Heart-Shaped Scar von Votani (Gray x Lucy) ================================================================================ Kapitel 1: Heart-Shaped Scar ---------------------------- 1 Lucy konnte sich nicht daran erinnern, dass das lange Brett in der Gildenhalle jemals im Winter von oben bis unten mit Aufträgen bestickt gewesen war. Für gewöhnlich war es das höchstens im Sommer, während im Winter alles ein wenig einzuschlafen schien, sobald die Temperaturen sanken und der erste Schnee des Jahres fiel. Wie sollte man sich bei all diesen Aufträgen für einen entscheiden? Nachdenklich tippte Lucy sich mit dem Zeigefinger gegen die Unterlippe, als ihre Augen über die Flugblätter glitten. Es musste ein einfacher Auftrag sein. Einen, den sie allein ausführen konnte und der ihr genügend Geld einbrachte, damit sie ihre Miete bezahlen konnte. „Lu-chan!“ Bei dem erstickten Ausruf fuhr Lucy herum. Er stammte von Levy, die in einem dicken Wintermantel mit einem flauschigen Schal gehüllt war, der ihr fast bis zur geröteten Nase hinaufreichte. „Levy-chan“, begrüßte Lucy sie, als ihre Freundin zwischen den Tischen der Gildenhalle auf sie zukam. „Alles in Ordnung? Du siehst blass aus.“ „Es ist nichts Schlimmes. Nur eine Erkältung", winkte Levy ab, bevor ihre trüben Augen an Lucy vorbeiwanderten und sich an das Brett hefteten. „Suchst du nach einem Auftrag?" „Äh, ja, aber ich habe mich noch nicht entschieden“, gestand Lucy und wandte sich ebenfalls dem Brett zu. Sie deutete zunächst auf eines der Flugblätter, dann auf ein zweites. „Ich könnte Kräuter sammeln gehen, aber der Auftrag bringt nicht genug Geld ein. Oder Hunde ausführen, aber die Stadt ist furchtbar weit weg.“ Keiner dieser Aufträge passte zu ihr oder sprach sie genügend an. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Natsu, Happy, Erza und Wendy fehlten, da diese unerwartet ihre eigenen Aufträge erledigten. Lucy konnte sich nicht an das letzte Mal erinnern, als sie nicht alle gemeinsam aufgebrochen waren. Ein Seufzen lag auf Lucys Lippen und Levys Hand legte sich auf ihren Arm, als hätte diese ihre Gedanken gelesen. „Ich habe vielleicht den passenden Auftrag für dich“, sagte Levy, bevor sie an Lucy vorbeitrat und einen Zettel, der halb unter anderen begraben war, vom Brett zog. „Hier. Zumindest würde ich mich freuen, wenn du ihn an meiner Stelle annehmen würdest, Lu-chan.“ An ihrer Stelle? Lucy nahm das Flugblatt entgegen und ließ die Augen über die Aufschrift wandern. „Einen Schneehasen einfangen?“ „Ich habe schon mal etwas für die Besitzerin erledigt“, erklärte Levy mit verstopfter Nase. „Sie ist eine kleine, alte Frau, die abseits lebt und nur selten in die Stadt geht. Damals habe ich ein paar Besorgungen für sie erlebt, ihr etwas Gesellschaft geleistet und einen kleinen Zauber für sie angelegt.“ Levy lächelte sanft. „Ich denke, sie war etwas einsam.“ „Na ja, gerade bei der kalten Jahreszeit geschieht das oft, nehme ich an“, sagte Lucy und dachte gleichzeitig an all die Winter zurück, in denen sie die traurigen Gedanken und Erinnerungen an ihre Eltern heimgesucht hatten. Im Winter vermisste sie ihre Mutter stets am meisten und bereute ebenso, dass ihre Beziehung mit ihrem Vater zerbrochen war und sie diese vor seinem Tod nicht hatte reparieren können. „Okay, ich werde den Auftrag erledigen!“, verkündete Lucy. Ihre Hand schloss sich so fest um den Zettel, dass das Papier zerknitterte. „Welchen Auftrag wirst du erledigen?“, ertönte eine raue Stimme hinter ihnen. Im nächsten Moment stand Gray bereits an ihrer Seite und schielte über Lucys Schulter hinweg auf das Flugblatt hinab. „Gray, du bist zurück“, entwich es Lucy überrascht. „Ja, na ja." Gray zuckte mit den Schultern. „Ohne Natsu und seiner Übelkeit lässt es sich schneller reisen. Juvia wollte zwar noch einige Zwischenstopps einlegen, aber mit dem ganzen Schnee waren wir froh, dass der Zug überhaupt bis hierher gefahren ist. Was ist das nun für ein Auftrag?“ Gray entzog Lucy das Flugblatt, um es sich durchlesen zu können. „Das Preisgeld, um den Schneehasen zu seiner Besitzerin zurückzubringen, reicht mehr als genug, um die Miete für diesen Monat zusammenzubekommen“, verkündete Lucy. „Ich verstehe immer noch nicht, warum du nicht einfach auch hier im Gildenhaus einziehst“, murmelte Gray, doch Lucy hatte keine Lust, um wieder in endlose Erklärungen zu versinken, angefangen damit, dass es nett war, einen eigenen und halbwegs privaten Ort zu haben. Vorausgesetzt, dass Natsu und Happy nicht bei ihr einbrachen und es sich dort gemütlich machten. Levy zog ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Lu-chan, du solltest wissen, dass—" „Levy, da bist du ja!“, rief Gajeel quer durch den Raum, als er durch die breiten Eingangstüren der Gilde trat. Sein Ruf zog die Blicke sämtlicher Leute auf sich und Levys Wangen nahmen einen Rotstich an, als er auf sie zumarschierte. Gajeels Handfläche presste sich sogleich an Levys Stirn und nahm sie komplett ein. „Du brennst ja ab“, stellte er fest, die dichten Brauen zusammengezogen. „Was machst du auf den Beinen? Du gehörst immer noch ins Bett!“ „Aber, Gajeel“, entwich es Levy. „Ich kann doch nicht den ganzen Tag im Bett verbringen. Ich wollte nur—“ Doch da packte Gajeel bereits ihr Handgelenk, um sie hinter sich herzuziehen, direkt die Treppe zu den Mädchenschlafzimmern hinauf. „Lu-chan“, rief Levy über ihre Schulter zurück. „Wir sehen uns, wenn du zurück bist. Viel Glück!“ Mit einem schmalen Lächeln hob Lucy die Hand. „In Ordnung, danke.“ Die beiden gaben ein süßes Paar ab, auch wenn sie offiziell nicht zugaben, dass sie eines waren. Doch obgleich Gajeels oftmals schroffer Art erkannte man auf den ersten Blick, dass er um Levy besorgt war. Das Flugblatt nahm ihr die Sicht auf die Treppe, auf der Gajeel und Levy verschwunden waren, als Gray ihr das Papier direkt vor die Augen hielt. „Ich werde dich begleiten.“ Lucy zuckte zusammen. „Huh?“ „Was 'huh'?“ „Ich meine nur... Bist du nicht müde? Du bist doch gerade erst von einem Auftrag zurückgekehrt“, stammelte Lucy, obwohl sich ein warmes Gefühl in ihrem Bauch ausbreitete. Sie würde gern Begleitung haben, anstatt allein loszuziehen. Gray hob eine Augenbraue und legte den Kopf schief. „Na und? Ich glaube nicht, dass du lieber allein gehen möchtest.“ Lucy zuckte ertappt zusammen und kratzte sich verlegen am Hinterkopf, bevor sie ihm das Blatt abnahm. „Aber nur weil du es bist“, murmelte sie. „Mehr als ein Viertel des Gelds kriegst du aber nicht, sonst reicht es nicht mehr für die Miete.“ „Dann werde ich auch nur ein Viertel von der Arbeit tun“, meinte Gray und wandte sich ab, um zum Tresen zu schlendern, an dem Mirajane Gläser schrubbte. 2 Lucy wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber bei der Menge an Belohnung für einen solch simplen Auftrag, hätte es ihr eigentlich klar sein müssen: Die alte Dame, von der Levy ihr erzählt hatte, war stinkreich. „Das ist ja ein halbes Schloss“, echote Gray ihren Gedanken, als sie vor dem riesigen Tor zum Stehen kamen, welches auf ein weitläufiges Gelände führte. Es besaß einen ordentlichen Garten, in dem jeder nun mit Schnee bedeckter Busch und Baum künstlerisch gestutzt war, und ein Anwesen, das aus weißem Gestein gebaut war und sich mit spitzen Dächern in den blauen Himmel erhob und doch gleichzeitig am Boden mit dem Schnee zu verschmelzen schien. „Und so jemand muss Magier anheuern, um ihren Schneehasen wieder einzufangen?“, wunderte sich Lucy. Man sollte schließlich meinen, dass so eine Frau genügend Bedienstete einstellte, um diese loszuschicken. Es würde Lucy nicht einmal wundern, wenn sie sogar Bedienstete hatte, die sich ausschließlich um ihr geliebtes Haustier kümmerten. Der Anblick des prachtvollen Hauses erinnerte Lucy unwillkürlich an ihr eigenes, welches sie schon vor Jahren zurückgelassen hatte. „Lass uns gehen, Gray“, verkündete Lucy, um sich von ihrem Gedanken abzulenken. Sie ergriff die Führung, den Riemen ihres Rucksacks fester um ihre Schultern ziehend, als Gray ihr folgte. An der Eingangstür wartete bereits einer der Bediensteten auf sie. Er musste sie durch das Fenster gesehen haben. Mit einer schwingenden Armbewegung bat er sie hinein. „Concord-sama nimmt gerade ihren Tee im Wintergarten zu sich. Hier entlang“, wurden sie begrüßt, bevor der Bedienstete sie bereits an der steinernen Treppe entlang durch die Eingangshalle führte. Der Wintergarten bestand aus einem gläsernen Raum im hinteren Teil des Anwesens, der mit allerlei Pflanzen dekoriert war, die in bunten Töpfen steckten. In seiner Mitte befand sich ein niedriger Tisch mit einigen bequemen Sesseln. Einer von ihnen war von einer rundlichen Frau besetzt, die gerade ihre Teetasse an die Lippen führte. Als sie Lucy und Gray ins Auge fasste, setzte sie sich so erfreut auf, dass sie fast ihren Tee verschüttete. „Gäste! Bernard, warum hast du mir nicht Bescheid gegeben? Bring mehr Tassen.“ „Sofort, Concord-sama.“ Lucy zwang sich ein Lächeln auf. „Wir sind wegen dem Auftrag hier“, begann sie und holte das Flugblatt aus der Tasche ihres Mantels. Sie faltete es behutsam auseinander, damit die Frau die Aufschrift darauf wiedererkennen konnte. „Oh, wunderbar! Das ist einfach wunderbar“, entwich es ihr. „Setzt euch. Ihr habt sicher eine lange Reise hinter euch. Ist euch kalt?“ Sie sah sich in ihrem prachtvollen Wintergarten um, als suchte sie nach etwas Bestimmten. „Hier ist es nicht allzu warm. Sollen wir hineingehen und uns an den Kamin setzen?“ Lucy wedelte mit den behandschuhten Händen. „Nein, das ist nicht nötig. Ein wenig Tee wird schon ausreichen.“ „Mir kann die Kälte ohnehin nicht wirklich etwas anhaben“, sagte Gray und zuckte leger mit den Schultern, bevor sie auf den Sesseln Platz nahmen. Bernard kehrte derweil mit einem kleinen Tablett und zwei Tassen zurück, in denen eine klare Flüssigkeit dampfte. Er reichte eine an Gray und eine an Lucy weiter, bevor er den Wintergarten wieder verließ. „Ich bin so froh, dass ihr gekommen seid“, verkündete Madam Concord und lehnte sich vor, um ihnen den Teller mit dem Gebäck, der in der Mitte des Tisches ruhte, näher heran zu schieben. Ein prunkvoller Silberring zierte ihren Finger, welches das einzige Schmuckstück darstellte, das sie trug. „Ich habe gehofft, dass jemand aus Fairy Tail mir helfen wird, meinen geliebten Silber wiederzufinden. Am liebsten wäre mir ja Levy gewesen. Sie war zu beschäftigt?“ „Wohl eher krank“, brummte Gray. Madam Concord zog besorgt die Luft ein, woraufhin Lucy rasch eine Hand hob, um der Sorge der alten Dame im Keim zu ersticken. „Es ist nichts Schlimmes. Nur eine Erkältung“, versicherte sie ihr. „Ich bin sicher, dass es ihr bereits besser geht, wenn wir... ähm, Silber gefunden und heil nach Hause gebracht haben.“ Dies schien das Herz der Frau zu erwärmen und ihre Augen nahmen einen verdächtig wässrigen Ausdruck an. „Das wäre schön.“ „Wie lange ist Silber schon verschwunden?“, fragte Gray, anstatt sich weiterhin mit unnötigen Gefühlsduseleien zu beschäftigen, während er seine Tasse zurück auf den Tisch stellte und sich dafür einen Keks in den Mund schob. „Ungefähr zwei Wochen dürften seitdem vergangen sein“, mutmaßte Madam Concord und nippte an ihrem Tee. „Es ist nicht das erste Mal, dass Silber aus dem Haus entwischt. Er liebt seine Freiheit, auch wenn er nicht einsehen möchte, dass diese gefährlich sein kann. Ganz besonders für ein besonderes, kleines Häschen wie ihm.“ Sie presste die Hand, die nicht ihre Tasse hielt, gegen ihren Brustkorb, direkt über dem Platz, an dem sich ihr Herz befand. „Bitte bringt ihn heil wieder zu mir zurück, ja?“ „Wir werden unser Bestes geben“, meinte Lucy, obwohl ihr zwei Wochen wie eine sehr lange Zeit vorkam. „Gibt es irgendein Merkmal, wodurch er sich von den wilden Schneehasen unterscheidet? Oder haben Sie Silber in der Nähe des Anwesens gesehen? Vielleicht einer der Bediensteten?“ Ansonsten würde die Suche immerhin endlos dauern, wenn sie die Wälder rund um das Anwesen nach einem einzigen Hasen absuchen mussten. Und woher sollten sie überhaupt einen Schneehasen unter all den Wildhasen herauserkennen? Wer wusste schon, wie viele Schneehasen dort draußen in der Wildnis herumliefen. Umso länger Lucy über den Auftrag nachdachte, umso weniger wirkte er wie ein leichtes Unterfangen. Worauf hatte sie sich bloß eingelassen? „Gelegentlich taucht er auf, doch sobald er gesehen wird, nimmt der kleine Schlingel wieder die Beine in die Hand“, erklärte ihnen die alte Dame und schien halb in ihren eigenen Tagträumen versunken. „Jeden Abend legt Bernard ein paar frische Salatblätter in einer Ecke auf dem Hof, die jeden Morgen von Silber aufgegessen worden sind.“ „Kann es nicht auch einfach sein, dass es ein anderes Tier gewesen ist?“, fragte Gray und wandte sich im selben Atemzug an Lucy. „Ich meine, essen Rehe nicht auch Salat?“ „Woher soll ich das denn wissen?“, entwich es Lucy. Madam Concord lachte und nahm ein Stück Gebäck zur Hand. „Ach, ich weiß einfach, dass es Silber ist. Übrigens ist er auch ganz leicht an seiner Fellfarbe erkennbar. Silber ist etwas Besonderes und ihr werdet ihn auf Anhieb erkennen.“ Gray und Lucy sahen einander an, wobei Lucy sicher war, dass auch Gray ein ähnlicher Gedanke, wie sie ihn gerade noch gehabt hatte, durch den Kopf ging. „Aber wisst ihr“, begann Madam Concord, „ich finde es so wunderschön, dass nicht nur zwei Magier aus Fairy Tail mir helfen, meinen geliebten Silber zu finden, sondern auch noch ein niedliches Pärchen wie ihr beide.“ Lucy klappte der Mund auf, während Grays Augen sich weiteten. Beinahe gleichzeitig wandten sie den Blick voneinander ab und Lucy unterdrückte den Impuls sich bei ihrem erhitzten Gesicht mit der Hand Luft zuzufächeln. „Da... da haben Sie etwas missverstanden“, entwich es ihr. „Wir sind nicht—“, begann Gray, doch abermals lachte die alte Dame, geräuschvoller diesmal. „Oh“, entwich es ihr. „War ich da etwas zu vorschnell? Habt ihr euch eure Gefühle etwa noch nicht gestanden?“ Lucy holte Luft, um Proteste einzulegen, aber aus irgendeinem Grund war ihr schon jetzt klar, dass Madam Concord dies nicht ohne einen weiteren Spruch akzeptieren würde. Daher schloss Lucy ergeben den Mund, ohne dass ihr ein Laut entfuhr. Aus den Augenwinkeln schielte sie zu Gray hinüber, doch auch dieser hatte die Lippen aufeinandergepresst. 3 „Hier ist hier Zimmer für die Nacht, Heartfilia-sama“, sagte Bernard, als sie vor einer der vielen Türen im Gang stehen blieben. „Lucy reicht vollkommen aus“, versicherte sie ihm lächelnd, woraufhin Bernard eine leichte Verbeugung andeutete. „Natürlich, Lucy-sama. Wenn Sie etwas brauchen, lassen sie einfach nach mir rufen. Abendessen wird in einer Stunde im Speisesaal serviert.“ Mit diesen Worten wandte sich der Butler um und ging gemächlich davon, während Lucy die dunkle Holztür des Zimmers öffnete. Obwohl dieses eines der kleineren Gästezimmer von Madam Concord sein sollte, ähnelte es eher einem Gemach. Ein weites Bett stand in der Mitte des Raums, während Kommoden und kleine Tische die Wände säumten. Teppiche bedeckten den Boden und ein kleiner Lakrima auf dem Nachttisch spendete Licht. Lucy trat ein und setzte sich am Rand des Bettes hin, um die federnde Matratze zu testen. Mit einem glücklichen Seufzen ließ sie ihren Rucksack von ihrer Schulter zu Boden gleiten und ließ sich rücklings und mit ausgestreckten Armen auf das Bett nach hinten sinken. Wenigstens konnten sie sich den restlichen Abend ausruhen, bevor sie nach diesem merkwürdigen Hasen suchten. Lucys Blick wurde nachdenklich, als sie an die Decke hinaufsah, die bereits schattenbesetzt war, da die Abenddämmerung hereinbrach. Scheinbar rannte Silber oft von zu Hause weg. Vielleicht fühlte er sich dort draußen einfach freier. Womöglich hatte er dort draußen im Wald auch kleine Schneehasenfreunde, aber vielleicht war es auch einfach, dass dieses Anwesen zu einem goldenen Käfig für ihn geworden war. Luxus bedeutete nicht gleich, dass man auch glücklich war. Bevor Lucys Gedanken wieder in die Vergangenheit abdriften konnten, klopfte es an ihrer Zimmertür. Na nu? Hatte Bernard etwas vergessen? „Es ist offen“, rief Lucy und setzte sich auf, unwillkürlich mit den Fingern die Decke des Betts glattstreichend, um ihre Spuren zu verwischen. „Das Anwesen ist größer als unser Gildenhaus“, murrte Gray, als er eintrat und die Tür hinter sich schloss, eine Hand in der Hosentasche vergraben. Trotz seiner lässigen Haltung lag etwas Zögerndes in seinem Auftreten, damit unterstrichen, dass er sich im Raum umsah und vermied Lucy auf dem Bett zu betrachten. Hatte sein Verhalten etwas mit der Annahme der alten Dame zu tun, dass sie ein Pärchen sein könnten? Hastig stand Lucy auf und stolperte ein paar Schritte von dem Bett weg. „Ja… es ist ziemlich groß“, murmelte sie, um überhaupt etwas zu sagen. „Bist du hier, um über unsere Strategie zu sprechen, wie wir den Hasen am besten finden und einfangen?“ Jedenfalls fiel Lucy sonst kein Grund ein, weshalb Gray herkommen würde, da sie sich wahrscheinlich beim Abendessen ohnehin sehen würden. Außer er wollte allein mit ihr sprechen… Lucys Gesicht fühlte sich bei diesem Gedanken augenblicklich warm an, und als Gray endlich in ihre Richtung sah, schien ihre Verlegenheit ihn anzustecken. Es war eine Kettenreaktion, die Gray mit seinem Eintritt in ihr Zimmer begonnen hatte und die nun kein Ende zu nehmen schien. „Huh? Ja. Ja, genau deswegen“, sprudelte es aus Gray heraus und er fuhr sich mit der freien Hand durch die wilden Haare. „Hast du eine Idee, wie wir das Tier aufspüren sollen?“ „Na ja, Concord-sama hat etwas davon erzählt, dass Bernard manchmal etwas Gemüse rauslegt, um Silber anzulocken“, entrann es Lucy und sie tippte sich nachdenklich mit dem Finger gegen das Kinn. Es half, sich auf ihren Auftrag zu konzentrieren, anstatt über Gray und die Worte der Dame nachzudenken. „Ich dachte mir, dass ich Bernard beim Abendessen darum bitte, es morgen früh noch einmal zu tun, damit wir uns auf die Lauer legen können.“ „Was ist, wenn ein anderes Tier kommt, um das Gemüse zu essen?“, fragte Gray. „Dann weiß ich auch nicht weiter“, gestand sie. „Aber es ist wenigstens ein Anfang.“ Außerdem klang es so, als sei Silber bereits daran gewöhnt, dass man gelegentlich Futter für ihn nach draußen legte, weshalb die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass der Hase sich stets in der Nähe befand und auftauchen würde – und dann mussten sie ihn nur noch einfangen! „Es wird auftauchen, da bin ich mir sicher“, bestätigte Gray und klang dabei verdächtig danach, sie aufheitern zu wollen. Lucy lächelte unwillkürlich. „Vielleicht kannst du ihn mit deinem Eis ja einkesseln, Gray.“ „Kein Problem“, versprach Gray, verweilte jedoch noch für den Bruchteil einer Sekunde an Ort und Stelle, bevor er sich abwandte und ihr Zimmer verließ. „Wir sehen uns beim Essen.“ 4 Das Abendessen stellte sich als anders heraus, als Lucy angenommen hatte. Obwohl der riesige Speiseraum mit der hohen Decke einen langen Tisch besaß, an dem mindestens ein Dutzend Leute Platz gehabt hätten, fand sie sich mit Gray allein an ihm wieder. Skeptisch wanderte Lucys Blick über den Kronleuchter an der Decke, der ebenfalls aus Lakrima gefertigt war, die ihr Licht durch den glitzernden Kristall warfen, bis helle Punkte verführerisch über das dunkle Holz von Boden und Tisch tanzten. Man hatte für sie beide in der Mitte des Tischs gedeckt, so dass Gray ihr direkt gegenübersaß. Mit ihrer Alltagskleidung wirkten sie fürchterlich fehl am Platz, obwohl Lucy diese feinen Kleider aus ihrer Kindheit nicht sonderlich nachtrauerte. Zusätzlich zu dem sanften Licht der Lakrima waren auch einige Kerzen in hohen, eisernen Ständern aufgestellt worden, welche wahrscheinlich die Atmosphäre verschönern sollten. Gelegentlich trat Bernard von der Küche in den Speisesaal, um nach dem Rechten zu sehen und sie zu fragen, ob sie etwas benötigten, ansonsten ließ man sie hier allein und die Besitzerin des Hauses ließ sich ebenfalls nicht blicken. „Scheinbar wohnt Concord-sama allein hier im Anwesen“, mutmaßte Lucy, als sie den Löffel in die Suppe tauchte. „Abgesehen von Bernard, versteht sich.“ „Wäre mir zu einsam…“ Lucy lächelte, da ihre Gedanken bei Grays Worte unwillkürlich zu ihrer Gilde abschweiften, zu Natsu und Erza und den anderen. Obwohl sie erst vor wenigen Tagen aufgebrochen waren, vermisste sie den Trubel im Gildenhaus bereits. „Am besten beeilen wir uns, Silber einzufangen. Viele Abende ertrage ich ganz allein hier im Speisesaal nämlich nicht.“ „Du bist nicht allein“, raunte Gray, mied jedoch ihren Blick, als Lucy zu ihm hinübersah. „Das stimmt“, bestätigte Lucy und ihr Bauch kribbelte vor Wärme, während sich ihr der Gedanke aufschlich, dass die alte Dame dieses friedliche Abendessen zu zweit womöglich absichtlich geplant hatte. 5 Es war noch kälter geworden, als Gray und Lucy sich vor der Morgendämmerung in der eisigen Dunkelheit auf dem Innenhof des Anwesens einfanden. Mit ihren behandschuhten Fingern zupfte Lucy an dem dicken Schal herum, der eng und bis zum Kinn hinauf um ihren Hals gewickelt war. Die Eiskristalle, die sich am Rand des überdachten Eingangs gebildet hatten, waren über Nacht länger geworden. „Die Sonne müsste bald aufgehen“, murmelte Lucy und Atemwölkchen versperrten ihr sekundenlang die Sicht. Sie konnte es kaum abwarten. Vielleicht würden die Temperaturen dann etwas steigen und die Sonne würde sie etwas wärmen können. „Bist du sicher, dass Hasen erst bei Morgengrauen erwachen?“, fragte Gray skeptisch und wickelte sich seinen Schal ebenfalls um den Hals, als sie nahe der Haustür auf dem frisch eingeschneiten Weg standen. Lucys Blick heftete sich an den halben Salatkopf, der am Eingangstor an einer freigeschaufelten Stelle von Bernard hingelegt worden war. Als Lucy aus dem Bett gestiegen und einen ersten Blick aus dem Fenster geworfen hatte, hatte sie den Butler mit einem Morgenmantel und Winterstiefeln auf dem Weg dorthin beobachtet. „Ob du es glaubst oder nicht, ich bin auch kein Experte, was das Verhalten von Schneehasen betrifft“, kommentierte Lucy, da sie lediglich improvisierte. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, diesen verrückten Auftrag überhaupt anzunehmen? Wer meldete sich schon freiwillig, um einen Schneehasen bei diesen Temperaturen hinterher zu jagen? Sie tat es für Levy, das musste sie sich einfach vor Augen halten. Wahrscheinlich lag Levy immer noch in ihrem warmen Bett mit Gajeel an ihrer Seite, der ihr warme Suppe brachte. Lucy seufzte. „Lucy, schau!“ Grays Stimme bebte vor Aufregung und zog somit sogleich ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Finger zum Tor hinüber. Wie aus dem Nichts aufgetaucht, saß ein Hase neben den Salatblättern. Lucys Augen weiteten sich, als das erste Tageslicht sich auf dem Fell des großen Hasens brach und es silbern funkeln ließ. Es schnupperte an dem Salat, bevor es an einem der Blätter zu knabbern begann. Lucy griff nach Grays Arm. „Das ist… das ist doch kein gewöhnlicher Schneehase“, flüsterte sie atemlos. „Soweit ich weiß, haben Schneehasen die Farbe von Schnee.“ Bei Grays Ausspruch hob das Tier den Kopf, die Ohren in ihre Richtung gedreht. „Oh nein…“, wisperte Lucy, doch da war es bereits zu spät. Blitzschnell, weitaus schneller als Gray ein Netz mit seiner Eismagie formen konnte, wetzte Silber los und preschte über die weiße Landschaft davon. „Hinterher!“, brüllte Gray und rannte dem Hasen nach, Lucy am Unterarm mit sich ziehend. „Wir dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren, ansonsten finden wir ihn nie wieder.“ „Stimmt“, stieß Lucy atemlos aus, als auch sie die Beine in die Hand nahm. Mit jedem Schritt versackten sie in den Schnee, was ihnen das schnelle Laufen erschwerte. Dieses Problem schien Silber jedoch nicht zu haben, der elegant und eilig davon sprintete. „Er rennt mitten in den dichten Wald hinein“, entwich es Lucy, als die Bäume um sie herum dichter wurden und Nadelbäume ihnen gelegentlich komplett die Sicht versperrten. Sobald Silber unter einem von ihnen abtauchte, hätten sie ihn ganz sicher verloren. „Gray, kannst du deine Eismagie nicht nutzen, um ihn aufs offene Feld zu locken?“ Ihre Stimme klang verzweifelt schrill, doch Grays Hände formten beim Laufen bereits sein Handzeichen. Den Sekundenbruchteil später stoben schmale Eisplatten vertikal aus dem Schnee, um Silber den Weg zu versperren. Sogleich schlug der Hase eine scharfe Kurve und änderte die Richtung. Lucy grinste. „Genau so! Weiter, weiter dorthin hinüber“, wies sie mit einer Armbewegung an und erneut ragten Eiswände blitzschnell links und rechts vom Hasen auf, um ihn in aus dem Wald und auf die flachere Ebene zu lenken, die nur wenige Vegetation und noch weniger Versteckmöglichkeiten bot. Ihre Lungen stachen, als auch Lucy mit Gray zwischen den Bäumen hervortrat. Dabei verlangsamte sich Lucys Geschwindigkeit unwillkürlich, als sie sah, dass die Landschaft hier nicht nur flach war, sondern auch stetig anstieg, bis sie am oberen Ende eine verschneite Klippe formte. „Wir müssen aufpassen, dass Silber dort nicht herunterfällt“, japste Lucy und hielt sich die Seite. Sie wollte Madam Concord nur unfreiwillig mitteilen müssen, dass ihr geliebter Silber von einer Klippe in den sicheren Tod gestürzt war, weil sich die Suche nach dem Hasen unerwartet in eine wilde Verfolgungsjagd verwandelt hatte. Aber war es tatsächlich unerwartet geschehen? Lucy hatte doch wohl nicht angenommen, dass sie Silber einfach so mit Grays Eisnetz einfangen und ins Haus schleppen konnten, oder doch? Das war offenbar nur reines Wunschdenken gewesen. „Tiere haben bessere Instinkte, als sich eine Klippe runterzuwerfen“, raunte Gray, der ebenfalls zum Stillstand gekommen war, während Silber den Abhang hinaufhüpfte. Die Sonne war inzwischen aufgegangen. Glitzernd reflektierte der Schnee unter den ersten Strahlen, die es zwischen die dichte Wolkendecke hindurch schafften, aber es war Silbers Schönheit, welche am meisten aufgezeigt wurde. Lucy klappte der Mund auf. „Sein Fell sieht in der Sonne tatsächlich wie flüssiges Silber aus“, nuschelte sie. Neben ihr hob Gray die Augenbraue. „Und überhaupt nicht weich.“ Jetzt, da Gray es erwähnte, fiel es auch Lucy auf: Anstatt weiches, glattes Fell, wirkte das von Silber eher zackig und spröde, als bestand es aus kleinen Silberstücken, anstatt feinen Härchen. „Du… du meinst doch nicht…?“, begann Lucy, doch konnte ihren Satz nicht beenden. Gray schüttelte neben ihr den Kopf. „Das spielt jetzt keine Rolle. Erst einmal müssen wir ihn einfangen. Am besten teilen wir uns auf. Du gehst von links, ich von rechts.“ „Okay“, murmelte Lucy und verwarf ihren vorigen Gedanken, bevor sie links durch den Schnee den Hügel hinaufstapfte. Dabei griffen ihre Finger unwillkürlich nach einem ihrer goldenen Schlüssel, die im Täschchen an ihrer Hüfte unter ihrer Winterjacke ruhten. Inzwischen konnte sie die Kälte kaum noch spüren, da die Anstrengung des Rennens nur kalten Schweiß auf ihrer Haut hinterlassen hatte, während das Adrenalin noch immer heiß durch ihre Arterien floss. Doch Lucy machte sich nichts vor, sie würde Silber nicht mit bloßen Händen einfangen können. Es war immer noch ein wendiger Hase, der im Notfall Krallen und scharfe Zähne besaß, um sich zu wehren. Silber würde ihr höchstens durch die Arme gleiten, einem nassen Stück Seife nicht unähnlich – aber sie hatte noch eine Geheimwaffe! Lucys Finger schlossen sich fester um den von ihr ausgewählten Schlüssel. Bevor sie Aries‘ Tor jedoch öffnen konnte, erklang eine tiefe Stimme direkt hinter ihnen: „Finger weg von dem Kaninchen!“ 6 Da ihre Augen auf Silber geheftet waren, sah Lucy, wie auch der Hase bei dem plötzlichen Ausruf zusammenzuckte. Die Augen waren panisch geweitet, die Ohren in Achtung gehoben, während es sich näher zur Klippe schob. Lucy warf einen Blick über ihre Schulter zu den drei Männern hinüber, die aus dem Wald getreten waren. Sie trugen lange, dunkle Wintermäntel, aber es war die Tätowierung, die der Mann in der Mitte auf der Wange trug, die Lucy darüber informierte, dass es Magier waren, die einer Gilde angehörten. Allerdings sagte ihre Intuition ihr, dass es sich dabei um keine legale handelte. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt… „Wer seid ihr und was wollt ihr?“, rief Gray, doch die Männer lachten nur, als läge es auf der Hand. Vielleicht tat es das sogar, ging es Lucy durch den Kopf und sie runzelte die Stirn, als sie die gierigen Blicke der Männer auffing, die geradewegs auf den silbernen Hasen gerichtet waren. War Silber wertvoller, als sie angenommen hatten? Sah sein Fell vielleicht nicht nur aus wie pures Silber, sondern bestand aus ihm? War da Magie im Spiel? Der goldene Schlüssel wog plötzlich schwer in Lucys Hand, als sie begriff, was sie zu tun hatte. „Das geht dich einen Scheißdreck an“, sagte einer der anderen beiden Männer, der feuerrotes Haar besaß, welches jedoch stumpf und ungewaschen im Vergleich zu Erzas glänzender Mähne wirkte. „Gebt uns das Kaninchen und euch passiert nichts“, warnte der dritte Mann. Grays verlagerte seine Haltung und Lucy konnte sehen, dass er sich für den Kampf bereit machte. Er musste die drei Magier nur kurz ablenken, so dass sie sich derweil Silber schnappen konnte. „Gray!“, rief sie zu ihm hinüber. „Ich weiß“, raunte er, als hätte er ihren Gedanken gelesen, während die drei Magier einander anschauten, da sie sich nicht sicher waren, was die stille Kommunikation zu bedeuten hatte. Ihre Vertrautheit miteinander stellte ihren Vorteil dar. Lucy lächelte und hob im selben Moment ihren Schlüssel. „Aries, ich brauche dich!“ Das bekannte, gleißende Licht breitete sich vom Schlüssel aus, als sich Aries’ Tor öffnete und der schüchterne Stellargeist vor ihr im Schnee stand. „Hier spielt die Musik“, brüllte Gray, als die Magier sich auf Lucy konzentrierten. Einer von ihnen setzte einige Schritte in ihre Richtung, doch Gray war schneller. „Ice-Make: Pfeil und Bogen!“ Einen Sekundenbruchteil später hielt Gray einen aus Eis geschmiedeten Bogen in der Hand und spannte den Pfeil. Zischend sauste er durch die Luft und der Magier stürzte rückwärts, als der Pfeil sich direkt neben ihm vorbeisauste. Das war ihre Chance! „Aries, kannst du deine Wolle benutzen, um den Hasen einzufangen und ihn zu beruhigen?“, fragte Lucy an den Stellargeist gewandt. Aries presste die Hand gegen ihr Schlüsselbein. „Okay.“ Obgleich der gewohnten Schüchternheit angesichts der fremden Magier, agierte Aries mit Schnelligkeit, als sie sich zu Silber umdrehte, der mindestens genauso verunsichert wie sie dort im Schnee aussah. „Es tut mir leid!“, entwich es Aries an den Hasen gerichtet, bevor rosafarbene Wolle aus ihren Händen hervorschoss und Silber umhüllte, bevor das Tier wusste, wie ihm geschah. Lucy ballte die Hand triumphierend zur Faust. So hatte sie es sich vorgestellt, wunderbar. Sie stürzte zu Silber hinüber, der in Aries‘ Wolle verheddert war, aber sie nicht länger von Angst geweiteten Pupillen anschaute, sondern fast schon friedlich und glücklich. Aries‘ Magie wirkte offenbar bereits. „Danke, Aries“, entwich es Lucy, als sie Silber aus der Wolle befreite und in ihren Arm hob. Obwohl sein silbernes Fell sich spröde anfühlte, so war es doch weich unter ihren behandschuhten Fingern. „Na siehst du, jetzt können wir dich zu deiner Besitzerin zurückbringen.“ „Lucy, pass auf!“ Bei Grays Ausruf ruckte Lucys Kopf hoch und sie visierte ihren Kameraden an. Gray hatte zwei Eisschwerter in der Hand, die mit einem Breitschwert gekreuzt waren, welches sich scheinbar aus purer Dunkelheit formte. Ein weiterer Magier kämpfte gegen den Eiskäfig an, den Gray um ihn herum geformt hatte, nur der Dritte fehlte. Zu spät bemerkte sie, dass es dieser war, vor dem Gray sie warnte. Seine Finger formten ein Dreieck und ein rötliches Licht bildete sich dort, das den Sekundenbruchteil später in einem Feuerball geformt hervorschnellte und pfeilschnell auf sie zuraste. Aries war sofort zur Stelle, um ihre Wolle als Schutzschild vor ihnen aufzubauen, aber das Feuer surrte direkt durch die Wollwand hindurch und traf Aries im Magen. „Aries!“ Doch ihr Stellargeist stürzte in den Schnee, bevor es sich mit einem schwachen, nur geflüsterten „Es tut mir leid“ in Luft auflöste und sich ihr Tor schloss. Lucys Augenwinkel brannten, als sie an den schmerzverzerrten Gesichtsausdruck dachte. Doch sie bekam keine Gelegenheit, um sich um Aries Sorgen zu machen, da der Magier weitere Feuerbälle abschoss, während Gray in den Schwertkampf verwickelt blieb. Klingen krachten gegeneinander, und Lucy schmiss sich mit Silber dicht an ihre Brust gepresst in den Schnee, als der nächste Feuerball direkt über ihrem Kopf hinwegsauste und dem verbrannten Geruch nach zu urteilen ihr ein paar Haare versengte. „Du entkommst mir nicht“, rief der Magier mit der feuerroten Mähne, die im perfekten Einklang zu seiner Magie stand. „Gibt den Hasen her und ich verschone dich. Vielleicht.“ Bei seinem eigenen Witz lachte er freudig auf und Lucy stellten sich unangenehm die Nackenhaare auf, als sie sich aufrappelte und den restlichen Hügel hinaufstürzte. Mit einem Arm hielt sie Silber, während sie mit der freien Hand unter ihre Winterjacke an Lokes Schlüssel heranzukommen versuchte, was leichter gesagt als getan war. Ihr Atem ging stoßweise, als sie die natürliche Anhöhe erklommen hatte und sich mit einem verschneiten Abgrund konfrontiert sah, deren Tiefe übelkeitserregend war. Lucy setzte instinktiv einen Schritt zurück, doch da folgte bereits der nächste Feuerball, der direkt neben ihr in den Schnee einschlug und diesen explodieren ließ. Eis und Schnee klatschten ihr ins Gesicht und warfen sie zur Seite. Silber begann sich in ihren Armen zu sträuben, doch Lucy hielt an ihm fest. Die Stelle, an dem der Feuerball eingeschlagen war, war so weit geschmolzen, dass das eingefrorene Gras darunter zu sehen und ebenfalls angeschmort war. Lucy starrte das schwarze, leblose Gewächs an. Das war knapp. Noch einen Feuerball konnte sie nicht ausweichen, dafür war hier oben nicht genügend Platz, aber einen anderen Fluchtweg hatte es nicht gegeben. Nicht mit dem Magier, der inzwischen fast ein ausreichendes Loch in den Eiskäfig geschlagen hatte, während Gray mitsamt dem anderen Magier ihr den restlichen Weg hinunter versperrte. Was nun? Was sollte sie— Ein Ruck ging durch ihren Körper, als der Schnee unter ihr nachzugeben schien. Lucy wälzte sich auf die Knie, doch ihre Bewegung löste nur noch mehr von dem Schnee, bis er gänzlich unter ihr wegsackte und sie mit sich über die Klippe riss. „Gray!“ Ihr Schrei klang erstickt, als sich die Finger ihrer freien Hand irgendwo festzuhalten versuchten, aber doch nichts anderes als Schnee zum Greifen bekamen. „Hilfe!“ 7 Lucy fiel. Der Sturz kam ihr endlos vor, als sie sich an Silber klammerte und sie beide hin und her geschleudert wurden. Eisige Kälte fraß sich in sie hinein, in die nackte Haut ihres Gesichts und in jeden Winkel ihrer Kleidung, bis Lucy nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Ihre Lungen stachen, da sie kaum eine Gelegenheit zum Atmen bekam und stattdessen nur Schnee einatmete – bis eine Hand sich um ihren Unterarm schloss. Mit einem Mal wurde sie aus der Lawine gerissen. Tränenverschmiert sog sie Sauerstoff ein, als sie den Kopf hob. Sie hatte sich nie mehr gefreut, Grays konzentriertes, ernstes Gesicht zu sehen. „Halt dich an mir fest“, raunte er krächzend, da er mit einer Hand an ihr und mit der anderen Hand an dem Haken festhielt, den er aus Eis geformt und in den Schnee geschlagen hatte. Ganz oben konnte Lucy die Klippe erkennen, von der sie gestürzt war, doch von den drei Magiern war glücklicherweise keine Spur zu entdecken. Wie hatte Gray sie rechtzeitig erreicht? Er musste ihr hinterhergesprungen sein. Doch all das war nun unwichtig, nur die Tatsache, dass er es geschafft hatte, spielte noch eine Rolle. Lucy verlagerte das Gewicht des Hasens, der beim näheren Hinsehen das Bewusstsein verloren hatte, bevor sie ihn in die obere Öffnung ihrer Winterjacke steckte. Mit zwei freien Händen war es einfacher, sich von Gray etwas weiter hochhieven zu lassen, damit sie die Arme um Grays Schultern legen und sich an ihn klammern konnte. Dies wäre einfacher gewesen, hätte Gray seine Jacke noch getragen, die er wahrscheinlich irgendwann im Laufe des Kampfes losgeworden war. Wie typisch… „Danke, Gray“, flüsterte sie dennoch, das Gesicht dicht an seine kalte Halsbeuge gepresst. „Der Weg nach oben ist unmöglich, der Weg nach unten aber nicht.“ Grays Stimme klang angespannt, verzerrt und… merkwürdig. „Lass jetzt nicht los, Lucy“, presste er hervor, bevor sie sich aus seinem erstickten Ton einen Reim gemacht hatte. Im nächsten Moment war es Gray, der losließ. Lucy entfuhr ein spitzer Schrei, doch Gray schlug die Arme um ihren Körper. „Ice-Make-Rutsche!“ Sogleich formte sich eine aus Eis gefertigte Rutsche unter ihnen, die den Aufprall nicht angenehm machte, sie aber den ganzen Weg bis hinunter ins Tal rutschen ließ, in dem sie im frischen Schnee landeten. Mühselig setzte sich Lucy auf und wollte vor Freude fast weinen, da sie sich endlich wieder auf festem Boden befanden. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Nässe vom Gesicht, bevor sie ihre Jacke weiter öffnete, um nach Silber zu sehen. Feine Atemwölkchen verließen den kleinen Mund mit den scharfen Vorderzähnen, während ein Ohr regelmäßig zuckte. Silber lebte. Erleichtert stieß Lucy ein Seufzen aus und die Muskeln in ihren Armen und ihren Schultern lockerten sich. „Wir haben es geschafft…“ Neben ihr grunzte Gray vor Schmerz und ihre Augen flackerten zu ihm und dem spitzen, schmalen Zweig, den er sich aus dem Oberschenkel gezogen hatte. Seine dunkle Hose war an der Stelle zerrissen und eine blutige Wunde klaffte in seiner bleichen Haut. „Oh, Gray…“ Lucy legte Silber vorsichtig in den Schnee, bevor sie zu Gray hinüber krabbelte, bis sie neben ihm kniete. „Es ist halb so schlimm“, erwiderte Gray, als er sich ebenfalls die Wunde besah. Mit zittrigen Fingern wickelte Lucy ihren Schal ab. „Hier, lass mich dein Bein damit verbinden.“ „Nicht nötig“, murmelte Gray, ehe er seine Hand gegen seinen Oberschenkel presste und eine Eisschicht auf seiner Haut hinterließ, welche die Wunde verschloss und somit den Blutfluss unterbrach. „Wir müssen hier weg, bevor diese Typen begreifen, dass wir noch am Leben sind und uns aufspüren.“ „Sie könnten uns auch einfach im Anwesen auflauern, oder nicht?“, fragte Lucy. „Ist es nicht einfacher, wenn sie Silber nächstes Mal von dort stehlen?“ Gray zuckte mit den Schultern, bevor er sich umständlich auf die Beine kämpfte, von Lucy gestützt, die seinen Arm packte. „Ich habe den Eindruck, dass sie nicht wissen, dass Silber Madam Concord gehört. Es klang für mich eher so, als waren sie irgendwann zufällig über Silber gestürzt und wollten ihn haben. Wahrscheinlich, um ihn verkaufen zu können oder so..“ Lucy senkte den Blick auf den Hasen hinab. „Sein Fell besteht also wirklich aus purem Silber, auch wenn die Form irgendwie merkwürdig ist.“ „Da ist Magie im Spiel“, brummte Gray. „Lass uns gehen.“ „Warte, Gray“, entwich es Lucy, bevor sie ihren Schal um Grays Hals legte. „Es ist nicht viel, aber…“ Grays Mund öffnete sich und seine Wangen erröteten. „Ich habe meine ganze Kindheit in diesem Element trainiert. Ich—“ „Aber du bist verletzt“, tadelte Lucy und fühlte Hitze in sich aufkeimen. Rasch wandte sie sich ab, um Silber hochzuheben, der blinzelnd die Augen aufschlug und auf ihrem Arm steif wie ein Brett wurde, als er begriff, dass man ihn gefangen hatte. Obwohl Aries‘ beruhigende Magie bereits abgeklungen sein musste, versuchte Silber sich nicht aus ihrem Griff zu befreien, sondern wirkte beinahe ergeben. Vielleicht war er genauso froh wie Lucy, wenn sie endlich das Anwesen erreichten. Müde schob Lucy das Tier wieder vorsichtig in die Öffnung ihrer Winterjacke, bis nur noch der Kopf mit den Schlappohren herausschaute. „Lass mich dich stützen“, sagte Lucy und griff nach Grays Arm, bevor dieser Proteste einwerfen konnte. Sie legte sich Grays Arm um ihre Schultern, bevor sie loszogen, querfeldein durch den Schnee, der ihnen bis zu den Knien hinaufreichte. „Weißt du, in welche Richtung wir müssen?“, erkundigte sich Lucy irgendwann. Gray schnaufte. „Keinen blassen Schimmer.“ 8 Lucy hatte keine Ahnung, wie lange sie für den Rückweg brauchten, nur dass sie mindestens dreimal an derselben umgefallenen Tanne vorbeikamen und sie ihre Zehe kaum mehr spüren konnte, als sie endlich den freigeschaufelten Weg erreichten, der in den Ort und somit zum Anwesen von Madam Concord führte. „Weinst du?“, zerbrach Grays Stimme die Stille, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte. Lucy hob die Hand, um sich die Freudentränen aus den Augenwinkeln zu wischen. „Natürlich nicht.“ Obgleich der bläulichen Blässe, die Grays Haut angenommen hatte, und dass er im Laufe der Zeit sich mehr und mehr bei ihr abgestützt hatte, schnaufte er belustigt. Der Laut stillte die Besorgnis, die in ihrem Bauch glühte, und ihr Griff um Grays Taille lockerte sich ein wenig, was dieser unkommentiert ließ. Als sie auf den verschneiten Innenhof des Anwesens traten, öffnete sich bereits die Eingangstür und Bernard kam ihnen entgegengelaufen. „Oh, da seid ihr ja. Concord-sama hat sich schon Sorgen um euch gemacht“, entwich es dem Bediensteten. Seine Augen weiteten sich, als er einige Meter vor ihnen im Schnee zum Stehen kam und sein Blick auf Silber fiel, der aus Lucys Jackenkragen herausschaute. „Ihr… ihr habt tatsächlich Silber-sama mitgebracht.“ Seine Stimme nahm bei dieser verwunderten Feststellung etwas Seltsames an, fast etwas Verehrendes. „Es war ein Kinderspiel…“, meinte Gray beiläufig. „Kommt herein, kommt herein. Ihr seht halb erfroren aus.“ Bernard winkte sie zu der offenstehenden Tür hinüber, als er sich bereits abwandte, die Schritte mindestens genauso hastig, wie als er sie gesehen hatte. „Macht es euch am Kamin bequem, während ich Concord-sama Bescheid gebe.“ Lucy stützte Gray hinein in die Eingangshalle, welche direkt in einen gemütlichen Sitzraum mit Couchen und einem entfachten Kamin führte, als sie Bernard die Treppen in das obere Geschoss hinaufeilen sah. „Silber-sama?“, entrann es Gray, als er auf eines der Sofas sackte und sich nach hinten lehnte. Sein Körper war von einem minimalen Zittern eingenommen, doch der Raum war warm genug, um sie schnell aufzuwärmen. Lucy kehrte nur kurz in die Eingangshalle zurück, um die Tür zu schließen und die Kälte auszusperren. Sie zuckte mit den Schultern, da sie sich auch keinen Reim auf die förmliche Anrede des Hasens machen konnte. Diesen holte sie aus ihrer Winterjacke hervor, um ihn auf dem Teppich abzusetzen. Nun, da sie im Anwesen waren, war es wahrscheinlich okay, ihm wieder etwas Bewegungsfreiheit zu gönnen, ganz besonders, nachdem er sich so ruhig verhalten hatte. Hoffentlich stimmte alles mit ihm und er hatte sich bei dem Sturz nicht verletzt. Lucy hockte sich neben dem silbernen Hasen auf den Teppich, der vor ihr hockte und ihren Blick aus dunklen Knopfaugen, in denen eine unerwartete Intelligenz zu lauern schien, erwiderte. Ein Frösteln ging durch Lucys Körper und sie erhob sich rasch, um zu Gray ans Sofa zu treten. „Was macht die Wunde? Ich werde Bernard nach einem Arzt fragen“, verkündete Lucy, um ihre Gedanken von dem merkwürdigen Gefühl abzulenken, obwohl sie Silbers Blick auch weiterhin auf ihrer Haut spüren konnte. Gray hatte den Arm auf der Couchlehne abgestützt und besah sich die vereiste Wunde an seinem Oberschenkel. „Halb so wild. So tief ist es nicht.“ „Aber vielleicht ist Dreck reingekommen.“ Lucy nahm neben ihm Platz und kräuselte die Stirn. „Es muss zumindest genäht werden. Du kannst es nicht ewig vereisen, Gray.“ „Warum nicht?“ Gray zuckte mit den Schultern. „Irgendwann wird es schon verheilen. Von innen heraus halt.“ „Ich glaube nicht, dass das so funktioniert“, meinte Lucy, nahm jedoch an, dass er einfach keinen örtlichen Arzt an die Wunde lassen wollte, wenn er bis zu Hause warten konnte, was jedoch vollkommen idiotisch war und Lucy auf keinen Fall so hinnehmen würde. „Wenn du es schon nicht für dich selbst verarzten lässt, tue es wenigsten für mich.“ „Für dich?“, wiederholte Gray und schielte zu ihr hinüber. „Wie, glaubst du, fühle ich mich, wenn es sich entzündet oder eine Narbe hinterlässt“, fragte Lucy und legte ein wenig Wehmut in ihre Stimme hinein. „Immerhin hast du mir das Leben gerettet und… ich würde mich wirklich besser fühlen, wenn es keine Narbe werden würde.“ Etwas Merkwürdiges geschah auf Grays Gesicht, was Lucy so noch nie miterlebt hatte. Sein Gesicht verlor noch ein bisschen mehr an Farbe, ehe diese mit einem Schlag zurückkehrte, so dass seine Wangen furchtbar errötet waren. Mit den Gedanken schien er für einen Moment weit entfernt, bevor sein Blick an seinem eigenen Körper hinunterwanderte, hinunter zu den anderen Narben, die seine Haut zierten: Auf seiner rechten Seite befand sich eine, deren Ursprung Lucy nicht kannte, und auf der linken Seite eine weitere lange Narbe, die er in einem Kampf mit Juvia erlitten hatte. Eine weitere befand sich über Grays linker Augenbraue, die von Lyon stammte. „Es… macht mir nichts aus“, begann Gray belegt, als die Stille zwischen ihnen schwer geworden war. „Die Narbe, meine ich.“ Er wandte den Blick ab und starrte in das Feuer, welches warme Brisen zu ihnen zum Sofa schickte, welche durch Lucys Kleidung krochen und langsam die tiefsitzende Kälte vertrieben. „Sie wird mich dann immer an unseren gemeinsamen Auftrag erinnern“, meinte er und fügte viel zu verspätet ein nonchalantes Schulterzucken hinzu, als könnte dies noch über die schwerwiegende Bedeutung seiner Worte hinwegtäuschen. Ganz genau wusste Lucy zwar nicht, was Gray damit andeuten wollte, aber in ihrem Bauch kribbelte es dennoch vor Aufregung und sie wurde sich zum ersten Mal bewusst, wie nahe sie eigentlich beieinander saßen und dass Lucy bloß die Hand nach ihm ausstrecken müsste, um ihn berühren zu können. Ihre eigenen Wangen fühlte sich heiß an. „Ich bestehe trotzdem auf einen Arzt, Gray“, murmelte sie halbherzig, aber Gray legte keine Proteste mehr ein. 9 „Ihr habt Silber gefunden, wie wunderbar!“ Madam Concord kam in das Zimmer geeilt, eine dünne Strickjacke enger um ihre Schulter ziehend. Ihre Augen glitten durch den Raum, bevor ihr Blick auf dem silbernen Hasen zum Ruhen kam, der sich das linke Vorderpfötchen putzte. Etwas Weiches erhielt Einzug in ihr Gesicht, bevor sie mit langsamen Schritten auf das Häschen zuging und sich zu ihm auf den Boden kniete, um ihm sanft über den Kopf zu streicheln. „Soll ich ein Bad für Silber-sama einlassen?“, fragte Bernard, der ihr dicht auf den Fersen war. „Gute Idee, Bernard“, entwich es der alten Dame. „Sein Fell glänzt nicht mehr so schön bei all dem Dreck. Ich bin sicher, dass sich mein Liebling gleich besser fühlt, sobald er wieder sauber ist.“ Sie wandte sich an Silber, in dem sie sich weiter zu ihm hinunterbeugte. „Wir haben dir auch die besten Salatblätter aufgehoben.“ Sie kicherte. „Aber wir wissen ja bereits, dass du dem Salat nie ganz widerstehen kannst.“ Silber auf den Arm nehmend, reichte sie ihn an Bernard weiter, der ihn zum Baden mitnahm, bevor sie sich Lucy und Gray zuwandte. „Ich danke euch, dass ihr meinen geliebten Silber zu mir zurückgebracht habt“, sagte sie. „Ich werde Bernard beauftragen, den Arzt kommen zu lassen. Ihr seht schließlich auch ziemlich ramponiert aus. Ich nehme an, dass es nicht einfach gewesen ist?“ Lucy kratzte sich an der Wange, die sie zum ersten Mal wieder richtig fühlen konnte. „Ein paar Magier einer dunklen Gilde waren ebenfalls hinter ihm her“, gestand sie und all diese Fragen, die sie dazu noch immer hatte, nutzten die Gelegenheit, um aus Lucy herauszusprudeln. „Hat es etwas mit Silbers Fell zu tun? Ist es echtes Silber? Ist er ein magisches Wesen?“ „Ist er überhaupt hier sicher, wenn die Magier noch immer da draußen sind?“, stimmte Gray mit ein. Die alte Dame lachte bei ihren verwirrten Gesichtern. „Natürlich habt ihr Fragen. Das ist ganz natürlich. Ich habe gedacht, dass Levy-chan euch eingeweiht hat, schließlich habe ich darum den Auftrag nur Fairy Tail gegeben.“ „Levy-chan…?“ Stimmt, Levy war es gewesen, die sie darum gebeten hatte, den Auftrag für sie zu erledigen, weil sie selbst sich eine Erkältung eingefangen hatte. Obendrein war es Lucy auch vorgekommen, als hätte sie noch etwas sagen wollen, bevor Gajeel aufgetaucht und sie zur Bettruhe ermahnt hatte. Konnte es tatsächlich sein, dass Levy vergessen hatte, ihr die wichtigsten Informationen mitzuteilen? „Sie hat letztes Mal so gute Arbeit geleistet. Gerade als Silber so zu mir zurückgekehrt ist“, schwärmte Madam Concord und setzte sich auf das zweite Sofa im Raum. „Ihr müsst wissen, dass mein geliebter Silber schon immer seinen eigenen Kopf gehabt hat. Auch damals schon, als er als Magier in der örtlichen Gilde gearbeitet hat.“ „Ein Magier?“, brach es aus Gray heraus und er setzte sich so schnell auf, dass ein Stechen durch sein Bein ging und er sich den Oberschenkel hielt. „Sie wollen damit sagen, dass der Hase mal ein Mann gewesen ist?“ Auch Lucy klappte der Mund auf, obwohl dies im Nachhinein das merkwürdige Gefühl erklärte, als sie zum ersten Mal richtig in Silbers Gesicht geschaut und dort eine greifbare Persönlichkeit entdeckt hatte. „Oh ja. Glaubt ihr etwa, dass ich mit einem richtigen Hasen verheiratet bin?“ Madam Concord hielt ihre Hand in die Höhe, an dessen Finger ein Ehering glänzte, den Lucy gesehen, aber nie hinterfragt hatte. „Leider hat Silber schon immer eine Schwäche für Geld gehabt. Eigentlich alles, was glänzt und wertvoll ist.“ Sie senkte die Hand und somit auch ihren Blick, ein schmales, trauriges Lächeln auf den Lippen tragend. „Leider wurde ihm dies bei einem Auftrag vor einigen Jahren zum Verhängnis. Genaues weiß ich nicht, aber sein Teampartner sagte, dass ein feindlicher Magier einen Zauber verwendet hatte, der ihn in das verwandelt hat, was er nun ist.“ Lucy fühlte ein Stich in der Brust, als sie daran dachte, wie es sich wohl anfühlen musste, wenn die Person, die man am meisten liebte, zwar noch da war, aber eben auf einer anderen Art und Weise. „Gibt es keinen Weg, um den Zauber zu brechen?“, fragte sie mit leiser Stimme, obwohl sie sich die Antwort schon denken konnte. Die alte Dame schüttelte den Kopf. „Ich habe alles versucht. Ich habe so viele Gilden kontaktiert und Magiebücher gelesen. Im Dachboden sammeln sich auch schon die magischen Gegenstände, die Heilung versprochen, aber am Ende nichts getaugt haben.“ „Das tut mir—“, begann Lucy, doch Madam Concord lächelte schon wieder, als sie aufstand. „Aber macht euch keine Gedanken um Silber oder mich, wir kommen klar.“ „Aber was ist mit den Magiern? Wissen sie, dass Silber kein normaler Hase ist?“, fragte Lucy. Madam Concord lächelte. „Oh nein, diese Magier sind nur hinter ihm her, weil Silber mit seinem Fell eine Menge Geld einbringen würde. Glücklicherweise wissen sie nicht, dass Silber hier lebt oder wer er wirklich ist. Außerdem hat Levy-chan das Haus mit einigen ihrer Zauber gesichert, so dass keiner auch nur einen Fuß auf das Anwesen setzen kann. Es ist viel eher so, als dass es für Magier – außerhalb der Fairy Tail-Gilde – nicht sichtbar ist.“ Nun klatschte sie energisch in die Hände. „Aber lass mich das Geld holen, das ihr euch mehr als verdient habt. Danach solltest du ein heißes Bad nehmen, Lucy-chan, während ich den Arzt für dich rufen lasse, Gray-kun.“ 10 Lucy zog den Riemen ihres Rucksacks enger um ihre Schultern, als sie neben Gray den Weg zum Bahnhof folgte. Die Morgensonne stand am blauen Himmel und ließ den Schnee links und rechts von ihnen glitzern, doch ausnahmsweise erreichte die Freude über den Anblick sie nicht. „Bist du immer noch betrübt?“, erkundigte sich Gray irgendwann. Nun, da der Arzt die Wunde wieder zusammengestickt hatte und sie eine erholsame Nacht in weichen Betten gehabt hatten, war die gesunde Farbe fast schon wieder gänzlich in Grays Gesicht zurückgekehrt. Es half auch, dass Bernard ihm eine seiner alten Winterjacken mit auf den Weg gegeben hatte, obwohl diese ihm eine Nummer zu groß war. „Es ist nur irgendwie traurig, dass es keine Lösung für Silber-sama gibt“, entwich es Lucy, obwohl sie sich noch immer eigenartig dabei fühlte, einen Hasen so förmlich beim Namen zu nennen. War Silber tatsächlich der Name ihres Ehemanns gewesen? Vielleicht war es auch ein Spitzname, der nach seiner Verwandlung irgendwie zur Norm geworden war oder etwas mit seiner Liebe für das Metall zu tun hatte. Lucy würde es wohl nie wissen, obwohl es wohl immer mal sein konnte, dass Madam Concord irgendwann wieder ihre Hilfe im Aufspüren ihres Ehemannes brauchen würde. Hoffentlich würde dies jedoch nicht allzu schnell geschehen… „Sie haben eine Lösung für sich gefunden“, kommentierte Gray neben ihr, als das Bahnhofgebäude in Sicht kam. „Es mag nicht das Beste oder das Idealste sein, aber wenigstens haben sie einander noch. Das ist mehr, als viele andere Menschen von sich behaupten können.“ Lucy betrachtete Gray von der Seite. Dachte er bei diesen Worten an jemand bestimmten? Es klang jedenfalls so, da Lucy schließlich wusste, dass Gray schon eine Menge Menschen im Leben verloren hatte, die ihm wichtig gewesen waren. Sie selbst hatte nur ihre Eltern verloren, aber dafür hatte sie auch so viel gefunden. „Du hast recht“, gestand sie und lächelte, da es nicht half, sich auf Verluste zu konzentrieren. Stattdessen sollten sie nach vorn sehen und das Beste aus dem machen, was sie hatten, genauso wie Madam Concord es mit ihrem Silber tat. „Du, Gray?“, entwich es ihr. Gray gab ein Brummen von sich. „Ich hoffe, es wird eine Narbe. Aber nur eine ganz kleine“, meinte Lucy und vernahm ein belustigtes Schnaufen von Gray. „Ich bin ziemlich sicher, dass es eine wird.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)