Sternstunden von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 1: ----------- 1. „Ich hab was für dich“, sagte Boris mit einem breiten Grinsen. „Passt echt wie die Faust aufs Auge.“ Er war hinter Yuriy aufgetaucht, der gerade dabei war, interessiert ein Regal mit Schwarztee zu beäugen. Er rechnete nicht damit, wirklich guten Tee in Alaska zu finden, aber man hatte ihm gesagt, dass er seine festen Meinungen gelegentlich hinterfragen sollte. Bisher hatte er sich immer in diesen bestätigt gefühlt, aber er war durchaus offen für Vorschläge. Nun allerdings drehte er sich um, beäugte den Button mit schwarz-grau-violett gestreiftem und von einem silberweißen Ring umgebenen Planeten, den Boris in seine Hand fallen ließ und las laut vor: „Ace from Space.“ Er hob den Kopf und starrte Boris an, der, die Hände in die Taschen seiner abgewetzten Lederjacke gesteckt, unverhohlen stolz über seine Witzigkeit grinste. Dann sah er weiter zu Kai, der sich im Hintergrund hielt, aber ein Schmunzeln hinter seiner Hand versteckte, während er so tat, als ob er eine Schlagzeile der New York Times studierte. „Ihr seid Idioten“, befand Yuriy und wusste nicht, ob er lachen oder weinen wollte aufgrund der Tatsache, dass er sich tatsächlich fast schon gerührt fühlte. Also steckte er den Button einfach an seinen Rucksack und schwang ihn sich wieder über die Schulter. „Ich würd‘ schon gern mal ins All.“ „Zurück zu den Wurzeln, oder was?“, sagte Kai trocken, woraufhin Boris tatsächlich gackerte. Manchmal vermisste Yuriy die Zeiten, wo Kai und Boris jede Gelegenheit ausgenutzt hatten, um sich zu prügeln. „Ich habe Mitleid mit euch“, sagte Yuriy mit einem tiefen Seufzer, „ihr haltet euch für witzig und seid es nicht.“ „Ich finde zumindest mich extrem witzig“, stellte Boris fest, dann: „He, willst du der Kleinen so ein Fuchs-Shirt mitnehmen?“ Yuriy schaute über seine Schulter und atmete dabei einen Moment lang seinen Geruch ein, dann fokussierte er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Shirt, das einen stilisierten Fuchs im Kleid mit Blumen in den Händen zeigte, über dem ‚A fox is a wolf who sends flowers‘ geschrieben stand. „Ihr Englisch ist noch zu schlecht, um den Witz dran zu verstehen“, sagte Yuriy gedankenvoll. „Aber dann wiederum ist es vielleicht Motivation für sie. Denn immerhin-“ „Wissen ist Macht“, vollendeten Boris und Kai wie aus einem Mund. Yuriy verengte die Augen. Dann wandte er sich ab, um das Lächeln zu verbergen, das an seinen Mundwinkeln zupfte, und griff nach dem Shirt. Es war in drei verschiedenen Farben erhältlich, aber er nahm es in Schwarz. Sinaida musste möglichst früh ein adäquater Modegeschmack beigebracht werden, wenn sie irgendeine Chance im Leben haben sollte. Die Kassiererin lächelte ihn an, als er an die Kasse trat und die Brieftasche aus seiner Hosentasche zog. Sie hatte langes, blondes Haar und einen silbernen Ring in der Unterlippe und mochte auf eine gewisse Art und Weise hübsch sein, schätzte Yuriy. „You need a bag for that?“ Er schüttelte den Kopf. „Thank you, it‘s fine.“ „Oh, I love your accent“, sagte sie mit einem weiteren Lächeln und lehnte sich ein wenig mehr zu ihm, sodass Yuriys Augenbraue unwillkürlich irritiert nach oben zuckte. „So charming! Russian?“ „Yes“, erwiderte Yuriy mit seinem charmanten Akzent und zahlte. Kai nannte die Tatsache, dass er selbst nach unzähligen Interviews auf Englisch immer noch einen signifikanten Akzent hatte, arrogant und anpassungsunfähig. Der Gedanke daran ließ ihn unwillkürlich schmunzeln. Dummerweise schien das die Kassiererin aus irgendeinem Grund zu ermutigen, denn sie fuhr sich durch die Haare, senkte ein wenig die Augenlider und murmelte: „That‘s so amazing. I love Russian guys.“ Yuriy seufzte sehr tief. Dann sah er ihr fest in die Augen und sagte: „Same here.“ „Oh my God, I‘m so sorry“, sagte sie mit weiten Augen und errötete bis unter die Haarwurzeln, sodass er beinahe schon Mitleid mit ihr bekam. Beinahe. „Und was ist mit mir?“, meldete Kai sich, nachdem Yuriy seine Beute verstaut und sich abgewandt hatte. „Oh, Kai“, sagte Yuriy daraufhin prompt und klimperte mit den Wimpern, „dieser Akzent in deinem Russisch ist so charmant! Japanisch? Ich liebe Jungs aus Japan.“ „Bitte schlepp nicht noch mehr von den Arschlöchern ran, eins reicht“, sagte Boris prompt und schob sie beide hinaus. „Können wir uns darauf einigen, Yuriys Button einfach auf seiner Stirn anzukleben?“ „Aber sein Akzent, Borya“, sagte Kai, ohne die Miene dabei zu verziehen. Yuriy nickte mit einem tiefen Seufzer. „Er ist sehr charmant.“ „Vor allem russisch“, bestätigte Kai. „Ihr habt sie nicht mehr alle“, stellte Boris fest. „Jetzt ist es amtlich. Ich bin die einzig normale Person hier.“ „Dann sind wir sowieso schon verloren“, sagte Kai und duckte sich routiniert unter einem recht halbherzigen Schwinger von Boris hindurch, um auf die Rückbank zu gleiten, nachdem Yuriy ihr Auto geöffnet hatte. „Können wir jetzt weiterfahren? Ich hab Hunger und will auch mal weiterkommen.“ „Ich hätt gern ne Dusche“, stellte Boris fest. Yuriy fragte sich, ob er mit seinen beiden Liebhabern auf Urlaub war oder mit zwei Kleinkindern. „Hinsetzen“, befahl er, „anschnallen, Mund halten.“ „Ich bin dran mit fahren“, beschwerte Boris sich prompt. „Ich fahre“, sagte Yuriy in jenem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete und Boris dazu brachte, mit den Augen zu rollen und sich auf den Beifahrersitz fallen zu lassen. Yuriy reichte seinen Rucksack nach hinten zu Kai, dann klemmte er sich hinter das Steuer und setzte seine Sonnenbrille auf. Es versprach ein strahlend schöner Tag in Alaska zu werden. 2. Eigentlich hatte Yuriy alleine fahren wollen. Der ursprüngliche Grund für seine Fahrt nach Alaska war nämlich gewesen, dass er sich einen Malamute anschaffen wollte. Die Wahl des richtigen Züchters war dabei von besonderer Wichtigkeit, nachdem er an einen Hund genauso hohe Anforderungen stellte wie an sich selbst. Nach sorgfältiger - böse Zungen mochten behaupten, geradezu obsessiver - Recherche hatte er seine Wahl auf fünf Züchter eingegrenzt, von denen drei in relativer Nähe zueinander in Alaska saßen. Die Einfuhrbestimmungen waren nicht ganz einfach, aber zu bewältigen und weil Yuriy keine halben Sachen machte, hatte er sich einfach eine passende Woche freigenommen und Flüge gebucht. Er hatte eben nicht damit gerechnet, dass Kai sich anhängte, um einige ohnehin geplante Meetings mit potentiellen Investoren in Alaska zu absolvieren und den Rest der Zeit mit ihm anzuhängen. Und nachdem Kai diesen Entschluss mit Yuriys Segen gefasst hatte, war es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit gewesen, dass Boris verkündete, ebenfalls mitzukommen. Egal wie sehr sich die Lage zwischen ihm und Kai gebessert hatte, eine gewisse Rivalität war kaum zu unterbinden. Yuriy, der zu interessiert an dem Ausgang dieses Experiments war, um sich sonderlich querzustellen, hatte ihnen ihren Willen gelassen und sich einfach nur um Unterkunft und Mietauto gekümmert. Er hielt auch weiterhin an der Meinung fest, dass ein Apartment die beste Lösung war. Boris stand auf einem unerfindlichen Kriegsfuß mit Hotelzimmerföns und hatte bisher noch jeden davon auf die eine oder andere Weise zerstört, was Yuriy nicht unbedingt brauchen konnte. Kai war vor allem wichtig, dass es im Business-Distrikt von Anchourage lag, damit er die Meetings möglichst schnell und ohne Umwege absolvieren konnte. Yuriy hatte einfach gerne seine Ruhe und räumte lieber selbst auf, wenn er es einrichten konnte. Außerdem war nicht von der Hand zu weisen, dass es finanziell wesentlich günstiger war als ein Hotel für drei Leute, und Yuriy war nichts wenn nicht kosteneffizient. Das änderte nichts daran, dass es auch unangenehme Seiten gab. Die unangenehmen Seiten trugen den Namen Jeff und waren der Vermieter. Jeff war an sich bestimmt ein netter Kerl und hatte auch ein sauberes, ordentliches Äußeres (wenn auch einen fürchterlichen Haarschnitt). Das Problem war nur, dass er einen Blick auf Yuriy warf und prompt begeisterter war, als ihm gut tat. „I love redheads”, gurrte Jeff und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „They’re so... feisty. Lots of temperament.” Yuriy starrte ihn an. „Know what I love?” „Tell me and I’ll give it to you”, schnurrte Jeff. Aus dem Augenwinkel konnte Yuriy erkennen, wie Kai hinter seinem Rücken schnaubte und Boris aussah, als ob er einen sehr einseitigen Boxkampf gleich hier im Wohnzimmer austragen wollte. „Good”, sagte Yuriy und lächelte zähnefletschend, ehe er eine Hand ausstreckte. „Because I love nothing more than peace and quiet. The keys, please.” „Soll ich ihm eine reinhauen?“, erkundigte Boris sich, während Jeff Yuriy ein wenig verschüchtert, aber immer noch mit einem gewissen hungrigen Blick die Schlüssel aushändigte. Kai knackte wie zur Bestätigung mit den Knöcheln, während er scheinbar desinteressiert an der Unterhaltung ein Gemälde über dem Esstisch begutachtete. „Wenn, dann mache ich das selber“, sagte Yuriy knapp. Boris und Kai wechselten einen Blick. Yuriy entging das nicht. Er verengte die Augen. „Was?“ „Nix für ungut“, sagte Boris, „aber du bist ein Lauch.“ „Ein Premium-Lauch“, fügte Kai fast schon beschwichtigend hinzu, als ob das irgendwas besser machte. „Der Premium-Lauch knallt euch gleich eine, dass ihr bis ins Nachbarland fliegt“, zischte Yuriy. „Russian sounds so violent and so sexy”, seufzte ihr Vermieter. „Oh, you haven’t seen or heard the worst of me”, sagte Yuriy mit einem so eisigen Lächeln, dass sich Jeff deutlich die Nackenhaare aufstellten und es nicht lange dauerte, bis er trotz seiner offensichtlichen Vorliebe für temperamentvolle Rothaarige die Flucht ergriff. Das tröstete Yuriy immerhin ein bisschen und er konnte sich mit besserer Stimmung im Apartment umsehen. Immerhin hatte Jeff einen gewissen Geschmack, mit dem er leben konnte. Mit besonderem Wohlgefallen beäugte er das Erkerfenster mit der breiten, gepolsterten Fensterbank, auf dem es sich sicher großartig lesen ließ. Nicht, dass er zum Lesen hier war, aber er hatte dennoch wohlweislich „The Particle At The End Of The Universe“ mitgebracht und wenn er es hier fertig las, war er nicht unglücklich darüber. „Wann sehen wir uns die ersten Fellknäuel an?“, erkundigte Boris sich. Yuriy drehte sich um und blinzelte, als er den kleinen, schwarzen Koffer in Boris‘ Händen sah, den dieser gerade aus seinem halbleeren, eigentlichen Koffer geholt hatte. Dann hob er seine Augenbrauen so weit, dass sie in seinen Haaren zu verschwinden drohten. „Boris“, sagte er versucht ruhig, „hat dein Koffer ohne Scheiß fast Übergewicht gehabt, weil du deine Hanteln mitgenommen hast?“ Boris sah drein, als ob er überhaupt nicht verstehen konnte, wieso Yuriy so entgeistert war. „Sicher. Ich muss pumpen und die amerikanischen Fitnesscenter sind was für Waschlappen.“ Yuriy massierte sich die Nasenwurzel. „Ich weiß nicht einmal, was ich dazu sagen soll.“ „Du musst gar nichts sagen“, sagte Boris und spannte seine nicht unbeträchtlichen Muskeln an, um links und rechts einen Kuss auf seinen Bizeps zu verteilen. „Du musst nur stillschweigend schätzen.“ Yuriy atmete tief durch, während Boris in aller Ruhe die Gewichte auf seine Hanteln schraubte. Dann wurde er darauf aufmerksam, was Kai tat und hielt inne. „Bitte sag‘ mir nicht, dass du einen Reiskocher mitgenommen hast.“ Kai zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern stellte den Reiskocher auf den Tisch. „Den habe ich immer mit, genau wie den richtigen Reis. Du kannst den Amerikanern nicht vertrauen.“ Er hielt inne. „Außer Max vielleicht. Aber der ist auch nur ein halber.“ „Ihr seid absurde Leute“, stellte Yuriy mit einem gewissen Erstaunen fest, „ihr seid absolut wahnsinnig. Wieso habe ich euch mitgenommen?“ „Entschuldige bitte“, sagte Boris und richtete sich empört auf, „wir sind absurd? Wir? Hiwatari vielleicht-“ „Schließ nicht von dir auf andere, Arschloch“, sagte Kai vom Reiskocher aus. „-aber du bist mit Abstand der absurdeste Mensch, den ich kenne“, sagte Boris und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte tatsächlich sehr kräftige Arme. Yuriys Augen glitten einen Moment lang über die Muskeln, die unter seiner Haut Schatten warfen, dann blickte er auf, als Boris auf ihn deutete und fortfuhr: „Wessen Idee war es vor fünf Jahren, auf eigene Faust um die Welt zu ziehen und jedem in die Fresse zu hauen, statt wie ein normaler Mensch den Mund aufzumachen und mit irgendwem über seine Probleme zu reden?“ „Yuras“, kam es von Kai aus dem Hintergrund. „Richtig! Und wer ist vor zwei Jahren einfach zwei Monate lang nach Spanien abgedampft, um bei Raul und Julia unterzukommen, weil wir ihm unterstellt haben, dass er nie mit mehr als drei Kegeln jonglieren können wird?“ „Yura“, sagte Kai nickend im Hintergrund. „Und wer wollte jetzt einfach mal ne Woche allein nach Alaska fliegen, um dort Hundezüchter abzuklappern, weil er nicht wie jeder normale Mensch einen Flohteppich aus dem versifften Moskauer Tierheim holen kann?“ „Yura“, gab Kai im Singsang von sich. Yuriy warf die Hände in die Höhe. „Wenn ich so absurd bin, wieso seid ihr überhaupt mitgekommen? Niemand hat euch dazu gezwungen!“ Boris schloss eine Hand um seinen Arm und trat an ihn heran, bis er die Wange seine schmiegen konnte und Yuriy fühlte, wie ihm das Herz gegen die Rippen schlug. Er atmete aus und war noch nicht bereit, den Ärger komplett aufzugeben, aber es wurde wesentlich erschwert durch die Art und Weise, wie Boris seine Nase gegen seine Schläfe rieb. „Wir lieben Rothaarige“, murmelte Boris dann und küsste seine Ohrmuschel. „Besonders die temperamentvollen.“ „Und besonders“, ergänzte Kai, der lautlos herangetreten war und nun das Gesicht zwischen Yuriys Schulterblätter drückte, „wenn sie so gewalttätig und so sexy Russisch sprechen.“ Yuriy wollte sie eigentlich mit vernichtenden Worten zerlegen, wie sie es verdient hätten. Aber er war warm, von seiner Wange über seine Schultern bis in seine Knochen hinein, und so schloss er nur die Augen, griff nach Kais Hand und legte den Kopf an Boris‘ Schulter. Dann sagte er: „Glaubt nicht, dass ich nicht weiß, dass ihr nur neidisch seid, weil ich mit neun Kegeln jonglieren kann und ihr nicht, ihr Affen.“ „Natürlich“, sagte Boris ergeben und hielt ihn zusammen mit Kai noch ein bisschen länger. Hosted by Animexx e.V. 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