Blue Wolve von RaoulVegas ================================================================================ Pain and Boon ------------- 1 Mit einem verärgerten Brummen lässt sich Wolverine auf den Stuhl sinken und verschränkt bockig die Arme vor der muskulösen Brust. Finster mustert er den kahlköpfigen Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches, der seinen Blick jedoch mit ruhiger, aber ernster Miene erwidert. Charles stößt ein tiefes Seufzen aus. „Ich frage mich allen Ernstes, wie oft wir dieses Gespräch noch führen müssen, Logan...“, setzt er an. „Dann lass es doch einfach, dann haben wir beide etwas davon.“, brummt der zu kurz geratene Kanadier verstimmt und kommt sich innerlich vor, wie ein Kind, das zum wiederholten Mal ins Büro des Rektors geschickt wurde, und irgendwie ist es ja auch so, denn schließlich ist das Xavier Institut ja auch eine Schule. Zwar eine, die ausschließlich von Mutanten besucht werden darf, aber das tut nichts zur Sache. Vielmehr ärgert es Wolverine, dass er selbst von Charles wie ein Kind behandelt wird, obwohl er das bei weitem nicht mehr ist – ja sogar immerhin mehr als doppelt so alt, wie Xavier selbst ist. Doch das kümmert den Mann im Rollstuhl hinter dem Schreibtisch nicht im Geringsten. Erst recht nicht, weil sich Logan in seinen Augen trotz seines stattlichen Alters von neunzig Jahre ziemlich kindisch bei diesem Thema benehmen kann. Tief seufzend beginnt sich der Professor die Schläfen zu massieren, als hätte er ganz plötzlich schlimme Kopfschmerzen gekommen. Für einen Moment schließt er sogar die Augen und atmet tief durch. Dann legt er die Fingerspitzen vor seinem Gesicht aneinander und mustert den Krieger vor sich noch einmal durchdringend. Langsam und mit Bedacht streckt er dabei seine mentalen Finger aus und versucht damit in den Geist des Älteren einzudringen. Vielleicht offenbart ihm dies ja, warum sich der Kanadier so sträubt? Doch die Schicht aus Adamantium, die Wolverines Körper fast gänzlich überzieht, erschwert ihm das Eindringen in dessen Geist ein wenig, stellt aber dennoch kein Hindernis dar. Zumindest, solange der X-Man es nicht merkt und ihn gedanklich abblockt. Dummerweise tut er das aber gerade und verwehrt Charles damit den Zutritt in seinen Verstand. „Und wie oft muss ich dir noch sagen, dass du in meinem verfluchten Schädel nichts zu suchen hast?“, faucht der kleinere Mann ihn daraufhin regelrecht an. Erneut seufzt der Professor schwer. „Tja, wir halten scheinbar beide nichts von den Worten des anderen, wie? – Aber nun einmal ernsthaft, Logan. Ich habe dir gestattet draußen auf dem Gelände zu rauchen. Ich war sogar so großmütig und habe es dir in deinem Zimmer gestattet, wobei ich damit gegen meine eigenen Sicherheitsbestimmungen verstoße, wie du sehr genau weißt. Warum also musst du dann in der Küche rauchen und damit alle anderen belästigen? Du bist hier der Einzige mit einem Selbstheilungsfaktor und schadest dir damit nicht. Meinen Schülern allerdings schadet deine Rücksichtslosigkeit und ich lasse es nicht zu, dass sie deinetwegen krank werden. Außerdem haben sie sich mehrfach deswegen über dich beschwert und du gibst ihnen nichts weiter als patzige Antworten, wenn überhaupt.“ Der sonst so ausgeglichene Leiter des Instituts ist sichtlich angefressen, sucht er doch schon lange händeringend nach einer Lösung für das Problem. Einer Strafe, wenn man so will, die Logan wirklich an die Nieren gehen könnte. Allerdings ist der Kanadier da mit allen Wassern gewaschen, lässt sich für gewöhnlich nichts sagen, schon gar nicht, wenn er keinen persönlichen Nutzen daraus ziehen kann. Er ist eigensinnig wie eine alte Straßenkatze und zwei Mal so gefährlich wie ein ausgehungerter Wolf, wenn ihm etwas nicht passt – und ihm passt sehr vieles nicht. Von daher ist es schwer, sich ihm gegenüber zu behaupten und mit heiler Haut davonzukommen. Er könnte Wolverine zwar einfach aus dem Institut verbannen, um sich Abhilfe von diesem Problem zu verschaffen – und Logan hätte damit wohl kaum Sorge, ist er doch sowieso viel lieber allein und frei – doch damit würde er seinen erfahrensten und besten Kämpfer einbüßen, was er sich unmöglich erlauben kann. Nicht nur das, der Schwarzhaarige ist auch ein ganz ausgezeichneter Lehrer, allein schon wegen seiner überaus langen Lebenserfahrung. Er hat zwar im Allgemeinen eine sehr kurze Lunte und fährt nahezu bei allem aus der Haut, aber Kinder sind seine große Schwäche. Er kann ihnen nichts abschlagen und kümmert sich erstaunlich sanft und hingebungsvoll um sie. Zwar ist das jüngste Mitglied des Instituts gerade 21 geworden, doch das tut bei Logan nichts zur Sache. Bei ihm ist praktisch jeder unter 25 ein Kind, erst recht, wenn das geistige Alter womöglich nicht mit dem körperlichen harmoniert. Wie nicht anders zu erwarten grummelt der Kanadier nur wieder in sich hinein, statt eine Antwort zu geben. „Ich will mich nur ungern mit dir anlegen, aber du musst das einfach verstehen und berücksichtigen. – Vielleicht fehlt dir ja einfach nur eine Aufgabe, die dich etwas mehr fordert, um die Konzentration dafür nicht zu verlieren?“, versucht es Charles noch einmal. Misstrauisch hebt Logan eine Augenbraue. „Was soll das heißen?“ „Ich habe da eine Mission, die ich nur dir anvertrauen mag und die dich ziemlich lange beschäftigen dürfte. Eigentlich soll es eine Strafe für dein Fehlverhalten sein, aber wenn du dich geschickt anstellst, könnte es auch ein Vergnügen für die sein.“, lächelt der kahlköpfige Mann leicht herausfordernd. Langsam gibt Wolverine seine verkrampfte Haltung auf und beugt sich leicht zu ihm nach vorn. „Und wenn ich ablehne?“, fragt der Jäger grimmig. „Ich denke nicht, dass du das tun wirst.“, hält Charles dagegen. „Ach ja?“ „Ja. Doch hör dir das Ganze erst einmal an, dann kannst du immer noch darüber schimpfen. So oder so wirst du es aber dennoch machen müssen, da es nun mal eine Strafe sein soll und du keine Wahl hast.“, kommt es nun strenger von dem Mann im Rollstuhl. Hörbar vernimmt er dabei das leicht unterdrückte Knurren des Schwarzhaarigen. Er ignoriert es jedoch gekonnt und fängt an zu erzählen. „Vor ein paar Tagen bin ich im nationalen Fernsehen über einen Werbespot gestolpert. Es stammt aus Las Vegas, um genauer zu sein Sun City.“ Mit Hilfe einer Fernbedienung schaltet der Professor einen Bildschirm hinter sich ein und mit einer zweiten setzt sich gehorsam der Videorecorder darunter in Bewegung. Der Ton ist abgeschaltet, doch er spielt auch keine Rolle, wie es Logan scheint. Als der Spot einsetzt, sieht man einen kleinen, dicken Mann in einem aufwendigen Kostüm. Schnell wird ersichtlich, dass es sich dabei um den Besitzer eines großen Zirkus handelt, der für seine neue und spektakuläre Show in Las Vegas wirbt. Die Kamera schwenkt herum und zeigt dabei allerhand Gestalten, die zur Show zu gehören scheinen. Da sind Clowns, Jongleure, Tierbändiger, Seiltänzer und vieles mehr. Dann wird das Bild deutlich dunkler und die Kamera wird direkt in einen Käfig gerichtet. In den dort vorherrschenden Schatten ist zuerst nichts auszumachen. Der Zirkusdirektor – Getmann – wird wieder neben dem Käfig sichtbar und scheint eindringlich, regelrecht verschwörerisch mit den Zuschauern zu reden, als warne er sie vor etwas Schrecklichem, das dort im Käfig zu hausen scheint. Dann plötzlich leuchten zwei gelbe Augen in den Schatten auf. Einen Moment später tritt ruckartig ein Wesen aus der Dunkelheit, umklammert scheinbar wütend fauchend die Gitterstäbe und bleckt die scharfen Zähne. Es wirkt, als wäre es aus einem Fantasyroman entsprungen. Wie eine Kreuzung aus Mensch und Teufel. Allerdings ist seine Haut blau und nicht rot. Seine Ohren sind spitzzulaufend etwas in die Länge gezogen, wie die eines Elfen. Seine Augen sind gelb, scheinen von innen heraus regelrecht zu leuchten, zeigen aber keine erkennbaren Pupillen. Seine Eckzähne sind lang und erinnern an ein Raubtier. Seine Hände haben nur zwei Finger und den Daumen; seine Füße nur zwei Zehen und seine langen Beine wirken seltsam geformt, wie die eines vierbeinigen Tiers. Zudem hat er einen langen Schwanz, der einen mit seiner dreieckigen Spitze wieder an den Teufel denken lässt. In Logans Augen kann er nicht älter als 20 sein, wenn überhaupt. Sein ganzes Aussehen wirkt böse und dämonisch und dennoch ist da etwas in seinen leeren Augen: Eine tiefe Traurigkeit und entsetzliche Angst. An dieser Stelle beendet Charles die Vorführung und wendet sich wieder zu Wolverine. „In dem Spot nennt dieser Getmann ihn Nightcrawler, Sohn des Teufels, und er sei direkt aus der Hölle gestiegen, um den Menschen das Fürchten zu lehren. Mit Cerebro konnte ich nicht feststellen, ob es sich dabei um einen Mutanten oder nur um einen ziemlich gut verkleideten Menschen handelt. Falls er ein Mutant ist, ist sein X-Gen womöglich noch nicht aktiv geworden. – Ich möchte nun, dass du nach Las Vegas fliegst, dir die Show ansiehst und herausfindest, ob Nightcrawler ein Mutant ist und wenn ja, dass du ihn dort rausholst und hierherbringst, sollte er dort wirklich so schlecht behandelt werden, wie es den Augenschein hat.“ Der Professor hat seinen Satz kaum beendet, da erhebt sich der Kanadier auch schon ruckartig und wendet sich der Tür zu. „Ich war noch nicht fertig!“, ruft Charles ihm nach. „Hab´ genug gehört.“, brummt Wolverine nichtssagend. „Und wo gehst du jetzt hin, wenn ich fragen darf?“ „Wohin schon? Ich werde den Bengel da rausholen, ehe man ihn noch mehr verletzt.“, deutlich spiegelt sich Wut in seiner Stimme wider. Auf Xaviers Gesicht schlägt sich dadurch sichtliche Erleichterung nieder. „Sehr gut. Das wollte ich hören! Viel Glück.“ „Brauch´ ich nicht.“, grummelt der Jäger und öffnet die Tür. „Ja, vielleicht nicht für die Mission, aber womöglich für das, was danach kommt.“ Verständnislos wendet sich der Kanadier noch einmal herum. „Wenn du ihn hierherbringst, bist du anschließend für ihn verantwortlich und das könnte das Ganze doch zu einer Strafe für dich machen. Du wirst nämlich sein persönlicher Lehrer werden und ihm alles beibringen, was er für sein Leben als Mutant wissen muss. Das wird ein paar Jahre dauern, wie du sehr gut weißt, und ich verlange von dir, dass du das anständig und gewissenhaft machst. Ich will hier keinen zweiten Wolverine haben!“, streng mustert er den kleinen Mann. Dieser gibt nur wieder ein verstimmtes Knurren von sich und verlässt dann ohne ein weiteres Wort den Raum. 2 Keine dreißig Minuten später sitzt Logan in der Wolf 2, seinem eigenen Klein-Jet, und steuert Richtung Nevada. Der Flug wird an die sieben Stunden dauern, von daher hat er genug Zeit, sich zu überlegen, wie er das Ganze am besten angehen könnte. Naja, so sehr macht er sich dann doch wieder keine Gedanken darüber. Allerdings ist ihm durchaus bewusst, dass Charles seine übliche Methode – einfach alles und jeden niedermetzeln und den Bengel da rausholen – nicht gutheißen wird. Von daher überlegt er schon ein bisschen, wie er es besser machen könnte. Dennoch weiß er sehr gut, dass sich all seine mühevoll zurecht gelegten Überlegungen sofort in Luft auflösen werden, sobald er den Jungen als Mutanten identifizieren kann und dann nur noch daran denkt, ihn dort so schnell wie möglich wegzuholen. Wer sich ihm dann in den Weg stellt, muss eben mit den Konsequenzen rechnen. Da versteht er einfach keinen Spaß. Brummend korrigiert er etwas die Flugbahn – das Wetter in New York lässt mal wieder zu wünschen übrig – und grübelt weiter nach. An sich sollte das Ganze möglichst unauffällig von Statten gehen. Wäre für alle Beteiligten auf jeden Fall das Beste. Doch so einfach wird es sicher nicht werden. Immerhin ist es ein Zirkus, den sicher viele Leute besuchen. Im schlimmsten Fall muss er also etliche Stunden warten, nachdem die letzte Vorstellung gelaufen ist, und kann sich dem Jungen erst dann nähern. Fragt sich nur, ob er sich selbst so lange gedulden kann? Womöglich wird ihm diese Frage aber auch abgenommen, wenn er mitansehen muss, wie schlecht ihn diese Typen behandeln. Dann kann er unmöglich an sich halten und einfach tatenlos zusehen, völlig egal, ob es dann Tote gibt oder nicht. Wolverine muss aber ohnehin schon sagen, dass er nicht übel Lust hätte diesen Direktor einen Kopf kürzer zu machen, allein schon wegen der tiefsitzenden Traurigkeit und Angst in den seelenlosen Augen des Knaben. Mit einem unterdrückten Knurren tief in der Kehle packt er den Steuerknüppel fester und versucht vehement das bemitleidenswerte Bild des blauen Mutanten aus seinem Kopf zu verdrängen. So recht will ihm das aber nicht gelingen und das schürt sein ohnehin schon unbeherrschtes Temperament nur noch mehr, was das Ganze zu einem sehr langen Flug macht... 3 Es ist bereits früher Abend, als die Wolf 2 in der Nähe von Sun City hinter einer Bergkette landet. Gut verborgen vor aller Augen ruht sie dort nun im Tarnmodus, während Logan zu Fuß in die Stadt hinunter geht. Allzu weit muss er auch gar nicht laufen, da der Zirkus seine Zelte unweit auf der anderen Seite der Bergkette aufgeschlagen hat. Noch bevor Wolverine auf den weißen Sand tritt, der sich an das zerklüftete Geröll der Berge anschließt, steigt ihm schon der penetrante Geruch von Popcorn, Zuckerwatte, gerösteten Nüssen und allerhand anderem Süßkram in die Nase. Unweigerlich schüttelt sich der Jäger etwas. Er begreift beim besten Willen nicht, wie sich die Leute nur ununterbrochen mit diesem Zeug vollstopfen können. Mit von Ekel verzerrtem Gesicht zieht er eine Zigarre aus seiner Lederjacke und schnuppert daran. Wie ein Bluthund nimmt er den würzig-herben Duft in sich auf, der einen nahezu erregten Schauer seinen Rücken hinabgleiten lässt. Das ist ein Geruch ganz nach seinem Geschmack! Keine Minute später brennt die teure Köstlichkeit auch schon und der X-Man saugt begierig den Rauch tief in seine Lungen hinein. Für eine Sekunde breitet sich ein überaus angenehmes Schwindelgefühl in seinem Kopf aus, in dem er sich nur allzu gern verlieren würde. Doch schon im nächsten Moment greift sein Selbstheilungsfaktor, tötet brutal das schöne Gefühl und regeneriert alles, was in diesem Augenblick in seinem Körper Schaden genommen hat, und sei es noch so gering. Diese Tatsache verflucht der Krieger in solchen Momenten doch schon ziemlich, kann er sich doch niemals high fühlen oder mal einen möglicherweise erlösenden Blackout von irgendwelchen Drogen empfinden. Er ist auf ewig dazu verdammt auf dieser verfluchten Erde zu wandeln, bis sein Körper doch irgendwann einmal den Dienst quittiert und er das Zeitliche segnen darf. Doch wie lange wird das noch dauern? Fünfzig Jahre? Hundert Jahre? Noch länger? So genau will er sich das auch gar nicht vorstellen. Immerhin hat er vor ein paar Monaten schon seinen neunzigsten Geburtstag gefeiert und sieht dennoch immer noch aus wie dreißig. Die meisten Personen, die ihm etwas bedeutet haben, sind längst tot. Freunde, Bekannte, Verbündete, Feinde, unzählige Geliebte und Bettgenossen, ja sogar seine Frau und seine Kinder – alle tot. Auf die ein oder andere Weise aus seinem Leben gerissen, doch er ist immer noch hier und wird es auch weiterhin bleiben. Da führt kein Weg dran vorbei. Außer man findet vielleicht doch eines Tages ein Heilmittel für das X-Gen... Doch bis dahin bleiben ihm nur seine verschwommenen Erinnerungen, an all die Leben, die er schon geführt hat. Mit tiefem Seufzen zieht er weiterhin den irgendwie tröstlichen Rauch der Zigarre ein. Sie kann ihn vielleicht nicht vergessen lassen, doch sie hilft ihm, sich an schönere Tage zu erinnern, die schon sehr lange Vergangenheit sind und mit denen er eigentlich hätten glücklich sterben können. Gleichermaßen besinnt er sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe und blickt sich daher aufmerksam und doch völlig unauffällig auf dem Gelände des Zirkus um. Es herrscht reger Betrieb, während alle Beteiligten die Show vorzubereiten scheinen, die in einer Stunde beginnen und die letzte für heute sein wird. Jede Menge Besucher halten zu auch schon hier auf und bestaunen schon einmal die vielen Tiere in ihren erschreckend kleinen Käfigen. Die braunen Augen des Jägers sondieren gekonnt die Umgebung, dennoch kann er kein Anzeichen des jungen Mutanten ausfindig machen. Und bei all diesen überaufdringlichen Gerüchen um sich herum, kann er auch keine Spur aufnehmen. Halb so wild. Er wird sich eben diese lächerliche Show antun und abwarten, bis sich alles etwas beruhigt hat und dann zuschlagen. Warten, bis die Beute zum Jäger kommt. Warten... 4 Gut eine Stunde später sitzt Wolverine in der ersten Reihe vor der Manege und wartet ungeduldig auf den Beginn der Show. Die ausgelassenen und fröhlichen Stimmen der Leute um sich herum blendet er gekonnt aus. Seine Aufmerksamkeit gilt ganz allein dem, was sich in wenigen Minuten vor ihm abspielen wird. Gleichzeitig verflucht er sich wieder einmal selbst für seine überaus gute Nase. Der verwahrloste Geruch der Tiere, die hinter dem Vorhang auf ihren Auftritt warten, ist Übelkeit erregend, der des Essens erst recht. Dennoch kann er jeden der Gerüche genau zuordnen und das wird ihm helfen herauszufinden, ob der blaue Bengel ein Mensch oder ein Mutant ist. Seine Bewegungen ebenfalls. Mutanten bewegen sich im Allgemeinen anders als Menschen, auch wenn es vielen selbst nicht bewusst ist – besonders wenn sie rein äußerlich einem Menschen ähnlicher sehen, so wie Logan selbst. Doch der blaue Dämon könnte auffälliger kaum sein, sollte es sich dabei wirklich nicht um ein sehr ausgeklügeltes Kostüm handeln. Seine bloße Anatomie lässt es daher gar nicht zu, dass er sich wie ein Mensch bewegt, von daher sollte es nicht schwer sein, die Lösung zu finden. Schließlich wird das Licht im Zelt gedimmt und die Show fängt endlich an. Mit wenig Begeisterung verfolgt Wolverine die einzelnen Kunststücke der Artisten und Tiere, immer wieder unterbrochen von Getmann, der überschwängliche Ansagen für den folgenden Teil macht. Es stinkt dem Jäger jedoch gewaltig, dass dieser kleine Kerl die ganze Zeit eine Peitsche in der Hand hat, mit deren schneidendem Knall die nächste Nummer eingeleitet wird. Unweigerlich fragt sich der Schwarzhaarige, ob dieser Typ auch außerhalb der Shows so locker mit diesem unschönen Spielzeug umgeht. Es würde zumindest erklären, warum er in fast allen Augen – sowohl der Tiere, wie auch der Darsteller – eine gewisse Angst erkennen kann, wenn sie die Manege betreten. Zähneknirschend nimmt er das Ganze erst einmal hin, obwohl er liebend gern da raufgehen und die Seele aus dem kleinen Fettsack prügeln würde. Vielleicht ist später dafür ja noch Zeit? Nun platziert sich Getmann wieder in der Mitte der Manege und erhebt die Stimme. „Nun, meine Damen und Herren, ist der Moment gekommen, auf den Sie alle schon so sehnsüchtig gewartet haben! Nun werden Sie ihn sehen, den Sohn des Teufels! Aufgestiegen aus den Feuern der Hölle und hier, um Sie das Fürchten zu lehren! Also nehmen Sie sich vor ihm in Acht, sonst wird der Nightcrawler Sie erwischen!“, posaunt er lautstark und lässt die Peitsche erklingen. Kurz darauf legt sich auch die Manege für kurze Zeit in völlige Dunkelheit, während einige schnelle Vorbereitungen getroffen werden. Als ein einziger Spot hell aufleuchtet, hat sich die Manege in die Nachbildung eines kleinen Dorfes verwandelt. Holzrequisiten von Häusern sind zu sehen, zudem ein angedeuteter Marktplatz mit einem kunstvollen Brunnen in der Mitte. Auf einem großen Banner hinter den Häusern ist ein Sonnenuntergang zu erkennen. Geschäftig bewegen sich eine Hand voll Statisten durch das Dorf und versuchen das alltägliche Treiben dort nachzustellen. Dann senkt sich das Banner mit dem Sonnenuntergang weiter herab, um anzudeuten, dass die Nacht nun anbricht. Die darstellenden Dorfbewohner wirken plötzlich beunruhigt, nahezu ängstlich. Eilig huschen sie in die Häuser und verschanzen sich dort regelrecht. Kurz darauf beginnen sie unheilvoll zu singen. „Die Winde heulen und brausen nur so Und Regen gießt hernieder Die Türen sind nun verschlossen und verriegelt, Als das Ding in die Stadt gekrochen kommt.“ Mit ihrem Gesang setzt sich ein zweiter Spot in Bewegung und leuchtet in eine dunkle Ecke am anderen Ende der Manege. Im Schein des Strahlers werden zwei gelbe Augen sichtbar, die sich lüstern umzuschauen scheinen. „Es kommt direkt aus der Hölle Es ist ohne Gleichen Es beschleicht sein Opfer Schau nicht hinter dich!“ Langsam wird die Gestalt des Nightcrawler im Scheinwerfer sichtbar. Hörbar schnappt das Publikum erschrocken nach Luft. Und auch Logan beugt sich erwartungsvoll nach vorn und starrt den Jungen durchdringend mit seinen erfahrenen Augen an. Für ihn besteht schon jetzt kein Zweifel mehr, dass es sich dabei nur um einen echten Mutanten handeln kann. Seine ganze Haltung wäre für einen Menschen – und sei er auch noch so durchtrainiert und athletisch – völlig unmöglich einzunehmen. „Die Kreatur, die durch die Nacht kriecht Hüte dich vor dem Untier in blau! Die Kreatur, die durch die Nacht kriecht Du weißt, dass sie wiederkommen wird! Die Kreatur, die durch die Nacht kriecht.“ Der Spot setzt sich wieder in Bewegung und deutet dem Bengel damit scheinbar an, sich ebenfalls zu bewegen. Für einen winzigen Moment kann Wolverine die Unsicherheit und den Unwillen in seinem hageren Gesicht erkennen. Bevor der Scheinwerfer ihn jedoch ganz verlässt, setzt er sich doch in Bewegung. Wie ein Tier auf allen Vieren tapst er geduckt vorwärts und versucht dabei selbstsicher und gefährlich zu wirken, was bei seinem kindlich-scheuen Blick schlichtweg ein echter Witz ist, wirkt er auf den X-Man doch gerade mal so gefährlich wie eine neugeborene Katze bei ihren ersten Gehversuchen. Für Logan ist aber auch nicht zu übersehen, dass er sich gar nicht wohlfühlt. Vielleicht liegt es an Getmanns Peitsche? Vielleicht fürchtet er sich aber auch vor den abwertenden und richtiggehend bösartigen Rufen der vielen Leute im Publikum, die ihn als scheußliches Ungeheuer beschimpfen. „Die heilige Stätte wird aufgesucht Geflüsterte Gebete sind eine letzte Zuflucht Wenn sein Schrei ertönt, verkrampfen sich die Körper Vor Schreck erstarrt wissen sie, dass sie gefangen sind.“ Wachsam bewegt sich der Junge über den Marktplatz hinweg und klettert auf den Rand des Brunnens. Von dort aus blickt er sich scheinbar suchend um, wirkt nun aber auch etwas sicherer, was auch daran liegen könnte, dass die Leute nun gespannt die Luft anhalten. Seine spitzen Ohren zucken nach jedem Geräusch. Sein langer Schwanz schwingt wie bei einer zornigen Katze angriffslustig von einer Seite zur anderen. Seine seelenlosen Augen bohren sich in die angedeutete Nacht. Mit Wehmut stellt der Schwarzhaarige fest, wie schrecklich mager der Junge doch ist. Jede Rippe zeichnet sich deutlich im Scheinwerferlicht auf seiner blauen Haut ab und er trägt nicht mehr als einen dreckigen Lumpen um die Hüften, der gerade das Nötigste verbergen kann. Wie aufs Stichwort des Gesanges gibt Nightcrawler dann ein sehr animalisches Geräusch von sich, eine seltsame Mischung aus Knurren und Heulen, was ihn in Logans Augen aber auch nicht gefährlicher macht, nur sein Mitleid für den Jungen schürt. Das Publikum zieht allerdings abermals hörbar die Luft ein und tuschelt erschrocken miteinander. So armselig das Ganze auch sein mag, bei diesen dämlichen Menschen verfehlt es dennoch nicht die Wirkung. „Es kommt direkt aus der Hölle Es ist ohne Gleichen Es beschleicht sein Opfer Schau nicht hinter dich!“ Auf allen Vieren schleicht der junge Mutant nun vom Brunnen herab und begibt sich zu den Häusern, folgt ganz dem Text des Singsangs. Sein ärmliches Knurren veranlasst die Darsteller dazu, sich ängstlich zusammenzudrängen. Wie ein Tiger auf Beutezug bewegt sich der Junge geduckt von einem Haus zum anderen, knurrt und schnüffelt. „Die Kreatur, die durch die Nacht kriecht Hüte sich vor dem Untier in Schwarz! Die Kreatur, die durch die Nacht kriecht Du weißt, dass sie wiederkommen wird! Die Kreatur, die durch die Nacht kriecht.“ Dann hat Nightcrawler sich eines der Häuser herausgepickt und verharrt geduldig davor. Seine seelenlosen Augen scheinen regelrecht Löcher in die Hauswand zu bohren. Und wieder zuckt sein Schwanz angriffslustig wie bei einer gereizten Katze von einer Seite zur anderen. „Wenn die Nacht kommt, Nähert sich das Ende Sie werden ihre letzten Riten Im Winde widerhallen hören.“ Für einen Moment wirkt der Mutant nahezu erschrocken, als die Darsteller in hilflose Gebete verfallen. Dann beginnt er unmenschlich und lüstern zu lachen, lässt sich davon nicht abschrecken. Hilflos ergreifen die Darsteller die Flucht in einen angedeuteten Keller unter dem Haus und drängen sich dort wieder zusammen. „Zusammengedrängt im Keller, Mit Blicken, in denen die Angst geschrieben steht, Trauen sie sich weder sich zu bewegen noch zu atmen, Wenn die Kreatur schreit.“ Erneut gibt Nightcrawler diese unmenschliche Mischung aus Knurren und Heulen von sich. Betrachtet sich das Haus eingehender und sucht nach einem unkomplizierten Weg hinein. „Krallen beginnen an der Außenwand zu kratzen Sie krallen sich in die Fenster Es ruft: „Komm zu mir!“ Die Atmosphäre ist elektrisch geladen, Als es jetzt die Treppe herunterkommt.“ Wie im Singsang der Darsteller beschrieben, kratzt der Junge nun mit den Nägeln über die raue Hauswand. Richtige Krallen hat er jedoch nicht, wie Logan feststellt. Danach schiebt er eines der Fenster hoch und steigt hindurch. Sein Rufen ist allerdings auch nicht zu hören, wird nur von den Darstellern gesprochen, und Wolverine fragt sich unweigerlich, ob der Bengel überhaupt sprechen kann oder schlichtweg nur wie ein wildes Tier irgendwelche einstudierten Laute von sich geben kann. Langsam wendet sich der Mutant der angedeuteten Kellertreppe zu und steigt knurrend herab. „Nutzlos, sich in der Dunkelheit vor seinem Durchdringenden Blick verstecken zu wollen Der Tod tritt so plötzlich ein, Wie sie es sich gewünscht haben Die Seelen steigen zum Himmel empor, während es sich an Fleisch und Blut gütlich tut…“ Ängstlich drängen sich die Darsteller zusammen, während Nightcrawler auf sie zu schreitet, die scharfen Zähne bleckt. Als er zum tödlich-präzisen Sprung ansetzt, zerstreuen sich die Darsteller, sodass er lediglich eine wehrlose Frau erwischt, sie zu Boden reißt und ihr dann in den Hals beißt. Logan sieht jedoch genau, dass er sie nicht einmal mit seinen Zähnen streift, sondern in einen kleinen Beutel mit roter Farbe beißt, der das Blut seines Opfers darstellen soll. Dennoch verzieht die Frau so dermaßen angewidert das Gesicht, dass es einem Wunder gleichkommt, dass sie den Jungen nicht von sich wegstößt, doch auch dies bleibt dem Publikum verborgen, nicht aber Logans geschultem Blick. Die übrigen Darsteller verlassen fluchtartig das Haus und ihr Singsang endet, um den letzten Teil der Nummer einzuläuten. Mit blutverschmiertem Maul wendet sich der Dämon um und hetzt nun den Dorfbewohner hinterher. Sein zorniges Knurren erfüllt die Luft und lässt die Leute im Publikum immer unruhiger werden. Wieder auf dem Marktplatz angekommen, rennt der angebliche Sohn des Teufels hinter den wehrlosen Darstellern her und tötet einen von ihnen nach dem anderen. Nach getaner Arbeit klettert er wieder auf den Brunnen und lässt einen surrealen Schrei des Triumphs ertönen. „Oh, gibt es denn Niemanden, der diesem Monster Einhalt gebieten kann?“, ertönt von irgendwo hinter dem Vorhang eine erstickte Frauenstimme. „Doch, den gibt es!“, schallt nun Getmanns Stimme durch die Manege und lässt Nightcrawler sichtlich auf seinem Platz zusammenzucken. Der X-Man glaubt jedoch nicht, dass diese Reaktion nur gespielt ist, dafür ist die Panik in seinen leeren Augen zu echt. Mit einem widerlichen Knallen schlägt Getmanns Peitsche auf den Boden und der blaue Dämon zuckt abermals zusammen. Ängstlich sieht er sich nach dem kleinen Mann um, der ihm immer näherkommt. Dann setzt er zu einem erstaunlichen Sprung an und rettet sich auf ein Trapez, das mehrere Meter über ihm hängt. Von dort aus schwingt er sich überaus elegant über ein Hochseil und weitere Trapeze hinweg, während Getmann nur immer wieder seine Peitsche knallen lässt, als wolle er ihn damit antreiben. Logan gefällt das Ganze immer weniger und es kostet ihn seine gesamte, kaum vorhandene Beherrschung, um nicht doch die Manege zu stürmen und dieses Martyrium zu beenden. Erschrocken weiten sich dann allerdings seine Augen, als das Seil, nachdem der Junge als nächstes greifen will, plötzlich von einem im Schatten verborgenen Bühnenarbeiter weggezogen wird. Der Mutant gibt einen überraschten Laut von sich und stürzt dann haltlos in die Tiefe. Ungebremst schlägt er auf dem Boden vor Getmanns Füßen auf und stemmt sich überaus schwerfällig wieder auf alle Viere. Es gleicht einem Wunder, dass er sich dabei nicht den Hals gebrochen hat. Doch sein Sturz hatte etwas sehr Katzenhaftes an sich. Das Meiste konnte er so tatsächlich mit seinen Händen und Füßen abfangen, dennoch konnte er den harten Aufprall damit nicht ganz verhindern, was wahrscheinlich auf den Schreck zurückzuführen ist. Unweigerlich fragt sich der Jäger, ob das überhaut zu der Nummer gehört hat. Kalt blickt der Zirkusdirektor auf ihn hinab und holt mit der Peitsche aus. „Dein Ende ist nahe, Dämon!“, verkündet er und schon im nächsten Moment schlingt sich die lange Sehne der Peitsche um den Hals des Jungen und zieht fest zu. Röchelnd versucht sich der Blaue daraus zu befreien. Wolverine fehlen die Worte. Diese ganze Show war von vorne bis hinten grottenschlecht inszeniert, doch das jetzt ist vollkommen echt! Tränen steigen in den seelenlosen Augen des Mutanten auf, er zittert am ganzen Körper. „Bitte nicht...“, wimmert er kaum hörbar. „Erwarte keine Gnade, Bestie! Stirb!“, erwidert Getmann kalt. Unbemerkt zieht er etwas aus seiner Tasche heraus, doch der Jäger sieht es. Es ist eine Spritze. Während der kleine Mann für das Publikum die Peitsche noch etwas fester anzieht, um das Dahinscheiden des Dämons zu symbolisieren, rammt Getmann Nightcrawler die Spritze in den Hals, woraufhin der wehrlose Junge augenblicklich zusammensackt und reglos in der Manege liegenbliebt. „Der Dämon ist tot!“, verkündet Getmann dann freudestrahlend dem Publikum, das in schallenden Applaus ausbricht. Nun tauchen auch wieder einige Dorfbewohner auf und zerren den bewusstlosen Nightcrawler auf einen improvisierten Scheiterhaufen. Fassungslos hört Wolverine mit an, wie das Publikum lautstark fordert den Dämon zu verbrennen. Glücklicherweise entfachen die Dorfbewohner kein echtes Feuer um den Jungen, was es aber auch nicht viel besser macht. Allerdings endet die Show damit und die Leute verlassen begeistert und überaus zufrieden das Zelt, während der X-Man noch eine ganze Weile fassungslos auf seinem Stuhl hocken bleibt und mitansieht, wie sie den immer noch besinnungslosen Jungen schließlich aus der Manege zerren... 5 Es dauert eine Weile bis auch die letzten Besucher den Zeltplatz des Zirkus verlassen haben, doch dann liegt alles still dar und Logan kann endlich nach Nightcrawler suchen. Als er ihn schließlich ganz hinten auf dem Platz in einem winzigen Käfig hocken sieht, ist der Junge immerhin wieder zu sich gekommen. Ohne den geringsten Schutz vor der nächtlichen Kälte hat er sich dort zusammengekauert und die Hände vor dem Gesicht gefaltet. Es wirkt, als würde er beten. Leise kann Wolverine ihn murmeln hören. „Guter Gott – ich wünsch mir einen Freund, die Sonne soll wieder scheinen. Hörst du mein Rufen? Siehst du meine Not? Spürst du meine Angst? Bist du mir nahe? Bleib da, bitte geh nicht fort!“ Allerdings versteht er kein einziges Wort, da der Bengel in einer anderen Sprache spricht, die der Jäger nicht identifizieren kann. Doch soweit er sich entsinnen kann, soll der Zirkus ursprünglich aus Deutschland kommen, aus einem kleinen Ort in Bayern. Von daher spricht er wahrscheinlich deutsch. Der Kanadier lässt ihm einen Moment, um das Ganze zu Ende zu führen, dann will er sich zeigen. Allerdings vernimmt er vorher Stimmen und zieht sich wieder zurück, um zu beobachten. Zwei breitschultrige Männer nähern sich zielstrebig dem Käfig. „Na, du Missgeburt, Lust auf ein bisschen Gesellschaft?“, höhnt der eine, während der andere die Tür des Käfigs öffnet. „Nein, bitte...!“, wimmert der Junge augenblicklich hilflos und versucht vor ihnen zu fliehen. Doch der Käfig ist so schrecklich klein, dass ihm dazu nicht die Möglichkeit bleibt. Grob packt ihn der erste Kerl am Knöchel und zerrt ihn äußerst unsanft aus seiner ungewollten Behausung heraus. „Bitte nicht...“, kommt es nun in Tränen erstickt von dem jungen Mutanten, als sich die zwei drohend vor ihm aufbauen. Die Gesichter der beiden Männer sind lüstern und rücksichtslos und Logan kann sich nur zu gut vorstellen, was dem Jungen gleich blühen wird, sah er denselben Ausdruck doch im Gesicht der Peiniger seiner Frau und seiner Tochter, bevor sie geschändet vor seinen Augen sterben mussten. „Fasst ihn nicht an!“ Die Schärfe seiner Stimme gleicht einer Pistolenkugel. Sie durchschneidet die Luft so scharf, wie es Sekunden später seine säbelgleichen Krallen mit den wehrlosen Körpern dieser missratenen Menschen machen. Immer und immer wieder rammt er seine Adamantiumklauen in die dampfenden Überreste ihrer Körper hinein, kann gar nicht mehr aufhören und will es auch so bald nicht. Zu lange hat er all das tatenlos mitansehen müssen. Mit schreckgeweiteten Augen hockt der Junge unweit neben ihm und weiß nichts mit sich anzufangen. Zitternd starrt er nun unentwegt die Überreste seiner Peiniger an. Das Schlachten scheint Ewigkeiten zu dauern und dennoch sind es nur Sekunden. Schließlich steht der Fremde keuchend in einer riesigen Blutlache, ein befriedigtes Lächeln umspielt seine zornig zurückgezogenen Lippen und lässt ihn völlig irre aussehen. Langsam gleiten dann die gewaltigen, metallisch glänzenden Krallen in seine Fingerknöchel zurück und erzeugen dabei ein seltsames Geräusch, das dem jungen Mutanten einen Schauer über den Rücken jagt. Sichtlich zufrieden wendet der kleinere Mann ihm dann das Gesicht zu. Er sagt etwas, doch der Blaue hört es gar nicht. Nightcrawler ist dermaßen entsetzt über die wütende Zurschaustellung des Tötens, dass er wie erstarrt hockenbleibt und nur auf die blutüberströmten Leichen vor sich starrt. In der Ferne kann Logan allerdings schon Stimmen hören, die sich ihnen schnell nähern und sicher nichts Gutes bedeuten. So gern er auch würde, kann er nicht die gesamte Besetzung des Zirkus niedermetzeln, also müssen sie hier weg. „Komm, Junge, Zeit zu verschwinden!“ Zielstrebig läuft er los, doch der blaue Mutant folgt ihm nicht. Er ist ebenso wenig in der Lage fortzulaufen wie ein Reh, das ein Jäger mit seiner Blendlaterne eingefangen hat. Gedankenverloren starrt er einfach nur weiterhin auf die Leichen, als wären es geliebte Menschen gewesen und nicht die Peiniger, die ihm sein Leben lang Kummer bereitet haben. Knurrend registriert Logan, dass sich ihnen eine Meute Zirkusleute nähert, bewaffnet mit Mistgabeln und brennenden Fackeln, wie eine Horde dummer Bauern in einem schlechten Film. Ihre hasserfüllten Stimmen zerschneiden die Stille, doch Nightcrawler scheint sie gar nicht wahrzunehmen. Erst, als eine der Fackeln direkt vor ihm auf dem Boden landet, schreckt er heftig zusammen und sieht die drohende Gefahr. Grob packt Wolverine ihn daraufhin am Schwanz und zieht ihn ein Stück über den Boden. „Los doch, du Elf! Beweg dich endlich! Wir müssen hier weg!“ Mit großen Augen blickt der Junge ihn an, als würde er gar nicht verstehen, was der fremde Mann ihm sagen will. Dann scheint er zu begreifen und setzt sich in Bewegung. Auf allen Vieren rennt er los und wirkt dabei mit seinem langgestreckten, schlanken Körper wie ein Windhund auf der Rennbahn. Überrascht stellt der Kanadier fest, dass der Bengel auch echt schnell ist und so hat er Mühe ihn wieder einzuholen. Doch die rasende Meute kommt ebenfalls erstaunlich rasch näher. „Wir müssen dort in die Berge, Junge…“, versucht er dem blauen Mutanten klarzumachen, um ihm eine Richtung vorzugeben und ihn nicht blind umherrennen zu lassen. Dann packt er ihn abermals am Schwanz, um sicher zu gehen auch wirklich seine Aufmerksamkeit zu haben. Dadurch erschreckt sich der Jüngere jedoch ziemlich, fürchtet er doch wohl, dass ihm die Meute schon im Nacken sitzt. Das Nächste, woran sich Logan erinnern kann, ist ein drückendes Gefühl im Magen, als hätte ihm jemand mit voller Wucht hineingeschlagen; und der beißende Gestank von Schwefel, der seine überempfindlichen Sinne explosionsartig betäubt. Als er die Augen öffnet, hockt er auf den Knien und sieht, wie sich eine purpurfarbene Wolke vor ihm in Luft auflöst. Um ihn herum die Berge und ein verwirrter, blauer Mutant. 6 Als Logan versucht aufzustehen, sinkt er ungewohnt kraftlos wieder auf die Knie und hält sich den Magen, der sich haltlos zu überschlagen versucht. „Scheiße…“, knurrt er mit zusammengebissenen Zähnen, um die Übelkeit zu unterdrücken. Doch es bringt nicht allzu viel, da er sich eine Sekunde später doch krampfhaft würgend übergeben muss. Seine letzte Mahlzeit ist allerdings schon ziemlich lange her, weshalb es hauptsächlich brennende Säure ist, die ihm den Hals hinaufsteigt. Knurrend schüttelt er sich unter dem bitteren Geschmack und straft den Jungen dann mit einem erzürnten Blick. Dieser macht sich ganz klein und tapst ängstlich ein paar Schritte zurück, ehe er ungeschickt über seine langen Beine stolpert und sich unsanft auf den Hintern niedersetzt. „Es tut mir leid, ich…“, setzt er hilflos an und doch weiß er nicht, was er sagen soll. Versteht er doch selbst nicht einmal, was gerade passiert ist. „Schon gut…“, winkt Logan noch etwas atemlos ab und setzt sich ungelenk hin. Bisher war mein Leben wie ein Teufelskreis Und jedes Warten vergebens auf den Tag, der mich befreit Doch seit heute hörst du dich Geister munkeln die ganze Straße entlang „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragt Nightcrawler nach einer Weile vorsichtig. Völlig verständnislos sieht Wolverine ihn an. „Hä? Sprich englisch, Junge, sonst verstehe ich nichts von deinem Gebrabbel. Was soll das überhaupt für eine Spreche sein? Klingt ja schrecklich.“, mokiert sich der Kanadier und wird nun seinerseits verwundert von dem Jungen betrachtet. Es dauert einen Moment, bis er sich gesammelt hat und dann von Neuem anfängt. „Verzeihung. – Das war deutsch. Wenn ich nervös bin, vergesse ich oft englisch zu sprechen. – Ich wollte wissen, ob es dir gutgeht.“, kommt es schließlich scheu von dem Jüngeren. Ich tappe jahrelang im Dunkeln, jetzt gehen die Scheinwerfer an Der schwere Schatten fällt Und es wird hell… „Jaja, alles bestens. Mach dir um mich mal keine Sorgen. So schnell haut mich nichts um. Wie stets mit dir? Ich hab´ die Show gesehen. Die Schweine haben dich ganz schön hart rangenommen.“, erwidert der Schwarzhaarige knurrend. Leicht schreckt der Junge zusammen, scheint es ihm doch sichtlich unwohl zu sein, dass der andere ihn gesehen hat. „Es – es geht schon wieder. – Ich will nur nicht darüber sprechen...“, traurig senkt der Blaue den Kopf und lässt die Schultern hängen. Logan bricht der Anblick regelrecht das Herz und er würde jetzt liebend gern zum Zirkus zurück und dafür noch ein paar Köpfe rollen lassen. Doch er weiß sehr gut, dass das nicht geht. Nightcrawler braucht jetzt seine ganze Aufmerksamkeit und Führsorge und das muss er sich immer wieder sagen. Alle Türen waren verschlossen Stand mit dem Rücken zur Wand Jetzt stehen sie speerangelweit offen Ich habe die Schlüssel in der Hand „Das wird schon wieder, Elf.“, meint er leicht lächelnd und blickt ihn verständnisvoll an. Der Jüngere runzelt irritiert die Stirn. „Wieso nennst du mich so?“, fragt er verwundert, kann er doch zwischen sich und so einem wundervollen Märchenwesen keinerlei Ähnlichkeit erkennen. „Weil ich finde, dass du wie ein Elf aussiehst, darum. – Zumindest deine Ohren erinnern mich daran. – Und ich habe das Gefühl, dass du auch ein ganz nettes Kerlchen bist. Außerdem will ich dich nicht Teufelsbrut oder so nennen, denn das bist du nun wirklich nicht, egal was sie dir erzählt haben. Du bist ein Mutant, ein genetischverunglückter Mensch, genau wie ich, und kein Ungeheuer aus der Hölle.“ Mit großen Augen sieht der Blauhäutige ihn an. „Ein Mutant? Ein Mensch? Das kann ich kaum glauben...“ „Es ist aber so, also finde dich damit ab, Junge.“ Ein leichtes Lächeln huscht über das Gesicht des Größeren hinweg, so als wäre er furchtbar erleichtert das zu hören, fühlte er sich doch sein Leben lang immer nur wie ein Monster. Ich wollte meine Zukunft nicht erleben Und noch gestern hatte ich Angst davor Doch heute bin ich verliebt ins Leben, Weil ich die Furcht davor verlor „Du – du bist auch ein Mutant?“, fragt er dann vorsichtig. „Ja, oder dachtest du etwa, Menschen kommen normalerweise mit solchen Dingern auf die Welt?“, erwidert der Kanadier keck grinsend und lässt die Krallen an seiner linken Hand herausschnellen. Snikt! ertönt es dabei und Nightcrawler zuckt leicht zusammen. „Ich denke nicht, nein“... „Wie heißt du eigentlich? Ich meine, hast du einen menschlichen Namen, anstatt diesem Nightcrawler?“, will der Jäger dann wissen, während er sich eine neue Zigarre anzündet. „Meine Mutter nannte mich Kurt. – Also eigentlich war sie nicht meine richtige Mutter, aber sie hat mich aufgezogen. Wer meine echten Eltern sind, weiß ich nicht...“ „Wo ist die Frau jetzt?“ Im selben Moment bereut Logan die Frage aber auch schon wieder, da sie dem Jungen sehr nahe zu gehen scheint. Tränen glänzen in seinen seelenlosen Augen und er kauert sich zusammen, als wäre ihm schrecklich kalt. Ich bin gefasst wie nie Auf das, was vor mir liegt… Ich bin bereit! „Sie – sie ist gestorben, als ich vier war. Dann irrte ich lange Zeit allein umher, bis mich die Leute vom Zirkus gefunden und eingesperrt haben...“ Mitfühlend legt der Ältere ihm eine Hand auf die schmale Schulter. „Das tut mir leid.“ Kurt bemüht sich um ein Lächeln, auch wenn es nicht ganz funktionieren will. „Wie heißt du denn?“, fragt er stattdessen. „Man nennt mich Wolverine. Wirst schon merken, wieso. Eigentlich heiße ich James, nach meinem angeblichen Vater, doch der Name ist scheiße, also wag es ja nicht mich so zu nennen!“, meint er verächtlich, mit scharfem Unterton und zuckt dann mit den Schultern. „Aber du kannst mich Logan nennen, wenn du willst.“ Egal was noch kommt Und was du verlangst von mir Ich stell mich dir ganz Ich habe keine Angst vor dir Eine Weile herrscht Schweigen zwischen ihnen und jeder scheint seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. „Danke, dass du mir geholfen hast. – Doch, warum?“ Der Kanadier versteht das deutsche Wort zwar nicht, doch aus dem Kontext und Kurts Stimmlage kann er es herleiten. Er glaubt aber nicht, dass es jetzt noch etwas mit Nervosität zu tun hat, dass er anscheinend in seine Muttersprache zurückfällt, wohl eher, dass er vielleicht nicht weiß, wie es auf Englisch heißt, oder es nicht gut aussprechen kann. Sein Englisch hat zum Teil einen starken Akzent. Wolverine kann sie gut vorstellen, dass es ziemlich unverständlich wird, wenn er schnell spricht oder sich aufregt. Allerdings wird es bestimmt besser werden, wenn er erst im Institut ist, keine Angst mehr haben muss und alle um ihn herum nur englisch sprechen. Ich habe ein neues Leben Und ja, es fühlt sich gut an Ich höre auf immer nur zu reden Fange an endlich anzufangen Lass die Vergangenheit lästern Sie ist gekränkt, denn ich blieb ihr nicht treu Nein! „Das hatte mehrere Gründe. Zum einen konnte ich es absolut nicht ertragen, wie dich diese miesen Typen behandelt haben, nur weil du anders aussiehst. Das finde ich einfach nur zum Kotzen! Menschen machen mich manchmal echt krank. Als Mutant hat man ohnehin schon nichts zu lachen, wird überall ausgeschlossen, verachtet, gejagt oder sogar getötet und das nur, weil wir nicht der allgemeinen Definition eines Homo Sapiens entsprechen.“, wütend spuckt er auf das Felsgestein neben sich und knurrt in sich hinein. Denn gestern war gestern Und heute ist alles neu Ich bin gefasst wie nie Auf das, was vor mir liegt Ich bin bereit! „Der andere Grund ist, dass mich jemand hergeschickt hat, um dich zu holen. – Ich komme von weit her, aus einem kleinen Ort in New York. Dort gibt es ein Institut oder besser gesagt eine Schule für Mutanten. Dort hilft man ihnen mit ihrem Anderssein umzugehen und ihre Fähigkeiten zu kontrollieren. Und ich denke mal, dass das, was du vorhin gemacht hast, war eine deiner Fähigkeiten. Sie stecken tief in dir und kommen zumeist unter großem Stress oder Angst zum ersten Mal Vorschein und dann musst du lernen, wie man sie sinnvoll einsetzen kann. In dieser Schule bringt man dir das bei. Dort leben nur Mutanten, die wir überall auf der Welt eingesammelt haben. Der Leiter dieser Schule hat dich in einem dieser selten dämlichen Werbespots für den Zirkus gesehen und mich hergeschickt, um herauszufinden, ob du wirklich ein Mutant bist, und dann soll ich dich zu dieser Schule bringen. – Naja, wenn du das willst, heißt das. Ich werde dich nicht dazu zwingen. Andererseits sieht es nicht so aus, als hättest du eine andere Wahl, oder?“ Egal was noch kommt Und was du verlangst von mir Ich stell mich dir ganz Ich habe keine Angst vor dir Nein! „Da hast du wohl recht. Ich habe keine andere Wahl. Doch das, was du erzählst hast, klingt ganz nach einem Ort, an dem es mir gefallen könnte. Ich meine, wenn dort wirklich nur Mutanten sind, bin ich zumindest kein Außenseiter mehr...“ „Das stimmt. Dort sind alle gleich, wenn man so will. Wir bemühen uns zumindest es so sein zu lassen. Ich warne ich nur vor, die meisten der anderen Mutanten sehen viel mehr nach Mensch aus – eher so wie ich – aber das sollte dich keineswegs abschrecken. Äußerlichkeiten spielen bei uns keine Rolle und es gab auch schon welche, die weit unheimlicher aussahen, als du dich fühlst. Von daher wird dich niemand bei uns komisch angucken. Unser Arzt dürfte dir aber sicher gefallen. Er hat auch ein blaues Fell!“, zwinkert Logan grinsend. Unweigerlich muss Kurt ebenfalls schmunzeln und damit scheint schon alles besiegelt zu sein. Egal was noch kommt Und was du von mir verlangst Ich stell mich dir ganz Ich habe keine Angst vor dir! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)