass Yuriy ihn sofort ablehnen würde. Einen Moment lang verengte Yuriy die Augen, ohne sich davon abhalten zu können, dann wurde seine Aufmerksamkeit davon abgelenkt, dass Raulus nickte. Er war immerhin weise genug, den Inhalt nicht einfach auf den Tisch zu kippen, sondern den Sack darauf abzustellen, um der Reihe nach drei oder vier sorgsam verschlossene Kisten in variierenden Größen hervorzuholen und auf der Holzfläche aufzureihen. Yuriy öffnete eine davon und atmete aus, als ihm eine Reihe kleiner Glasfläschchen entgegensah, die sorgfältig beschriftet worden waren und diverse Farbpigmente enthielten. Vorsichtig hob er eines der Fläschchen heraus und hielt es ins Licht. Die Knie wurden ihm weich - Kobaltblau, eine so teure Farbe, dass man sie in ganz Rus nur schwerlich bekam. Und hier war nicht nur eine davon, wie er nach einem Blick in das Kistchen feststellte, sondern gleich mehrere. Byzanz kleckerte nicht, wenn es um die Hagia Sophia ging, sondern es klotzte, aber Yuriy würde sich wahrlich als Letzter darüber beschweren. Er hob den Kopf. „Habt Ihr bereits mit Ölfarben gearbeitet oder hat man mir einen blutigen Anfänger zur Hand gegeben?“ Raulus‘ grüne Augen blitzten vor Empörung. Da hatte jemand ein Temperament, stellte Yuriy fest, aber das war ihm ganz gleich; er konnte auch eines besitzen, wenn man ihn reizte. Er hob eine Augenbraue, als Raulus erneut in den Sack griff und ihm ein zusammengeschnürtes Bündel aus Pergament und Papier reichte. „Ich bin kein blutiger Anfänger“, sagte er gepresst, während Yuriys lange Finger rasch den Bindfaden aufknoteten und durch die Blätter raschelten - Skizzen, stellte er rasch fest, Skizzen aus Kohle und aus Öl. Sie waren an gewissen Stellen noch rau, als ob der Maler zu ungeduldig für eine ordentliche Beendigung gewesen war, und Yuriy machte sogleich einige handwerkliche Makel aus, die ausgemerzt gehörten. Aber die Strichführung war kräftig und sicher, der Umgang mit den Ölfarben und ihre Mischung eindeutig kundig. Er legte das Bündel auf den Tisch und musterte erneut Raulus‘ Gewandung, dann schüttelte er den Kopf. „So fasst Ihr mir hier nichts an“, erklärte er ruhig, „wir brauchen Schürzen. Lauft los und gebt welche bei der nächsten Näherin in Auftrag. Wenn Ihr wieder zurück seid, dann werden wir mit den Vorskizzen zu den Skizzen beginnen.“ „Vorskizzen zu den Skizzen?“, wiederholte Raulus, „Ist das nicht absolut umständlich? Sollten wir nicht gleich zu den Ölskizzen übergehen?“ Yuriy hob eine Augenbraue. „Sagt mir, Raulus, habe ich gestottert?“ Raulus blinzelte. „...Nein?“ „Nun“, sagte Yuriy mit einem zähnefletschenden Lächeln, „wieso seid Ihr dann noch nicht unterwegs? Ich dachte, Ihr wollt malen. Stattdessen verschwendet Ihr nur Zeit - meine ebenso wie Eure.“ Er konnte deutlich sehen, wie Raulus den Mund zu einer erbosten Antwort öffnete und es sich dann gerade noch so anders überlegte, um stattdessen mit einem knappen Kopfnicken am Absatz kehrtzumachen und in wenig angemessenem Tempo aus der Hagia Sophia zu stürmen. Yuriy blickte ihm hinterher, während die Schritte des jungen Mannes durch die hohen Gänge hallten, bis er schließlich im Sonnenlicht verschwand. Das, stellte er stillschweigend fest, versprach noch interessant zu werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)