Wenn die Chemie stimmt von Atina ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Donnerstag, 25. April Leonora säuberte die benutzten Erlenmeyerkolben, Pipetten und Uhrgläser, trocknete sie provisorisch ab und räumte sie in ihren Schrank. Sie verschloss diesen und legte den Schlüssel in die dafür vorgesehene Schachtel, die die Laborassistentin am Ende des Labortages in ihr Büro mitnehmen würde. Erledigt aber glücklich lief sie zum Ausgang. Leonora stieß die Tür auf, nahm die Schutzbrille ab und steuerte auf ihren Spind zu. Am Fenster stand ein junger Mann mit dem Rücken zu ihr, sie achtete nicht weiter auf ihn. Sie öffnete das Vorhängeschloss und holte ihre Tasche heraus. „Du siehst im Kittel richtig erwachsen aus.“ Leonora schreckte auf. „Felix, was machst du denn hier?“ Der Braunhaarige lehnte an ihrer offenen Spindtür. „Ich dachte, ich schau mal, wie es beim Laborpraktikum läuft, nachdem ihr immer so schöne Tipps von mir bekommt.“ „Und woher wusstest du, wo und wann ich im Labor bin?“ „Im Internet findet man ziemlich viele Informationen, auch die Stundenpläne der Chemie-Lehrämtler.“ „Heißt das, dass du seit halb drei hier wartest?“ „Ja.“ Sie sah auf die Uhr, es war kurz nach 16 Uhr. Es kam oft vor, dass die Studenten länger als vorgesehen im Labor waren, nur so schafften sie ihre Experimente. Sie musste schmunzeln. „Und was hast du jetzt vor?“ „Wie wäre es, wenn ich dich zu einem verspäteten Mittagessen einladen würde?“, fragte Felix. „Hunger hätte ich schon, aber das mit dem Einladen lassen wir lieber.“ Leonora zog den Kittel aus, hängte ihn in den Spind und schloss die Tür. Sie gingen in die Alte Mensa, die länger als bis 15 Uhr geöffnet hatte. Zudem lag sie direkt an der Straße hinter dem Neubau der Chemie, in dem das Praktikum stattfand. „Wie lief denn nun der Versuch?“ „Wie du gemerkt hast, länger als geplant, aber an sich gut. Ich habe lieber ein paar Titrierversuche mehr gemacht, weil ein, zwei Werte nicht in die Reihe passten, aber am Ende hat es sich gelohnt und wurde mit einer Eins bewertet.“ „Glückwunsch! Ich habe damals glaub 3 Notenpunkte Abzug bekommen.“ „Geht es dir auch so, dass du dich nach den Praktika immer so fühlst, als hättest du in Chemikalien gebadet? Egal, wie oft man sich die Hände wäscht, man riecht doch noch nach Labor. Erst nach dem Duschen und dem Waschen der Kleidung geht es. Kennst du das?“ „So richtig habe ich darüber bisher nicht nachgedacht, aber du könntest recht haben.“ Felix legte die Stirn in Falten. „Hmmm, stimmt. Ich bin auch froh, wenn ich aus den Klamotten bin und duschen gehen kann.“  Sie liefen die Stufen zur Alten Mensa hinauf und wählten ihr spätes Mittagessen aus. Mit den Tabletts, auf denen das Essen und ein Getränkebecher standen, liefen sie in einen der Speisesäle. „Obwohl alle Mensen vom gleichen Betreiber sind, muss ich doch sagen, dass die Alte Mensa die beste ist“, meinte Felix und fuhr mit dem letzten Fleischstück durch die Soße. „Das ist wohl wahr. Die TU steht im Mensaranking deutschlandweit auf Platz 3“, erzählte Leonora. „Ich recherchiere ab und zu nach solchen Sachen, eigentlich unwichtig, ich weiß“, erklärte sie nach Felix‘ fragenden Blick. „Ich habe auch mal in einer Zeitschrift zehn Fragen gelesen, deren Beantwortung einem mehr über neue Bekanntschaften verraten soll. An eine kann ich mich allerdings nur noch erinnern – welches Tier wärst du?“ „Oh, mit so etwas habe ich jetzt nicht gerechnet“, meinte Felix. „Vielleicht kannst du erst dein Tier nennen, damit ich noch Zeit zum Überlegen habe.“ „Aber nicht lachen!“ „Das würde ich mir nie wagen“, hob er abwehrend die Hände. „Montag hat dich das auch nicht abgehalten.“ „Okay, du hast recht. Ich verspreche, nicht zu lachen.“ „Na gut. Ich würde mich als Hasen beschreiben“, sagte Leonora und schaute Felix kurz an, wartete auf ein Lachen oder Grinsen, doch er sah sie nur erwartungsvoll an. „Vor allem durch mein chinesisches Tierkreiszeichen. Dort werden Hasen als geduldig, sanftmütig, verantwortungsvoll, romantisch und freundlich beschrieben. Aber auch als vorsichtig, wodurch gelegentlich gute Chancen vertan werden. Ich erkenne mich relativ gut in dieser Beschreibung wieder.“ „Freundlich und sanftmütig kann ich bisher bestätigen“, meinte Felix lächelnd. „Die restlichen Eigenschaften werde ich hoffentlich im Laufe der Zeit kennenlernen können.“ „Und? Hast du ein passendes Tier für dich gefunden?“ „Ich denke schon. Vermutlich passt ein Schäferhund ganz gut zu mir.“ Leonora schmunzelte, sie mochte Hunde im Allgemeinen. „Warum?“ „Schäferhunde sind familienfreundlich, sie sind treu und passen auf ihre Herrchen auf. Ich habe jetzt natürlich kein Herrchen, aber ich bin immer für meine Familie da und würde alles für sie tun. Und nicht nur für meine Familie, auch für Freunde und Bekannte“, erklärte Felix seine Entscheidung. „Stark sind sie ebenfalls.“ „Das sind schöne Eigenschaften. Und laut den Chinesen harmonieren Hunde und Hasen miteinander, auch wenn du natürlich kein Hund im Tierkreiszeichen bist.“ Leonora sah ihn lächelnd an und als er sie ebenfalls mit einem strahlenden Lächeln ansah, senkte sie verlegen den Blick und nahm einen Schluck von ihrer Cola. „Was ich schon wieder für einen Quatsch erzähle… entschuldige.“ „Ich finde es charmant.“ Felix sah sie immer noch lächelnd an und Leonoras Wangen färbten sich rosa. „Was hast du heute noch vor?“, fragte er dann, um das verlegene Schweigen zu brechen. „Oh, nichts Spannendes. Ich wollte noch an meiner Hausarbeit schreiben.“ „Worum geht es?“ „Ich habe für Erziehungswissenschaften eine Methodenwerkstatt belegt. Es geht um Bildung für nachhaltige Entwicklung und mein zugelostes Thema lautet Nachhaltigkeit – Begriffsfindung. Ist nicht das schönste Thema, aber doch irgendwie interessant, was heute in den Medien alles als nachhaltig bezeichnet wird und wofür der Begriff ursprünglich stand.“ „Meine Seminararbeit in der Oberstufe hat sich mit Biokunststoffen beschäftigt, für den Theorieteil hatte ich mir auch ein Buch über das Thema Nachhaltigkeit zugelegt. Wenn du möchtest, kann ich es dir mitbringen.“ „Sehr gern. Ich nehme jede Hilfe, die ich bekommen kann“, antwortete Leonora freudig. „Kein Problem“, Felix sah auf die Uhr. „Wenn du noch einen Moment Zeit hast, kannst du es auch gleich bekommen. Ich wohne hier um die Ecke.“ „Ähm, okay.“ „Dann mal los.“ Sie brachten die Tabletts zur Geschirrrückgabe und liefen dann nebeneinander Richtung Nöthnitzer Straße. „Chemie war schon in der Schule dein Lieblingsfach?“ „Ja, es hat mich schon seit der ersten Stunde fasziniert und ich habe alle möglichen Dokus im Fernsehen geschaut. Schließlich ist alles chemisch“, seine Augen glänzten beim Erzählen. „Die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, die Lebensmittel, die wir zu uns nehmen.“ „Siehst du alles mit einem chemischen Blick?“ „Meistens, doch nicht immer. Ich weiß, dass die Maillard-Reaktion abläuft, wenn ich ein Steak knusprig brate, aber trotzdem kann ich es hinterher genießen und denke dabei nicht an die Reaktionen, die dafür abgelaufen sind.“ „Na, da bin ich ja beruhigt. Es wäre doch schade, wenn man alle Gefühle, die man so zeigt, nur als Zusammenspiel der Hormone sehen würde“, meinte Leonora. „An welche Gefühle denkst du dabei?“ „Ähm, naja, zum Beispiel verliebt sein. Der Körper produziert mehr Dopamin, den Neurotransmitter, der auch als Glückshormon bezeichnet wird. Man ist glücklich, wenn man den Partner sieht. Aber auch Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet, man wird impulsiver und die Konzentration wird gestört. Nicht umsonst sagt man bei versalzenem Essen, dass der Koch verliebt war, oder?“ Leonora sah zu Felix und nahm sein Nicken wahr. „Wir wissen, was beim Verliebt sein abläuft, es ist doch aber trotzdem viel schöner, dieses Gefühl zu genießen und nicht chemisch zu analysieren.“ „Du hast schon recht. Nur weil wir etwas erklären können, heißt es nicht, dass wir es immer tun sollten.“ Er schmunzelte. „Bist du denn gerade verliebt?“ „Was?!“, erschrocken sah sie ihn an. „Nein, ja… ach, es war doch nur ein Beispiel.“ „Ganz ruhig, Kleine. Ich habe doch nur ganz allgemein gefragt“, sagte Felix und musste bei ihrer Reaktion grinsen. Sie war wieder rot angelaufen. „Wie machst du das immer? Du bringst mich ständig in Verlegenheit.“ „Das ist wirklich nicht meine Absicht“, beteuerte Felix. „Dann muss ich dir das wohl glauben.“ „So, da wären wir.“ Sie standen vor einem Wohngebäude, das mehrere Wohnungen beherbergte. Felix zog seinen Schlüssel aus der Hosentasche, öffnete die Haustür und sie stiegen die Treppen in den zweiten Stock hinauf. „Ich bin gleich wieder da“, meinte Felix, nachdem er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte und verschwand in einem der Zimmer. Leonora blieb im Türrahmen stehen und betrachtete die Einrichtung des Flurs. Die Wände waren weiß gehalten, nur die lange Wand ohne Tür war mit einer dunklen, orangefarbigen Tapete eingekleidet, die ein Muster aus weißen Ästen schmückte. Als Garderobe diente ein bearbeiteter dicker Ast, daneben stand noch ein Schrank, in dem die Schuhe aufbewahrt wurden wie es schien. Wow, echt schick hier. Hätte ich Felix gar nicht zugetraut. „Ich habe es!“, mit dem Buch in der Hand schwenkend kam Felix zurück in den Flur. „Sehr schön. Vielen Dank.“ Leonora nahm das Buch entgegen und verstaute es gleich in ihrem Rucksack. „Ich werde es dir so schnell wie möglich zurückgeben.“ „Ach, keine Eile.“ „Okay. Danke schön für die nette Gesellschaft heute Nachmittag“, begann Leonora sich zu verabschieden. Auch wenn sie sich eigentlich ungern verabschieden wollte. Doch die Vorstellung hereingebeten zu werden, wäre vermessen gewesen.   „Gern geschehen“, Felix hatte die Hände in seine hinteren Hosentaschen gesteckt. „Dann möchte ich deine Zeit nicht weiter beanspruchen und wünsche dir noch einen schönen Abend.“ „Danke. Dir auch und viel Erfolg für die Hausarbeit.“   Es war eine merkwürdige Situation, in der beide nicht so richtig wussten, wie sie sich verhalten sollten. Leonora war gerade dabei, sich zum Gehen zu wenden, als Felix einen Schritt auf sie zumachte und sie unbeholfen umarmte. „Wir sehen uns dann am Montag.“ „Ja, bis dann“, Leonora hob die Hand zu einem Winken und lief die Stufen herunter. Felix schloss die Wohnungstür und lehnte sich von innen gegen sie. Ich bin so ein Trottel. Das kann ich doch eigentlich besser. Er seufzte kopfschüttelnd. „Mit wem hast du gesprochen?“ „Fiona, erschrick mich doch nicht so!“, dramatisch hielt sich Felix die Hand aufs Herz und stellte einen Herzinfarkt nach. „Tu mal nicht so, Bruderherz. Also, mit wem hast du gesprochen?“ „Mit Leonora.“ „Aha. Und weiter?“, seine Schwester sah ihn fragend an. „Ich kenne Leo aus der Mensa, sie studiert Chemie auf Lehramt im zweiten Semester und ich habe ihr mit einem Problem beim Laborpraktikum geholfen.“ „Das heißt, du hast dich wieder mal in fremde Angelegenheiten eingemischt, weil du klugscheißen wolltest“, analysierte sie die Situation. „Nein, ja, beides irgendwie. Es ist kompliziert.“ Fiona hob fragend eine Augenbraue, ging aber nicht weiter auf seine Aussage ein. „Okay. Du wirst schon wissen, was du tust. Was gibt es heute zum Abendessen?“ „Eigentlich war ich eben mit Leo in der Mensa.“ „Was?! Wir wollten doch gemeinsam kochen“, erwiderte Fiona bestürzt. „Entschuldige. Ich habe einfach nicht mehr dran gedacht.“ „Ja, ja, und ich weiß auch, warum.“ Sie streckte ihm die Zunge heraus und verschwand in der Küche.   Leonora war in der Zwischenzeit an der Haltestelle angekommen. Es waren zwar nur zwei Haltestellen, die sie fahren wollte, aber sie war geschafft vom langen Tag im Labor und wollte nicht mehr laufen. Irgendwie war das eben komisch. Sie schüttelte den Kopf, um sich von dem Gedanken zu befreien. Aber es war echt süß, dass er auf mich gewartet hat. Ich mag ihn wirklich von Treffen zu Treffen mehr. Sie lächelte in sich hinein und stieg dann in die haltende Bahn ein. Zuhause angekommen setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Sie sah die ausgeschnittenen Anzeigen aus der caz neben ihrem Laptop liegen und bekam ein schlechtes Gewissen. Wie kann ich mein Herz für Felix öffnen, wo es doch eigentlich meinem Helfer gehören sollte? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)