Wenn die Chemie stimmt von Atina ================================================================================ Kapitel 1: -----------   „Liebe ist im Grunde eine chemische Reaktion. Aber es macht Spaß, nach der Formel zu suchen.“ - Hildegard Knef -     „Oh wow, das geht hier ja schon richtig ab, obwohl es erst neun Uhr ist!“ „Scheinbar ticken die Uhren bei Fachschaftspartys etwas anders“, erwiderte Irina auf die Aussage ihrer Freundin Leonora. Die beiden Frauen waren zuvor noch nie bei einer Feier der Chemie-Fachschaft, jedoch vom ersten Augenblick an begeistert. Das Motto lautete „schwarz-weiß“ und einige Studenten waren stilecht in ihren Laborkitteln erschienen. Die Tanzfläche war voll, der DJ leistete entsprechend gute Arbeit, und auch alle Tische waren bereits besetzt. „Lass uns etwas zu trinken holen.“ Sie drängelten sich zwischen den Umstehenden und Tanzenden zur Bar durch, die mit vier Ausschenkenden versehen war. „Zwei Hugo, bitte!“, brüllte Leonora fast über die Theke, um sich verständlich zu machen. „Fünf Euro!“ Während sie das Geld zusammensuchte, goss der Barkeeper den Holundersirup mit Sekt auf, gab zwei Eiswürfel in die Gläser, gefolgt von kleinen Minzblättchen. Er schob die Gläser über den Tresen in Leonoras Richtung, derweil sie ihm den Geldschein übergab. „Danke.“ Mit etwas Glück fanden die beiden Frauen einen Stehplatz am Rand des Saals, an dem die Lautstärke der Musik erträglich war. „Hast du dir schon den neuen Praktikumsversuch für AC angesehen?“ „Wir haben doch heute erst den aktuellen abgearbeitet“, antwortete Irina, aus ihrer Stimme hörte man die Erschöpfung nach dem langen Tag im Labor heraus. „Ich weiß. Trotzdem ist das schon wieder in meinem Kopf.“ „Ich wollte mir den für den nächsten Labortag jetzt am Wochenende ansehen.“ „Okay. Das hatte ich auch vor. Wollen wir uns vielleicht am Dienstag im ersten Block in der Cafeteria treffen und das gemeinsam durchsprechen?“, fragte Leonora und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. „Gerne. Die Versuche haben es inzwischen echt in sich.“ „Oh ja. Manchmal frage ich mich, ob Chemie wirklich das richtige Fach für mich ist.“ „Ach Quatsch, wir kämpfen uns da gemeinsam durch!“, erwiderte Irina energisch. „Hey Mädels!“, unterbrach sie eine männliche Stimme. „Hallo Jörg!“ „Schön, dass du es auch geschafft hast.“ „Ja, bin nach dem Sport fix nach Hause zum Duschen und dann gleich her“, berichtete der Kommilitone. „Max wollte auch noch herkommen.“ „Da ist er auch schon. … Max!“, rief Irina und begann zu winken, um den Bekannten auf sich aufmerksam zu machen. „Hallo Leute.“ Der junge Mann umarmte seine Kommilitonen kurz zur Begrüßung. „Jörg, holen wir uns etwas zu trinken?“ „Auf jeden Fall. … Wir sind gleich wieder da.“ Zehn Minuten später waren auch die beiden mit Getränken versorgt. „Gehen wir eigentlich zum Poetry Slam in der Scheune?“, fragte Jörg, der Deutsch als zweites Fach im Lehramtsstudium gewählt hatte. „Wann war das nochmal?“, wollte Irina wissen, die ebenfalls Deutsch studierte. „Nächstes Wochenende.“ „Dann müsste das klar gehen.“ Auch Max und Leonora nickten. Sie waren mit Geographie und Englisch zwar nicht unbedingt die Lyriker, der Kunstform aber nicht abgeneigt. „Gehen wir auch vorab im Scheunencafé essen?“ „Oh ja, bitte. Die Thai-Gemüsenudeln sind so super lecker“, freute sich Leonora bereits. „Dann müssen wir aber bestimmt reservieren, sonst bekommen wir keinen Platz mehr“, meinte Max. „Ich übernehme das. 18 Uhr passt für alle?“, Irina sah in nickende Gesichter. „Gut.“ Sie lächelte und wippte im Takt der Musik mit.   Später am Abend war die Gruppe näher an die Bar gerutscht. Jörg hatte einen Stehtisch ergattern können. Eine neue Runde Getränke stand darauf, als die ersten Töne von Irinas Lieblingssong erklangen. „Oh, das muss getanzt werden!“, sie schnappte sich Max und Jörg und zog die beiden auf die Tanzfläche. Leonora weigerte sich bei diesem Lied und blieb lachend zurück. Sie lehnte sich mit dem Rücken an den Tisch und beobachtete ihre Kommilitonen beim Tanzen. Warum auch immer Irina gerade dieses Lied so feiert. Es ist einfach nur schräg. Nach einer Weile drehte sie sich herum und nahm einen großen Schluck von ihrem Cocktail. Die nächsten Lieder, die der DJ spielte, animierten etwas mehr zum Tanzen und Leonora bewegte sich im Rhythmus der Musik mit. Ihre Freunde waren nicht mehr von der Tanzfläche wegzudenken.   Als ihr Cocktailglas leer war, wollte sie sich ein neues Getränk an der Bar holen, doch die wenigen Schritte waren fast zu viel. Sie schwankte und musste sich am Tresen festhalten. „Hey Süße, ist alles in Ordnung?“ „Ich... ich weiß auch nicht.“ „Willst du dich vielleicht kurz hinlegen?“ „Nein, ich...“ „Meine Wohnung ist hier gleich um die Ecke. Du ruhst dich kurz aus und gehst dann nach Hause.“ „Ich...“ „Na komm, ich helfe dir.“ Der junge Mann griff nach ihrem Arm und zog sie von der Bar zum Ausgang. Mit einem Kopfnicken gab er seinen Freunden zu verstehen, dass sie ihm folgen sollten. „Schatz, ist alles in Ordnung?“ Ein weiterer, junger Mann war auf die beiden zugekommen und legte seinen Arm um Leonora. Sie reagierte nicht, weshalb er sich an sein Gegenüber wandte. „Vielen Dank, dass du dich um sie gekümmert hast. Vermutlich hat sie zu viel getrunken, sie ist das Unileben noch nicht gewohnt. Also danke nochmal! ... Na komm, Schatz. Wir gehen nach Hause.“ Damit waren die beiden auf dem Weg zum Ausgang der Lokalität. Völlig perplex sah der Mann ihnen hinterher, seine Freunde waren zu ihm getreten und machten sich über ihn lustig.   „So, Kleine, bringen wir dich mal nach Hause“, sagte der junge Mann zu Leonora, als sie an der frischen Luft standen. „Wo wohnst du denn?“ „Ich… mir ist so… so schwindlig.“ „Komm, setz dich hin.“ Er begleitete sie zu einer Bank, die in der Nähe stand, und setzte sich neben sie. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter, während er in ihrer Handtasche nach einem Personalausweis suchte. „Ah, da haben wir ihn ja. Reichenbachstraße also. Gut, das ist ja nicht weit weg.“ Er legte den Ausweis wieder zurück an seine Stelle und half Leonora vorsichtig auf. Langsam, Schritt für Schritt begaben sie sich in Richtung Reichenbachstraße. Für den Weg, der sonst fünf Minuten in Anspruch genommen hätte, brauchten sie fast zwanzig Minuten. Immer wieder mussten sie Pausen einlegen, weil erneut Schwindel auftrat und Leonora nicht weiter gehen konnte. „Wir haben es gleich geschafft, nur noch ein paar Meter, dann kannst du in dein Bett.“ Er probierte mehrere Schlüssel aus, bevor er den richtigen fand und die Tür öffnen konnte. Mit seinem Arm stützend half er Leonora in den kleinen Flur, knipste das Licht an und verschaffte sich einen groben Überblick. Die Küche war gleich im Nebenraum, die Tür, die hinführte, stand offen. Es gingen noch drei weitere Türen vom Flur aus ab. „Welches Zimmer ist deins?“, fragte er, doch Leonora antwortete nicht. Die erste Tür, die er öffnete, führte ins Badezimmer. Die zweite war abgeschlossen, es war vermutlich ein weiteres WG-Zimmer, das momentan nicht besetzt war. Die dritte Tür war endlich Leonoras Zimmer. Der junge Mann drückte die Klinke herunter und zog sie in den Raum, sachte setzte er sie auf dem Bett ab. Sie sackte sofort zusammen. Er zog ihr die Schuhe aus und hob die Beine auf das Bett. Als die Decke über ihr ausgebreitet wurde, schlief sie bereits. Leise schloss er die Tür hinter sich. In der Küche suchte er sich Zettel und Stift und schrieb ihr eine Nachricht auf, dann verließ er die Wohnung und machte sich selbst auf den Weg nach Hause. Kapitel 2: ----------- Freitag, 05. April „Ohhhh….“, mit einem Stöhnen wachte Leonora am Morgen auf. Ihr Kopf dröhnte und ihr war übel. Warum ist mir nur so schlecht? Ich habe doch gar nicht so viel getrunken. Oder? Sie richtete sich langsam auf, stand auf und trottete ins Badezimmer. Als erstes nahm sie eine Kopfschmerztablette aus dem Spiegelschrank, die sie einnahm, bevor sie sich frisch machte und die Zähne putzte. Wie bin ich eigentlich nach Hause gekommen? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Das Letzte, das ich weiß, ist, dass Irina mit Jörg und Max die Tanzfläche gestürmt hat. Nachdem sie angezogen war, ging sie in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel.     Falls du mit Kopfschmerzen bzw. Erinnerungslücken aufwachst, dann wird das an den Drogen liegen, die dir jemand in den Drink geschüttet hat. Ich habe dich nach Hause gebracht - BEVOR dir jemand etwas tun konnte. Trink viel Wasser, dann werden die Schmerzen vergehen.   Aber in Zukunft solltest du vielleicht besser auf deine Drinks aufpassen, ich kann schließlich nicht jedes Mal vor Ort sein...     Leonora drehte den Zettel herum, um zu sehen, ob auf der Rückseite noch etwas stand, doch sie war leer. Kein Name? Kann das stimmen? Hat mir wirklich jemand Drogen gegeben? Ihre Hand griff an die Stirn, als sie versuchte die letzte halbe Stunde vor ihrem Blackout zu rekonstruieren. Möglich ist es wohl. Ich hatte unsere Gläser nicht die ganze Zeit im Blick, weil ich die Drei beim Tanzen beobachtet habe. Scheiße… Leonora klappte ihren Laptop auf und fuhr ihn hoch. Sofort öffnete sie das Chatprogramm und schrieb Irina.   Leo:    Hallo IriGirl: Hey…. Na, schon wieder fit? Du warst gestern plötzlich weg. Leo:    frag lieber nicht, ich habe einen totalen Filmriss und mir ist immer noch übel IriGirl: Was hast du denn noch getrunken? Leo:    Nichts. Das ist es ja. IriGirl: Was ist dann passiert? Leo:    Ich glaube, mir hat jemand k.o-Tropfen in meinen Cocktail geschüttet. Zumindest sagt das der Zettel, den ich auf dem Küchentisch gefunden habe IriGirl: Zettel? Leo:    In der Küche war ein Zettel, auf dem stand, ich solle das nächste Mal auf meinen Drink aufpassen und dass der Schreiber mir geholfen hat, bevor etwas passieren konnte IriGirl: Wow Leo:    Das kannst du laut sagen IriGirl: Und stand auch der Name deines Helden drauf? Leo:    Leider nicht …. Ich hoffe nur, dass es auch wirklich stimmt IriGirl: Na, hast du denn irgendwie Schmerzen oder blaue Flecken oder so, die drauf hindeuten könnten, dass dir was angetan wurde? Leo:    nein IriGirl: Dann ist ja schon mal gut Leo:    Wie konnte mir das nur passieren? IriGirl: Zur falschen Zeit am falschen Ort Leo:    Hmmmm             Hast du eine Idee, wie ich ihn finden kann, um mich zu bedanken? IriGirl: Puh             Wie wäre es mit der caz? Leo:    Einfach eine Anzeige? IriGirl: Schaden kann es bestimmt nicht Leo:    Okay IriGirl: Sehen wir uns gleich beim Balfanz? Leo:    Eigentlich sagt mein Kopf nein, besonders zu allgemeiner Didaktik, aber ja IriGirl: Alles klar, dann bis gleich Leo:    Bis gleich   ***   „Mensch Leo, wo warst du denn gestern auf einmal?“ Max, der sich durch die Reihen des Hörsaals zu ihr, Irina und Jörg durchgekämpft hatte, ließ sich auf den Sitz fallen. „Frag lieber nicht.“ „Warum? Was ist denn passiert?“, hakte Max nach. „Wenn ich das nur wüsste. Mir muss jemand k.o.-Tropfen gegeben haben, ich kann mich an nichts erinnern. Ihr seid auf die Tanzfläche und ich habe euch zugesehen, ab da verschwimmt alles.“ „Ach du Schande. Geht es dir wieder gut? Hast du irgendwelche Verletzungen?“, sofort wurde seine Stimme besorgt. „Nein. Ich habe nur noch Kopfschmerzen. Mir hat jemand geholfen, sagt der Zettel in meiner Küche.“ „Wie jetzt? Zettel?“, fragte Jörg, der ebenfalls zugehört hatte, und Leonie berichtete vom Zettel des unbekannten Helfers. „Der war in deiner Wohnung?! Aber vergewaltigt wurdest du nicht, oder?“ „Ich war komplett angezogen, also eher nicht. Oh man, wenn du das aussprichst, dann schüttelt es mich gleich nochmal. Was alles hätte passieren können!“ Tränen stiegen ihr in die Augen und Irina nahm sie tröstend in den Arm. „Bei unserer nächsten Party wird das Glas nicht mehr aus der Hand gegeben und wir haben immer ein Auge aufeinander!“     Dienstag, 09. April Die Cafeteria Zebradiele, die zur Alten Mensa gehörte, war zu dieser frühen Uhrzeit wenig besucht, trotzdem erfüllte ein Gemurmel den Raum. Einige Tische waren von einzelnen Personen besetzt, die einen Kaffee tranken oder etwas frühstückten und dabei ihre Mitschriften lasen oder Hausaufgaben machten, an anderen saßen zwei oder mehrere Studenten, die sich unterhielten, lachten oder gemeinsam an Aufgaben arbeiteten. Am Fenstertisch saß ein junger Mann, der an seinem Laptop schrieb. Manchmal kamen einige Studenten hinein, holten sich ein belegtes Brötchen oder einen Salat und verließen die Cafeteria wieder. Auch Leonora saß mit Irina in der Cafeteria und besprach mit ihr das nächste Chemiepraktikum. Es ging um einen Anionennachweis aus einer unbekannten Substanz. „An sich müssen wir für die Carbonat-Ionen doch nur eine Säure zugeben. Kohlenstoffdioxid steigt auf und das leiten wir in Kalkwasser ein. Ist es wirklich Kohlenstoffdioxid aus den Carbonat-Ionen, dann fällt ein weißer Niederschlag aus“, meinte Leonora. „Schon. Aber ich habe etwas davon gelesen, dass es auch Störungen durch die anderen möglichen Ionen geben kann. Ich glaube durch Thiosulfat- und Sulfit-Ionen“, erwiderte Irina. „Wo hatte ich das nur her?“ „Ja, aber wenn das stört, was machen wir dann?“ „Ich weiß es nicht mehr.“ „Mädels, tut mir leid, dass ich mich einmische, aber ihr müsst vorher einige Tropfen Wasserstoffperoxid zufügen. Damit umgeht ihr die Störung und Kohlenstoffdioxid kann ausgetrieben werden.“ Der junge Mann mit dem Laptop, der am Nebentisch gesessen hatte, hatte sich zu ihnen herübergebeugt. Leonora und Irina sahen ihn mit großen Augen an. „Wenn wirklich Carbonat-Ionen enthalten sind, dann müsst ihr vor den weiteren Versuchen Essigsäure zugeben, um das Carbonat auszulöschen.“ „Das ist total logisch. Vielen lieben Dank!“ „Ich helfe gern, wenn ich kann. Das ist wirklich kein Ding“, antwortete der junge Mann. „Wie heißt du eigentlich? Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Leonora und das ist meine Freundin Irina.“ „Ich bin Felix. Schön, euch kennen zu lernen.“ Ein Lächeln umspielte seinen Mund. „Bist du Chemiker oder Chemieingenieur oder Lebensmittelchemiker?“, wollte Irina wissen. „Chemiker, 4. Semester. Ich saß im letzten Jahr genauso hier wie ihr zwei und habe weder ein noch aus gewusst für das Anorganik-Praktikum. Der Jander-Blasius weiß viel, aber manchmal versteht man es doch nicht ganz.“ „Das ist wohl wahr.“ Im Gespräch wurde es um sie herum immer lauter. Mehr und mehr Besucher kamen in die Cafeteria, um sich etwas zum Frühstück zu holen. Irina blickte auf die Uhr. „Verdammt, der zweite Block fängt gleich an. Wir müssen los.“ Beide Frauen fingen an, ihre Sachen zusammen zu klauben und im Rucksack zu verstauen. „Entschuldige, dass wir so abrupt losmüssen, aber die Vorlesung beim Gloe sollte man besser nicht verpassen. Man sieht sich sicher mal wieder.“ „Man sieht sich immer zwei Mal im Leben“, antwortete Felix mit einem Augenzwinkern. „Danke nochmal für deine Hilfe!“ Damit waren sie auch schon aus der Cafeteria. Felix sah ihnen mit einem Lächeln im Gesicht nach und widmete sich dann wieder seiner Ausarbeitung.   ***   Die Vorlesung zu den Nebengruppenelementen bei Professor Gloe verging, ebenso das Seminar Schule als Institution aus der Fakultät Erziehungswissenschaften. Zur Mittagszeit startete das Physikpraktikum, das jedoch weniger schwere Versuche bereithielt im Vergleich zur Anorganik. Am späten Nachmittag trennten sich Irinas und Leonoras Wege. „Wo musst du jetzt hin?“ „Ins Hörsaalzentrum zu Sherlock Holmes and Literary Theory“, antwortete Leonora. „Ach ja, das coole Seminar. Ich habe nur Angewandte Linguistik.“ Irina verzog das Gesicht bei dem Gedanken an die kommende Doppelstunde. „Das schaffst du schon noch. Und Jörg steht dir sicher auch zur Seite, um dich nebenbei etwas zu unterhalten.“ „Ja, schon. Wenn nicht noch das fertig machen des AC-Protokolls für Donnerstag anstehen würde.“ „Daran lass uns noch nicht denken“, meinte Leonora, verzog aber auch das Gesicht beim Gedanken daran.   ***   Ein starker Arm, der sie festhielt. Ein frischer Duft, der an die salzige Meeresluft erinnert. Leonora lag mit geschlossenen Augen im Bett und versuchte nach dem langen Tag einzuschlafen, doch die Erinnerungsbruchstücke vor ihrem inneren Auge hielten sie wach. Wer ist der Mann nur gewesen? Ich würde ihn so gern kennenlernen. Ihm danken und ihn fragen, warum er mir geholfen hat. Woher er überhaupt wusste, dass ich Hilfe brauche. Oder war er es doch selbst, der mir die Tropfen verabreicht hat? Sie drehte sich von der linken auf die rechte Seite, knüllte das Kissen noch etwas zusammen unter ihrem Kopf, doch der ersehnte Schlaf ließ auf sich warten.   Kapitel 3: ----------- Montag, 15. April   Helfer gesucht – In der Nacht vom 04.April hast du mir geholfen nach der Feier des FSR Chemie nach Hause zu kommen. Ich möchte mich gern persönlich bedanken. Bitte melde dich unter [EMAIL=leo.nora@mail.de]leo.nora@mail.de[/EMAIL].   Die Anzeige fand sich in der Campus-Zeitung, kurz caz genannt, unter der Kategorie Herz & Schmerz. Leonora las sie zum wiederholten Male durch. „Hoffentlich meldet sich derjenige bei mir, ist ja schon eine Woche veröffentlicht und ich habe noch keine Nachricht.“ Leonora seufzte und legte die caz beiseite, die sich Irina gleich schnappte. „Ich drücke die Daumen, dass du eine Nachricht bekommst.“ Sie blätterte den Speiseplan auf und recherchierte das Angebot des Tages. „Bist du bereit fürs Mittagessen?“, wollte Leonora wissen. „Ja, bereit schon. Ich bin mir nur unschlüssig, ob ich die hausgemachten Nudeln Carbonara oder die Wokpfanne esse.“ „Dann lass es uns mal live ansehen, dann fällt es dir vielleicht leichter.“ Die beiden packten ihre Arbeitsmaterialien zusammen und stellten die Rucksäcke unter den Tisch, bevor sie durch die Zwischentür in die Mensa schlenderten. Irina hatte sich doch für die geliebten Nudeln Carbonara entschieden und als sie mit Leonora, die die Blumenkohl-Käse-Medaillons gewählt hatte, zurück zu ihrem Tisch in der Cafeteria kamen, saßen drei junge Männer an ihm. „Mahlzeit“, meinte Irina und setzte sich an den Platz, an dem ihr Rucksack unter dem Tisch stand. „Mahlzeit“, kam im Kanon zurück. „Ach, sieh mal an. Felix, richtig?“ Irina hatte in einem der Männer den Chemiker wiedererkannt, der ihnen in der letzten Woche beim Protokoll geholfen hatte. „Genau. Schön, euch wiederzutreffen“, meinte er und nickte auch Leonora zu. „Wie lief denn euer Versuch?“ „Gut. Wir waren die Einzigen, die ohne Fehler alle Ionen identifiziert hatten.“ Irina sagte es und schob sich dann einen großen Löffel Nudeln in den Mund. „Danke nochmal für deine Hilfe“, sagte nun Leonora, die bisher ruhig gewesen war. „Kann uns mal jemand aufklären – woher kennt ihr euch?“ Felix‘ Freunde sahen von ihm zu den Mädels und wieder zurück zu Felix. „Sorry. Die beiden hier – Leonora und Irina – saßen letzte Woche auch in der Cafeteria und bereiteten das AC-Praktikum vor. Ich habe etwas vom Gespräch mitbekommen und mich, forsch wie ich bin, eingemischt…“ „…und uns damit das Praktikum gerettet.“ „Ha, su kenne mr n Felix. Der will immor alln halfn“, meinte der eine. „Und mit seinem Wissen prahlen“, ergänzte der andere. „Und ihr nennt euch Freunde!“ Die beiden ignorierten Felix‘ Einwurf einfach und stellten sich vor. „Iich bi dr Daniel“, sagte der kleinere von beiden. „Und ich bin Elias.“ „Wenn ihr noch einen Moment Zeit habt, wir hätten zum nächsten Versuch auch noch Fragen.“ Irina sah sie mit einem strahlenden Lächeln und einem bittenden Blick an, der das Herz der Chemiker nur erweichen konnte. „Kein Problem.“ Die Mädels aßen zunächst ihr Mittagessen, während die Drei sich ebenfalls etwas zu essen holten. Als der Tisch wieder frei von Geschirr war, stellten Irina und Leonora ihre Fragen, die schnell beantwortet werden konnten. Sie wandten sich schöneren Themen zu, sprachen über aktuelle Kinofilme und momentan angesagte Bars, lachten viel. Die Freistunde verging wie im Flug und man musste sich zu schnell voneinander verabschieden. „Man sieht sich sicher mal wieder“, meinte Elias. „Immer wieder gern.“ Irina zwinkerte ihnen zu und verließ gemeinsam mit Leonora das Mensagebäude.   ***   Nachdem Leonora am Abend die Vorbereitungen des Protokolls beendet hatte, schaltete sie den Fernseher an. Sie zappte durch einige Programme und blieb dann bei einer Reportage hängen. „Es fühlte sich an, als hätte ich zu viel getrunken. Am nächsten Morgen wachte ich ausgeraubt auf der Parkbank auf.“ „Es gibt verschiedene Substanzen, die man unter dem Begriff k.o.-Tropfen zusammenfasst. Am häufigsten wird das GHB benannt, Gamma-Hydroxy-Buttersäure, von Insidern auch Liquid Ecstasy genannt. Es ist ursprünglich ein Narkosemittel gewesen. Auch Ketamin, Rohypnol und sogar Valium dienen dazu, Menschen willenlos zu machen.“ „Mir war schwindlig und übel, danach erinnere ich mich an nichts. Ich wachte nackt in einer fremden Wohnung auf.“ „Dadurch, dass die k.o.-Tropfen farblos, geruchlos und in Getränken nahezu geschmacklos sind, bekommen die Betroffenen nicht mit, dass sie etwas in ihrem Drink haben. Die Einnahme soll zur Wehrlosigkeit führen, um zumeist Straftaten zu verüben wie Sexual- oder Raubdelikte.“ „Ich hatte blaue Flecken und Verletzungen, die ich mir nicht erklären konnte. Den Abend zuvor hatte ich in einer Diskothek verbracht.“ Interviews mit Betroffenen wechselten sich ab mit Polizeiberichten und Erklärungen von Ärzten. Leonora saß auf ihrem Bett und starrte fassungslos auf den Bildschirm. All das hätte mir auch passieren können. Bei dem Gedanken daran liefen Tränen über ihr Gesicht. Ich möchte unbedingt den Mann kennenlernen, der mir geholfen hat. Ich muss ihn einfach treffen. Hoffentlich meldet er sich bald bei mir. Sie wischte sich die Tränen von der Wange, atmete tief ein und wieder aus, um dann noch einmal in ihrem Mailpostfach nach neuen Nachrichten zu sehen. Nichts.     Montag, 22. April   An Leo – ich hoffe, deine Kopfschmerzen waren nicht zu schlimm und du hast dich vom Blackout gut erholt. Ist eine gute Tat nicht dazu da, anderen zu helfen, sich selbst dabei gut zu fühlen und dafür keinen Dank zu erwarten? Dein Helfer   „Warum hat er mir nicht einfach eine Mail geschrieben?“ Leonora hatte noch vor der ersten Stunde eine caz ergattert und in den Anzeigen nach einer möglichen Antwort auf ihre Anfrage gesucht. „Woher weißt du denn, dass es ein Er war?“, fragte Irina nach. „Naja, in der letzten Woche sind immer mal wieder so Bilder in meinem Kopf aufgeblitzt. Zum Beispiel, dass ich mich an eine kräftige Schulter lehne und es war definitiv ein männlicher Duft, der mir dabei in die Nase kommt.“ „Okay. Und können wir denn sicher sein, dass die Antwort wirklich von deinem Helfer ist?“ „Ich hatte ja nur geschrieben, dass mich derjenige nach Hause gebracht hat, nichts weiter. Und in der Antwort steht nun etwas von Kopfschmerzen und Filmriss, das stand auch auf der Nachricht in meiner Küche.“ Leonora las die Nachricht erneut und legte die caz dann frustriert in ihren Rucksack. Die Vorlesung zu den Hauptgruppen bei Professor Langbein sollte gleich beginnen.   ***   „Irgendwie raffe ich diese Diels-Alder-Reaktion noch nicht.“ Elias fuhr sich mit der Hand durchs Haar und seufzte. Er und seine Kommilitonen Daniel und Felix saßen nach dem Organik-Seminar in der Cafeteria und gingen die besprochenen Aufgaben noch einmal durch. „A Dien un a Dienophil reagiern zam“, meinte Daniel lapidar. „Danke. Soweit war ich auch schon.“ „Nicht aufregen – zuhören!“, warf Felix ein und zeichnete auf einem Schmierblatt die Moleküle. „Man hat ein Dien, also ein Molekül mit zwei Doppelbindungen, konjugiert natürlich. Das sind damit 4 π-Elektronen. Und man hat ein Dienophil, ein Molekül mit einer Doppelbindung, das sind 2 π-Elektronen. Es kommt zu einer Addition, man spricht auch von einer [4+2]-Cycloaddition, weil eben 4 und 2 π-Elektronen miteinander agieren. Das Dienophil greift nun das Dien an, es kommt zu einer Überlappung des höchsten, besetzten Molekülorbitals des Diens und dem niedrigsten, unbesetzten Molekülorbitals des Dienophils, da beide energetisch dicht beieinander liegen. Aus den 3 π-Bindungen werden eine π-Bindung und zwei ς-Bindungen.“ Elias versuchte den Erklärungen zu folgen, denn das Schmierblatt sah nun ziemlich wüst aus, da Felix bestimmte Stellen umkreiste oder unterstrich und immer wieder darauf zurückkam. „Und wofür steht dieses endo und exo? Das hat doch nichts mit endotherm und exotherm zu tun, oder?“, fragte er weiter nach. „Gibt es durch Substituenten verschiedene Anordnungsmöglichkeiten, so wird eine endo und die andere exo genannt. Ist der Substituent am Dienophil zum Dien ausgerichtet, dann spricht man von endo. Das ist die bevorzugtere Variante, man spricht von Sekundärorbitalwechselwirkungen. Wenn der Substituent zum Beispiel Sauerstoff enthält, dann haben wir ebenfalls π-Elektronen vorliegen und diese können dann mit den π-Elektronen im Dien wechselwirken.“ „Puuhhh.“ Elias lehnte sich in der Bank zurück. „Ich denke, so halbwegs habe ich es verstanden. Aber ich lasse das erstmal sacken. Danke!“ „Kein Problem. Dafür bist du in PC viel besser als ich und hilfst mir dort“, winkte Felix ab. „Dürfen wir?“ Die Drei blickten auf und sahen Irinas strahlendes Lächeln, hinter ihr stand auch Leonora. „Klar, setzt euch.“ „Danke.“ Die beiden Frauen setzten sich und begannen das Spiegelei zu studieren, die Beilage zur Campuszeitung mit dem Speiseplan. „Wie liefn dei Versuch letzte Woch?“, wollte Daniel wissen. „Ging so. Zwei Notenpunkte haben sie abgezogen.“ „Ach, das ist ja nichts. Ich bin manchmal nur knapp am Durchfallen vorbeigeschlittert“, meinte Elias und machte eine abwinkende Handbewegung. Einige Minuten später machten sich die fünf auf den Weg in den Nebenraum, in dem sich die Essensaufgabe der Alten Mensa befand. Während des Essens unterhielten sie sich über die Professoren und ihre Eigenheiten sowie ihre eigenen Erfahrungen mit den einzelnen Dozenten. „Könnt ihr uns da nochmal eine Frage beantworten?“, fragte Leonora. „Schieß los.“ „Wir sind inzwischen bei der quantitativen Analyse angelangt und sollen den Chlorid-Ionen-Gehalt nach Mohr bestimmen. Wir haben unsere Probelösung und titrieren mit Silbernitrat-Lösung. Die Silber-Ionen aus der Maßlösung reagieren mit den Chlorid-Ionen aus der Probelösung, bis keine Chlorid-Ionen mehr vorhanden sind.“ „Soweit richtig“, meinte Felix nickend. „Da man diesen Endpunkt nicht mit bloßem Auge erkennt, setzen wir als Indikator Chromat-Ionen hinzu. Sind die Chlorid-Ionen durch die Bildung von Silberchlorid aufgebraucht und wir geben weiter die Maßlösung hinzu, so bindet sich das Silber-Ion an das Chromat-Ion und wird zu Silberchromat, welches rot-orange ausfällt.“   Leonora sah Felix erwartungsvoll an, doch er meinte nur: „Ich habe noch keine Frage gehört.“ „Eigentlich wollte ich nur wissen, ob das soweit stimmt beziehungsweise ob wir etwas beachten müssen“, erwiderte Leonie lächelnd. „Ach so. Also, wichtig ist, dass ihr eine gesättigte Silberchlorid-Lösung habt und die Konzentration der Chromat-Ionen so gering wie möglich, aber so hoch wie nötig haltet.“ „Warum?“, fragte Leonora nach und notierte Felix‘ Hinweise. „Weil das Löslichkeitsprodukt des Silberchromats weit unter dem des Silberchlorids liegt. Es müsste also gleich durch Zugabe der Maßlösung mit den Silber-Ionen ausfallen, was durch die geringe Konzentration der Chromat-Ionen jedoch umgangen wird.“ „Danke schön.“ „Kein Ding. Wie schon gesagt, ihr könnt immer gern mit Fragen zu mir kommen“, meinte Felix und nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche. Das Gespräch wendete sich nun von der Chemie ab und widmete sich alltäglicheren Themen wie Musikveranstaltungen, die in den nächsten Wochen in den Campusclubs stattfinden sollten, oder Kinofilmen, die man unbedingt sehen wollte. Der ein oder andere Spruch auf Kosten des Musik- oder Filmgeschmacks wurde fallen gelassen, was den Rest der Gruppe zum Schmunzeln brachte, dem Angesprochen aber nicht immer zusagte. „Seid ihr eigentlich immer zu der Zeit hier?“, wollte Elias zum Ende der Doppelstunde hin wissen. „In diesem Semester auf jeden Fall“, antwortete Leonora. „Wenn ihr eh immer zur selben Zeit da seid wie wir, können wir uns auch gleich verabreden. Ich fand unsere Unterhaltung heute und in der letzten Woche auf jeden Fall sehr amüsant.“ „Amüsant,“, Irina legte nachdenklich die Hand an ihr Kinn, „ja, so kann man das auch nennen, wenn man sich gegenseitig mit Sprüchen belegt.“ Ihre Stimme klang so ernst dabei, dass Elias Angst hatte, dass er etwas zu weit gegangen war. Doch das Grinsen, das sich nun auf ihrem Gesicht einstellte, beruhigte ihn. „Ich denke, die Verabredung zum Mittag steht.“ „Und falls wir euch mal bei etwas helfen können, dann sagt Bescheid. Wir können ja schließlich nicht immer eure Hilfe in Anspruch nehmen, ohne Gegenleistung“, warf Leonora ein. Ein schlechtes Gewissen regte sich in ihr, Felix und seine Freunde halfen ihnen bereits zum dritten Mal, wodurch ihre Praktikumsnote wesentlich besser ausfiel. „Die ein oder andere Gegenleistung wird uns da sicher einfallen“, feixte Felix und sah ihren Körper mit einem abschätzenden Blick von oben bis unten an. Die anderen verfielen in ein Lachen, als Leonora sich der anzüglichen Wortwahl bewusst wurde, rot anlief und die Hände vors Gesicht schlug. „Schäm dich nicht, Kleine.“ Felix legte seinen Arm um sie, um sie zu trösten. „Wenn du öfter Zeit mit uns verbringst, dann wirst du lernen müssen, einzustecken und auch Konter zu geben.“ Sie blickte hinter ihren Händen hervor und sah, wie Elias und Daniel nickten. Irina schmunzelte nur. „Naja, da kann ich wohl nur von den Besten lernen.“ „Du bekommst das schon hin!“ Felix klopfte ihr zuversichtlich auf die Schulter und zog seinen Arm dann wieder von ihr weg. Leonora sah ihn an und nahm in diesem Moment einen Geruch wahr, der sie an die Nacht der FSR-Party erinnerte. „Wir haben es gleich geschafft, nur noch ein paar Meter, dann kannst du in dein Bett.“ Die Stimme hallte verschwommen in ihrem Kopf wider. „Leo?“ Felix fuchtelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum und sah sie besorgt an. „Leo, alles klar?“ „Ähm“, sie schreckte auf aus ihren Gedanken. „Ja, alles klar.“ „Oh, oh, ich glaube, wir müssen uns bei Leo etwas zurücknehmen“, meinte Elias, der ihren abwesenden Blick auch wahrgenommen hatte. „Entschuldigt. Ich war in Gedanken…“ „Ne, bestimmt bein Felix un ob es doch Rimgebumse sei sollt.“ Daniel prustete los und auch Irina lachte mit. Leonoras Wangen wurden immer dunkler. „Ich glaube, ich muss dann auch langsam zur nächsten Vorlesung“, sagte sie nur und fing an, ihre Sachen zusammenzupacken. „Hab dich doch nicht so. So abwegig ist die Vorstellung doch sicher nicht“, warf Elias ein. „Und schau nur, wie traurig Felix jetzt aussieht, wo du einfach gehen willst.“ „Ihr seid solche Spinner!“ Leonora ließ sich wieder auf die gepolsterte Bank fallen und lachte mit ihren Kommilitonen mit.   ***   „Wer waren denn die Typen, mit denen ihr in der Mensa saßt? Ich habe mir heute Mittag nur schnell ein Brötchen geholt und euch gesehen.“ Jörg und Irina saßen in dem Hörsaal, in dem die Vorlesung zur Mediävistik, einem Teilgebiet der Sprach- und Literaturwissenschaften, das sich mit Sprache und Literatur des Mittelalters beschäftigte, in wenigen Minuten beginnen sollte. „Das sind die Chemiker oder von Leo und mir auch insgeheim das Kleeblatt genannt. Wir haben sie zufällig kennengelernt und es hat sich ergeben, dass wir uns nun jede Woche sehen. Wir verstehen uns echt gut“, antwortete Irina. „Warum Kleeblatt?“ „Weil sie immer zu dritt anzutreffen sind“, Irina lachte. „Max und du, ihr würdet sie sicher auch gut finden. Sie sind ganz groß im Sprüche klopfen.“ „Wenn du meinst.“ „Klar. Vielleicht kommt ihr mal zu einem Mittagessen dazu. Das wird sicher lustig.“   Kapitel 4: ----------- Donnerstag, 25. April Leonora säuberte die benutzten Erlenmeyerkolben, Pipetten und Uhrgläser, trocknete sie provisorisch ab und räumte sie in ihren Schrank. Sie verschloss diesen und legte den Schlüssel in die dafür vorgesehene Schachtel, die die Laborassistentin am Ende des Labortages in ihr Büro mitnehmen würde. Erledigt aber glücklich lief sie zum Ausgang. Leonora stieß die Tür auf, nahm die Schutzbrille ab und steuerte auf ihren Spind zu. Am Fenster stand ein junger Mann mit dem Rücken zu ihr, sie achtete nicht weiter auf ihn. Sie öffnete das Vorhängeschloss und holte ihre Tasche heraus. „Du siehst im Kittel richtig erwachsen aus.“ Leonora schreckte auf. „Felix, was machst du denn hier?“ Der Braunhaarige lehnte an ihrer offenen Spindtür. „Ich dachte, ich schau mal, wie es beim Laborpraktikum läuft, nachdem ihr immer so schöne Tipps von mir bekommt.“ „Und woher wusstest du, wo und wann ich im Labor bin?“ „Im Internet findet man ziemlich viele Informationen, auch die Stundenpläne der Chemie-Lehrämtler.“ „Heißt das, dass du seit halb drei hier wartest?“ „Ja.“ Sie sah auf die Uhr, es war kurz nach 16 Uhr. Es kam oft vor, dass die Studenten länger als vorgesehen im Labor waren, nur so schafften sie ihre Experimente. Sie musste schmunzeln. „Und was hast du jetzt vor?“ „Wie wäre es, wenn ich dich zu einem verspäteten Mittagessen einladen würde?“, fragte Felix. „Hunger hätte ich schon, aber das mit dem Einladen lassen wir lieber.“ Leonora zog den Kittel aus, hängte ihn in den Spind und schloss die Tür. Sie gingen in die Alte Mensa, die länger als bis 15 Uhr geöffnet hatte. Zudem lag sie direkt an der Straße hinter dem Neubau der Chemie, in dem das Praktikum stattfand. „Wie lief denn nun der Versuch?“ „Wie du gemerkt hast, länger als geplant, aber an sich gut. Ich habe lieber ein paar Titrierversuche mehr gemacht, weil ein, zwei Werte nicht in die Reihe passten, aber am Ende hat es sich gelohnt und wurde mit einer Eins bewertet.“ „Glückwunsch! Ich habe damals glaub 3 Notenpunkte Abzug bekommen.“ „Geht es dir auch so, dass du dich nach den Praktika immer so fühlst, als hättest du in Chemikalien gebadet? Egal, wie oft man sich die Hände wäscht, man riecht doch noch nach Labor. Erst nach dem Duschen und dem Waschen der Kleidung geht es. Kennst du das?“ „So richtig habe ich darüber bisher nicht nachgedacht, aber du könntest recht haben.“ Felix legte die Stirn in Falten. „Hmmm, stimmt. Ich bin auch froh, wenn ich aus den Klamotten bin und duschen gehen kann.“  Sie liefen die Stufen zur Alten Mensa hinauf und wählten ihr spätes Mittagessen aus. Mit den Tabletts, auf denen das Essen und ein Getränkebecher standen, liefen sie in einen der Speisesäle. „Obwohl alle Mensen vom gleichen Betreiber sind, muss ich doch sagen, dass die Alte Mensa die beste ist“, meinte Felix und fuhr mit dem letzten Fleischstück durch die Soße. „Das ist wohl wahr. Die TU steht im Mensaranking deutschlandweit auf Platz 3“, erzählte Leonora. „Ich recherchiere ab und zu nach solchen Sachen, eigentlich unwichtig, ich weiß“, erklärte sie nach Felix‘ fragenden Blick. „Ich habe auch mal in einer Zeitschrift zehn Fragen gelesen, deren Beantwortung einem mehr über neue Bekanntschaften verraten soll. An eine kann ich mich allerdings nur noch erinnern – welches Tier wärst du?“ „Oh, mit so etwas habe ich jetzt nicht gerechnet“, meinte Felix. „Vielleicht kannst du erst dein Tier nennen, damit ich noch Zeit zum Überlegen habe.“ „Aber nicht lachen!“ „Das würde ich mir nie wagen“, hob er abwehrend die Hände. „Montag hat dich das auch nicht abgehalten.“ „Okay, du hast recht. Ich verspreche, nicht zu lachen.“ „Na gut. Ich würde mich als Hasen beschreiben“, sagte Leonora und schaute Felix kurz an, wartete auf ein Lachen oder Grinsen, doch er sah sie nur erwartungsvoll an. „Vor allem durch mein chinesisches Tierkreiszeichen. Dort werden Hasen als geduldig, sanftmütig, verantwortungsvoll, romantisch und freundlich beschrieben. Aber auch als vorsichtig, wodurch gelegentlich gute Chancen vertan werden. Ich erkenne mich relativ gut in dieser Beschreibung wieder.“ „Freundlich und sanftmütig kann ich bisher bestätigen“, meinte Felix lächelnd. „Die restlichen Eigenschaften werde ich hoffentlich im Laufe der Zeit kennenlernen können.“ „Und? Hast du ein passendes Tier für dich gefunden?“ „Ich denke schon. Vermutlich passt ein Schäferhund ganz gut zu mir.“ Leonora schmunzelte, sie mochte Hunde im Allgemeinen. „Warum?“ „Schäferhunde sind familienfreundlich, sie sind treu und passen auf ihre Herrchen auf. Ich habe jetzt natürlich kein Herrchen, aber ich bin immer für meine Familie da und würde alles für sie tun. Und nicht nur für meine Familie, auch für Freunde und Bekannte“, erklärte Felix seine Entscheidung. „Stark sind sie ebenfalls.“ „Das sind schöne Eigenschaften. Und laut den Chinesen harmonieren Hunde und Hasen miteinander, auch wenn du natürlich kein Hund im Tierkreiszeichen bist.“ Leonora sah ihn lächelnd an und als er sie ebenfalls mit einem strahlenden Lächeln ansah, senkte sie verlegen den Blick und nahm einen Schluck von ihrer Cola. „Was ich schon wieder für einen Quatsch erzähle… entschuldige.“ „Ich finde es charmant.“ Felix sah sie immer noch lächelnd an und Leonoras Wangen färbten sich rosa. „Was hast du heute noch vor?“, fragte er dann, um das verlegene Schweigen zu brechen. „Oh, nichts Spannendes. Ich wollte noch an meiner Hausarbeit schreiben.“ „Worum geht es?“ „Ich habe für Erziehungswissenschaften eine Methodenwerkstatt belegt. Es geht um Bildung für nachhaltige Entwicklung und mein zugelostes Thema lautet Nachhaltigkeit – Begriffsfindung. Ist nicht das schönste Thema, aber doch irgendwie interessant, was heute in den Medien alles als nachhaltig bezeichnet wird und wofür der Begriff ursprünglich stand.“ „Meine Seminararbeit in der Oberstufe hat sich mit Biokunststoffen beschäftigt, für den Theorieteil hatte ich mir auch ein Buch über das Thema Nachhaltigkeit zugelegt. Wenn du möchtest, kann ich es dir mitbringen.“ „Sehr gern. Ich nehme jede Hilfe, die ich bekommen kann“, antwortete Leonora freudig. „Kein Problem“, Felix sah auf die Uhr. „Wenn du noch einen Moment Zeit hast, kannst du es auch gleich bekommen. Ich wohne hier um die Ecke.“ „Ähm, okay.“ „Dann mal los.“ Sie brachten die Tabletts zur Geschirrrückgabe und liefen dann nebeneinander Richtung Nöthnitzer Straße. „Chemie war schon in der Schule dein Lieblingsfach?“ „Ja, es hat mich schon seit der ersten Stunde fasziniert und ich habe alle möglichen Dokus im Fernsehen geschaut. Schließlich ist alles chemisch“, seine Augen glänzten beim Erzählen. „Die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, die Lebensmittel, die wir zu uns nehmen.“ „Siehst du alles mit einem chemischen Blick?“ „Meistens, doch nicht immer. Ich weiß, dass die Maillard-Reaktion abläuft, wenn ich ein Steak knusprig brate, aber trotzdem kann ich es hinterher genießen und denke dabei nicht an die Reaktionen, die dafür abgelaufen sind.“ „Na, da bin ich ja beruhigt. Es wäre doch schade, wenn man alle Gefühle, die man so zeigt, nur als Zusammenspiel der Hormone sehen würde“, meinte Leonora. „An welche Gefühle denkst du dabei?“ „Ähm, naja, zum Beispiel verliebt sein. Der Körper produziert mehr Dopamin, den Neurotransmitter, der auch als Glückshormon bezeichnet wird. Man ist glücklich, wenn man den Partner sieht. Aber auch Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet, man wird impulsiver und die Konzentration wird gestört. Nicht umsonst sagt man bei versalzenem Essen, dass der Koch verliebt war, oder?“ Leonora sah zu Felix und nahm sein Nicken wahr. „Wir wissen, was beim Verliebt sein abläuft, es ist doch aber trotzdem viel schöner, dieses Gefühl zu genießen und nicht chemisch zu analysieren.“ „Du hast schon recht. Nur weil wir etwas erklären können, heißt es nicht, dass wir es immer tun sollten.“ Er schmunzelte. „Bist du denn gerade verliebt?“ „Was?!“, erschrocken sah sie ihn an. „Nein, ja… ach, es war doch nur ein Beispiel.“ „Ganz ruhig, Kleine. Ich habe doch nur ganz allgemein gefragt“, sagte Felix und musste bei ihrer Reaktion grinsen. Sie war wieder rot angelaufen. „Wie machst du das immer? Du bringst mich ständig in Verlegenheit.“ „Das ist wirklich nicht meine Absicht“, beteuerte Felix. „Dann muss ich dir das wohl glauben.“ „So, da wären wir.“ Sie standen vor einem Wohngebäude, das mehrere Wohnungen beherbergte. Felix zog seinen Schlüssel aus der Hosentasche, öffnete die Haustür und sie stiegen die Treppen in den zweiten Stock hinauf. „Ich bin gleich wieder da“, meinte Felix, nachdem er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte und verschwand in einem der Zimmer. Leonora blieb im Türrahmen stehen und betrachtete die Einrichtung des Flurs. Die Wände waren weiß gehalten, nur die lange Wand ohne Tür war mit einer dunklen, orangefarbigen Tapete eingekleidet, die ein Muster aus weißen Ästen schmückte. Als Garderobe diente ein bearbeiteter dicker Ast, daneben stand noch ein Schrank, in dem die Schuhe aufbewahrt wurden wie es schien. Wow, echt schick hier. Hätte ich Felix gar nicht zugetraut. „Ich habe es!“, mit dem Buch in der Hand schwenkend kam Felix zurück in den Flur. „Sehr schön. Vielen Dank.“ Leonora nahm das Buch entgegen und verstaute es gleich in ihrem Rucksack. „Ich werde es dir so schnell wie möglich zurückgeben.“ „Ach, keine Eile.“ „Okay. Danke schön für die nette Gesellschaft heute Nachmittag“, begann Leonora sich zu verabschieden. Auch wenn sie sich eigentlich ungern verabschieden wollte. Doch die Vorstellung hereingebeten zu werden, wäre vermessen gewesen.   „Gern geschehen“, Felix hatte die Hände in seine hinteren Hosentaschen gesteckt. „Dann möchte ich deine Zeit nicht weiter beanspruchen und wünsche dir noch einen schönen Abend.“ „Danke. Dir auch und viel Erfolg für die Hausarbeit.“   Es war eine merkwürdige Situation, in der beide nicht so richtig wussten, wie sie sich verhalten sollten. Leonora war gerade dabei, sich zum Gehen zu wenden, als Felix einen Schritt auf sie zumachte und sie unbeholfen umarmte. „Wir sehen uns dann am Montag.“ „Ja, bis dann“, Leonora hob die Hand zu einem Winken und lief die Stufen herunter. Felix schloss die Wohnungstür und lehnte sich von innen gegen sie. Ich bin so ein Trottel. Das kann ich doch eigentlich besser. Er seufzte kopfschüttelnd. „Mit wem hast du gesprochen?“ „Fiona, erschrick mich doch nicht so!“, dramatisch hielt sich Felix die Hand aufs Herz und stellte einen Herzinfarkt nach. „Tu mal nicht so, Bruderherz. Also, mit wem hast du gesprochen?“ „Mit Leonora.“ „Aha. Und weiter?“, seine Schwester sah ihn fragend an. „Ich kenne Leo aus der Mensa, sie studiert Chemie auf Lehramt im zweiten Semester und ich habe ihr mit einem Problem beim Laborpraktikum geholfen.“ „Das heißt, du hast dich wieder mal in fremde Angelegenheiten eingemischt, weil du klugscheißen wolltest“, analysierte sie die Situation. „Nein, ja, beides irgendwie. Es ist kompliziert.“ Fiona hob fragend eine Augenbraue, ging aber nicht weiter auf seine Aussage ein. „Okay. Du wirst schon wissen, was du tust. Was gibt es heute zum Abendessen?“ „Eigentlich war ich eben mit Leo in der Mensa.“ „Was?! Wir wollten doch gemeinsam kochen“, erwiderte Fiona bestürzt. „Entschuldige. Ich habe einfach nicht mehr dran gedacht.“ „Ja, ja, und ich weiß auch, warum.“ Sie streckte ihm die Zunge heraus und verschwand in der Küche.   Leonora war in der Zwischenzeit an der Haltestelle angekommen. Es waren zwar nur zwei Haltestellen, die sie fahren wollte, aber sie war geschafft vom langen Tag im Labor und wollte nicht mehr laufen. Irgendwie war das eben komisch. Sie schüttelte den Kopf, um sich von dem Gedanken zu befreien. Aber es war echt süß, dass er auf mich gewartet hat. Ich mag ihn wirklich von Treffen zu Treffen mehr. Sie lächelte in sich hinein und stieg dann in die haltende Bahn ein. Zuhause angekommen setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Sie sah die ausgeschnittenen Anzeigen aus der caz neben ihrem Laptop liegen und bekam ein schlechtes Gewissen. Wie kann ich mein Herz für Felix öffnen, wo es doch eigentlich meinem Helfer gehören sollte? Kapitel 5: ----------- Freitag, 26. April „Ach sag mal, kann es sein, dass ich Felix gestern im Neubau gesehen habe? Ich bin aus dem Labor raus zu den Schließfächern und da dachte ich, würde er am Fenster stehen. Hast du ihn auch gesehen?“ „Ja, das war Felix. Ich weiß zwar noch nicht so genau, warum, aber er hat auf mich gewartet.“ „Echt jetzt? Ich dachte, er wäre auch fürs Praktikum da“, Irina sah ihre Freundin mit großen Augen an. „Er wollte wissen, wie der Versuch gelaufen ist und dann waren wir noch zusammen in der Mensa“, berichtete Leonora. „Da musst du letztens mächtig Eindruck auf ihn gemacht haben. Ich meine, wenn er extra herausfindet, wann und wo unser Praktikum stattfindet und auf dich wartet.“ „Ich weiß doch auch nicht…. Aber die Unterhaltung mit ihm war schon toll. Er hat mich oft zum Lachen gebracht.“ Leonora lächelte beim Gedanken an das Treffen. „Und gut sieht er auch noch aus!“ „Irina!“, ermahnte Leonora mit vorwurfsvollem Ton, doch beide fingen an zu lachen. Mussten sie doch an das Gespräch vom Montag mit den drei Chemikern denken, die das Thema bereits aufgeworfen hatten.     Montag, 06. Mai   An meinen Helfer – gerade, weil man keinen Dank erwartet, freut man sich doch umso mehr, wenn man welchen erhält, oder?! Lass mich dir danken. Leo   Leonora las ihre eigene Anzeige in der caz und freute sich bereits jetzt auf die Antwort, auch wenn sie darauf noch zwei Wochen warten musste. Sie stellte sich vor, wie der unbekannte Mann ebenfalls vor der caz saß und ihre Antwort las. Ihr vielleicht genauso entgegenfieberte wie sie seinen. Wie er wohl ist? Hilfsbereit natürlich. Und sicher auch stark, sonst hätte er mich nicht in meinem Zustand nach Hause bekommen. Sie hatte nach der Reportage, die sie gesehen hatte, noch weiter recherchiert zu den Auswirkungen von k.o.-Tropfen und auf Schwindel und Übelkeit folgten schwache Glieder und eine starke Müdigkeit. Und er roch gut, daran konnte sie sich erinnern. „Hallo Leo!“ „Hey Elias. Wo hast du denn den Rest gelassen?“ „Die hatten so großen Hunger, dass sie sofort zur Essenausgabe gegangen sind“, erzählte Elias und setzte sich. „Und Irina?“ „Hier bin ich doch“, antwortete die junge Frau, die aus den Waschräumen zurück war. „Ach, hey.“ Felix und Daniel stießen mit ihren vollen Tellern ebenfalls zu der kleinen Gruppe und begrüßten die Mädels, bevor sie sich über ihr Essen hermachten. Elias, der erst das Spiegelei studierte, ging ein paar Minuten später mit Leonora und Irina zur Mensa herüber. Als sie wieder am Tisch saßen und ebenfalls aßen, fragte Leonora: „Habt ihr eigentlich am Donnerstag schon was vor?“ „Vom Organik-Praktikum mol abgesaah?“, fragte Daniel. „Genau. Ich spreche von abends“, antwortete Leonora. Alle drei verneinten. „Warum fragst du?“ „Irina und ich haben überlegt, ob wir euch als Dankeschön für eure AC-Tipps zum Pizzaabend einladen.“ „Das klingt gut.“ „Ja, Pizza geht zudem immer“, warf Elias ein. „Dann wird es wohl mal Zeit, dass wir unsere Handynummern austauschen“, stellte Irina fest und zückte bereits ihr Telefon, um die Nummern der Chemiker zu speichern. „Falls doch jemanden etwas dazwischenkommt.“ Die Nummern wurden ausgetauscht und Leonora beschrieb den Weg zu ihrem Studentenwohnheim, das aber allen bekannt war.     Donnerstag, 09. Mai   Felix:  Warst du schon einkaufen für heute Abend? Leo:    Nein. Aber ich war gerade dabei loszugehen. Felix:  Soll ich dir helfen? Bin schon fertig mit dem OC-Praktikum und habe Zeit. Leo:    Dabei soll der Abend doch ein Dankeschön für eure Hilfe sein. Und jetzt willst du mir schon wieder helfen. Felix:  Mach ich aber gern. :) Leo:    Ich wollte zum Rewe beim Hauptbahnhof. Felix:  Alles klar. Ich kann in einer Viertelstunde dort sein Leo:    Okay. Dann bis gleich.   Leonora legte das Handy beiseite und schmunzelte. Felix ist echt toll. Ich freue mich, ihn zu sehen. Trotzdem war ein weiterer Gedanke im Hinterkopf, der das Lächeln kurz verschwinden ließ. Aber was ist mit meinem unbekannten Helfer? Sie warf noch einen Blick in alle Räume, ob wirklich alles aufgeräumt war, zog sich dann die Strickjacke über und schnappte sich ihren Einkaufskorb. Mit beschwingtem Schritt machte sie sich auf den Weg zum Supermarkt und wartete einige Minuten, bis Felix neben sie trat. „Hey Kleine.“ „Hallo Felix“, erwiderte Leonora und umarmte ihn zur Begrüßung. „Warum nennst du mich eigentlich immer Kleine?“ „Ich weiß nicht genau, es passt einfach zu dir.“ Fast unmerklich legte er seinen Arm an ihre Taille und schob sie sanft Richtung Eingangstür. Diese leichte Berührung ließ sie erschaudern, ein angenehmes Kribbeln machte sich in ihrem Bauch breit. Sie arbeiteten Schritt für Schritt die Einkaufsliste ab. Gemüse vom Frischestand, Wurst, Pizzakäse sowie Hefe aus dem Kühlregal, Chips, Salzstangen und die ein oder andere Süßigkeit landeten ebenfalls im Wagen. „Welches Bier trinkt ihr eigentlich?“ „Das einzig Wahre.“ „Also, Warsteiner?“, fragte Leonora, die sich auf den Werbeslogan bezog. „Nee, nee, nee, Radeberger natürlich.” „Dann bist du schon gereift und fertig, um dieses Bier trinken zu können? Der Herr in der Werbung hat dafür ein paar Jahre länger gebraucht“, feixte Leonie. „Wer weiß. Vielleicht habe ich mich auch einfach nur gut gehalten für mein wahres Alter“, erwiderte Felix mit einem Augenzwinkern und schnappte sich einen Elferkasten. „Wird der reichen?“ „Klar. Wir sind doch keine Alkoholiker.“ „Dann ist ja gut.“ Sie stellten sich in die Schlange an der Kasse und während Leonora bezahlte, legte Felix die Einkäufe in ihren Korb. Er reichte ihn ihr, als sie fertig war und nahm selbst den Bierkasten. „So, und jetzt erkläre mir bitte, wie du das alles allein hättest nach Hause bringen wollen“, meinte er. „Tja, vermutlich wäre ich für das Bier ein zweites Mal gelaufen. Jeder Gang macht schlank, oder nicht?“ „Und jeder zweite geht in die Breite.“ Sie begann zu kichern. „Das habe ich ja noch nie gehört.“ „Nicht? Mein Opa hat das ständig gesagt.“ „Merke ich mir auf jeden Fall.“ „Siehste, und ganz nebenbei wieder etwas gelernt.“ Felix grinste und drückte die Haustür auf. In der Wohnung angekommen räumten sie den Korb aus und stellten das meiste in den Kühlschrank. Dann suchte Leonora die restlichen Zutaten für den Teig aus ihren Schränken, den sie fix anrührten, damit er in Ruhe gehen konnte. „Wenn man abends mal Pizza essen will, aber wenig Zeit hat, kann man den Teig auch bereits am Morgen fertig machen und dann im Kühlschrank gehen lassen“, erzählte Felix. „Das geht? Ich dachte, es muss immer warm sein.“ „Der Teig arbeitet ja trotzdem, nur etwas langsamer, weshalb diese Variante natürlich etwas länger braucht.“ „Okay. Bei Küchenfragen kann ich mich demnach auch an dich wenden?“, fragte Leonora. „An sich schon. Nur beim Backen bin ich raus.“ „Das kann ich dafür ganz gut.“ Wir würden uns in der Küche sicher gut ergänzen. Verlegen von ihren eigenen Gedanken sah sie auf die Uhr und stellte fest: „Noch eine halbe Stunde, dann sollten die anderen auftauchen. Was machen wir bis dahin?“ „Du könntest mir ja dein Zimmer zeigen“, meinte Felix. Und dort könnten wir wild knutschen. Selbst überrascht von seinem Wunsch räusperte er sich betreten. „Dann komm mal mit.“ Leonora ging voraus in den Flur und dann in ihr Zimmer, Felix folgte ihr. Obwohl die Möbel in allen Zimmern des Studentenwerkes gleich waren, sah der Raum individuell aus. „Zu ihrer Linken sehen Sie den Kleiderschrank. Er enthält Kleidungsstücke, aber auch Bettwäsche und Handtücher“, begann Leonora die Führung. „Zu Ihrer Rechten befindet sich das durch Decken und Kissen gemütlich gemachte Bett, dessen Matratze leider bereits etwas durchgelegen ist.“ Die Bettwäsche lag ordentlich aufgeschüttelt auf dem Bett, sie hatte unregelmäßig breite Streifen in Blau- und Rosatönen. An der Wandseite aufgereiht lehnten kleine Kissen in den gleichen Farbtönen.   „Wenn Sie etwas weiter in den Raum hineingehen, können Sie direkt vor dem Fenster den großen Schreibtisch erkennen – den wichtigsten Ort in diesem Raum. Darauf befinden sich diverse Arbeitsmittel und der Laptop, der den Zugang zur großen, weiten, digitalen Welt ermöglicht.“ An der Wand hing eine Magnettafel aus blassblauem Glas, daran hingen der aktuelle Stundenplan, eine to-do-Liste und Fotos von Irina, Leonora sowie Max und Jörg. Felix betrachtete die Fotos. Kann ich fragen, wer die beiden sind? Besser nicht, das klingt sonst noch eifersüchtig. „Direkt neben dem Fenster an der Wand kann man einen Blick auf das Regal werfen, darin werden Aufzeichnungen aus Vorlesungen und Seminaren aufbewahrt, Fachbücher, aber auch Belletristik. Mit diesem letzten Highlight ist die Führung durch das Studentenzimmer beendet. Gibt es Fragen Ihrerseits?“ Leonora sah ihn grinsend an und Felix‘ Blick schweifte erneut durch den Raum. Er blieb hängen an den gerahmten Fotos, die in einer Art Galerie über dem Bett hingen. „Könnten Sie noch einige Worte zu den Fotografien verlieren?“, blieb er ihrem Stil der Gebäudeführung treu. „Oh, das sind nur ein paar Schnappschüsse. Ich habe sie bei mir zuhause im Garten und der Umgebung aufgenommen.“ „Schnappschüsse? Das sieht total professionell aus“, erwiderte Felix erstaunt. „Die Fotografie ist eine wunderbare Entdeckung, eine Wissenschaft, welche die größten Geister angezogen, eine Kunst, welche die klügsten Denker angeregt – und doch von jedem Dummkopf betrieben werden kann. Das sagte der französische Fotograph Nadar“, antwortete Leonora bescheiden. „Die Fotos sind wirklich toll.“ „Danke. Ich bin ganz gern mal mit der Kamera unterwegs.“ „Kannst mich gern mitnehmen, wenn du das nächste Mal raus möchtest“, meinte Felix. „Vielleicht komme ich darauf zurück.“ Sie schmunzelte bei seinem Angebot. Die beiden standen sich gegenüber, ihre Blicke verfingen sich ineinander, nahmen die Farbe und schwarzen Punkte und Streifen in der Iris des anderen wahr. Dieser stille, aber auch intime Moment wurde durch die Türklingel unterbrochen. Leonora zuckte zusammen. „Da sind auch schon die anderen“, sie lief zurück in den Flur und öffnete Irina die Tür, hinter ihr standen auch Daniel und Elias. Felix trottete ihr langsam hinterher, die Hände in den hinteren Hosentaschen vergraben. Schade, ich hätte gern noch mehr Zeit allein mit ihr verbracht. „Na hallo, ihr kommt ja gleich im Dreierpack“, sagte Leonora und umarmte alle drei zur Begrüßung. „Wir haben uns vor dem Haus getroffen, da konnte ich den beiden gleich den Weg weisen.“ Irina umarmte auch Felix, während die Männer sich nur abklatschten. „Bist du schon lange da?“, wollte Elias wissen. „Eine Weile“, wich Felix aus. „Möchtet ihr etwas trinken?“, Leonora winkte sie in die Küche. „Ha, iich dacht, deshalb sei mr hier!“ Daniel grinste und nahm die Bierflasche entgegen. Jeder fand einen Platz in der relativ geräumigen Küche und Leonora machte sich daran, den Pizzateig zu teilen und den ersten Teil auszurollen. Die restliche Gruppe holte die Zutaten zum Belegen zum Tisch und begann auch gleich damit. Das erste Blech wurde gemischt belegt, so dass jeder etwas für seinen Geschmack finden konnte. Sie unterhielten sich über die Vorlesungen dieser Woche, gingen aber schnell zu anderen Themen über – Serien und Filme, Musik, Reisepläne für die Semesterferien. „Will jemand noch ein Eis als Nachtisch?“, Leonora sah nur nickende Gesichter und holte die Leckerei aus dem Tiefkühlschrank. „Bei de ganzen Kalorien, die iich hier zu mir namm, do muss iich morgn wieder a Stund neins Fitnessstudio rammeln“, jammerte Daniel. „Du kannst einem leidtun. Bei deinen gut definierten Muskeln, da kann man natürlich jedes Gramm Fett, jede zusätzliche Kalorie sofort sehen. Bei uns Normalsterblichen mit der ein oder anderen Delle am Körper ist das natürlich nicht so dramatisch.“ Die Ironie in Irinas Stimme war nicht zu überhören. Elias‘ Kommentar war einfach nur „Wer schön sein will, muss leiden.“ „Da hast du wohl noch nicht genug gelitten“, meinte Leonora fast beiläufig. Ein Raunen ging durch den Raum und alle Blicke richteten sich auf Leonora, die sofort ein schlechtes Gewissen bekam. „Leo“, Elias‘ Hände griffen an sein Herz. „Wie kannst du mir das antun?“ „Es ist doch nicht so gemeint gewesen. Ihr habt gesagt, ich muss mehr Konter geben.“ „Kleine, alles gut“, beruhigte Felix sie. „Das war ein geiler Spruch. Wir sind nur alle erstaunt, dass er von dir kam.“ Irina hielt ihr die Hand hin und Leonora schlug etwas schuldbewusst zum Highfive ein.   „Linker Arm auf Rot.“ „Rachtes Baa auf Grie.“ „Linkes Bein auf Gelb.“ Irina und Elias sagten die Befehle beim Twister an, während Felix und Leonora sie ausführten. „Das ist gemein, du bist viel kleiner und gelenkiger als ich“, meinte Felix, der versuchte sein Bein unter Leonoras Körper hindurch zu schieben. „Du wolltest doch unbedingt dieses Spiel spielen und hast getönt, dass du darin super bist“, erwiderte Leonora lachend. „Habe ich erwähnt, dass das bestimmt zehn Jahre her ist?“, fragte Felix und versuchte die Position im Vierfüßlerstand zu halten. Daniel saß daneben und versuchte das Ganze zu filmen, was durch seine Lachanfälle jedoch sehr verwackelt wurde. Drei weitere Positionswechsel folgten, bevor Felix keinen festen Stand mehr hatte und auf dem Spielfeld zusammenbrach. Er riss Leonora mit, deren Oberkörper auf seinem zu liegen kam. Ihre Köpfe lagen dicht beieinander. „Entschuldige“, meinte Felix und hatte ein schlechtes Gewissen, weil er Leonora mit zu Boden gerissen hatte. Doch ihre Reaktion war anders als gedacht. Sie kicherte zunächst und lachte dann schallend, bevor sie sich aufrichtete und damit auch Felix wieder die Chance zum Erheben gab. Er stimmte nun genauso in das Lachen ein, wie die drei Zuschauer es bereits taten. Mit einem Schwung stand der junge Mann wieder auf seinen Beinen und half Leonora auf. „Danke.“ Ihre leicht geröteten Wangen, ihr strahlendes Lächeln, ihre leicht zerzausten Haare nahm er mit einem liebevollen Blick wahr, als sie dicht vor ihm stand und immer noch seine Hand hielt. „So, wer traut sich als nächstes?“, Irinas Stimme holte die beiden aus ihrer Trance. Sofort ließen sie ihre Hände los und machten das Spielfeld frei. Sie spielten in den verschiedensten Paarungen noch etliche Runden, bevor man zum ruhigeren Looping Louie überging. Irina und Leonora teilten sich ein Katapult, während die Männer jeweils eins bedienten, um ihre Hühner zu verteidigen. Jedes Mal, wenn ein Chip vom fliegenden Louie getroffen wurde, musste ein Schluck vom Blaubeerlikör genommen werden. „Also, eigentlich ist es gar nicht so schlecht, wenn man verliert. Der Likör schmeckt echt lecker“, meinte Elias, als er seinen zweiten Chip verlor. „Ich werde es meiner Oma ausrichten“, erwiderte Leonora und goss sein Glas wieder voll. „Sagt mal“, fing Irina an. „was muss man in Dresden unbedingt gemacht haben?“ „Kneipentour durch de Neustadt.“ „Besuch des Grünen Gewölbes, auch wenn man eigentlich nur Schmuck und Trinkspiele sehen kann.“ „Dampferfahrt über die Elbe, alternativ eine Kanutour.“ „Spaziergang durch den Großen Garten.“ „Filmnächt am Elbufer.“ „Eis essen am Blauen Wunder.“ Die Antworten der Männer kamen wie ein Kugelhagel, Irina und Leonora hatten keine Chance etwas zu kommentieren. „Veranstaltung im Alten Schlachthof besuchen.“ „Schlittschuhlaufen in der Halle der Eislöwen.“ „A Bier im Watzke-Brauhaus.“ „Besuch eines Fußballspiels von Dynamo.“ „Oh, beim Stadion wäre ich dabei“, warf Leonora schnell ein. „Das interessiert mich, auch wenn ich nicht unbedingt ein Fußballfan bin.“ Felix sah sie überrascht an. Das hätte ich nicht gedacht. Aber ich werde es mir merken und die Spieltermine checken. Irina nutzte die Unterbrechung, um zu berichten, welche Punkte sie aus der Aufzählung schon erledigt hatte. Sie ergänzten gemeinsam die Liste und schmiedeten Pläne zu gemeinsamen Aktivitäten. Das Spiel um Looping Louie wurde zwar weitergespielt, geriet jedoch etwas in den Hintergrund.   „Ich glaube, wir sollten uns langsam auf den Heimweg begeben“, meinte Elias. „Wohl wahr. Ich bin inzwischen auch echt müde.“ Um ihre Aussage zu untermalen, gähnte Irina hinter vorgehaltener Hand. Es war gegen halb zwei, als sich die Gruppe vom Tisch erhob und voneinander verabschiedete. „Danke für den schönen Abend.“ „Es hat wirklich Spaß gemacht mit euch, das können wir gern wiederholen.“ „Un de Pizza war a supr leckr.“ Das Kleeblatt umarmte Leonora zum Abschied und auch Irina tat es ihnen gleich. „Wir sehen uns morgen früh beim Balfanz.“ „Alles klar. Habt noch eine gute Nacht.“ Leonora stand lächelnd im Türrahmen und sah der kleinen Gruppe, die den Flur entlanglief, hinterher, bevor sie die Wohnungstür schloss und sich bettfertig machte. Das Chaos in der Küche ließ sie einfach stehen, das Aufräumen hatte auch bis morgen Zeit. Es war ein toller Abend und auch ein toller Nachmittag mit Felix. Mit einem zufriedenen Lächeln schlief Leonora kurze Zeit später ein. Kapitel 6: ----------- Mittwoch, 15. Mai Leonora drückte den Klingelknopf und der Summer, der die Eingangstür öffnete, ertönte kurz darauf. Sie lief die Treppenstufen hinauf und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie freute sich darauf, Felix wiederzusehen. Umso überraschter war sie, als an der Wohnungstür eine junge Frau stand und sie erwartete. „Hallo“, sagte Leonora etwas unsicher. „Hallo. Du musst Leo sein“, begrüßte die junge Frau sie mit einem freundlichen Lächeln. „Ich bin Fiona, Felix‘ Zwillingsschwester.“ Man konnte Leonora die Erleichterung im Gesicht ablesen, als sie Fiona die Hand entgegenstreckte. „Ja, ich bin Leonora, oder kurz Leo.“ „Komm doch rein. Felix zieht sich nur eben um. Wir wollten gleich los zum Abendessen.“ „Oh, ich wollte nicht stören.“ „Du störst nicht. Möchtest du etwas trinken?“, fragte Fiona stattdessen. „Nein, danke. Eigentlich wollte ich Felix nur sein Buch zurückbringen“, meinte Leonora und holte das Buch aus ihrer Umhängetasche. „Bist du schon fertig damit?“, Felix trat zu ihnen in den Flur, seine Hand wuschelte durch sein noch feuchtes Haar, um es in die richtige Form zu bringen. „Hallo erstmal“, er trat auf Leonora zu und umarmte sie. „Hallo“, sagte sie mit einem Lächeln. „Ich habe mir die Seiten eingescannt, die ich für die Hausarbeit brauchen werde. Eigentlich wollte ich es dir schon am Montag zurückgeben, hatte es aber vergessen und trage es seitdem mit mir herum.“ „Du hättest es ruhig länger behalten können. Aber danke fürs Vorbeibringen.“ Er nahm ihr das Buch ab und legte es auf den kleinen Schrank, der im Flur stand. „Gern. Ich werde dann auch mal gehen.“ „Möchtest du uns nicht zum Essen begleiten?“, fragte Fiona. „Wir wollten ins Aposto an der Altmarkt-Galerie.“ „Ich möchte euch nicht den Abend verderben.“ „Das kannst du gar nicht. Felix hat mir schon das ein oder andere von dir erzählt und ich würde mich freuen, wenn ich dich kennenlernen könnte“, erwiderte Fiona. „Du hast von mir erzählt?“, Leonora sah Felix erstaunt an. „Naja“, er wand sich etwas. „Nur, dass es da jemanden gibt, dem ich bei AC helfe und in der Mensa treffe.“ „Aha.“ Sie sah ihn skeptisch an und wendete sich dann Fiona zu: „Ich begleite euch gern. Wer weiß, was er dir alles erzählt hat, was gar nicht stimmt.“ „Hey! Ich lüge doch nicht!“, warf Felix sofort ein. „Das hat ja auch niemand behauptet“, meinte Fiona mit einem Augenzwinkern und legte ihren Arm um Leonora. „Aber Leos Sicht zu hören, ist sicher auch nicht verkehrt.“ „Verbrüdert ihr euch hier gerade? Du bist meine Schwester!“ „Und das werde ich immer bleiben, Bruderherz.“ Fiona grinste ihn an und nahm ihn dann in den Arm. Leonora musste schmunzeln über das Gespräch der Geschwister. „So, dann lasst uns mal gehen, bevor die Touris uns den Tisch wegschnappen.“ Fiona löste sich aus der Umarmung und griff nach ihrer Handtasche, die an der Garderobe hing. „Nimm deine Jacke mit. Noch ist es warm, aber es kühlt sich abends schnell ab.“ „Ja, Papa.“ Fiona verdrehte die Augen, doch Felix seufzte nur. Fünf Minuten später verließen die Drei das Gebäude und liefen Richtung Bushaltestelle. „Ich glaube, wir sollten einen Schritt zulegen. Die 62 steht schon an der Kreuzung.“ Leonora beschleunigte ihre Schritte und die Geschwister taten es ihr gleich. Sie erreichten den Bus rechtzeitig, atmeten aber alle schwer vom Rennen. Im Bus ließen sie sich auf einen Vierersitz fallen und kamen langsam wieder zu Atem. „Fiona, bist du okay?“, fragte Felix, man hörte Besorgnis in seiner Stimme. „Ja, klar.“ „Falls dir schwindlig wird oder es dir nicht gut geht, sag Bescheid.“ „Werde ich. Aber mir geht es gut.“ Leonora lauschte dem Gespräch und wunderte sich darüber. Felix scheint sich echt Sorgen um Fiona zu machen. Warum nur? Aber das ist wirklich rührend. Sie lächelte und sah verstohlen zu Felix hinüber, der ihr gegenübersaß. „Du studierst also auch Chemie?“, wandte sich Fiona an Leonora. „Auf Lehramt, ja.“ „Ach cool. Wir hatten auch eine tolle Chemielehrerin. Ich glaube, deshalb studiert Felix Chemie. Sie konnte einen richtig mit ihrer Begeisterung anstecken“, begann Fiona zu schwärmen. „Ich weiß noch nicht, ob ich eine tolle Chemielehrerin werde“, warf Leonora ein und versuchte von sich abzulenken: „Was machst du denn?“ „Ich studiere Medizin. Irgendwann möchte ich mal Kardiologin werden.“ „Oh wow! Das ist ein ehrgeiziges Ziel“, sagte Leonora anerkennend. „Ich weiß, aber ich stecke meine ganze Energie in meinen Traum und werde ihn auch erreichen!“ Fionas Augen glänzten und man sah ihr an, dass sie alles tun würde, um ihren Traumberuf irgendwann auszuführen. „Und wenn ich dann als mittelloser Chemiker zuhause sitze, kann sie mich aushalten“, grinste Felix. „Du bist so ein Klugscheißer, du bekommst schon einen Job.“ Felix streckte seiner Schwester als Antwort die Zunge heraus. „Es ist echt lustig, euch zusammen zu beobachten.“ „Ja, das nennt man Geschwisterliebe“, meinte Felix nur und zuckte mit den Schultern. „Hast du auch Geschwister?“, wollte Fiona wissen. „Eine kleine Schwester – Paula. Sie ist in der 11. Klasse.“ „Versteht ihr euch gut?“ „Manchmal können wir uns ganz schön anzicken, aber die meiste Zeit kommen wir gut miteinander aus. Als Kinder haben wir uns oft in den Haaren gehabt, dann gab es meist Zimmerarrest. Aber unsere Zimmer lagen direkt nebeneinander und kurze Zeit später lagen wir beide in unseren Zimmern, spielten aber im Flur etwas miteinander.“ Leonora feixte. „Ich kenne mich also aus mit Geschwisterliebe.“ Nach einer etwa zehnminütigen Fahrt waren sie an der Prager Straße angekommen, gemütlich schlenderten sie die wenigen Meter zur Altmarkt-Galerie herüber. Die Innenstadt war noch voller Menschen. Einige mit Einkaufstüten in jeder Hand, andere mit der Kamera um den Hals, wieder andere mit genervtem Gesichtsausdruck, da sie sich durch die Menschenmassen drängen mussten. Die Geschwister und Leonora bekamen den letzten freien Tisch im Außenbereich. „Willkommen im Aposto.“ Die Kellnerin reichte jedem eine Karte. „Darf es schon etwas zu trinken sein? Wir haben bis 20 Uhr auch unsere Happy Hour. Alle Cocktails für nur 4,50 Euro.“ „Na, das lassen wir uns doch nicht entgehen“, meinte Felix und bestellte einen Mojito. Leonora und Fiona entschieden sich für einen Aperol Sour. „Die Getränke kommen gleich, dann nehme ich eure Essensbestellung auf.“ „Alles klar. Danke.“ Sie warfen einen Blick in die Karte und entschieden sich ziemlich schnell für Pizza oder Pasta. „Falls die Kellnerin wiederkommt, ich nehme die Pizza Lucca. Entschuldigt mich kurz“, Felix stand auf und verschwand im Gebäude. „Ich habe neulich mit Felix darüber gesprochen, welches Tier wir wären. Er meinte, er wäre ein Schäferhund. Kannst du dem zustimmen?“, Leonora wollte die Meinung der Schwester hören. „Oh ja. Er wäre definitiv ein Schäferhund. Er lebt für seine Familie, ist loyal, treu und liebevoll. Und sein Beschützerinstinkt ist eindeutig zu übertrieben. Du hast es ja vorhin selbst mitbekommen. Ich war etwas außer Atem und schon macht er sich wieder Sorgen um mich.“ „Ja, das habe ich mitbekommen und es hat mich gewundert.“ „Ich habe als Kind am Ventrikelseptumdefekt gelitten, es war nicht entdeckt worden und als ich sechs war, holte mich das Loch zwischen den beiden Herzkammern ein. Ich war oft krank, wuchs nicht so gut wie Kinder es in meinem Alter hätten tun sollen und litt an Kurzatmigkeit. Irgendwann brach ich in der Schule zusammen, Felix war dabei.“ „Aber dir geht es gut?“, Leonora konnte die Besorgnis nun nachempfinden. „Ja, das Loch wurde bei einer Herzkatheteruntersuchung verschlossen, aber ich war lange im Krankenhaus. Felix war jeden Tag mit unseren Eltern da, wollte nicht von meiner Seite weichen. Der Verschluss hält und ich habe seitdem keine Probleme, ich muss lediglich zu Kontrolluntersuchungen, doch Felix hat immer noch Angst, dass mich der VSD wieder einholt. Diese Angst, oder sagen wir diesen Beschützerinstinkt, wendet er auf alle Personen an, die ihm wichtig sind. Und ab und zu ist es echt übertrieben.“ „Aber irgendwie auch süß“, meinte Leonora lächelnd. „Ja, irgendwie auch süß.“ Sie nahm Leonoras gerötete Wangen wahr und schmunzelte. „Welches Tier wärst du denn?“ „Ich glaube, ich wäre ein Löwe. Weil ich stark bin, nicht unbedingt körperlich, aber mental. Und mich durchbeiße, egal, welches Problem auf mich zukommt.“ Gemeinsam mit der Kellnerin, die die Getränke brachte, trat auch Felix wieder an den Tisch. Sie nahm die Essensbestellung der Drei auf und ließ sie dann wieder allein. „Worüber habt ihr gesprochen?“, wollte Felix wissen. „Ach, über Tiere, Hunde und Löwen und so“, meinte Fiona und zwinkerte Leonora zu. Bevor Felix weiter nachfragen konnte, hob sie ihr Glas und prostete ihm und Leonora zu. Sie unterhielten sich angeregt über weitere Geschwistereskapaden und ließen sich etwas später ihr Essen schmecken. Der Abend verging wie im Flug. „Danke, dass ihr mich mitgenommen habt.“ Sie waren die Prager Straße, die zu dieser Zeit im Vergleich sehr leer war, bis zum Hauptbahnhof gelaufen und verabschiedeten sich dort voneinander. „Immer wieder gern“, meinte Fiona und umarmte Leonora zum Abschied. „Hast du es noch weit?“ „Nein, nein, ich wohne in der Reichenbachstraße.“ „Alles klar. Das ist ja wirklich gleich um die Ecke.“ „Und wir sollen dich nicht nach Hause bringen?“, fragte Felix. „Das ist doch Quatsch“, antwortete Leonora sofort. „Eure Haltestelle ist hier und ich habe nur noch ein paar hundert Meter.“ „Na gut.“ Besonders glücklich klang seine Stimme nicht, doch er musste sich geschlagen geben und verabschiedete sich ebenfalls mit einer Umarmung.   „So, Bruderherz. Jetzt mal die Wahrheit auf den Tisch – stehst du auf Leo?“ Fiona saß Felix im Bus gegenüber und sah ihn erwartungsvoll an. „Musst du immer so direkt sein?“ „Ja - du kennst mich doch. Also, stehst du auf sie? Und du weißt auch, dass ich die Antwort eigentlich schon kenne.“ „Manchmal wünschte ich, wir wären keine Zwillinge“, meinte Felix genervt. „Ja, ich mag Leo. Ich mag sie sogar sehr.“ „Ich wusste es.“ Fiona führte im Sitzen einen kleinen Freudentanz auf und grinste fröhlich. „Du bist doch doof.“ Felix schüttelte den Kopf über ihre Reaktion. „Ich glaube, sie mag dich auch. Also, versaue es nicht.“ „Ich habe es nicht vor, aber ich glaube, es ist etwas komplizierter.“ „Warum? Mann mag Frau, Frau mag Mann auch. Was soll daran kompliziert sein?“, fragte Fiona nach. „Ich habe Leo das erste Mal nicht in der Mensa getroffen, so wie sie es denkt“, meinte er und schwieg dann. „Felix, was soll das bedeuten?“, sie sah ihren Zwillingsbruder verwirrt an. „Anfang April war ich mit Daniel und Elias auf der FSR-Party. Als die beiden nach Hause wollten, brachte ich unseren Gläser zur Bar zurück und habe dabei gesehen, dass so ein Typ etwas in einen Cocktail schüttete, der auf einem der Stehtische stand. Er gehörte einer jungen Frau – Leonora – die ihm den Rücken zugewandt hatte.“ „Waren das k.o.-Tropfen?“ „Das war auch meine Vermutung, weshalb ich die Situation weiter beobachtete.“ Felix unterbrach seine Erzählung, der Bus war an ihrer Haltestelle angekommen und die Geschwister stiegen aus, um den restlichen Weg zu Fuß zurückzulegen. „Leo hatte nach dem Trinken relativ schnell die Symptome. Sie schwankte, wirkte orientierungslos. Der Typ quatschte sie an und wollte sie nach draußen begleiten, doch ich bin dazwischen. Ich habe mich als ihr Freund ausgegeben und gemeint, sie hätte sicher einen über den Durst getrunken, und dann habe ich sie nach Hause gebracht.“ „Du hast ihr sicher eine Erfahrung erspart, von der sie sich bestimmt einen Großteil ihres Lebens nicht erholt hätte. Felix, du bist ein Held.“ „Bin ich nicht“, winkte er bescheiden ab. „Ich habe nur getan, was getan werden musste.“ Fiona schüttelte den Kopf. Er kann so ein Klugscheißer sein und mit seinem Wissen prahlen, aber wenn er jemanden etwas Gutes tut, dann war es immer nicht der Rede wert. „Und dann habt ihr euch in der Mensa wiedergesehen?“ „Ich war selbst überrascht, dass ich sie so schnell wieder getroffen habe. Sie saß mit ihrer Freundin Irina am Tisch neben mir und besprach das Laborpraktikum. Die beiden wussten bei dem Nachweis von Carbonat-Ionen nicht weiter und ich habe es als meine Chance gesehen, ich habe ihnen geholfen und wir kamen ins Gespräch. In der Woche darauf trafen wir, also Elias, Daniel und ich, wieder auf die beiden. Und seitdem ist es ein fester Termin. Wir verstehen uns super und ich…“, er machte eine kurze Pause, um sich seiner Worte sicher zu sein, „und ich verliebe mich jedes Mal ein bisschen mehr in sie.“ Sie stiegen die zwei Stockwerke zu ihrer Wohnung hinauf. „Und was ist jetzt kompliziert daran?“ „Naja, ich habe ihr damals einen Zettel in der Küche hinterlassen, damit sie weiß, was passiert ist. Sie hat daraufhin eine Annonce in der caz geschaltet, um nach demjenigen zu suchen, der ihr geholfen hat. Warte, ich habe sie in meinem Zimmer“, meinte Felix und lief durch den Flur. Fiona folgte ihm. „Hier, lies selbst.“ Sie überflog die Anzeige, auf die ihr Bruder gezeigt hatte. „Und du hast ihr darauf geantwortet?“ „Nicht per Mail, sondern ebenfalls per Anzeige.“ Er hielt ihr die Zeitung mit seiner Antwort hin. „Wenn du sie persönlich wiedergesehen hast, warum hast du ihr nicht gesagt, dass du ihr geholfen hast?“ „Weil ich da schon auf die Anzeige geantwortet hatte. Und wie hätte sich das angehört so zwischen Mittagessen und Laborbesprechung– ich habe dich übrigens vor einer Vergewaltigung bewahrt?“ „Hast schon Recht. Ziemlich blöd“, gab Fiona zu. „Es ist wirklich kompliziert.“ „Sag ich doch.“     Kapitel 7: ----------- Montag, 20. Mai   An Leo – danke mir doch einfach. Ich habe dich oft im Blick, du musst mich nur bemerken. Dein Helfer   Leonora fühlte sich beim Lesen dieser Nachricht wie vor den Kopf gestoßen. Was soll das bedeuten? Dass wir uns kennen? Oder dass er mich heimlich beobachtet? Sie ließ die Zeitung sinken. „Und? Gibt es eine Antwort von deinem Helden?“, wollte Irina wissen. „Ja…“ „Aber?“ „Lies selbst“, sie reichte ihrer Freundin die Zeitung und deutete auf die Anzeige. „Hmm. Das ist eine merkwürdige Aussage. Soll das heißen, dass wir ihn kennen?“ „Klingt irgendwie danach. Aber woher nur? Wer soll es sein?“, Leonora konnte sich niemanden vorstellen aus ihrem Bekanntenkreis. „Na, Mädels“, begrüßte Max die beiden. „Hallo Max.“ „Was ist los bei euch? Jeden zweiten Montag reißt ihr euch quasi um die caz. Was gibt es da Spannendes?“, fragte er und versuchte einen Blick darauf zu werfen. „Du könntest auch Detektiv werden, oder?“, fragte Irina. „War mein Plan B“, feixte Max. „Also, was ist los?“ „Ich habe letzten Monat eine Suchanzeige nach meinem Helfer gestartet, nach der Person, die mir auf der FSR-Party geholfen hat“, gab Leonora zu. „Und er hat mir geantwortet. Das ist seine zweite Antwort.“ Sie hielt ihm die Zeitung hin und Max las die Anzeige. „Wir überlegen nun, ob wir denjenigen kennen“, meinte Irina. „Naja, es war eine Party des FSR Chemie. Vermutlich können wir es dahingehend einschränken“, überlegte Max. „Meinst du?“ „Warum nicht? Natürlich sind auch Studenten anderer Fächer dabei, aber die Anzahl ist im Vergleich zu den Chemikern gering.“ „Die Chemiker!“, Irina schlug sich die Hand vor die Stirn. „Warum sind da nicht gleich darauf gekommen.“ „Du denkst, es könnte Elias oder Daniel oder Felix gewesen sein, der mir geholfen hat?“, fragte Leonora. „Klar. Vorstellbar ist alles. Wir haben sie schließlich direkt nach der Party kennengelernt.“ „Aber wenn sie bei der Party waren, könnte es auch sein, dass sie diejenigen mit dem Rohypnol waren“, warf Max ein, woraufhin Leonora und Irina ihn bestürzt ansahen. „Was? Möglich ist es doch.“ „Nein, das glaube ich nicht. Die Drei sind super lieb. So etwas traue ich ihnen auf gar keinen Fall zu“, verteidigte Leonora das Kleeblatt sofort. „Ich meine ja nur, dass man es im Hinterkopf behalten sollte.“ „Lass uns sie doch einfach fragen, ob sie bei der Party waren“, sagte Irina. „Wir sehen sie doch nachher.“   ***   „Hallihallo!“ „Hallo Leo, hallo Irina“, begrüßte Elias die beiden, Felix und Daniel nickten ihnen zu, sie aßen bereits. „Entschuldigt, dass wir zu spät sind. Professor Langbein hatte am Ende der Vorlesung noch ein Experiment, das etwas länger gedauert hat als beabsichtigt“, erklärte Irina ihr verspätetes Erscheinen. „Aber es war gut, dass es am Ende stattfand, er hat den gesamten Hörsaal in eine violette Wolke getaucht“, ergänzte Leonora. „Oh, wie schön. Die Sublimation von Iod“, Felix‘ Augen strahlten. „Gibts eigentlich a Chemisches, was diich net fraat?“ Daniel sah seinen Freund kopfschüttelnd an. Dieser nahm eine Denkerpose ein und tat nachdenklich. „Wenig würde ich sagen.“ „Vorrücktr Bursch.“ „Apropos verrückt und chemisch. Hat jemand Lust, heute Abend zum Science Slam im Hörsaalzentrum mitzukommen?“, brachte Felix das Thema auf den Wettbewerb der Kurzvorträge über aktuelle Forschungsthemen. „Wann geht das los?“ „20.30 Uhr, also müsste man vermutlich zwanzig Uhr dort sein, um einen Platz zu bekommen“, antwortete Felix. „Ich kann heute Abend nicht“, meinte Elias und Irina schloss sich dem an. Daniel und Leonora sagten jedoch zu. „Dann treffen wir uns um kurz vor acht am Haupteingang?“ „Geht klar.“ Die Gruppe kam von einem Thema zum nächsten, weshalb Irina und Leonora völlig vergaßen, zu fragen, ob das Kleeblatt auf der FSR-Party war.   ***   „So, Entropie. Entropie. Ich möchte gern die nächsten zehn Minuten nutzen, Ihnen allen eine Größe etwas näher zu bringen, die für die einen völlig unbekannt ist und für die anderen ist das allenfalls ein abstraktes Konzept, was allerdings keinen Bezug zu Ihrer Lebenswirklichkeit hat. Und deshalb fange ich auch mit etwas an, das Sie alle kennen – was ist das?“, fragte Martin Buchholz ins Plenum und rief ein Bild eines Kraftwerk-Kühlturms in seiner Präsentation auf. „Okay, ist einfach, kam ja im Titel vor – Kühltürme. Die spannendere Frage ist aber – wofür braucht man denn Kühltürme?“ Er wiederholte die Frage und gab sie ins Publikum. „Zum Kühlen!“, rief jemand. „Kühlen. Kühlen, das ist natürlich ein erstklassiger Vorschlag. Der ist ungefähr in einer Liga mit Das hat was mit Abwärme zu tun oder wenn kleine Kinder dabei sind Da werden Wolken gemacht.“ Das Publikum tobte vor Lachen und Martin Buchholz unterbrach seinen Vortrag kurz. Der Dozent der TU Braunschweig beendete seinen Beitrag nach den vorgesehenen zehn Minuten und gewann den Wettbewerb am Ende des Abends durch den überwältigenden Applaus des Publikums.   „Ich bringe dich noch nach Hause“, sagte Felix zu Leonora, als sie sich von Daniel verabschiedeten. „Ach, es ist doch nur die Straße runter.“ „Ich weiß. Trotzdem möchte ich dich gern begleiten“, meinte er und um ihrem nächsten Argument zuvorzukommen: „Zurück nehme ich dann die 3.“ „Okay.“ Sie setzten sich in Bewegung und unterhielten sich über die verschiedenen Teilnehmer des Slams, ihre Forschungsthemen und die Vortragsweise. „Martin Buchholz war wirklich genial. Den kennen Sie sicher - das ist ein Maß für Unordnung.“ Leonora grinste. „Ich habe ihn schon einmal gesehen, da hat er über Energie gesprochen. Wie verschwendet man etwas, dass nicht verbraucht werden kann? Das war auch wirklich gut.“ „Aber die anderen Slammer waren auch gut. Danke, dass du gefragt hast, ob ich mitkomme.“ „Kein Ding.“ Als sie in die Fritz-Löffler-Straße einbogen, fragte Felix jedoch etwas ganz Anderes: „Warum hast du eigentlich neulich gesagt, dass du keine tolle Chemielehrerin werden würdest?“ Leonora sah ihn überrascht an. Ich hatte doch nur einmal kurz davon gesprochen. Er hat es trotzdem mitbekommen. „Naja, ich glaube einfach nicht daran. Englisch werde ich hinbekommen, damit habe ich keine Probleme. Das kann ich auch richtig gut, denke ich zumindest. Aber Chemie war eigentlich eine Notlösung.“ Leonora seufzte. „Die Klausuren im ersten Semester habe ich gerade so bestanden. Und du merkst ja selbst, dass ich im Labor irgendwie keinen Plan habe. Ich glaube einfach, dass ich das Studium nicht schaffe.“ „So darfst du nicht rangehen. Wenn du vorab schon sagst, dass du etwas nicht kannst, dann wirst du es auch nicht schaffen!“ Seine Hände packten sie an den Oberarmen und Leonora sah zu ihm auf. Tränen schimmerten in ihren Augen, was Felix im Herzen wehtat. „Wieviel brauchst du von dem bisher an der Uni Gelernten später für den Unterricht?“ „Nicht so viel“, ihre Antwort war ein unsicheres Flüstern. „Genau. Ziemlich wenig. Und genau das ist der Punkt! Das Studium ist dazu da, dir mehr über die Chemie beizubringen und dir das wissenschaftliche Arbeiten zu zeigen. Es ist egal, ob du das Laborpraktikum mit einer Drei abschließt oder die Klausur zu den Nebengruppenelementen gerade so bestehst. Es hat nichts damit zu tun, ob du eine gute Lehrerin sein wirst!“ „Aber wenn ich das Studium nicht schaffe, dann kann ich auch nicht unterrichten“, erwiderte Leonora. „Leo, was habe ich dir eben gesagt? Du musst positiv ran gehen! Du wirst das Studium schaffen. Es gibt Bücher, es gibt Lerngruppen, es gibt Irina und es gibt mich. Ich werde dich immer unterstützen, wenn du das möchtest, denn ich möchte, dass du eine fantastische Lehrerin wirst.“ Leonoras Lippen begannen zu zittern und eine Träne rollte ihre Wange herunter. Felix ließ ihre Oberarme los und umarmte sie. Mit einem kräftigen Griff hielt er sie fest, drückte ihren Körper bestimmt und doch sanft an seinen. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter, die Tränen liefen nun ohne Unterlass. Etwas zaghaft schlang Leonora ihre Arme um Felix, spürte seine Körperwärme und ließ sich von ihm trösten. „Danke“, sagte sie nur mit ihrer tränenverschwommenen Stimme und spürte, wie seine Hand über ihren Kopf streichelte. Kapitel 8: ----------- Montag, 03. Juni An meinen Helfer – du weißt schon, dass das ganz schön nach Stalker klingt? Warum schreibst du hier in Rätseln statt mich anzusprechen und zu sagen „Hey, ich bin’s!“? Leo     „Hast du Lust am Freitag etwas mit mir zu unternehmen?“ Felix brachte gemeinsam mit Leonora die Tabletts aller zur Geschirrrückgabe und während sie die gestapelten Tabletts nun einzeln auf das Laufband legten, nutzte er die Gelegenheit, sie nach einer Verabredung zu fragen. „Was schwebt dir denn vor?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage. „Wie wäre es mit einem Besuch der Legende aus Elbflorenz?“ „Wie meinst du das?“ Leonora sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Das wirst du wohl nur herausfinden, wenn du mich am Freitag begleitest“, erwiderte Felix grinsend. „Das ist gemein.“ „Man muss eben schauen, wie man seine Ziele erreicht.“ „Na gut, dann werde ich mit dir zur Legende gehen, was auch immer es bedeutet.“ „Sehr schön. Und vergiss deine Kamera nicht.“ Er hielt ihr lächelnd die große, braune Tür auf, die zur Zebradiele führte. Vielleicht wird es einen passenden Moment geben, in dem ich ihr sagen kann, dass ich ihr Helfer bin. Dann hat dieser ganze Quatsch in der caz ein Ende.   ***   Man nehme ein Becherglas, in welchem einige 10-cent-Münzen am Rand aufgestellt sind. Die Münzen werden mit einer schwach essigsauren Lösung von Kupfer(II)-sulfat (Massenanteil 1-2 %) und Natriumchlorid (Massenanteil 10%) in Wasser bedeckt.   Leonora saß am Abend am Schreibtisch und bereitete das Protokoll für den nächsten Labortag vor, doch sie war nicht richtig bei der Sache. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich freue mich auf den Abend mit Felix. Wirklich, ich freue mich darauf. Er schafft es, dass ich mich gut fühle.   Dabei soll die Flüssigkeit mindestens einen Zentimeter über die Oberkante der Münzen reichen. Nach kurzer Zeit überzieht sich das Messing vom Rand her mit einem Kupferspiegel.   Aber ist es fair ihm gegenüber, wenn ich gleichzeitig ständig an meinen Helfer denke? Ich kann es mir selbst nicht erklären, aber was ist, wenn ich auf ihn treffe und er der Richtige für mich ist? Ich weiß nicht, was ich machen… was ich fühlen soll. Sie seufzte und tippte weiter an der Durchführung.     Freitag, 07. Juni   „Wo geht es denn nun hin? Und warum musste ich etwas Schwarzes anziehen?“ Leonora sah Felix erwartungsvoll an. „So einfach mache ich es dir nicht. Lass dich überraschen“, erwiderte Felix und sah sie lächelnd an. Es war kein schadenfrohes Lachen, weil er sie ärgern konnte, sondern ein freundliches, zur Überraschung einladendes. „Na gut.“ Sie liefen zunächst Richtung Hauptbahnhof, der am Freitagnachmittag besonders gut frequentiert war, und schlenderten dann über die Prager Straße. Am Ende der Straße angelangt, fiel Felix‘ Blick auf den großen Buchladen. „Liest du lieber oder schaust du lieber fern?“ „Das kommt darauf an. Ich lese wahnsinnig gern, momentan sind es leider eher Fachbücher, aber in der Grundschule mussten meine Eltern mich jede Woche zur Bibliothek bringen, damit mir der Lesestoff nicht ausgeht“, antwortete Leonora. „Ich liebe Bücher. Aber die ein oder andere Serie oder mancher Film lässt sich ganz gut sehen. Zum Beispiel stehe ich auf die Marvel-Filme.“ „Wenn du Superkräfte haben könntest, welche wären das?“ „Oh, jetzt kommst du aber mit den philosophischen Kennlern-Fragen“, meinte Leonora. „Aber du hast Glück. Eben weil ich Superheldenfilme mag, habe ich da schon ein paar Mal drüber nachgedacht.“ „Und?“ „Es ist jetzt keine Superkraft im Superheldensinne, aber ich habe das Gefühl, in unserer Gesellschaft ist sie eine – Selbstbewusstsein. Davon bräuchte ich ein bisschen mehr.“ „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen“, erwiderte Felix und als er bemerkte, dass Leonora ihn entgeistert ansah, setzte er fort: „Aber ich finde, dass du in letzter Zeit an Selbstbewusstsein gewonnen hast. Am Anfang unserer Mittagessen hast du dich kaum an unseren freundschaftlichen Neckereien beteiligt und wenn es um dich ging, bist du gleich rot angelaufen. Doch inzwischen ist es oft nur noch ein rosa Schimmer und du bringst Sprüche, die uns alle umhauen.“ „Okay“, meinte Leonora, immer noch etwas skeptisch. „Verstehe mich bitte nicht falsch, das soll keine Beleidigung sein, eigentlich eher ein Kompliment.“ „Dann nehme ich das auch als solches auf“, ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Welche Superkraft hättest du denn?“ „Ich hätte gern die Selbstheilungskräfte von Wolverine, aber so ausgeprägt, dass ich auch andere heilen kann“, antwortete Felix sofort. Leonora schluckte. „Wegen Fiona, oder?“, fragte sie leise nach. „Woher…?“ Felix sah sie erstaunt an und meinte nach einem Blick in ihr Gesicht: „Sie hat es dir erzählt.“ „Ja. Ich kann und will mir gar nicht vorstellen, wie es für euch beide war. Deine Superkraft kann ich vollkommen nachvollziehen. Und komme mir mit meiner total lächerlich vor.“ „Ach Quatsch. Jeder hat seinen eigenen Rucksack zu tragen, der eine leichter, der andere schwerer. Und ich weiß, dass ich es manchmal bei Fiona übertreibe. Ihr geht es gut, sie ist vollkommen gesund, aber diese Angst in mir, dass sie wieder zusammenbrechen könnte, lässt sich nicht abschalten.“ „Ängste sind gemein. Du kennst meine ja inzwischen auch schon“, erwiderte Leonora und blickte zu Felix auf. Er sah sie aufmunternd an und brachte sie damit zum Lächeln. „Wie sieht es aus? Lust auf einen Kaffee?“, fragte er, um die etwas gedrückte Stimmung zu durchbrechen. „Gern.“ Inzwischen waren sie am Café Schinkelwache am Theaterplatz angekommen und fanden noch einen Tisch im Außenbereich. Ein Kellner nahm ihre Bestellung auf und sie lehnten sich zurück, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. „Darf ich jetzt erfahren, warum ich schwarze Kleidung tragen sollte. Es wird in der Sonne ganz schön warm darin“, fragte Leonora. „Etwas gedulden musst du dich noch. Nach dem Kaffee machen wir uns auf den Weg und dann wirst du es erfahren.“ „Na gut.“ Am Tisch hinter ihnen saßen zwei junge Frauen, die sich ebenfalls unterhielten. Leonora hörte nicht zu, schnappte jedoch den Satz „Ich bin heute ganz schön k.o.“, auf und wurde durch das k.o. direkt wieder an die FSR-Party erinnert. Ich könnte hier nicht so unbeschwert mit Felix sitzen, wenn mir der Unbekannte damals nicht geholfen hätte. Sie schüttelte unbewusst den Kopf, um den Gedanken loszuwerden – sie wollte das Treffen mit Felix genießen – doch er nahm es wahr. „Ist alles in Ordnung?“ „Ähm, ja. Ich musste nur an etwas denken“, meinte Leonora sofort. „Nicht weiter wichtig.“ Sie tranken den Kaffee, Felix bezahlte für sie beide und dann setzten sie ihren Spaziergang fort. Über den Pirnaischen Platz ging es weiter Richtung Gläserne Manufaktur. „Warst du schon mal in der Gläsernen Manufaktur?“ „Ja, schon vor ein paar Jahren mit meiner Familie. Da haben sie noch den Phaeton gebaut“, antwortete Felix. „Inzwischen sind sie ja dabei, den E-Golf zu produzieren. Das würde mich schon interessieren. Es soll auch ein großes Programm drumherum geben, also in Form einer Ausstellung. Vielleicht hast du ja Lust, mit mir gemeinsam die Zukunft der Straße zu entdecken?“ „Sehr gern. Da haben wir auch gleich das Ziel für unsere nächste Unternehmung.“ Felix vermied das Wort Date lieber, er hatte das Gefühl, dass Leonora etwas beschäftigte, das ihre Verabredung betraf, weshalb er sie nicht weiter darauf stoßen wollte.   „Ist ganz schön was los hier“, bemerkte Leonora nach einer Weile. Karawanen von schwarz-gelb-gekleideten Menschen zogen sich durch die Straßen und entlang des Großen Gartens. „So sieht das immer aus, wenn Dynamo spielt. Da kann es regnen oder schneien – die Fans sind immer da“, erwiderte Felix. „Sie stehen halt zu ihrer Legende aus Elbflorenz.“ Leonora nahm den Satz zunächst so hin, doch dann blieb sie stehen und hielt Felix am Handgelenk fest. „Warte, warte, warte! Soll das heißen, man nennt Dynamo Dresden auch Legende aus Elbflorenz?“ Felix nickte nur und musste schmunzeln. Er konnte richtig sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete. „Und Elbflorenz ist einfach nur ein anderer Name für Dresden?“ Felix nickte erneut. „Soll das heißen, dass wir zu dem Spiel von Dynamo gehen?“ Felix nickte abermals. „Wirklich?“ Das Schmunzeln in Felix‘ Gesicht verwandelte sich in ein breites Grinsen, als er die Eintrittskarten aus dem Rucksack zog. „Und damit du auch richtig ausgestattet bist, leihe ich dir einen Fan-Schal.“ Er holte einen gelb-schwarzen Schal aus dem Rucksack und legte ihn Leonora um die Schultern. „Jetzt verstehe ich auch, warum ich etwas Schwarzes anziehen sollte. … Danke!“ „Noch haben wir das Spiel nicht gesehen und das Stadion unsicher gemacht – vielleicht gefällt es dir gar nicht“, meinte Felix und zwinkerte ihr zu. Sie schlossen sich den Fanströmen Richtung Stadion an, passierten die Kontrollen am Eingang und machten sich auf den Weg zu ihren Sitzplätzen. Die Spieler machten sich auf dem Platz warm und wurden von ihren Fans angefeuert. Kurz vor dem Einlaufen der Spieler begann der Stadionsprecher mit dem sogenannten Einpeitschen. Er gab die Buchstaben des Wortes Dynamo einzeln vor und die Fans grölten jeden aus vollem Hals. „Oh wow, die Atmosphäre ist echt der Wahnsinn. Egal, ob man jetzt Fan ist oder nicht, es erzeugt eine Gänsehaut.“ Leonora berührte Felix‘ Ohr fast, als sie mit ihm sprach, sonst hätte er sie nicht verstanden. „Du hast den K-Block noch nicht erlebt!“, erwiderte er nur. Und er sollte recht behalten. Die Choreografien des Fanblocks waren beeindruckend und die Fangesänge sorgten für eine Gänsehaut. Leonora zückte immer wieder ihre Kamera und nahm die für sie als Neuling beeindruckenden Bilder auf. „Das ist schon eindrucksvoll“, meinte sie mit strahlenden Augen. „Aber mit den ganzen Fahnen vor dem Gesicht und der Teilnahme an der Choreo haben sie doch gar nichts vom Spiel.“ „Darum geht es auch nicht. Man unterstützt seine Mannschaft, feuert sie an und schaut sich dann am Abend die Zusammenfassung in der Sportschau an.“ Während es am Ende der ersten Halbzeit recht ruhig auf dem Spielfeld ablief, machte sich Felix auf den Weg zu einer der Imbiss-Stationen. Er kaufte je eine Bockwurst im Brötchen für Leonora und sich. Als er damit zurück war und ihr das Essen entgegenhielt, kommentierte er es mit: „Ein Stadionbesuch ist nichts ohne die Stadion-Bocki.“ „Danke schön.“ Leonora biss herzhaft hinein und beobachtete das Spiel weiterhin interessiert. „Du hast fast ein Tor verpasst, der Ball war wirklich nur ein paar Zentimeter an der Latte vorbei.“ Die erste Halbzeit verlief torlos und während sich die Mannschaften in die Umkleiden begaben, begann auf den Rängen das Pilgern zu Waschräumen und Imbissen. „Weißt du, was das Gute am Fußballstadion ist?“, fragte Leonora, als sie von der Toilette zurückkam. „Ich kenne schon einige Gründe, aber welchen findest du gut?“, erwiderte Felix mit einer Gegenfrage. „Dass hier die Schlange vor der Männertoilette ist.“ Leonora grinste. Und Felix grinste kopfschüttelnd mit.   Sie liefen mit den Fans gemeinsam die Straße entlang Richtung Hauptbahnhof. Die euphorische Stimmung nach dem Sieg der Mannschaft trug die Menschen förmlich voran. Immer wieder wurden Gesänge angestimmt, die sich durch die Menge weitertrugen. Auch Leonora verfiel in einen beschwingten Schritt und pfiff die Melodie mit, da sie den Text nicht kannte. „Danke, dass du mich mit ins Stadion genommen hast. Das war ein tolles Erlebnis.“ „Gern geschehen“, Felix sah sie lächelnd an und wie ganz zufällig schlossen sich seine Finger um ihre Finger. Leonora ließ sich nichts anmerken, erwiderte den Griff jedoch mit sanftem Druck. Ohne es richtig zu merken, waren sie mit dem Fanstrom am Hauptbahnhof angekommen und bogen nun ab zu Leonoras Wohnheim. „Ich wünschte, der Abend wäre noch nicht zu Ende.“ Sie standen sich gegenüber, ihre Finger waren immer noch ineinander verschränkt. „Er muss es ja noch nicht sein“, meinte Felix, kam noch einen Schritt näher auf sie zu. Ihre Blicke trafen aufeinander, sie verloren sich in den Augen des anderen. Felix trat noch dichter, beugte sich etwas zu ihr hinunter und seine Lippen berührten die ihren. Zunächst ganz sanft und behutsam. Als seine Finger sich aus Leonoras lösten, um sie in den Arm nehmen zu können, spürte er ihre Hände an seinem Brustkorb und wie sie ihn sachte von sich wegschob. Verwirrtheit stahl sich in seinen Blick. „Felix, ich glaube, ich kann das nicht.“ Entschuldigend sah sie ihn an. „Warum?“ „Ich…“, Leonora stockte. „Ich kann einfach nicht mit dir zusammen sein.“ „Warum willst du mir keine Chance geben? Gibt es noch einen anderen? Oder magst du mich einfach nicht?“, Wut schwang nun in seiner Stimme mit. „Ich mag dich sogar sehr!“ Felix sah sie kurz mit einem überraschten Blick an. „Was ist es dann?“, fragte er daraufhin, schon wieder etwas ruhiger. „Ich… ich kann es nicht richtig erklären. In meinem Kopf ist so ein was wäre, wenn.“ „Was meinst du damit?“ Leonora schwieg einen Moment, suchte nach Worten. „Bei der FSR-Party vor zwei Monaten muss mir jemand Rohypnol oder so etwas gegeben haben, doch bevor mir etwas passiert ist, hat mir ein Fremder geholfen.“ Sie seufzte und sah auf den Boden, wodurch ihr entging, dass Felix erstarrte. „Ich habe eine Anfrage in der caz gestartet und derjenige antwortete mir darauf. Nun schreiben wir uns seit zwei Monaten Nachrichten über die Kleinanzeigen. Ich frage mich einfach, was wäre, wenn mein Helfer vor mir stehen würde. Ob ihm eigentlich mein Herz gehören sollte.“ „Okay“, sagte Felix nur. Warum sieht sie nicht, dass ich es bin? Leonora sah wieder zu ihm auf, sah seinen versteinerten Gesichtsausdruck und ihr steckte plötzlich ein Kloß im Hals. Sie wollte etwas sagen, konnte es aber nicht. „Das musst du wohl mit dir selbst ausmachen. Melde dich, wenn du eine Entscheidung getroffen hast.“ Sie würde mir jetzt nicht glauben, dass ich es war. Sie würde nur denken, ich will sie für mich gewinnen. Er wollte zum Abschied ihre Hand nehmen, sie umarmen, doch er ließ den ausgestreckten Arm wieder sinken, seufzte und ging dann ohne ein weiteres Wort. „Felix…“, Leonoras Stimme war ganz leise und brachte ihn nicht zum Stehenbleiben. In ihren Augen sammelten sich Tränen. Ich habe es voll versaut.   Kapitel 9: ----------- Montag, 10. Juni „Wo ist denn Felix? Ihr seid doch sonst wie ein dreiblättriges Kleeblatt, nicht ohne einander anzutreffen“, wollte Irina wissen, als sie Elias und Daniel nur zu zweit in der Cafeteria sitzen sah. „Er meinte nur, er hat noch etwas zu erledigen.“ Leonora war einerseits froh, dass Felix nicht da war, weil sie nicht gewusst hätte, wie sie miteinander hätten umgehen sollen; andererseits war sie traurig, ihn nicht sehen zu können. Sie setzte sich neben Daniel und holte das Spiegelei aus dem Rucksack, um die Essensauswahl für diesen Tag zu studieren. Doch ihr Blick fiel nur starr auf die Zeitung, sie sah die Worte, konnte die Buchstaben identifizieren, konnte sie aber nicht zu Worten zusammenfügen. „Was gibt es denn heute Schönes zu essen, dass du dich nicht entscheiden kannst?“ Irinas Stimme riss sie aus ihrer Trance. „Was hast du gesagt?“ „Du schaust schon fünf Minuten auf die Zeitung. Ich wollte wissen, was es zu essen gibt.“ „Entschuldige. Ich war in Gedanken und habe es ehrlich gesagt gar nicht gelesen.“ Leonora schob ihrer Freundin die Zeitung hinüber. Doch Irina sah sie skeptisch an. Irgendwas ist doch mit ihr. Leo ist schon die ganzen letzten Tage so abwesend und in Gedanken versunken.   ***   „Was ist denn in den letzten Tagen mit dir los?“ Fiona saß ihrem Bruder beim Abendessen gegenüber und beobachtete, wie er nur in den Nudeln herumstocherte. „Ich habe Leo geküsst.“ „Und es war so schlecht, dass du Trübsal bläst?“, versuchte Fiona die Situation mit Humor aufzulockern. „Sie hat mich zurückgewiesen.“ „Aber ich hätte geschworen, dass sie dich auch mag!“ „Das tut sie auch, sagt sie. Aber sie hat ihren Helfer im Hinterkopf, der vielleicht die Liebe ihres Lebens sein könnte“, erklärte Felix. „Du bist doch ihr Helfer.“ „Das weiß ja aber Leo nicht.“ „Und warum hast du es ihr nicht gesagt? Du bist doch sonst so klug!“, Fiona konnte die Reaktion ihres Bruders nicht nachvollziehen. „Sie hätte es mir in diesem Moment doch sicher nicht geglaubt, sondern gedacht, dass ich es sage, um sie für mich zu gewinnen. … Ich hätte dieses ganze Spiel nicht anfangen sollen.“ „Du bist wieder im falschen Moment zu bescheiden gewesen. Wirst du nochmal mit ihr sprechen und es aufklären?“ „Ich glaube nicht. Wenn sie nicht von sich aus mit mir zusammen sein will, dann…“ „Dann bockst du wie ein kleines Kind?“, ergänzte Fiona seinen Satz. „Nein!“ „Du musst ja nicht mal in dem Sinne um ihre Liebe kämpfen, du musst ihr nur die Wahrheit sagen.“ Fiona sah ihren Bruder eindringlich an, doch er schüttelte nur den Kopf. Resigniert seufzte sie und schob sich einen weiteren Löffel Nudeln in den Mund.     Montag, 17. Juni Leonora schnappte sich sofort die neueste Ausgabe der Campuszeitung und blätterte zu den Kleinanzeigen vor. Sie ging die Anzeigen der Kategorie Herz & Schmerz durch. Hauptsächlich fand man Anzeigen von Männern, die verzweifelt auf der Suche nach einer Frau waren, eine sommerliche Affäre suchten oder Sexphantasien ausleben wollten. Es war aber keine neue Antwort ihres Helfers zu finden. Warum schreibt er mir nicht mehr? War ich zu fordernd mit meiner letzten Anzeige? Leonora war enttäuscht und traurig, aber gleichzeitig auch wütend. Warum spielt er dieses Spiel mit mir? Was soll das nur? Sie knüllte die Zeitung zusammen und warf sie frustriert in den Mülleimer. „Alles klar, Leo?“ Irina war zu ihr getreten. „Warum?“ „Weil du wütend aussiehst.“ „Ach, ich weiß auch nicht. Es gibt keine neue Anzeige meines Helfers…“, antwortete Leonora. „Und…?“ „Was und?“ „Es klang irgendwie nach einem und“, meinte Irina und sah ihre Freundin an. Sie kannten sich erst ein Jahr, aber verstanden sich auch ohne Worte. „Und ich habe es mit Felix versaut“, antwortete Leonora resigniert. „Wie meinst du das?“ „Neulich waren wir zusammen unterwegs. Felix hat mich geküsst, aber ich habe ihn zurückgewiesen.“ „Bist du irre? Es merkt doch ein Blinder, dass du auf ihn stehst! Warum gibst du ihm einen Korb?“ Irina war außer sich. „Der Helfer von der Party war in meinem Kopf.“ „Ach Leo. Der Typ ist ein Held, weil er dir geholfen hat, aber er ist irgendwie ja doch nicht real. Und wenn ich dich hätte wiedersehen wollen, hätte er dir direkt geschrieben und ein Treffen ausgemacht, oder nicht? Du magst Felix und er mag dich, er ist ein toller Kerl. Wie kannst du ihm nur einen Korb geben?“ Leonora verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen. „Ich bin ein Trottel.“ „Das kannst du laut sagen!“, bestätigte Irina, nahm ihre Freundin zum Trost aber in den Arm.   ***   Zum Mittagessen hoffte Leonora, dass auch Felix da sein würde. Doch Elias und Daniel waren wieder nur zu zweit. „Hat Felix etwas zu euch gesagt, warum er nicht da ist?“, fragte sie zerknirscht. „Leidr net“, antwortete Daniel, der ihren traurigen Gesichtsausdruck wahrnahm. „Mir hams salbr net verstandn. Der hot uns immr nochn OC-Seminar ahgedriem, weil dar su schnell wie möchlich hierhar wollt, um euch zu treffen.“ „Weißt du denn etwas?“ „Naja“, druckste Leonora herum. Sie wollte den beiden nicht auch ihr Herz ausschütten. „Wir hatten ein Gespräch, nach dem wir uns nicht im Guten voneinander getrennt haben“, umschrieb sie das Thema. „Oha, des klingt net gut“, Daniel sah sie mitleidig an. „Entschuldigt mich bitte kurz.“ Leonora stand auf und lief Richtung Waschräume. Wie soll ich das nur wieder gut machen? Wie soll ich mich entschuldigen? Felix wird mich doch einfach nur hassen für mein Verhalten. Er war immer so freundlich, so liebevoll, so verständnisvoll mir gegenüber. Ich bin ein Idiot. Wie konnte ich ihn nur so verletzen?   Irina hatte die Tränen in Leonoras Augen schimmern sehen. „Jungs, euch ist doch auch klar, dass Leo und Felix aufeinander stehen, oder?“ „Definitiv“, meinte Elias und Daniel nickte. „Wenn Leo ihm einen Korb gegeben hat, wie groß ist die Chance, dass Felix wieder auf sie zugeht?“ „Wenn der ihr diese un ah schu letzte Woch ausn Weg giht, net su gut“, schätzte Daniel. „Mist. Dann muss ich irgendwie versuchen, sie zum ersten Schritt zu bewegen.“ Irina verzog das Gesicht, sie wusste, dass es schwer werden würde. Leonora schien ihren Fehler zwar einzusehen, aber nun einen Schritt auf Felix zuzugehen, würde ihr nicht leichtfallen, weil sie zu oft nicht an sich selbst glaubte. „Lass uns die beiden doch am Donnerstag auf der FSR-Party zusammenbringen“, schlug Elias vor. „Wir gehen zu dritt und treffen dort zufällig auf euch.“ „Das ist gut. Jörg und Max hatten schon gefragt, ob wir sie begleiten.“ „Dann wäre das geklärt.“ Sie zwinkerten sich verschwörerisch zu, als Leonora wieder an den Tisch trat.     Donnerstag, 20. Juni „Heute verschwindest du aber nicht wieder spurlos, oder?“, Max sah Leonora eindringlich an. „Ich habe es nicht vor, zumal es nicht mit Absicht war.“ „Alles klar. Jeder achtet auf seine Drinks!“ Die zweite Party des Fachschaftsrats Chemie stand an und lud die Studenten auf die große Wiese hinter dem Hörsaalzentrum ein. Es war ein Bierzelt aufgebaut, in dem sich auch die Bar befand. Davor waren mehrere Stehtische hingestellt worden und auch Bierzeltbänke und -tische luden zum Verweilen ein. Ein DJ sorgte bereits für Stimmung und die ersten nutzten einen freien Teil der Wiese als Tanzfläche. Während Irina, Leonora und Max einen Platz suchten, holte Jörg die erste Runde Drinks. Zehn Minuten später stellte er die Becher vor ihnen ab. „Also, die Bar ist gut besucht. Da muss man rechtzeitig vor dem nächsten Durst in der Schlange stehen“, meinte er und setzte sich. „Ich bin dann die nächste, die was holen geht“, bot Leonora sofort an, bevor sie auf den Abend anstießen. „Lasst uns den Abend genießen, bevor in ein paar Tagen die Prüfungszeit anfängt“, meinte Max und nahm einen großen Schluck von seinem Bier. Sie tranken, sie tanzten, sie lachten, hatten einfach Spaß miteinander, vergaßen den Stress der letzten Wochen und dachten nicht an den Lernstress, der folgen würde. Selbst Leonora dachte an diesem Abend nicht an Felix. Irina hingegen sah sich immer wieder um auf der Suche nach dem Kleeblatt. Elias hatte doch geschrieben, dass sie Felix überreden konnten, mit ihnen hierherzugehen. Er hat nur eben keine Uhrzeit dazu geschrieben.   „Hallo Mädels, dürfen wir euch einen Drink spendieren?“ Zwei junge Männer waren zu ihnen an den Stehtisch getreten. Beide hielten je zwei Gläser in der Hand und reichten eins davon an Leonora und Irina weiter. „Danke.“ Die Freundinnen waren überrascht, freuten sich aber über das Angebot. „Wie kommen wir zu dem netten Angebot?“, fragte Irina. „Ihr standet allein herum, wir standen allein herum – warum also nicht gemeinsam herumstehen?“ „Aha“, meinte sie etwas skeptisch. Jörg und Max waren ebenfalls zur Bar und schon eine Weile weg. Wie hätten diese beiden vor ihren Kommilitonen die Getränke bekommen sollen? „Und ihr seid Chemiker oder Chemieingenieure oder Lebensmittelchemiker?“, fragte Leonora. „Lebensmittelchemie ist unser Fach“, meinte der eine. „Ihr seht aus, als würdet ihr Lehrämtler sein“, äußerte sich der andere. „Wie kommst du darauf?“ „Ich weiß auch nicht. Ihr seht so aus, als würdet ihr gern bunt ausmalen und unterstreichen.“ „Hallo?!“, Irina empörte sich sofort. „Ich habe in den Vorlesungen auch schon Chemiker gesehen, die das machen!“ „Oha, da haben wir wohl einen wunden Punkt getroffen.“ „Eher ein Vorurteil“, erwiderte Leonora. „Das wir zugegebenermaßen selbst auch für die Grundschullehrer benutzen.“ Sie grinste und auch Irina lachte nun mit. Die beiden Männer griffen nach ihren Gläsern und hielten sie den Mädels hin, weshalb auch Irina und Leonora ihr Glas aufnahmen. Es klirrte, als sie sich zuprosteten. Leonora wollte das Glas zum Mund führen und den ersten Schluck nehmen, als es ihr aus der Hand gerissen wurde. „Was?!“, Leonora drehte sich herum. „Felix, was soll das?“, fragte sie, als er den Inhalt des Glases fast vollständig auf den Rasen schüttete. „Scheiße Leo, das ist eine Falle! Das ist der Typ, der dir auf der letzten Party das Rohypnol gegeben hat!“ Leonora sah fassungslos von Felix zu dem jungen Mann neben ihr. Dieser funkelte Felix wütend an. „Du versaust mir schon wieder die Tour“, brachte er hervor, bevor er mit seinem Freund in den Menschenmassen verschwand. Elias und Daniel traten zu der kleinen Gruppe. „Hast du alles drauf?“, wandte sich Felix an Elias, ohne weiter auf Leonora zu achten. „Ja, habe ich“, antwortete Elias und wedelte mit seinem Handy in der Hand herum. „Gut, dann müssen wir nur noch den Rest des Drinks zur Analyse aufbewahren und bei der Polizei abliefern.“ Er stellte den Becher, den er Leonora abgenommen hatte, auf den Stehtisch und zog ein kleines Glas, das im Labor zur Aufbewahrung von Flüssigkeiten genutzt wurde, aus der Tasche. Elias filmte nun, wie Felix den Rest des Drinks in das Glas goss und verschloss. Max und Jörg traten nun ebenfalls an den Tisch, sie hatten an der Bar erfolgreich ihre Bestellung aufgeben können. „Was ist denn hier los?“ Verwirrt sahen sie in die Runde. „Mir sammeln Beweise gegn den Typ, der auf Partys Frauen mit k.o.-Tropfen willenlos macht und se dann vergewaltigt“, fasste Daniel ihre Taten zusammen. „Bitte was?!“, Max sah sie mit großen Augen an. „Mir standn vorhin in dr Nähe der Typn, die dr Leo auf dr letztn Party das Rohypnol gahm hattn. Die ham sich über ihre Ruhmestaten“, das letzte Wort setzte Daniel mit Zeige- und Mittelfinger beider Hände in Anführungszeichen, „auf den letztn Feiern unterhaltn. Auf dr Suche nach nem neun Opfer ham se Leo wiedererkannt un sich drüber unterhaltn, dass se ja nu ne zweite Chance bei ihr hättn. Se besorgtn sich de Drinks, versetzten se mit de Troppn und warteten dann drauf, dass de Mädels alla warn. Dann kamn se zu denne hie un gabn denne quasi de Drinks aus.“ „Oh man“, sagte Irina und kratzte sich an der Stirn. „Etwas misstrauisch war ich auch, weil sie meinten, sie wollten uns den Drink ausgeben, weil wir allein dastanden. Das hieß, dass sie nach Jörg und Max zur Bar gemusst hätten, jedoch vor ihnen zurück waren. Aber am Ende habe ich mir doch nichts dabei gedacht.“ „Während Elias alles heimlich filmte, organisierte iich en Probenapp ausm Labor. Einer dr Doktorandn, den mir von OC kenne, saß noch in seim Büro und konnt mr halfn“, berichtete Daniel weiter. „Dann wart ihr also auf der letzten Party auch schon Leos Retter?“, wollte Max wissen. „Nein, das war allein Felix. Er hat uns vorhin auch erst davon erzählt, als wir dem Gespräch der Typen lauschten“, meinte Elias und klopfte seinem Freund anerkennend auf die Schulter. „Leo, damit ist das Geheimnis deines Helfers gelüftet“, Irina drehte sich zur Seite, doch ihre Freundin stand nicht mehr neben ihr. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, doch Leonora war nirgends zu sehen. „Wo ist sie hin?“ „Keine Ahnung.“ „Ich habe auch nicht auf sie geachtet“, gab Jörg zu. „Sucht ihr auf dem Gelände nach ihr“, wies Felix an, „und ruft mich an, wenn ihr sie gefunden habt. Ich laufe zu ihrer Wohnung, vielleicht ist sie nach Hause gegangen.“ „Alles klar.“ Felix drängelte sich zwischen den Partygästen hindurch und lief dann mit schnellen Schritten Richtung Fritz-Förster-Platz. Von hier aus fuhr die Buslinie 66 Richtung Reichenbachstraße, in der Leonoras Studentenwohnheim lag. An der Bushaltestelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite konnte er sie nicht entdecken, weshalb er der Bergstraße weiter Richtung Innenstadt folgte. Verdammt Leo, du kannst doch nicht einfach wortlos verschwinden! Was ist, wenn dir die Typen doch noch auflauern? Seine Schritte wurden immer schneller und er verfiel ins Rennen. Als die Straße einen Knick machte und nahtlos in die Fritz-Löffler-Straße überging, entdeckte er Leonora einige hundert Meter vor sich. Gott sei Dank, da ist sie. Er rannte weiter, um sie so schnell wie möglich zu erreichen. Erst einige Meter hinter ihr wurde Felix langsamer und versuchte wieder zu Atem zu kommen.   „Leo, warte mal,“ er hielt sie am Handgelenk fest und sie blieb stehen, drehte sich jedoch nicht zu ihm um. Ihr Kopf war gesenkt, als er sie wieder losließ und sich vor sie stellte. „Leo, warum bist du einfach gegangen?“ Sie sah ihn schweigend an und im Licht der Straßenlaternen sah er, dass ihr Gesicht tränennass war. „Oh Leo“, seine Hand griff nach ihrer Wange und mit dem Daumen wischte er die Tränen weg. „Du brauchst doch nicht weinen.“ „Ich bin schon wieder auf sie hereingefallen. Wieso bin ich so naiv?“ „Weil du an das Gute im Menschen glaubst. Du bist nicht davon ausgegangen, dass sie dir etwas Schlechtes wollen und hast dich auf ein Gespräch und einen Drink mit ihnen eingelassen.“ Felix sah sie aufmunternd an, sein Daumen streichelte immer noch über ihre Wange, auch wenn keine Tränen mehr da waren. „Daran gibt es wirklich nichts auszusetzen.“ „Scheinbar ja doch…“ Sie standen dicht beieinander. Leonora nahm seinen Geruch wahr und wurde an die Nacht Anfang April erinnert. „Warum hast du mir nicht einfach gesagt, dass du mir damals geholfen hast?“, fragte sie. „Ich weiß nicht. Es hat mich überrascht, dass ich dich so schnell wiedergesehen habe, aber auch gefreut, dass es dir gut geht. Ich wollte dich gern kennenlernen und dass ihr Hilfe bei AC brauchtet, war wie ein Wink des Schicksals für mich. Ich musste euch einfach ansprechen. Aber ich konnte dir ja nicht einfach sagen, hey, ich habe dir übrigens letzte Woche geholfen, als du willenlos durch die k.o.-Tropfen warst. Das hätte sich doch total blöd angehört.“ Felix hatte sein Streicheln eingestellt und seine Hand sinken lassen. „Aber warum hast du mir dann auf die Anzeigen geantwortet?“ Leonoras Blick war seiner Hand gefolgt und sah, wie seine Finger nervös auf seinen Handballen klopften. „Auf deine erste Anzeige hatte ich da schon reagiert und als ich gesehen habe, wie du auf meine Antwort immer wieder einen Blick geworfen und gelächelt hast, wollte ich einfach damit weitermachen. Es war dumm von mir, ich weiß.“ Der Versuch eines Lächelns war auf seinem Gesicht zu erkennen. „Ich muss mich bei dir entschuldigen.“ „Nein.“ Felix sah sie überrascht an. „Warum nicht?“ „Weil du nichts falsch gemacht hast! Du hast mich zwei Mal gerettet. Ich muss mich dafür bedanken.“ Sie sah ihn direkt an, neue Tränen sammelten sich in ihren Augen, doch sie sprach weiter. „Und ich bin diejenige, die sich entschuldigen muss. Ich habe dir wehgetan, weil ich der romantischen Vorstellung eines Unbekannten hinterherhing. Und dabei warst du direkt vor meiner Nase. Es tut mir leid, dass ich alles kaputt gemacht habe.“ „Du hast doch nichts kaputt gemacht“, warf Felix sofort ein. „Du hast uns nur ein paar gemeinsame Wochen gestohlen.“ „Heißt das, du magst mich noch?“, ihr ängstlicher Blick traf seinen freundlichen. „Wie könnte ich dich denn nicht mehr mögen? Du bist doch schließlich ein Hase und jeder mag Hasen.“ Felix grinste sie an und sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck entspannte. Ihre Mundwinkel zuckten und zeigten gleich darauf ein strahlendes Lächeln, das auch die verweinten Augen erreichte. „Darf ich dich denn heute küssen?“ Leonora nickte nur lachend und schlang dann ihre Arme um ihn. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)