The Monster inside my Veins von ginakai ================================================================================ Prolog: Nummer 12 ----------------- Unsicher schaute sie sich um. Schon den ganzen Tag wurde sie von einem unwohlen Gefühl gequält. Heute würde etwas passieren. Das tat es immer, wenn sie genau dieses Gefühl hatte. Immer verschwand jemand. Nach der Reihenfolge. Sie war die Nummer 13 und außerdem einer der Jüngsten hier von allen. An ihren echten Namen erinnerte sie sich nicht mehr. Es war zu lange her, dass sie ihn von jemandem gehört hatte. Jeder hier nannte sie einfach nur 13. Als wäre sie nichts Besonderes. Nur eine bedeutungslose Nummer. „Bedrückt dich etwas?“, wurde sie plötzlich von einer weichen Stimme gefragt. 12 setzte sich auf den freien Platz neben ihr und lächelte sie an, während seine schwarzen, langen Strähnen über seine Schulter fielen, als er den Kopf leicht vorbeugte. Wie üblich trug er seine schwarze Strickmütze und seine Augen funkelten stets in einem dunklen Grünton. Immer, wenn sie ihn ansah, fühlte sie sich auf einmal so sicher. Das lag wohl daran, dass 12 jemand war, der seine Ängste und Befürchtungen nie offen zeigte. Meist wirkte er, als würde er sich um nichts sorgen. Sogar als 11 eines Tages verschwand, war er ruhig geblieben. War es ihm gleichgültig, dass nach der 11 die Nummer 12 folgte? Wie konnte er da so ruhig bleiben und immer noch lächeln? Dabei waren sie doch selbst Freunde gewesen… „Nein, ich habe nur an jemanden gedacht.“, beantwortete sie die Frage von 12, ohne ihn direkt anzusehen. „An 11?“, erkundigte sich der Schwarzhaarige. Sie erwiderte nur mit einem stillen Nicken. Auch wenn die 11 eine Nummer wie jede andere war, so war der Mensch hinter dieser Nummer doch etwas ganz Besonderes gewesen. Für jeden hier. Jeder hatte seine warmherzige Art zu schätzen gewusst. Sie erinnerte sich daran, wie er immer für sie da gewesen war. Ihr zugehört hat. Sie immer verteidigt und ihr Schutz und Wärme gegeben hat. Mit ihr geredet hat, wenn es ihr nicht gut ging. Er war immer ein treuer Freund gewesen. Nein, fast wie der Bruder, den sie nie hatte. Doch eines Tages verschwand er plötzlich. Es passierte in der Nacht, als er ihr zuvor versprochen hatte, gemeinsam von hier wegzugehen. Doch er war nie gekommen. Am nächsten Tag hatte es keine Spur mehr von ihm gegeben. Wie bei all den anderen auch. „Tut mir wirklich leid, ich weiß, dass er dir wichtig war.“, entschuldigte sich 12. Aber er konnte doch gar nichts dafür. Niemand wäre in der Lage gewesen das zu verhindern. Aber genau das schien wohl der entscheidende Punkt zu sein. 12 machte sich Vorwürfe, weil er glaubte, dass er es hätte verhindern können. „Wenn ich wenigstens Gewissheit hätte, ob er noch lebt oder...“ Sie beendete ihren Satz nicht. Allein der Gedanke daran brachte ihr Herz zum rasen, begleitet von einem Schauer über den Rücken. „Ich denke schon, dass-“ 12 wurde von dem unsanften Öffnen der Tür unterbrochen. Beide richteten ihren Blick angespannt auf den blondhaarigen Mann im Anzug, welcher die Cafeteria betrat. Hin und wieder begegnete man ihm im Gebäudekomplex auf einem der Flure, doch wer er genau war, wussten sie nicht. Womöglich ein direkter Angestellter des Bosses. „Du sollst mich begleiten, 12. Sofort.“, sprach der Mann in monotoner Tonlage. Dieser Satz genügte, dass dem Schwarzhaarigen für einen Moment der Atem stockte. Jedoch ließ er sich das nicht anmerken, denn er erkannte die offensichtliche Nervosität des Mädchens und die Angst, welche sich jetzt in ihren Augen widerspiegelte. „Sicher, was gibt es denn?“, fragte er und überspielte seine Unsicherheit mit einer unbekümmerten Stimme. Als er einen Schritt nach vorn setzte, spürte er einen festen Griff an seiner Jacke. Er warf seinen Blick über die Schulter und sah 13, wie sie energisch den Kopf schüttelte. „Der Boss will dich sehen.“, lautete die kühle Antwort des Mannes. Ob das wirklich stimmte, war fraglich. Doch er hatte keine andere Wahl, als die Aussage so hinzunehmen. Dinge zu hinterfragen, war in dieser Organisation, welche den Namen Eclipse trug, noch nie erwünscht gewesen. Über die Taten und Machenschaften von Eclipse suchte man schon lange nach Antworten und obwohl sie in der Untergrundwelt weitgehend bekannt war, so wusste niemand Genaueres, weshalb viele Gerüchte entstanden. Der Schwarzhaarige hatte schon früh das Ein oder Andere aufgeschnappt und wurde neugierig. Doch nicht nur er allein war interessiert gewesen, auch das Federal Bureau of Investigation, für welches er seit Jahren tätig war, hatte ein Auge auf Eclipse geworfen. Und wie es das Schicksal wollte, so hatte man ihn hier als Undercover-Agent eingesetzt, um die Wahrheit dieser rätselhaften Organisation ans Licht zu bringen. Dabei handelte es sich um seinen allerersten Undercover-Einsatz. Zugegeben, er hatte sich hier bis heute nie richtig eingelebt und fühlte sich aus etlichen Gründen entrechtet und ausgebrannt, doch er war zum Glück gut darin, den Unbekümmerten zu spielen. „Bitte bleib hier.“, flüsterte 13 flehend und zog den Stoff seiner Jacke fester an sich, während sie den Kopf senkte. Er strich ihr mit einer Hand über den Haaransatz, setzte ein gequältes Lächeln auf und meinte: „Ich komme doch zurück.“ „Wirst du nicht...“, murmelte das Mädchen daraufhin und schniefte. Dass sie vielleicht recht hatte, wusste er. Aber weil er keine andere Wahl hatte und nicht wollte, dass sie traurig war, versuchte er sie weiter vom Gegenteil zu überzeugen. In seinen Augen war 13 wirklich ein süßes Mädchen. Sie war noch sehr jung und es fiel ihr oftmals noch schwer Verantwortung zu übernehmen und eigene Entscheidungen zu treffen, aber innerlich versuchte sie stark zu bleiben. Sie erinnerte ihn an seine kleine Schwester, die er in seiner Heimat zurückgelassen hatte. Wie den Rest seiner Familie. Ob es ihnen gerade gut ging? Würden sie im Herzen bei ihm sein, wenn das heute sein letzter Tag war? Oder hatten sie ihn bereits vergessen? „Ich würde immer für dich zurückkommen, das weißt du doch, Prinzessin.“, beruhigte er das Mädchen weiter. Aber von dem gewöhnlich auf diesen Spitznamen folgenden Lächeln war heute nichts zu sehen. Er hörte, wie sich der Mann hinter ihm räusperte und ihn mit einem strengen Blick ansah. Die Ungeduld stand ihm ins Gesicht geschrieben. Es war besser, ihn nicht länger warten zu lassen. Also entriss sich 12 dem Griff des Mädchens und entfernte sich mit langsamen Schritten von ihr. „12!!“, hörte der Schwarzhaarige ihre helle Stimme hinter sich schreien. Sie klang voller Sorge und erschütterte ihn bis ins Mark. Doch das ließ er sich nicht anmerken. Die Tür schloss sich und währenddessen ging der Mann im Anzug unbeirrt weiter. „Bis später.“, verabschiedete 12 sich in einem ruhigen Ton, wohlwissend, dass 13 es nicht mehr hörte. Als würde er bald wieder bei ihr sein. Aber das konnte er nur hoffen. Denn 13 hatte ein gutes Gespür was Gefahr betraf. Wenn etwas sie plagte, dann bedeutete das definitiv nichts Gutes. „Es tut mir leid. Wenigstens dich wollte ich beschützen…“, sagte er gedanklich zu ihr. Eine Weile folgte 12 dem Mann im Anzug durch den Gang. Dabei wechselten die Beiden kein Wort miteinander. Alles, was man hören konnte, waren ihre gleichmäßigen Schritte, die ein leises Echo erzeugten. Und mit jedem Schritt wurde 12 nervöser. Zwar wurde er schon öfters zum Boss gerufen, doch dieses Mal stimmte etwas nicht. Auch wenn er nicht sagen konnte, was genau es war. Er versuchte seinen Atem wieder auf ein normales Tempo zu bringen. Sich zu beruhigen. Jedoch kreisten seine Gedanken wirr umher: „Ich kann jederzeit einfach umdrehen... und gehen... weglaufen... fliehen...“ Nein, das war nicht mehr möglich. Hinter ihm befanden sich bereits zwei weitere Männer. Dann drei. Vier. Als er den Kopf wieder geradeaus richtete, waren vor ihm ebenso zwei Männer. „Was zum Teufel soll das werden?“ Der Schwarzhaarige fühlte sich umzingelt. Neben ihm befanden sich dicke Wände aus Stahl. Es gab keinen Ausweg. Und immer noch ging er weiter. Er wagte es nicht, stehenzubleiben. Gleich würde er herausfinden, was sie mit ihm vorhatten. Wohin sie ihn brachten und aus welchem Grund. Aber das wollte er gar nicht erfahren. Schon seit er ein Kind gewesen war, hatte er es sich angewöhnt, allem Unerklärlichen auf den Grund zu gehen. Er liebte es, Rätsel zu lösen und Wahrheiten aufzudecken. Meistens war seine Neugier unersättlich. Das hatte er von seinem Vater geerbt. Jedoch war die jetzige Situation eine Ausnahme. Jetzt wollte er nicht wissen, was sich hinter der Stahltür befand, vor welcher die Gruppe nun stehenblieb. Er biss die Zähne zusammen. „Nein, ich kann nicht...ich muss...“ Als er endlich den Mut fasste, sich umzudrehen, wurde er plötzlich von zwei starken Händen gewaltsam festgehalten. Die anderen Männer versperrten ihm den Weg. Er konnte seinen Fluchtweg nicht mehr sehen. „Nein!!!“, schrie er und versuchte sich mit seiner gesamten Kraft loszureißen. Vergeblich. Ehe er es überhaupt schaffen konnte, sich von den unerbittlichen Griffen zu lösen, rammte ihm einer der vorderen Männer eine Faust in den Bauch. Ein Keuchen entwich ihm. Eine weitere Faust folgte, diesmal ins Gesicht. Eine dritte traf unmittelbar danach die andere Gesichtshälfte. Ihm wurde schwindelig. Für einen Moment färbte sich seine Sicht schwarz. Und dieser kurze Moment genügte, um ihn durch die Tür in den dahinterliegenden Raum zu zerren. Jemand schubste ihn in die Arme von zwei anderen, kräftigeren Männern, die ihn zu einer Art OP-Tisch drängten. Erst jetzt begann er zu realisieren, dass all die Leute in diesem Raum Laborkittel trugen. Da fiel ihm sofort eine bestimmte Person ein. Hastig drehte er seinen Kopf in alle Richtungen und suchte nach ihm. Schließlich entdeckte er ihn, hinter den anderen Wissenschaftlern am Ende des Raumes, neben einer aufgestellten Kamera. Der Schwarzhaarige schrie nach der Person. Rief seinen Namen. Mehrmals. Lauter. Doch der Mann, von dem er geglaubt hatte, er könnte ihm vertrauen, reagierte nicht, sondern starrte ihn mit leeren Augen an. Als würden sie sich nicht mehr kennen. Kurz darauf presste man ihn mit dem Rücken auf den Tisch und befestigte seine Gliedmaßen an dort angebrachte, feste Schnallen. Unmöglich, sich davon wieder zu befreien. Und trotzdem versuchte er es. Solange, bis seine Kräfte ihn verließen. Plötzlich legten sich zwei Hände um seine Wangen und hielten seinen Kopf fest. „Ich hoffe, du überlebst. Wäre wirklich schade, denn du hast hervorragende Fähigkeiten, die Eclipse sehr von Nutzen wären...“, sprach jemand in einer bedauerlichen Tonlage. Da übermannte 12 die Erkenntnis. Ihm wurde endlich klar, warum die anderen vor ihm nicht mehr zurückgekommen waren. 11 hatte sich damals für immer von ihm verabschiedet. Seine Flucht war noch in derselben Nacht gescheitert. So hatte 12 einen wichtigen Freund verloren, und 13 hoffte noch immer auf die Rückkehr von 11. Doch sie würde ihn nie wieder sehen. „Und mich wirst du auch nicht wiedersehen...“ 12 erkannte, dass er hier, auf diesem Tisch, in diesem Raum, umringt von kranken Wissenschaftlern, sterben würde. Wenn elf Menschen vor ihm nicht überlebt hatten, dann würde er das mit Sicherheit auch nicht. Eigentlich hatte er nie Angst vor dem Tod gehabt, denn die Angst vor dem Tod war meistens schlimmer als der Tod selbst. Doch er wollte nicht auf diese Art aus dem Leben treten. Er wollte nicht als Versuchsobjekt, wie es den Anschein hatte, hier sterben. Da würde er sich lieber eine Kugel durch den Kopf jagen. Und deshalb schrie er unentwegt weiter. Er schrie nach Hilfe. Doch es kam niemand. Der Dok beobachtete schweigend das Geschehen. Als er seinen Namen mehrmals hörte, verkrampfte sich sein Herz. Am liebsten hätte er sich einfach weggedreht und sich die Ohren zu gehalten. Stattdessen entwich ihm ein Seufzen, welches aber in dem Gejammer von 12 mit unterging. Er fasste sich mit der Hand an die Stirn und ließ sie dann durch seine silbernen Haare gleiten. Wegen dieses Giftes hatte er bereits elf Menschen auf dem Gewissen. Aber das Einzige, was ihn jedes Mal aufs Neue frustrierte war sein Versagen, nicht dazu in der Lage zu sein, das sogenannte Wundermittel so fertigzustellen, dass auch die gewünschte Wirkung einsetzte. Die Leben der Menschen waren ihm egal. Außer heute. Denn 12 bedeutete ihm sehr wohl etwas. Sein richtiger Name lautete Shuichi. Das hatte er ihm mal verraten. Der Silberhaarige bereute es, sich auf diesen Mann eingelassen zu haben. Schon seit dem Anfang dieses Projekts hatte er gewusst, dass man die Mitglieder mit Nummern nicht als vollwertige Mitglieder betrachten sollte und ihr Todesurteil schon so gut wie gefällt war. Aber er konnte nicht anders und wurde schwach, immer, wenn er Shuichi in die Augen gesehen hatte. Nun nahm einer seiner Laborkollegen die Spritze gefüllt mit dem Serum und stach die dünne Nadel vorsichtig in den Hals von Shuichi ein. Eigentlich war das sonst seine Aufgabe, doch heute lehnte der Dok es bewusst ab und nahm nur die Rolle des Beobachters ein. Die Wirkung des Giftes würde in wenigen Minuten einsetzen. Dann hieß es Erfolg oder Tod. Der Silberhaarige schaltete die Kamera ein, welche sich neben ihm befand und startete eine Videoaufnahme. „02. Februar 2020. Versuch Nummer 12. Objekt ist männlich, 29 Jahre alt, bei vollständiger Gesundheit. Das Serum wurde nun in den Körper eingeführt.“, begann er dann trocken. Wie immer. Es war immer dieselbe Routine. Doch heute befand sich ein fast unüberwindbarer Kloß in seinem Hals und jedes Wort fiel ihm schwer. Inzwischen wandelte sich das verzweifelte Gejammer zu Schmerzensschreien um. Er atmete tief durch und versuchte sie auszublenden. „Objekt scheint starke Schmerzen zu haben. Bis jetzt keine Wirkung erkennbar.“, berichtete er weiter. Seine Stimme klang leise. Womöglich würde man sie auf dem Tonband nicht hören. Obwohl die Chancen gering waren, betete er gedanklich weiter für das Leben von Shuichi. Bis jetzt sah es schlecht aus. Inzwischen schrie der Schwarzhaarige nicht mehr, sondern hustete und keuchte pausenlos. Da weiteten sich die Augen des Doks. „Blut...“, schoss es ihm durch den Kopf, als er sah, dass Shuichi große Mengen an Blut spuckte. Der gefesselte Körper zitterte stark. Jetzt war es zu spät. Er würde sterben. Der Dok schloss die Augen. Er hörte, wie ein paar gedämpfte Stimmen auf ihn einredeten. Er ignorierte sie und senkte den Kopf. Da war es wieder. Das Gefühl, versagt zu haben. Hinzu kamen diesmal noch die Schuld und der Herzschmerz. Erst nach ein paar Minuten wagte er es, die Augen wieder zu öffnen. Wie erwartet regte sich Shuichis Körper nicht mehr. Doch gerade, als er die Aufnahme beenden wollte, traf ihn der Schock wie ein Blitzschlag. Shuichis Handgelenke zuckten. Dann hob er langsam seinen Kopf. „Hat es...funktioniert?“, fragte sich der Silberhaarige im Stillen. Er bemerkte, dass Shuichis Augen plötzlich blutrot gefärbt waren. Dessen Gesichtsausdruck konnte er nicht ganz deuten. Er wirkte zwar emotionslos, doch trotzdem glaubte der Dok, auch Hass darin erkennen zu können. Er beobachtete, wie seine Kollegen anfingen zu tuscheln und die Meisten schauten völlig begeistert. Doch die Freude sollte ihnen im nächsten Augenblick vergehen. Er spürte seinen Herzschlag nicht mehr. Seine Atmung schien wie aufgelöst. Fühlte sich so der Tod an? Doch wenn er nicht mehr am Leben war, wieso umringten ihn dann weiterhin Menschen in Laborkitteln? Diese Menschen. Je länger er sie betrachtete, desto mehr verschwamm seine Sicht und veränderte sich zu einem farblichen Durcheinander. Es war, als würde er durch einen Wärmebildfilter hindurchsehen. Dann kam ihm die Erkenntnis. Das Gift. Was hatten sie ihm angetan? Er fühlte sich, als hätte man ihm seine Menschlichkeit geraubt. Schwerelos. Und doch gefangen. Er richtete seinen Blick auf die Schnallen um seine Handgelenke. Mit ungewohnter Leichtigkeit befreite er sich von den lästigen Fesseln, woraufhin die Laborkittelträger erstaunt zurückwichen. Allmählich nahm der tiefe Hass in ihm Gestalt an. Dafür sollten sie bezahlen. Sie sollten dafür büßen, was sie mit ihm gemacht hatten. Er wollte sie sterben sehen. Jeden einzelnen. Er wollte sehen, wie sie jämmerlich am Boden verbluten würden. Woher kam nur dieser Hass? Wie ferngesteuert stand er auf. Jetzt konnte er doch Herzschläge hören. Doch es war nicht sein eigenes Herz, was da so schnell schlug. Er nahm eine junge Frau mit Brille ins Visier. Ging auf sie zu und krallte seine Hand in ihren zärtlichen Hals, um ihn kurz darauf zu zerquetschen. Als er sie achtlos fallen ließ, gingen ein paar Wissenschaftler auf ihn los. Wollten ihn ergreifen. Er stieß sie mit Leichtigkeit von sich weg, so dass sie allesamt zu Boden fielen. Ein paar andere wollten aus dem Raum fliehen. Mit ungewohnter Schnelligkeit hielt er sie auf und zerrte sie in die Mitte des Raumes. Niemand würde hier lebend rauskommen. Er wollte keine Menschenseele entkommen lassen. Er griff sie an. Versuchte, sie in Stücke zu reißen. Rammte seine spitzen Zähne in ihre dünne Haut. Woher kam nur diese Gier nach Blut? Der Geruch davon biss sich in seine Nase und fühlte sich zugleich seltsam befriedigend an. Als die warme Flüssigkeit seine Zunge berührte, schien es, als würden seine Geschmacksknospen nahezu aufblühen. So schmeckte also menschliches Blut. Und er wusste: er wollte mehr davon. Viel mehr. In nur wenigen Minuten war von dem Labor nur noch ein großer Trümmerhaufen übrig geblieben, worunter ein Haufen lebloser, blutleerer Körper begraben waren. Inzwischen hörte er den Notfallalarm in seinen Ohren dröhnen. Es war unerträglich und trieb seinen Hass nur noch mehr an. Als würde er sich im Rausch befinden. Er wollte hier raus. Weg von hier. Weit weg. Und er würde sich nicht aufhalten lassen. Von niemandem. Dann rannte er los. Wurde schneller. Vernichtete alles, was seinen Weg kreuzte. Ließ Leichen wie Trümmerteile hinter sich zurück. Blendete Todesschreie aus. Durchbrach Türen als wären sie aus Papier. Nicht einmal die dicken Stahltüren, welche sich nur wegen des Notfallalarms schlossen, konnten ihn zum stehen bringen. Zwar kannte er nicht den direkten Weg zum Ausgang, aber er hatte das Gefühl, dass er von ihm angezogen wurde. Er musste auf dem richtigen Weg dorthin sein. Im nächsten Gang stoppten eine Reihe aus Männern in Militäranzügen sein Vorankommen. Alle waren bewaffnet. Jetzt entschied er sich doch dazu, stehenzubleiben. Doch sie zögerten keine Sekunde, nicht auf ihn zu schießen. Ein Kugelhagel kam ihm entgegen. Wegen des starken Drucks wich er ein paar Schritte zurück. Schloss kurz die Augen. Sah dann auf sich herab. Es waren keine Wunden auf seiner Haut entstanden. Scheinbar konnten diese Kugeln ihn nicht durchdringen. Warum das so war, begriff er nicht. Und es interessierte ihn auch nicht. Von seinem Verstand hatte er sich ohnehin längst verabschiedet. Empfindungen wurden von seinem Adrenalinrausch unterdrückt. Er ließ Taten sprechen und ging auch auf diese Kerle los. Zerfetzte sie ohne Bemühungen. Blutwellen spritzen ihm entgegen und hinterließen breite Lachen auf dem kalten Boden. Er ließ den metallischen Geruch in seine Nase steigen. Fühlte sich dabei so mächtig wie nie zuvor. Jedoch waren die Feinde anscheinend noch nicht bereit dazu, aufzugeben. Er sah, wie sich von hinten weitere Truppen näherten. Doch an denen wollte er nicht noch mehr Zeit verschwenden. Sie würden es sowieso nicht schaffen, ihn rechtzeitig einzuholen. Also lief er erneut los und suchte weiter nach dem Ausgang. Bis er ihn schließlich fand. Er leuchtete am Ende des Gangs wie ein großes Himmeltor. Wie lange hatte er sich danach gesehnt? Als er den Ausgang durchquerte, spürte er frischen Wind an seiner Haut. Endlich war er draußen. Doch alles, was seine Augen erblickten, waren eine steil abfallende Klippe und der weitreichende, blau glänzende Ozean dahinter. Kein Festland. Was nun? Einfach anhalten? Nein. Unmöglich. Jetzt war er schon so weit gekommen. Letztlich würde er sich ohnehin dazu entscheiden müssen, einfach zu springen oder sich wieder gefangennehmen zu lassen. Er entschied sich für den Freitod mit geringer Überlebenschance. Der Fall fühlte sich an, als könnte er fliegen. Er drehte sich nicht um, sondern blickte geradeaus zur Sonne. Bis er von den Wellen verschluckt wurde. Unwissend, wohin das Meer ihn treiben würde. Kapitel 1: Einen Sinn im Leben ------------------------------ 3 Monate später Langsam öffnete er seine Augen. Blinzelte ein paar Mal, um sich an die Helligkeit des Raumes zu gewöhnen. Er strich mit einer Hand über das raue Leder der Couch, auf welcher er lag. Wie er überhaupt dorthin gekommen war, wusste er nicht mehr. Jemand hatte ihm zudem eine dünne Decke übergeworfen. Diese legte er vorsichtig beiseite und richtete sich auf. „Wo sind meine...“ Er musste feststellen, dass er plötzlich saubere Klamotten trug. Das Blut war weg. „Aber wie…?“ Verwirrt schaute er sich in dem ziemlich schlicht eingerichteten Raum um. Er wirkte beinahe wie ein Wartezimmer, nur etwas gemütlicher. Vor der Couch befand sich ein niedriger Glastisch, auf welchem ein paar Zeitungen, eine Schachtel Zigaretten und seine Sonnenbrille lag. Den letzteren Gegenstand nahm er an sich. Hinter der Couch bot ein großes Panoramafenster einen weitreichenden Ausblick auf die Stadt Tokio. Der Höhe nach zu urteilen befand er sich in eines der letzten Stockwerke eines Wolkenkratzers. Vielleicht handelte es sich um ein Bürogebäude. Plötzlich ging die Tür auf. Überrascht drehte sich der Schwarzhaarige um. „Sie sind ja schon wach.“ Eine junge Frau mit platinblonden, gewellten Haaren trat herein. Hellblaue Augen, roter Lippenstift, eleganter Kleidungsstil. Diese Frau schien wohl eine wichtige Rolle zu haben. „Wer ist sie? Hat sie mich hierher gebracht?“ Fragen, die er unausgesprochen ließ. Er starrte die Dame nur schweigend an und wartete, dass sie noch etwas sagen würde. Doch sie stellte ihm nur eine dampfende Kaffeetasse auf dem Tisch, bevor sie sich ihm gegenüber auf eine kleinere Couch setzte. Nach ein paar Sekunden Stille lächelte sie breit. Seine Augen wurden groß. „Was…?“, brachte er unsicher über die Lippen. Das Lächeln der Frau wurde breiter, bevor sie meinte: „Ach, nichts. Als ich Sie gefunden habe, sahen Sie so fertig aus, weshalb ich dachte, Sie würden länger schlafen.“ „Mich gefunden?“, hakte er nach. Er senkte seinen Kopf und starrte auf die Kaffeetasse. Den Kaffee konnte er definitiv nicht trinken. Obwohl er eigentlich gerade wirklich Lust darauf hatte. Da hörte er ein leises Kichern. „Nun sagen Sie nicht, Sie können sich nicht mehr erinnern.“, sagte die Frau lachend. Seine Augen verengten sich, woraufhin er überlegte und versuchte, sich die letzten Ereignisse wieder ins Gedächtnis zu rufen. Da war Blut. Viel Blut. Er war in eine abgelegene Gasse geflohen, nachdem er zwei Leichen entsorgt hatte. Womöglich war er wieder mal in Verzweiflung und Selbsthass versunken, was vielleicht auch der Grund dafür war, dass er allein mit gesenktem Kopf und angezogenen Beinen neben einem Müllcontainer gesessen hatte. Ihm war nach sterben zumute gewesen. Wieder mal. Er wollte weinen, konnte aber keine einzige Träne vergießen. Wie jedes Mal, wenn er einen Menschen verletzte. Dabei wollte er das doch gar nicht. Und doch musste er. Denn er war nicht in der Lage, sich selbst aufzuhalten. Da erschien plötzlich eine Gestalt vor ihm. Weiblich. Hinter ihr zwei Männer. Sie sagte irgendetwas zu ihm und hielt ihm ihre Hand entgegen. Er griff nach ihr. Dann wurde alles ringsherum schwarz. „Ah… doch. Ich erinnere mich.“, antwortete er und ging einfach mal davon aus, dass es sich bei der blonden Frau um jene weibliche Person wie von zuvor handelte. Sie verschränkte ihre Beine und beugte sich vor. Dann begann sie: „Nun, ich sagte Ihnen ja bereits, dass ich gern bereit wäre, Ihnen wieder einen Sinn im Leben zu geben. Denn jemand, der das Talent zum Töten besitzt, muss nicht in der Gosse lungern.“ Sie machte eine kurze Sprechpause. Wartete auf eine Reaktion ihres Gegenübers, die nie kam. „Also, was halten Sie von meinem Angebot?“, fügte sie schließlich hinzu. Seine grünen Augen weiteten sich. „Wovon?“, fragte er. Da musste die Frau erneut lachen, was ihn noch mehr verwunderte. „Ob Sie ihre Fähigkeiten für unsere Organisation einsetzen wollen. Selbstverständlich gegen gute Bezahlung.“, offenbarte sie mit einem vielsagenden Lächeln auf den Lippen. Ein seltsames Angebot, wie er fand. „Und wo ist der Haken?“, wollte er wissen. Es musste einen geben. So war es immer. „Es gibt keinen. Die einzige Bedingung, die wir haben...“, sie legte den Zeigefinger auf ihre Lippen, „Ist ewiges Schweigen.“ „Das heißt, die Taten der Organisation bleiben stets hinter versiegelter Tür?“, fragte er dann. Für gewöhnlich konnte er Geheimnisse für sich behalten. Oder besser gesagt: er war dazu gezwungen. Und jeder, dem er sich offenbarte, war Sekunden später sowieso tot. Doch ständig mit Menschen zusammenarbeiten zu müssen, hielt er für keine gute Idee. Immerhin konnte er sich nicht kontrollieren. Und wenn Blut fließen sollte, dann würde sofort auffliegen, dass er kein Mensch war. Es sei denn, es gab die Möglichkeit, allein zu agieren. „Sicher. Aufträge, Anschläge, Händel etc. erreichen niemals die Öffentlichkeit. Das ist unsere oberste Regel. Natürlich schützen wir auch unsere Mitglieder. Aber nur die Hohen mit Erfahrung, nicht die Handlanger.“, verriet die Frau, woraufhin der Schwarzhaarige noch mehr interessiert war. „Wenn sie mich schützen würden, könnte ich mich leichter vor Eclipse verstecken...und sie würden mich nicht so schnell finden...“, schlussfolgerte er. Meistens war er gezwungen, oft seinen Standort zu wechseln. Seine Lebensweise, verbunden mit dem Trieb zum Töten und seiner Gier nach Blut, erlaubten es ihm nicht, länger an einem Ort zu verbleiben. Wenn es eine Chance gab, das zu ändern, wollte er diese mit Sicherheit ergreifen. Auch wenn das bedeutete, dass er sich zukünftig zusammenreißen musste. „Ich möchte kein Handlanger sein.“, stellte er vorerst klar. Wieder entwich der Frau ein Lachen. Als sie sich beruhigt hatte, meinte sie: „Das steht außer Frage, sonst würden Sie nicht hier sitzen.“ „Gut, dann… nehme ich das Angebot an.“, erwiderte er. „Sind Sie sicher? Falls nicht, können Sie aufstehen und gehen. Bleiben Sie jedoch sitzen, gibt es kein Zurück mehr.“, warnte sie ihn offenbar vor. Der Schwarzhaarige zog jedoch nur eine Augenbraue nach oben. Er hatte zunehmend begriffen, dass es nicht mehr von Nöten sei, Warnungen ernst zu nehmen. Letztlich war er ohnehin immer der Überlegene und Personen, die ihm drohten, waren nichts weiter als Beute. „Das bin ich. Ich möchte beitreten.“ Und mit diesem Entschluss war es wohl endgültig. So weit, so gut. Jetzt musste er sich nur noch auf das Kommende einstellen. „Sehr gut! Dann können wir ja auch gleich fortfahren.“, entgegnete die Blonde freudig und nahm nebenbei einen Notizblock unter den Zeitungen hervor, welchen der Schwarzhaarige zuvor übersehen hatte. Dennoch war er verwirrt. Sollte sich das Ganze jetzt zu einer Art Vorstellungsgespräch entwickeln? Stand also noch nicht fest, ob er für diese Organisation überhaupt geeignet war? „Womit?“, fragte er deshalb nach, woraufhin die Frau verwundert aufblickte. „Ich bräuchte nur ein paar Informationen über Sie, keinen Grund zur Sorge.“, entgegnete sie ruhig und nahm einen Kugelschreiber in die Hand. Ihre Tonlage ähnelte dem einer Ärztin. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihre Fingernägel rot lackiert waren. Perfekt mit der Farbe ihres Lippenstifts abgestimmt. Seine Antwort bestand nur aus einem leichten Nicken. „Wir fangen einfach an. Wie lautet Ihr Name?“, stellte sie daraufhin die erste Frage. Doch so leicht, wie die Antwort eigentlich hätte sein sollen, war sie eben nicht. Er öffnete seinen Mund, um zu antworten, jedoch wich kein Laut über seine Lippen. Dann schloss er ihn wieder. Da war nichts. Kein Name, an den er sich erinnerte. Sollte er jetzt einfach lügen und einen erfinden? Aber was brachte das? Die Frau starrte ihn währenddessen erwartungsvoll an. Als doch nichts von ihrem Gegenüber kam, erkundigte sie sich: „Stimmt irgendetwas nicht?“ „Nein, also...ich… Ich weiß es nicht.“, gab er schließlich zu. Auf dem Gesicht der Frau zeigte sich wie erwartet Verwirrung. „Sie wissen ihren Namen nicht?“, wollte sie sich versichern. „Nein.“, bestätigte er tonlos. Danach überlegte die Blonde einen Moment, bevor sie fragte: „Und ihr Alter?“ Wieder ein Schuss ins Leere. Wieso bemerkte er erst jetzt, dass er nicht das Geringste über sich selbst wusste? Warum zum Teufel war ihm das nie aufgefallen? Immer, wenn er in den Spiegel blickte, konnte er nichts anderes als ein Monster sehen. Für die Person im Spiegelbild hatte er sich nie interessiert. „Wie alt sehe ich denn aus?“, stellte er eine Gegenfrage, die ihn selbst zum schmunzeln brachte. Die Frau hingegen schien immer noch verwirrt. Doch sie beantwortete seine Frage: „Ich würde Sie auf Ende 20 schätzen. Vielleicht auch Anfang 30. Nicht viel älter.“ Dann warf sie ihm ein besorgtes Lächeln zu und ergänzte: „Kann es sein, dass Sie unter Gedächtnisverlust leiden?“ Er zuckte mit den Schultern. Wenn er nichts über sich wusste, dann musste das wohl der Fall sein. Er vernahm ein Seufzen von der Frau. „Dann machen wir das anders. Erzählen Sie mir doch einfach, an was Sie sich noch erinnern können.“, schlug sie vor. „Eclipse.“, antwortete er schnell. Er sprach einfach das Wort aus, welches ihm zuerst einfiel. Die Augen der Frau weiteten sich. „Von denen hab ich schon mal gehört. Waren Sie dort tätig?“, wollte sie erfahren. Ein Wunder, dass ihr der Name bekannt vorkam. Der Schwarzhaarige beobachtete, wie sie eine kurze Notiz auf den Block vermerkte. Wieder nickte er nur bestätigend, als sie wieder aufsah. „Und warum jetzt nicht mehr?“, fragte sie sogleich. Vorerst erwiderte er mit einem Kopfschütteln, bevor er sich doch ein paar passende Worte zurecht legte: „Alles, was ich weiß ist, dass ich vor ihnen fliehen muss. Und dass… sie gefährlich sind.“ Die neue Frage folgte schnell: „Warum sollten sie hinter Ihnen her sein?“ Er schwieg. Es war besser, nicht mehr zu verraten. Noch weitere Informationen konnten verhängnisvoll werden. Zudem konnte er sich wirklich nicht an mehr Details erinnern. Seine Flucht hatte er nur noch bruchstückhaft im Kopf. Dann gab es dieses Gift, welches für seinen Zustand verantwortlich war. Doch da hörte es auch schon auf. Alles andere war verschwommen oder gar nicht erst vorhanden. „Tut mir leid.“, murmelte er leise und gab so der Frau zu verstehen, dass er ihr nichts weiteres sagen konnte. Da erhob sie sich plötzlich vom Sofa. „Na schön, ich werde das weiterleiten und dann schauen wir mal, wie es mit Ihnen hier weitergeht.“, meinte sie und ging derweil in Richtung Tür. „Ich bin gleich wieder zurück, solange können Sie sich ja noch ein bisschen ausruhen.“, gab sie Bescheid und verschwand mit diesen Worten aus dem Zimmer. Mit zügigen Schritten ging die blonde Frau durch den Gang. Sie empfand es als enttäuschend, dass der Neuling ihr nicht noch weitere Informationen geben konnte. Ganz sicher war sie sich mit ihm nicht, jedoch hatte sie ein seltsames Gefühl verspürt, als sie ihn in der verlassenen Gasse fand. Sie hatte sofort das Potential zu töten in seinen Augen erkannt. Doch auch das Gefühl, verloren zu sein. Letztlich hatte sie ihn wohl wegen einer Mischung aus Mitleid und Neugier mitgenommen. Was sie zudem auch noch interessierte, war dieses seltsame Tattoo auf seinem Hals unter dem Kinn. 0012. Was hatte das zu bedeuten? Irgendwie wollte sie ihn nicht darauf ansprechen, möglicherweise würde er die Frage ohnehin nicht beantworten können. Wer wusste schon, wie lange so ein Gedächtnisverlust andauerte. Sie stoppte vor einer ganz bestimmten Tür. Klopfte dann und wartete, bis eine raue Stimme sie herein bat. Daraufhin betrat sie den Raum und schloss die Tür hinter sich. „Vermouth. Hat sich der Neue etwa schon auskuriert?“, fragte der ältere Mann und blickte mit einem strengen Blick über die Zeitung, die er bis eben gelesen hatte. „Einigermaßen. Es war komplizierter, als ich dachte.“, gab sie zu und überreichte ihrem Boss den Notizblock. Dieser legte dafür die Zeitung beiseite und betrachtete das fast leere Blatt kritisch. Womöglich dachte er gerade, dass das ein schlechter Scherz war. Denn da stand nur ein Wort. „Eclipse?“, fragte er mit gefährlich leiser Tonlage. „Ja, er sagte, dass er sich an nichts weiter erinnern könnte. Weder an sich selbst, noch seine Vergangenheit. Als ich vorschlug, er solle mir erzählen, was er noch weiß, da sagte er nur dieses Wort und dass er vor ihnen auf der Flucht sei.“, erklärte Vermouth ruhig und bemerkte, wie der Ältere anfing über etwas nachzudenken. In dem darauffolgenden Moment der Stille ließ sie ihren Blick zu der Zeitung wandern. Ihr Vorgesetzter verfolgte die Neuigkeiten aus der Stadt in letzter Zeit regelmäßig. Die Vorderseite berichtete über eine mysteriöse Mordserie und dass die Polizei zurzeit im Dunkeln tappte. Hin und wieder wurde auch im Fernsehen über die Morde berichtet. „Ein Überläufer von Eclipse also… das kann unmöglich sein.“, begann ihr Boss nach einer Weile. Sie verstand nicht ganz, was er damit meinte. „Warum?“, fragte sie deshalb. „Da kommt man nicht lebend raus.“, erwiderte er kalt und gab ihr den Notizblock zurück. „Naja, wie du siehst, anscheinend doch.“, meinte sie. Dann herrschte wieder Schweigen. Sie erahnte, dass er gerade über seine nächste Entscheidung nachdachte. Und die machte er wie üblich sorgfältig und mit Bedacht. „Und was willst du jetzt unternehmen?“ „Er könnte nützlich sein, wenn er sich wieder erinnert. Er darf vorerst bleiben, jedoch unter strenger Beobachtung.“, lautete seine Antwort und somit war der Neue mehr oder weniger als Mitglied der Organisation anerkannt. Da gab es nur noch ein paar kleine Probleme. „Dann benötigt er aber noch eine Identität.“, erinnerte sie den Älteren, woraufhin sie ein Seufzen von ihm vernahm. „Ich beauftrage später jemanden mit dem Papierkram. Jetzt bekommt er erst mal den Codenamen… Rye.“, beschloss er. Vermouth nahm das mit einem schlichten Nicken so hin. Innerlich fand sie, dass dieser Codename gut zu dem Schwarzhaarigen passte. Gerade, als sie glaubte, den Raum wieder verlassen zu können, fing ihr Boss erneut an zu sprechen: „Weißt du zufällig, wo Gin gerade ist? Ich wollte eigentlich etwas mit ihm besprechen, erreiche ihn aber seit heute Morgen nicht.“ Vermouth zog nur verwundert eine Augenbraue nach oben. „Du hast ihn doch heute zum Hafen geschickt, um die Geldübergabe zu übernehmen. Wahrscheinlich ist er heute Abend wieder zurück, ich richte es ihm aus.“, meinte sie und drehte sich mit diesen Worten um. Manchmal konnte ihr Boss wirklich ein verpeilter Mensch sein. Sie musste ein Schmunzeln unterdrücken, als sie den Raum wieder verließ. Danach ging sie zu dem Zimmer zurück, wo sie zuvor den schwarzhaarigen, jungen Mann sich selbst überlassen hatte. Dieser stand nun vor dem großen Fenster und betrachtete schweigend die dahinterliegende Großstadt. „Abends ist der Ausblick viel schöner.“, meinte sie ruhig, um sich bemerkbar zu machen und ging auf den Neuen zu, welcher sich bei ihren Worten umdrehte. „Das glaub ich gern.“, erwiderte er in gleicher Tonlage. Er wirkte noch leicht verträumt, womöglich hatte er bis eben über einiges nachgedacht. Verständlich. Ohne Erinnerungen war bestimmt vieles komplizierter. Ihr Blick wanderte zum Glastisch, auf welchem sich noch immer die Kaffeetasse befand, jedoch unberührt. Inzwischen war der Inhalt wohl kalt geworden. „Mögen Sie keinen Kaffee?“, fragte sie und überlegte, ob Tee nicht vielleicht geeigneter gewesen wäre. Oder ein einfaches Glas Wasser, das würde doch jeder trinken. „Nein, aber das macht nichts.“, entgegnete er mit einem Kopfschütteln und erkundigte sich dann: „Und, wie geht es nun weiter?“ „Ach, ja richtig… Der Boss sagte, dass Sie bleiben dürfen. Wir werden Ihnen eine neue Identität zur Verfügung stellen, zumindest so lange, bis Sie ihr Gedächtnis zurückerlangen.“, informierte Vermouth ihn. Ein Lächeln bildete sich daraufhin auf seine Lippen, bevor er antwortete: „Vielen Dank.“ „Außerdem tragen sie ab heute den Codenamen Rye, so werden Sie zukünftig auch von den anderen Mitgliedern angesprochen werden. Aber wie ich vorhin bereits erwähnte, nicht jeder darf einen Codenamen tragen.“, redete sie weiter und sah, wie er vor Verwunderung leicht den Kopf zur Seite drehte. „Ein Whiskey?“ „Ja, bei den Codenamen handelt es sich immer um alkoholische Getränke.“, verriet sie. „Verstehe… Und wie darf ich Sie nennen?“, folgte auch schon die nächste Frage, welche die Blonde bereits erahnt hatte. „Vermouth.“, beantwortete sie die Frage knapp. „Und wen gibt es noch so?“ Da entwich ihr ein Lachen. Diese offensichtliche Unwissenheit empfand sie irgendwie als entzückend. Und dieser stets verwunderte Blick ließ den Neuen ganz unschuldig wirken, man merkte ihm gar nicht an, dass er zuvor getötet hatte. „Die werden Sie schon früh genug kennenlernen, oder besser gesagt: Heute Abend.“, meinte sie dann und hatte fast vergessen, dass ihr Boss zuvor befahl, Rye sollte unter Beobachtung bleiben. Da war ein Partner ganz angemessen. Auch wenn der Mann vor ihr eher wie ein Einzelgänger wirkte, der nicht gut mit anderen Menschen konnte. Bei dem Gedanken fiel ihr sofort noch eine andere Person ein, auf die das ebenso zutraf. „Inwiefern?“, fragte Rye nach, der ihr wohl nicht ganz folgen konnte. „Heute Abend 20:00 Uhr in der ‚Scarlet Lounge‘, das ist unsere Stammbar, welche sich hier auf der vorletzten Etage befindet. Dort erkläre ich Ihnen alles weitere. Bis dahin gebe ich Ihnen frei, heute ist ohnehin nicht viel los. Auch wenn ruhige Tage seltener geworden sind.“, erzählte sie und hatte somit eigentlich vor, den Neuen fürs Erste zu entlassen. Doch schließlich fiel ihr doch noch etwas ein, als er gerade an ihr vorbeiging. „Eins noch.“, begann sie ernst. Rye warf verwirrt den Blick über die Schulter. „Besitzen Sie ein Handy?“, stellte sie ihre letzte Frage, denn sie erinnerte sich, dass sie solch ein Gerät zumindest nicht bei seinen Klamotten gefunden hatte. „Nein.“, antwortete er schlicht. Wirklich seltsam, dabei gab es heutzutage niemanden mehr, der kein Handy besaß. Oder hatte er es nur verloren und konnte sich einfach kein neues leisten? „Dann habe ich doch einen Auftrag. Besorgen Sie sich bis heute Abend bitte eins, denn ohne wird es zukünftig nicht mehr gehen.“, erklärte sie. Ihr Gegenüber nahm das mit einem Nicken so hin. „Verstanden.“ Und mit diesem Wort wendete er sich wieder ab, nachdem er seine Sonnenbrille aufgesetzt hatte, welche perfekt zu seinem schönen Gesicht passte, nur leider das smaragdgrüne Augenpaar verbarg. Seine Augen hatten etwas Verführerisches an sich und man musste aufpassen, sich nicht durch Unachtsamkeit in ihnen zu verlieren. „Na dann, auf das du hier deinen Lebenssinn finden wirst, mein lieber Rye.“, sprach sie noch, als der Schwarzhaarige längst den Raum verlassen hatte. Kapitel 2: Ein neuer Partner ---------------------------- Am Abend begab sich Rye wie vereinbart zu der Bar mit dem Namen ‚Scarlet Lounge‘. Er hatte sich zuvor am Nachmittag auf die Schnelle ein Smartphone besorgt. Selbstverständlich gestohlen, von irgend so einer Tussi, die ihm am Bahnhof über den Weg gelaufen war. Bei dem Gedränge hatte sie das ohnehin nicht bemerkt und inzwischen stellte er sich geschickt genug an, verschiedene Gegenstände von anderen unbemerkt zu entwenden. Alles Übungssache. Auch wenn er es nur getan hatte, weil er kein Geld für solch ein unnützes Gerät verschwenden wollte. Bisher hatte er nie eins benötigt, denn Freunde oder Bekannte gab es in seinem Leben nicht. Warum sollte er auch mit irgendwelchen Menschen Freundschaften schließen? Er würde sie früher oder später sowieso umbringen, jedoch nicht aus böser Absicht. Als Rye in den Fahrstuhl stieg, hatte er noch drei Minuten bis zur ausgemachten Zeit. Er würde genau pünktlich sein. Ein bisschen unwohl war ihm schon, als er den Knopf für die vorletzte Etage drückte. „Eigentlich will ich doch niemanden kennenlernen...“, dachte er, während er sich an das Gespräch mit Vermouth zurückerinnerte. Er hielt es für besser, sich von möglichst vielen Mitgliedern dieser Organisation zu distanzieren. Insofern es nicht notwendig war, mit jemanden zusammenzuarbeiten. Andererseits waren seiner Meinung nach die Einzelgänger immer am auffälligsten. Vielleicht sollte er sich doch lieber anpassen und ein paar Bekanntschaften machen. Im nächsten Moment öffneten sich die Fahrstuhltüren. Der Schwarzhaarige ging den breiten, verdunkelten Flur entlang und betrachtete dabei den roten Teppich unter seinen Füßen. Von weitem konnte man eine leise Melodie hören, welcher er einfach folgte. Es klang wie ein ruhiger Jazz-Song. Jazz hörte er besonders gern, da er meistens eine entspannte Stimmung erzeugte. Und so wurde seine anfängliche Anspannung doch vertrieben. Als er um die Ecke bog, erblickte er schließlich einen Eingang, welcher sich hinter einem roten Vorhang verbarg. Ebenso rot war das darüberliegende, leuchtende Schild mit der Aufschrift ‚Scarlet Lounge‘. Mit gezielten Schritten ging Rye auf den Eingang zu und schob mit einer einfachen Geste den Vorhang beiseite. Während er den Raum betrat, wurde die Musik lauter und die Luft wärmer. Darauffolgend musste er feststellen, dass die Bar ihren Namen zurecht trug. Sowohl die Theke als auch andere Tische und Stühle waren aus einem glänzend roten Material angefertigt. Die Rosen auf den Tischen und die rot leuchtenden Lampen an der Decke erzeugten eine romantische Atmosphäre. Im hinteren Bereich befand sich auch eine rot gepolsterte Couch, auf welcher es sich zwei Personen bequem machten und sich eine Zigarette genehmigten. Generell war die Bar ziemlich belebt. Nicht überfüllt, aber auch nicht so gut wie leer. Gerade, als Rye die Menschen genauer mustern wollte, hörte er plötzlich seinen Namen: „Rye, hier drüben!“ Aus dieser Richtung entdeckte er Vermouth allein an einem Tisch, welche ihn zu sich herüberwinkte. Daraufhin gesellte er sich zu der Blondhaarigen und setzte sich auf den freien Platz gegenüber. Vor ihr stand ein halbleeres Cocktailglas mit einer Zitronenscheibe drin. Daneben lag eine Karte, auf welcher viele alkoholische Getränke aufgelistet waren. Sie steckte sich eine Slim Zigarette an, pustete genüsslich den Qualm aus und begann: „Schön, dass du hergefunden hast. Und dann auch noch so pünktlich.“ Die Blonde warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Hast du dich um ein Handy gekümmert?“, wollte sie dann wissen, woraufhin Rye das Smartphone aus seiner Jackentasche kramte. „Erledigt.“, meinte er unbetont. „Erledigt ist es erst, wenn ich deine Nummer habe, um dich zu kontaktieren.“, korrigierte sie ihn mit einem schelmischen Lächeln und nahm ebenso ihr Handy hervor. Als Rye ihr die Nummer gegeben hatte, steckten beide ihre Geräte wieder zurück in die Tasche. „Ich fasse mich kurz: Du brauchst einen Partner.“, offenbarte Vermouth nach einer Weile den Grund für das Treffen, da sie Rye die vielen Fragen förmlich aus dem Gesicht ablesen konnte. Dieser schaute jetzt verdutzt. „Ich brauche keinen.“, widersprach er, um zu vermeiden, dass seine schlimmste Vermutung wahr wurde. Er wollte wirklich keinen Partner. Der würde mit Sicherheit nur Probleme bereiten und ihm zur Last fallen. „Bedaure, aber der Boss will, dass du vorerst noch unter Beobachtung bleibst. Außerdem würde es dir helfen, dich besser einzuleben und zurechtzufinden.“, erklärte Vermouth und versuchte offensichtlich nun, ihn zu überzeugen. Aber das funktionierte nicht so einfach. „Das kann ich doch auch allein. Ich bin eben-“ „Sei doch nicht gleich so abweisend.“, fiel die Frau ihm jedoch ins Wort und fügte hinzu: „Du hast dich doch noch gar nicht richtig umgesehen, vielleicht ist ja doch jemand für dich dabei.“ Daraufhin runzelte Rye ungläubig die Stirn. „Du meinst, ich darf mir einfach jemanden aussuchen? Egal wen?“, wollte er sichergehen, ihre Aussage auch richtig aufgefasst zu haben. „Vorausgesetzt, du entscheidest dich. Sonst teile ich dir jemanden zu.“, erwiderte sie in einer leicht hämischen Tonlage, die Rye verriet, dass er die Wahl wohl besser selbst treffen sollte. „Aber ich kenne hier keinen und es gehört sich nicht, nach dem Aussehen zu beurteilen.“, versuchte er es dennoch weiter hinauszuzögern und fand dabei innerlich, dass diese Ausrede wirklich albern klang. Das erwartete Lachen folgte keine Sekunde später. „Nun, frag mich einfach. Ich kenne jeden in dieser Bar.“, bot Vermouth ihm danach an. Rye versuchte das aufkommende Schamgefühl zu ersticken und lenkte sich ab, indem er seinen Blick durch die Bar schweifen ließ und verschiedene Mitglieder in den Fokus nahm. „Gut, dann erzähl mir doch etwas über die beiden dort hinten.“, forderte er und deutete auf die beiden Personen, welche nach wie vor auf der Couch saßen. Ein älterer Mann mit runder Brille und eine rothaarige Frau, deren linkes Auge ein Schmetterlings-Tattoo zierte. Rye bemerkte, wie sich Vermouths Blick leicht verfinsterte, bis sich wieder ein Lächeln auf ihren Lippen bildete und sie begann: „Der Mann heißt Korn. Ein wirklich ruhiger Geselle, der sich mehr seinen Teil denkt, als er ausspricht. Daher kann man ihn schlecht einschätzen. Er ist meistens mit der Frau neben ihm zusammen, Chianti. Sie ist eher das totale Gegenteil von ihm. Wenn du nach ihrer Nase tanzt, ist sie nett zu dir. Aber wenn du etwas tust, was ihr so gar nicht in den Kragen passt, kann sie richtig biestig werden… Sehr süß, wie sie sich dann immer aufregt und jeden anfaucht. Jedenfalls, die zwei sind gute Scharfschützen. Vielleicht kannst du sie ja fragen, ob sie mal mit dir in der Trainingshalle schießen üben.“ „Oder ich übe allein.“, erwiderte Rye nur desinteressiert. Der Frau entwich ein Seufzen. Das könnte schwierig werden. „Du solltest lernen Teamarbeit zu schätzen. Das hat viele Vorteile.“, belehrte sie in ernster Tonlage, während sie sich in der Bar umsah. Da gerieten zwei Männer an der Theke in ihr Blickfeld. „Wie wär‘s mit den Beiden? Ihr müsstet ungefähr im gleichen Alter sein. Der Blonde trägt den Codenamen Bourbon und der junge Mann neben ihm heißt Scotch. Bourbon ist-“ „Nicht mein Geschmack.“, unterbrach Rye sie gelangweilt. Er fühlte sich wie ein Außenseiter in der Grundschule, der gerade auf der Suche nach neuen Freunden war. Und diese Freunde brauchte er nicht mal. Ein weiteres Mal ließ er selbst seinen Blick durch die Bar schweifen, in der Hoffnung eine Person wäre interessant genug für ihn. Doch er fand keine. Da Vermouth schwieg, hatte sie es wohl inzwischen aufgegeben und wartete nun auf seine Entscheidung, die er wahrscheinlich nie fällen würde. In seinen Augen sah jeder gleich aus. Egal welche Eigenschaften oder Fähigkeiten die Menschen in dieser Bar hier vielleicht besaßen, sie waren für ihn allesamt gleichwertig. Letztlich floss immer dasselbe Blut in ihren Adern. Und es schmeckte immer gleich. Doch daran sollte der Schwarzhaarige jetzt besser nicht denken. Plötzlich weiteten sich seine Augen. Eine neue Person betrat gerade die Bar. Er betrachtete den schwarz gekleideten Mann mit den langen, silberglänzenden Haaren und fühlte sich dabei für einen kurzen Moment wie vom Blitz getroffen. „Wer ist das…?“, fragte er mit leiser Stimme, als seine Benommenheit allmählich nachließ. Dennoch wendete er seine Augen nicht ab und beobachtete, wie der Mann sich an einen freien Tisch setzte und den Kellner zu sich rüberwinkte. Vermouth hingegen fand, dass Ryes veränderte Tonlage sehr verräterisch klang und sich selbst seine Ausstrahlung schlagartig verändert hatte. Er konnte sein Interesse nicht vor ihr verbergen. „Das ist Gin.“, meinte sie nach ein paar Sekunden trocken und fügte zynisch hinzu: „Ein unerträglicher, kaltherziger Mensch. Er ist gefühlt immer mies gelaunt und weist fast jeden in seiner Umgebung ab, außer natürlich bei Missionen. Aber da nur nicht, weil es sein muss. Sonst interessiert er sich für niemanden, also verschwende nicht deine Zeit.“ „Das hatte ich nicht vor.“, erwiderte Rye daraufhin schmunzelnd und drehte sich wieder um. Er versuchte das Bild des Mannes wieder aus seinen Kopf zu vertreiben. Dann konnte er so tun, als hätte er ihn niemals hier hereinkommen sehen. Aber schon nach einem kurzen Moment wanderte sein Blick erneut zu dem Silberhaarigen. Er begann dessen Gesichtszüge genau zu analysieren, versuchte nebenbei die Farbe seiner Augen zu erkennen, was ihm leider durch das abgedunkelte Licht im Raum nicht gelang. Musterte dann die Lippen, welche gerade mit dem flüssigen Inhalt seines bestellten Getränks in Berührung kamen. Als der Mann das Getränk wieder auf dem Tisch abstellte, glaubte Rye, ihre Blicke würden sich treffen. Oder war das nur Einbildung? Obwohl sich die Augen des Mannes zu verengen schienen, so wirkte dessen Gesichtsausdruck immer noch emotionslos. Ryes Augen wiederum richteten sich auf den Hals, der von einem lila Rollkragen verdeckt wurde. Der Gedanke, dass sich darunter seine Halsschlagader befand, war seltsam erregend. Kurz fragte der Schwarzhaarige sich, wie das Blut von diesem Mann wohl schmecken würde. Er bemerkte nicht, wie er seine eigenen Lippen dabei befeuchtete. Die Vorstellung ließ ihn ein hungriges Verlangen im Magen verspüren. „Gin Schätzchen! Kommst du bitte mal kurz?“, riss Vermouths rufende Stimme Rye plötzlich aus seiner Trance. Er erstarrte, als sich der silberhaarige Mann nach einem genervten Augenrollen von seinem Platz erhob. „Hey, warte mal, nein!“, zischte Rye aufgewühlt zu der Blonden, die allerdings nur ein breites Grinsen aufsetzte und sich offensichtlich ein Lachen verkneifen musste. Aber um die Flucht zu ergreifen, war es zu spät, denn der Mann mit dem Codenamen Gin hatte sich längst neben ihn auf den freien Stuhl gesetzt. „Was willst du?“, fragte er die Blonde sogleich genervt. Er hatte eine tiefe, raue Stimme, wie Rye feststellte. Sie passte gut zu ihm. Jetzt konnte er auch endlich die Farbe von Gins Augen erkennen, welche einen dunklen Grünton besaßen, wie seine eigenen. Der Silberhaarige fuhr sich mit einer Hand durch seinen Pony, während Vermouth ihm in einem aufdringlichen Ton antwortete: „Ich wollte dir nur jemanden vorstellen!“ Sie deutete mit dem Finger auf ihren Gegenüber und fügte hinzu: „Das ist Rye, er ist seit heute ein Teil unserer Organisation.“ Rye schwieg und biss sich leicht auf die Unterlippe. Obwohl er etwas sagen wollte, so entwich ihm kein Wort aus dem Mund. Also wartete er auf Gins Antwort. „Und?“, kam es von diesem allerdings nur unbeeindruckt. Der Schwarzhaarige unterdrücke ein Seufzen. Schlechtes Karma, die einzige Person in dieser Bar, die sein Interesse geweckt hatte, interessierte sich wiederum nicht für ihn. Doch das würde er sich gewiss nicht bieten lassen, weshalb er bereits anfing mit unkeuschen Gedanken zu spielen. Er musste sich ein hämisches Grinsen verkneifen. „Später, wenn er die Bar verlässt, dann werde ich-“ „Und ich hab noch eine Neuigkeit für dich, du wirst ab heute zukünftig mit ihm zusammenarbeiten.“, unterbrach Vermouths freudige Stimme plötzlich seinen Gedanken, worüber er ein wenig erleichtert war. Danach winkte sie den Kellner zum Tisch herüber, um jeweils für jeden ein Getränk zu bestellen, wobei es sich um drei Metaxa Ouzos handelte. „Warum? Seh ich so aus, als würde ich meine Zeit mit irgendwelchen unerfahrenen Anfängern verschwenden? Wieso hat er überhaupt schon einen Codenamen?“, spottete Gin derweil und sah Rye mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck an. „Was für ein freches Mundwerk er doch hat...“, dachte dieser scherzhaft mit einem Lächeln auf den Lippen. Schließlich entschied er sich dazu, seinem Schweigen ein Ende zu bereiten und sich etwas vorzubeugen. „Ob ich so unerfahren bin, wie du behauptest, wird sich zeigen. Aber ich bin mir trotzdem sicher, dass wir beide hervorragend miteinander auskommen werden.“ Er versteckte den Sarkasmus in seiner Tonlage nicht und sah dem Silberhaarigen dabei fest in die Augen. Doch eine bissige Antwort, mit der er jetzt gerechnet hatte, kam nie. Stattdessen bildete sich ebenso ein Grinsen in dem Gesicht vor ihm, bevor Gin erwiderte: „Das werden wir ja sehen.“ Rye konnte die Zufriedenheit in dessen Tonlage nicht deuten. Kurz darauf kam auch schon der Kellner mit den bestellten Getränken zurück und stellte diese auf dem Tisch ab. Nach einem kurzen Nicken verschwand er wieder. „Ich seh schon, ihr zwei werdet euch gut verstehen.“, kommentierte Vermouth gelassen das kurze Gespräch der beiden Männer und nahm gelassen einen Schluck von ihrem Ouzo. „Darauf solltet ihr anstoßen.“, fügte sie danach ironisch hinzu. Ryes Blick wanderte unsicher zu seinem Glas. Er konnte das nicht trinken. Aber seine Unsicherheit deutete Gin anscheinend als Ekel, welchen er sich offensichtlich zu Nutze machen wollte, um den Schwarzhaarigen eins auszuwischen. „Du hast recht.“, stimmte er Vermouth deshalb ausnahmsweise zu und erhob sein Glas. Rye starrte ihn nur mit großen Augen an. Er überlegte, was er am besten tun sollte. Den Inhalt zu trinken war fatal. Andererseits konnte er seinem zukünftigen Partner diesen Erfolg nicht gönnen. Zudem, was würde das für ein seltsames Bild auf ihn werfen, wenn ein Mann seines Alters keinen Alkohol anrührte? Aber er wollte die Folgen dennoch nicht auf sich nehmen. „Vielleicht funktioniert es ja diesmal...“, versuchte er sich gedanklich zu überzeugen, obwohl er das selbst nicht im geringsten glaubte. Doch seine Hand schloss sich längst um das Glas. „Auf gute Zusammenarbeit, Rye.“, sprach Gin daraufhin ruhig und trank den Inhalt seines Glases in einem Zug leer. Als wäre es nur Wasser. Für einen Rückzieher war es jetzt allerdings wirklich zu spät, ohne dass es auffällig wirken würde. Also blieb nur noch: Zusammenreißen, Augen zu und durch. Daran sterben konnte er sowieso nicht. „Auf gute Zusammenarbeit...“, wiederholte Rye die Aussage des Silberhaarigen murmelnd und kippte sich den Ouzo in den Rachen. Kurz darauf versuchte er sich zu sammeln. Es schmeckte scheußlich, wie fast alles andere, was er in letzter Zeit probiert hatte. Gedanklich zählte Rye die Sekunden. Es würde keine Minute dauern. Und gleich darauf übermannte ihn die erwartete Übelkeit. Mit einem Ruck erhob sich der Schwarzhaarige von seinem Stuhl, ignorierte die verwirrten Blicke der beiden anderen und stürmte aus der Bar. Keine Zeit, um noch nach einer Toilette zu suchen. Er musste schnellstens verschwinden, bevor die Lage noch peinlicher enden würde, als sie es ohnehin schon war. „Was war das denn...“, fragte Gin ungläubig mit gehobener Augenbraue. „Das war wirklich mehr als lächerlich.“ Zwar hatte er bemerkt, dass der Neue offensichtlich keinen Alkohol mochte, doch dass er gleich so reagieren würde… „Keine Ahnung, er verträgt wohl nichts.“ Vermouth zuckte mit den Schultern, während sie sich eine neue Zigarette ansteckte und gelassen ihre Beine verschränkte. „Aber das war doch gar nichts...“, dachte Gin spöttisch, sprach es jedoch nicht aus, da er nicht weiter darüber reden wollte. Denn so wirklich interessierte ihn dieser Rye nicht. Außer, dass irgendetwas mit dem Kerl nicht stimmte. Schon allein wie er ihn vorhin angestarrt hatte und das ohne dabei auch nur ein einziges Mal zu blinzeln. „Und warum soll jetzt ausgerechnet ich mit ihm zusammenarbeiten?“, beschwerte sich Gin dann erneut, als wenn das etwas an dem Entschluss ändern würde. „Naja, er hat sich geweigert einen Partner zu wählen und als er dich so angesehen hat, erschien es mir, dass er bei dir seine Meinung ändern würde.“, erklärte die Blonde, was Gin aber keineswegs nachvollziehen konnte. Seit wann ließ man sich hier von irgendwelchen Anfängern an der Nase herumführen? „Und da bist du so gnädig und lässt ihn einfach frei entscheiden? Er hat sich gar nicht erst zu weigern!“, fauchte er sie an, doch an Vermouth rauschte die Beschwerde vorbei. Stattdessen lachte sie. „Du bist doch nur beleidigt, weil ich ihn dir aufgehalst habe. Aber das steht jetzt nicht zur Debatte. Ich habe das ganz bewusst so eingefädelt, weil du zumindest auch ein Auge für Details hast und aufmerksamer bist als so manch anderer hier. Der Boss will, dass Rye vorerst unter Beobachtung bleibt. Falls dir nichts Verdächtiges auffällt, wird eure Zusammenarbeit auch nicht lange anhalten, versprochen.“, wies sie daraufhin ihren Gegenüber zurecht, welcher dann für ein paar Sekunden schwieg. Er ließ sich das Ganze nochmals durch den Kopf gehen, bis ein Verdacht in ihm aufkam. „Sag mal, wie oft hab ich dir gesagt, du sollst aufhören irgendwelche Leute von der Straße aufzusammeln?“, fragte er in ernster Tonlage, woraufhin die Frau ihn überrascht anschaute. „Woher weißt du das?“ „Ich wusste es nicht, aber ich kenn‘ dich und hab einfach ins Blaue hinein geraten.“, erwiderte Gin. Immerhin hatte die Blonde das bereits öfters getan und meistens war das nicht gut ausgegangen. Die Menschen von der Gosse waren schließlich nicht ohne Grund dort gelandet. „Aber bei ihm ist es anders.“, behauptete Vermouth im nächsten Moment schlicht. „Inwiefern?“, hakte Gin nach. Vermouth schloss kurz die Augen, bis sie das Bild innerlich wieder vor sich hatte. Wie sie Rye in der verlassenen Gasse begegnet war, oder besser gesagt: das Häufchen Elend neben einem Müllcontainer gefunden hatte. Dann meinte sie: „Als er da so allein gesessen und mich angesehen hat, habe ich so ein seltsames Gefühl verspürt. Ich kann es nicht beschreiben, doch ich war mir in diesem Augenblick sicher, dass er etwas Besonderes an sich haben muss.“ Gin wollte sich übergeben. Diese Frau und ihre Instinkte waren unberechenbar. Er verstand überhaupt nicht, was an diesem Typen so besonders sein sollte. Zumal ein gutes Aussehen für Vermouth ohnehin den größten Wert hatte, also wird‘s das wohl gewesen sein. „Hat er wie ein Welpe zweimal geblinzelt und dann konntest du einfach nicht widerstehen?“, fragte er deshalb ironisch, woraufhin sie ihn leicht beleidigt ansah. „Nein, so war das nicht.“, erwiderte sie und fügte nach kurzer Überlegung hinzu: „Wobei ich sagen muss, dass seine Augen wirklich-“ „Ja ja, hab‘s kapiert. Gib mir lieber ein paar nützlichere Informationen über ihn.“, unterbrach der Silberhaarige die Frau jedoch gereizt und wechselte zu seiner altgewohnten Befehlstonlage. Nicht wissend, dass er nur enttäuscht werden würde. „Da gibt es nichts.“, lautete nämlich die schlichte Antwort von Vermouth. Gin runzelte ungläubig die Stirn. „Gar nichts?“, wollte er sich versichern. Die Blonde nickte. „Er leidet womöglich unter Gedächtnisverlust, denn er konnte mir weder seinen Namen noch irgendetwas anderes über sich erzählen. Das habe ich dem Boss bereits weitergeleitet.“, antwortete sie dann. Gin entwich ein Seufzen. Das Ganze musste doch ein schlechter Scherz sein. Gerade, als er gedanklich anfing sich aufzuregen, wechselte Vermouth zum Glück das Thema. „Wo ich den Boss gerade erwähne… Er sagte mir, dass du dich morgen im Laufe des Tages mal sehen lassen sollst. Es gibt wohl was Wichtiges zu besprechen.“, gab sie ihm Bescheid. „Es hat aber nichts mit dem Neuen zu tun?“, fragte er daraufhin und hoffte, dass dem nicht so war. Wenn Vater ihn jetzt auch noch damit zuquatschen würde, lägen seine Nerven endgültig blank. „Ich denke nicht. In letzter Zeit wirkt er so abgelenkt, als ob ihn etwas sehr beschäftigt.“ Vermouth erinnerte sich an die Zeitungen im Büro ihres Vorgesetzten. Vielleicht waren es die Mordfälle, um die er sich solche Gedanken machte. „Hmh, okay. Ich rede morgen mal mit ihm.“, entgegnete Gin. Wenige Sekunden später erhob er sich von seinem Platz. Es war schon recht spät und allmählich brummte ihm der Schädel. Er wollte einfach nur noch ins Bett und die Begegnung mit diesem Rye am besten wieder vergessen. „Schon so früh?“, neckte ihn Vermouth daraufhin mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen. Stimmt, sonst blieb er eigentlich länger hier. Aber sonst war er es auch gewohnt, hier seine Ruhe zu haben, die ihm heute geraubt worden war. „Ich bin müde. Amüsier‘ dich noch prächtig.“ Mit diesen Worten kehrte er der Blondhaarigen den Rücken zu, welche allerdings noch rief: „Ich schicke dir nachher seine Nummer, damit du ihn morgen anrufen kannst.“ „Wie auch immer...“, dachte Gin augenrollend und winkte die Aussage mit einer einfachen Geste ab, bevor er im Schnellschritt die Bar verließ und sich auf den Weg zu seiner Wohnung machte. Kapitel 3: Kleines Mädchen -------------------------- Ziellos ging Rye durch die Straßen Tokios. Er verfluchte sich für seine Entscheidung in dieser Bar, weshalb er beschlossen hatte, einfach nicht wiederzukommen und stattdessen das Weite zu suchen. Die blonde Frau hatte immerhin jetzt seine Handynummer, falls sie noch etwas von ihm wollte, sollte sie sich eben melden. „Und das wird spätestens morgen sein...“, vermutete der Schwarzhaarige. Er fing an sich zu fragen, wie die Zusammenarbeit mit diesem Gin zukünftig laufen würde. Leider hatte er bei ihm einen ziemlich schlechten ersten Eindruck hinterlassen. Zudem konnte er dieses berauschende Gefühl einfach nicht vertreiben, welches er verspürte, sobald er ihn gesehen hatte. So etwas hatte er noch nie zuvor erlebt. Dass er jemanden auf den ersten Blick um jeden Preis wollte. „Ob er noch lange in der Bar geblieben ist? In welchem Bezirk wohnt er wohl? Das lässt sich bestimmt leicht herausfinden...“ Ein hinterhältiges Grinsen zierte sein Gesicht, welches bewirkte, dass jeder, der ihm noch über den Weg lief, einen weiten Bogen um ihn machte. Da schüttelte Rye plötzlich den Kopf. „Genug jetzt.“, wies er sich gedanklich zurecht. „Es ist viel wichtiger, dass ich mich um etwas Vernünftiges zum Essen kümmere...“ Denn würde er das nicht tun, so wären die Folgen fatal. Er hatte lange versucht gegen seinen Blutdurst anzukämpfen. Versucht, sich gegen diesen Fluch zu wehren. Doch immer, wenn er das tat, war es, als würde sich sein ganzer Körper gegen seinen Verstand richten und versuchen ihn zu zerstören. Seine Gliedmaßen gehorchten ihm dann nicht mehr und er tat unkontrolliert alles, um seinen Hunger befriedigen zu können. Sogar sein Aussehen veränderte sich dann auffällig. Angefangen bei der rötlichen Verfärbung seiner Augen, bis hin zur Vertiefung seiner Stimme und anderen Details, auf die er nicht eingehen wollte. Sein Rekord lag bei einer Woche. Länger hatte er es bisher nie ausgehalten, egal, wie sehr er sich auch zusammengerissen hatte. Er war sich sicher, dass er zum Teufel persönlich werden könnte, wenn er auf Dauer kein Blut zu sich nahm. Als Rye um die nächste Ecke bog, geriet auf einmal ein kleines Mädchen in sein Blickfeld, welches ein paar Meter vor ihm lief. Sie schien allein zu sein und schaute sich unsicher um. Die Augen des Schwarzhaarigen wurden groß. Dieses Mädchen war als Beute perfekt geeignet und er würde zudem leichtes Spiel haben. Kinder waren meistens naiv und glaubten ohne zu hinterfragen die süßen Lügen, die man ihnen zuflüsterte. Also erhöhte er sein Schrittempo, um sie einholen zu können… doch da blieb sie plötzlich von selbst stehen. Im nächsten Moment begann sie, bitterlich zu weinen. Rye zögerte und blieb einen Meter hinter ihr stehen. Noch hatte sie ihn nicht bemerkt. „Mama...“, schluchzte sie zwischenzeitlich. Man verstand es kaum. Er konnte nicht anders, als sie anzusprechen. „Hey… was hast du?“, fragte er vorsichtig und fasste dem Mädchen an die Schulter. Diese drehte sich mit schreckgeweiteten, tränenden Augen um. Rye erstarrte. Als er ihr in die Augen sah, wollte er ihr mit einem Schlag nichts mehr tun. Kurz tauchte ein Bild von einem fremden Mädchen in seinem Kopf auf, welches fröhlich strahlte und auf ihn zulief. Doch ehe er versuchen konnte ihr Gesicht zu erkennen, verschwand das Bild wieder in den verschwommenen, für ihn nicht greifbaren Erinnerungen seiner Vergangenheit. „Du brauchst keine Angst haben...“, sprach er mit leiser Stimme und hockte sich vor dem Mädchen hin, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Magst du mir erzählen, was los ist?“, versuchte er es erneut, sie zum Reden zu bringen. Jetzt schien sie nicht mehr so ängstlich zu sein. „Ich… Ich kann meine Mama nicht mehr finden, v-vorhin war sie noch da… Ich hab sie einfach aus den Augen verloren!“, erklärte sie zitternd und bei dem letzten Satz brach sie wieder in Tränen aus. Rye strich ihr daraufhin die Tränen von der Wange, woraufhin das Mädchen leicht erschrak. „Sie haben ja ganz kalte Hände!“, meinte sie noch immer schluchzend. Der Schwarzhaarige lächelte. „Ja, das ist wahr.“, erwiderte er und schlug dann vor: „Wie wäre es, wenn ich dir bei der Suche helfe? Bestimmt finden wir sie gemeinsam schneller.“ Das Mädchen nickte. „Gut, dann wäre es am besten, wir suchen den Weg, den du gekommen bist, nochmal gründlich ab. Sie kann ja nicht weit sein.“, sagte er in einer beruhigenden Tonlage und richtete sich wieder auf. Das Mädchen krallte sich mit einer Hand in den Stoff seines Mantels und wies mit der anderen in die Richtung, aus welcher sie gekommen war. „Von dort!“, kommentierte sie, während sie sich schon in Bewegung setzte und Rye ihr folgte. „Und wie lange ist deine Mutter schon weg?“, wollte er wissen. Damit könnte man das Suchfeld eingrenzen. „Seit ungefähr zehn Minuten.“, antwortete das Mädchen und senkte traurig den Blick. „Keine Sorge, alles wird gut.“, versuchte der Schwarzhaarige sie weiter zu beruhigen, auch wenn das wenig half. Er verstand nicht mal, warum er ihr gerade helfen wollte. Warum er ihr nicht mehr weh tun wollte und an wen sie ihn erinnerte. Während die beiden weitergingen, beschrieb das Mädchen das Aussehen ihrer Mutter und verriet die Farbe ihrer Kleidung, die sie heute trug. Sich nach dieser Beschreibung orientierend, sah sich Rye prüfend um und musterte die Personen, die an ihnen vorbeiliefen. Jedoch ohne Erfolg. Irgendwann blieb das Mädchen einfach stur auf der Stelle stehen und ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten. Rye sah verwundert auf sie herab. „Das bringt doch nichts! Wir werden meine Mama nie finden, das ist alles meine-“ „Würde sie wollen, dass du so schnell aufgibst?“, unterbrach der Schwarzhaarige ihr Gejammer, welches ohnehin nur aus sinnlosen Selbstvorwürfen bestand. Sie schaute bedrückt zu Boden. „Nein...“, gab sie schließlich mit leiser Stimme zu. „Na siehst du. Also müssen wir-“ Ein lauter Schrei durchschnitt plötzlich die Luft. Die Stimme stammte eindeutig von einer weiblichen Person und kam von der Einmündung auf der anderen Straßenseite. „Mama!“, rief das Mädchen panisch und wollte auf der Stelle losrennen, doch Rye hielt sie an der Schulter fest. „Lass mich los!“, beschwerte sie sich kurz darauf und versuchte sich loszureißen. Vergeblich. Der Griff des Mannes war zu stark. „Du wartest gefälligst hier, das könnte viel zu gefährlich werden. Ich sehe allein nach.“, stellte Rye mit strenger Tonlage klar und sah dem Mädchen dabei fest in die Augen. Erst als er sich sicher war, dass sie sich nicht mehr von der Stelle rühren würde, ließ er sie los und begab sich auf die andere Straßenseite. Verkehr gab es in dieser Gegend der Stadt so spät keinen mehr, weshalb er einfach herüber rennen konnte, ohne einen Autofahrer zu behindern. Drüben angekommen ertönte ein weiterer Hilfeschrei, der jedoch in der Mitte abbrach. Er musste sich beeilen. Also folgte er der Richtung des Hilferufs, welcher ihn letztlich in eine abgelegene Gasse, hinter einen verlassenen Wohnblock führte. Dort erblickte er vier Gestalten im Schatten. „Halt endlich deinen hübschen Mund, es wird dich sowieso niemand mehr hören.“, kam es von einem bärtigen Mann, der einer jungen Frau seine Hand auf den Mund presste. Ein anderer sagte: „Selbst Schuld, wenn du um diese Uhrzeit allein durch die Straßen irrst.“ Er zog ein Cuttermesser aus seiner Jeansjacke. Die Frau versuchte vergeblich sich zu befreien und den Mann von sich wegzustoßen, welcher gerade dabei war, ihren Mantel von den Schultern zu ziehen und ihre Bluse aufzuknöpfen. Die beiden hinteren Männer traten ebenso mit einem fetten Grinsen im Gesicht an die Frau heran. Dieses widerliche Gesindel betrachtete sie wie ein gefundenes Fressen. Rye hatte genug gesehen. „Aber, aber meine Herren. Das ist doch nicht wirklich die feine Art, wie man mit einer Dame umzugehen hat.“, machte der Schwarzhaarige sich mit einer unschuldigen Tonlage bemerkbar und näherte sich dem Geschehen. „Du hast ja Nerven dich einzumischen! Was willst du?“, blaffte der bärtige Typ ihn sofort an und stieß die Frau beiseite, welche dann von den anderen Beiden festgehalten wurde. „Nun ich habe auf Grund einer Bitte nach dieser jungen Frau gesucht. Ein Glück, dass ich sie jetzt gefunden habe. Ihr könnt also getrost wieder verschwinden.“, erwiderte Rye gelassenen und stellte sich dem bärtigen Mann direkt gegenüber, welcher mindestens einen Kopf größer war als er und zudem kräftig gebaut. Dem Kerl entwich nur ein Lachen. „Du solltest besser verschwinden und so tun als hättest du nichts gesehen.“, riet er ihm und fügte übel gesinnt hinzu: „Sonst könntest du in Schwierigkeiten geraten.“ Rye ließ sich aber von dieser Drohung nicht beeindrucken. Jeder, der ihm drohte, würde in der Hölle schmoren. „Das war keine Bitte.“, sprach er tonlos, bevor er das Handgelenk des Mannes ergriff und dessen Arm mit Leichtigkeit verdrehte, bis das gewohnte Knacken der Knochen seine Ohren erreichte. Den schmerzerfüllten Schrei, der danach folgte, ignorierte er und stieß den Kerl achtlos zu Boden. Dessen beiden Komplizen starrten ihn nun mit großen Augen an. Eine der Mienen verfinsterte sich jedoch und der Mann mit dem Cuttermesser ging direkt auf ihn los. Für Rye war es ein Kinderspiel ihm dieses aus der Hand zu schlagen. Die Klinge hinterließ nicht mal einen dünnen Schnitt auf seiner Haut. „Dein Spielzeug wird dir jetzt auch nichts mehr nützen.“, meinte er, während das Messer klirrend auf dem kalten Gestein des Bodens landete. Mit offenem Mund starrte der Mann auf seine leere Hand, auf das Messer am Boden und dann in die rubinroten Augen vor ihm, welche ihn böse anfunkelten. Als er sich mit einer schnellen Bewegung umdrehte, um zu fliehen, krallte sich jedoch eine Hand in seine Jeansjacke und riss ihn zu Boden. Der Schwarzhaarige stellte seinen Fuß auf die Brust des liegenden Mannes und verlagerte darauf so viel Gewicht, bis die Rippen brachen. Auch diesen qualvollen Schrei ignorierte er. Der dritte Mann hingegen war gerade dabei, das Weite zu suchen. Die Frau hatte er davor achtlos weggeschupst. „Du entkommst mir nicht.“, sprach Rye hämisch und nach nicht mal einer Sekunde gelang es ihm mit übernatürlich schnellen Schritten den Kerl einzuholen und ihn gegen die Wand zu werfen, wodurch dieser das Bewusstsein verlor. Dann richtete Rye seinen Blick auf die am Boden kauernde Frau, welche ihn angsterfüllt anstarrte. „Laufen Sie weg. Ihre Tochter wartet vorn an der Kreuzung auf der anderen Straßenseite auf Sie.“, riet der Schwarzhaarige ihr. Sie nickte hastig, erhob sich vom Boden und lief davon. Rye sah ihr nicht hinterher, sondern konzentrierte sich stattdessen wieder auf den bärtigen Mann, der wohl noch in der Lage war aufzustehen. „Ich kann mich nicht erinnern, dir erlaubt zu haben, abzuhauen.“, meinte Rye und versperrte dem Mann den Weg, bevor er ihn mit einem Schulterwurf zu Fall brachte. Die Kraft, die er für diesen Vorgang verwendete, war so groß, dass beim Aufprall des Körpers das Gestein Risse bekam. Rye betrachtete zufrieden, wie sein Opfer am Boden keuchend Blut spuckte. Er hockte sich zu dem Mann herunter und krallte seine Hand in dessen Haare, um den Kopf daran gewaltsam hochzuziehen. „W-Was zur Hölle bist du?!“, schrie der Mann voller Panik. Ein breites Lächeln zierte Ryes Gesicht. Er legte den Zeigefinger seiner freien Hand auf seine Lippen und sprach daraufhin: „Geheimnis. Aber ich kann dir verraten was du und deine Freunde sind.“ Es herrschte einen Moment Stille, in welcher der Mann ihn verwirrt anschaute und sich nicht traute, etwas darauf zu erwidern. Aber das musste er auch nicht, denn Rye beantwortete seine Frage von selbst: „Meine Mahlzeit.“ Und mit diesen Worten schlug er den Kopf in seiner Hand auf das harte Gestein, auf welchem sich daraufhin eine große Blutlache bildete. Der Schwarzhaarige leckte sich über die Lippen. Kapitel 4: Mysteriöse Mordserie ------------------------------- Durch das Vibrieren seines Smartphones wurde Gin früh am Morgen geweckt. Er blinzelte ein paar Mal müde, bevor er sich langsam aufsetzte. Kurz darauf begann er zu realisieren, dass er wieder mal auf dem Sofa eingeschlafen war. „Und vergessen die Balkontür zu schließen hab ich auch noch...“ Er fasste sich an die Stirn. Das Vibrieren war inzwischen verstummt. Als er das Gerät vom Tisch nahm und das Display einschaltete, fiel ihm eine neue SMS ins Auge. [ Komm in 20 Minuten in mein Büro. Es ist dringend. ] , lautete der knappe Inhalt der SMS, welche von seinem Boss stammte. „Was will Vater denn so früh am Morgen...“, fragte sich der Silberhaarige und musste bei einem Blick zur Uhr an der Wand gähnen. Es war nicht mal 8:00 Uhr. Aber wenn er pünktlich sein wollte, musste er sich erstmal vom Sofa erheben, um sich umzuziehen und dann auch direkt loszufahren. Was anderes war nicht mehr zu schaffen. Und wenn es dringend war, sollte er den Boss lieber keine Minute länger warten lassen. Nachdem Gin seine Kleidung gewechselt hatte, schnappte er sich Mantel und Autoschlüssel, um dann mit seinem schwarzen Porsche 356A in das Büro seines Bosses zu fahren. Dort kam er zum Glück pünktlich an, da die Fahrt ohne Probleme verlief. Der Silberhaarige stieg in den Fahrstuhl und fuhr in die letzte Etage. Als er das Büro betrat und gerade etwas sagen wollte, ließ er es doch lieber sein, da der ältere Mann ihn gar nicht beachtete und seine Aufmerksamkeit vollkommen auf die Nachrichtensendung im Fernsehen gerichtet war. Erst als Gin direkt vor dem Tisch stand, wandte sich sein Boss zu ihm. „Was gibt es denn?“, fragte der Jüngere ohne Umschweife, woraufhin sein Gegenüber den Fernseher auf lautlos stellte. Der würde das Gespräch nur stören. „Du hast doch bestimmt schon von dieser mysteriösen Mordserie gehört, nicht wahr?“ Obwohl es sich nach einer Frage anhörte, schien der Boss es eher vorauszusetzen. Er schob Gin eine mehrere Tage alte Zeitung hin, deren Titelblatt über die Ermordung zweier Personen berichtete. Sich das durchzulesen war nicht nötig, da Gin bereits davon wusste. Schließlich wurde darüber auch im Fernsehen berichtet und in den sozialen Netzwerken waren bereits viele Spekulationen über die Morde und den unbekannten Täter entstanden. Doch viele Informationen oder Details wurden von der Polizei bisher nicht veröffentlicht. Es hieß nur, dass für alle Einwohner Tokios höchste Vorsicht geboten sei. „Und was soll damit sein?“, fragte Gin unbetont. Es interessierte ihn nicht wirklich. Die Opfer hatten immerhin keinen persönlichen Bezug zu ihm und die Organisation. „Vor einer halben Stunde hat man wieder drei Leichen gefunden. Allerdings wurde das noch nicht öffentlich bekannt gegeben. Es wird wohl im Laufe der letzten Nacht passiert sein.“, erklärte sein Boss daraufhin ruhig. Der Silberhaarige ahnte, worauf er hinauswollte und wie wahrscheinlich der nächste Auftrag lauten würde. „Der Tatort befindet sich im Bezirk Edogawa, hinter einem verlassenen Wohnblock in der Nähe des Nishikasai Hotels. Er ist nicht zu übersehen.“, redete der Ältere weiter, woraufhin Gin ein genervtes Seufzen unterdrückte. Er hatte keine Lust auf irgendwelche Detektivarbeiten, die ihm jetzt wohl aufgehalst werden würden. Aber da noch kein Befehl ausgesprochen wurde, konnte er es vielleicht noch verhindern. „Ich kann dir nicht ganz folgen. Was haben uns die Mordfälle zu interessieren? Dann läuft da eben ein Irrer draußen rum, der-“ „Wenn jemand in unserem Territorium Unruhe stiftet, betrifft uns das sehr wohl. Mir ist das nicht geheuer.“, unterbrach sein Boss ihn jedoch im lauteren Ton, was aber nicht bedeutete, dass Gin es einfach dabei belassen würde. „Die Polizei wird den Täter schon finden. Es ist doch ein Serienmörder, oder nicht? Die haben doch immer ein Muster. Man muss einfach warten, bis ihnen ein Fehler unterläuft und in der Regel sind sie leicht zu überführen.“, argumentierte er deshalb. Aber damit konnte er bei seinem Gegenüber nichts erreichen. „Du wirst dich trotzdem zum Tatort begeben. Auf der Stelle und keine Diskussion.“, stellte dieser nämlich streng klar. Gin erkannte, dass kein weiterer Widerspruch geduldet war. „Verstanden…“, erwiderte er nur murmelnd. Als er sich abwandte, fügte sein Boss noch hinzu: „Wenn ich mich nicht irre, sollte Cognac auch beim Tatort sein. Falls du ihn siehst, wende dich an ihn.“ Von Cognac hatte Gin schon lange nichts mehr gehört. Bei diesem Mitglied handelte es sich um einen Spion, welchen die Organisation vor einiger Zeit in der örtlichen Polizei eingeschleust hatte. Nur für den Fall der Fälle. Eigentlich ein ganz netter Kerl, der allerdings schon etwas in die Jahre gekommen war. Nachdem Gin das Büro wieder verlassen hatte, begab er sich zum besagten Tatort im Bezirk Edogawa. Sein Boss hatte recht gehabt, es war wirklich kaum zu übersehen. Schon von weitem konnte der Silberhaarige die Streifenwagen und einige Typen in Polizeiuniform erkennen. Die Spurensicherung war natürlich auch längst vor Ort. Es wirkte fast wie ein hektisches Durcheinander. Jeder hatte etwas zu tun, lief von A nach B, schoss Fotos, unterhielt sich mit dem Kollegium und die Ermittler wirkten allesamt ziemlich gestresst. Zum Glück gelang es Gin recht schnell das Organisationsmitglied Cognac aus dem Getümmel herauszufiltern. Auf dieses ging er mit gezielten Schritten zu. Er ignorierte das gelb-schwarze Absperrband und die verwirrten Blicke der Polizisten, von denen einer verärgert anmerkte: „Entschuldigen Sie mal, Sie haben hier nichts zu suchen!“ Der Silberhaarige beachtete den vorlauten Kerl nicht, sondern ließ seinen Blick stattdessen zur Stelle des Geschehens schweifen. Die drei leblosen Körper lagen noch da, wie sie wohl aufgefunden worden waren. Jedoch von einem großen Tuch verdeckt. Ansonsten war eine Menge getrocknetes Blut auf dem Boden verteilt. Ein paar Spritzer klebten sogar an den Hauswänden. Es muss wohl ein sehr brutales Szenario gewesen sein. Gerade als der vorlaute Polizist von zuvor aufgebracht mit zwei Anderen auf Gin zuging, drängte sich der ältere Mann mit dem Codenamen Cognac jedoch dazwischen. „Das geht schon in Ordnung. Er gehört zu mir.“, teilte dieser seinen Untergebenen mit. Seine Stimme klang rau und kratzig. Er war eben schon ziemlich alt und das sah man ihm auf den ersten Blick auch an. „Geht zurück an die Arbeit.“, fügte der Mann streng hinzu und verengte dabei seine Augen. Man sah den drei Jüngeren förmlich an, wie ihnen ein Schauer über den Rücken lief. „J-Jawohl Herr Kommissar!“, entgegneten die Drei nervös im Chor und entfernten sich daraufhin. Gin sah ihnen leicht verblüfft hinterher, bevor er seinen Blick wieder auf Cognac richtete, welcher währenddessen seine Hand auf Gins Schulter legte und ihm bedeutete, mitzukommen. An einem ruhigen Fleckchen, wo niemand ihre Unterhaltung hören würde, blieben die Beiden stehen. Der Ältere zündete sich eine Zigarre an und sprach dann: „Es ist eine Weile her, Gin. Hat der Boss dich geschickt?“ Der Silberhaarige nickte still und beobachtete, wie sein Gegenüber einen kräftigen Zug von seiner Zigarre nahm. „Dachte ich mir. Es handelt sich schließlich nicht einfach um eine normale Mordserie. So was habe ich in meiner ganzen Dienstzeit noch nicht erlebt.“, meinte er dann mit gehobener Tonlage, als würde er das als aufregend empfinden. „Warum hast du den Boss nicht kontaktiert?“, fragte Gin jedoch und ging nicht auf das vorherige Gerede ein. „Ich bin untröstlich, bei der ganzen Verschwiegenheit ist es mir entfallen. Es wird auch schon überlegt, ob man eine totale Nachrichtensperre ausruft, um Panik zu vermeiden.“, erklärte Cognac verlegen und kratzte sich am Hinterkopf. Allmählich wurde Gins Interesse geweckt. „So schlimm?“, hakte er nach, woraufhin der Blick seines Gegenübers plötzlich wieder ernst wurde. „Die Zurichtung der Leichen - oder was davon noch übrig ist – nach zu urteilen, könnte man von einem wilden Tier ausgehen.“, verriet Cognac. Gin runzelte ungläubig die Stirn. „Ein wildes Tier mitten in der Innenstadt? Das ist absurd.“, spottete er. „Glaub mir, wenn du die Leichen gesehen hättest, würdest du dir wünschen, dass ein Tier dafür verantwortlich war.“, erwiderte der Ältere, schloss kurz die Augen und pustete den Qualm seiner Zigarre aus. „Der Gedanke, dass ein Mensch das zu Stande gebracht hat, ist mehr als furchteinflößend. Wenn dem aber so ist, haben wir es mit einem hochgefährlichen Psychopathen zu tun. Nein, dieser Mensch könnte sogar noch schlimmer sein.“, fuhr er angespannt fort. Ein unwohles Gefühl begann sich in Gins Magengrube auszubreiten, obwohl er der Aussage keinen wirklichen Glauben schenkte. Doch Cognac war Hauptkommissar und einer der Leitenden dieser Ermittlung. Er musste es am besten wissen. „Du solltest in Zukunft auch vorsichtiger sein und nachts nicht mehr so viel allein rumlaufen. Für den Täter ist das Geschlecht und dessen Erscheinungsbild belanglos. Das kannst du den anderen auch ausrichten.“, warnte der Mann und sah dem Jüngeren dabei fest in die Augen, um ihm den Ernst der Lage zu vermitteln. „Werde ich...“, entgegnete Gin zögernd. „Wäre es vielleicht noch möglich, dass du mir die genaue Todesursache der Opfer verrätst?“, fragte er dann, obwohl er sich nicht mehr sicher war, ob er das überhaupt noch wissen wollte. „Schwer zu sagen.“, begann Cognac trocken. „Zwar ist der Tatort die reinste Blutlache, doch die Körper waren bisher immer allesamt blutleer. Obwohl wir eher davon ausgehen, dass die Opfer bereits schon vorher aufgrund ihrer starken Fleischwunden gestorben sind. Die Knochen sind überwiegend gebrochen. Dem einen von letzter Nacht wurde sogar der Schädel zertrümmert. Man möchte sich das nicht bildlich vorstellen.“, informierte er noch. Den letzten Satz nahm sich Gin zu Herzen. Er vermied es, sich irgendetwas vom Tathergang bildlich vorzustellen. „Verstehe, danke.“, lautete seine knappe Antwort. Der Ältere setzte ein gequältes Lächeln auf. „Richte dem Boss aus, falls ihm noch etwas einfällt, soll er mich kontaktieren. Ich melde mich, sobald es Neuigkeiten gibt.“, sagte er abschließend und wandte sich mit diesen Worten von Gin ab, welcher das schweigend hinnahm. Immerhin hatte er erst mal ein grobes Bild von der Lage. Kapitel 5: Schießkünste ----------------------- Nachdem Gin seinen Auftrag vorerst erledigt hatte, fuhr er zurück zum Hauptsitzgebäude der Organisation, wo er seinen Porsche in einer Tiefgarage parkte. Dort fanden viele originelle Fahrzeugmodelle verschiedener Mitglieder ihren Platz. Von seltenen Oldtimern bis hin zu modernen Sportwagen war alles dabei. Auch bei Gins Wagen handelte es sich um einen Oldtimer aus Deutschland, auf welchen er ziemlich stolz war. Der Silberhaarige schaltete den schnurrenden Motor aus, bevor er sich eine Zigarette ansteckte. Dann lehnte er sich mit geschlossenen Augen zurück, um sich für einen kurzen Moment zu entspannen. „Schlimmer als ein Psychopath also… Geschlecht und Erscheinungsbild sind ihm gleichgültig… blutleere Körper...“, kreisten seine Gedanken wirr umher. Die ganze Situation klang wie ein schlechter amerikanischer Horrorfilm. Er wusste nicht wirklich, wie er damit umgehen sollte und wie weit Cognacs Warnung ernst zu nehmen war. „Da fällt mir ein, gestern Abend hatte ich so ein seltsames Gefühl...“, überlegte er in Erinnerung an seinen gestrigen Nachhauseweg, den er ausnahmsweise zu Fuß verrichtet hatte. Er besaß eine wachsame Persönlichkeit, weshalb ihm Verfolger oder derartiges meistens sofort auffielen. Aber gestern hatte er sich zeitweise von jemandem beobachtet gefühlt, jedoch nie eine verdächtige Person entdecken können. „Oder ich hab‘s mir nur eingebildet, weil ich noch leicht gestresst war wegen einer bestimmten Frau...“ Das war zumindest eine plausible Erklärung. Da riss er plötzlich wegen eines klopfenden Geräuschs seine Augen auf. Als er aus dem Fahrerfenster schaute, erblickte er doch tatsächlich die andere unsympathische Person des gestrigen Abends. Genervt kurbelte er die Scheibe runter. „Was willst du?“, wurde ihm tonlos zugeschleudert. Rye betrachtete den schlecht gelaunten Mann vor sich und erstickte sein kribbelndes Gefühl, welches sich bei diesem reizvollen Anblick bemerkbar machte. „Vor zwei Stunden bekam ich einen Anruf von Vermouth. Sie meinte, du würdest mich zur Übungshalle begleiten.“, erklärte der Schwarzhaarige und konnte Gin dabei schon vom Gesicht ablesen, was dieser davon hielt. Jedoch sah er nicht gerade beschäftigt aus, weshalb Rye Hoffnung hatte, er würde vielleicht zustimmen. „Das hab ich nie gesagt.“, entgegnete Gin allerdings abweisend, was Rye nicht so leicht hinnahm, da er liebend gern ein wenig Zeit mit seinem neuen Partner verbringen wollte. „Aber mir scheint es, als seist du momentan frei und außerdem sind wir doch jetzt Partner. Da könntest du ruhig ein wenig entgegenkommender sein.“, meinte er leicht sarkastisch. Gin schwieg einfach und nahm noch einen Zug von seiner Zigarette. „Dabei dachte ich gestern Abend, du willst dich noch vergewissern ob ich unfähig bin oder nicht.“, fügte Rye nach ein paar Sekunden der Stille hinzu. Er hasste es, ignoriert zu werden. „Hm...“, begann der Silberhaarige und überlegte. Das stimmte schon, aber es fiel ihm schwer zu glauben, dass dieser Typ irgendetwas auf dem Kasten hatte. „Jemand, der nicht mal einen Schluck Alkohol verträgt, wird auch kaum Härteres zu Stande bringen können.“, dachte er fest überzeugt. Zudem litt der Kerl laut Vermouth noch unter Gedächtnisverlust. Selbst wenn er in etwas gut war, dann hatte er es mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso vergessen. „Was willst du mir denn beweisen?“, fragte er und tat interessiert. Da stahl sich ein freches Grinsen auf den Lippen des Schwarzhaarigen. „Ich will dir nichts beweisen, ich will dich beeindrucken.“, stieß er selbstgefällig hervor. Gin konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Der Kerl fing an ihn zu amüsieren. Im nächsten Moment öffnete er die Fahrertür und stieg aus dem Wagen. „Na gut.“, meinte er und schlug die Tür hinter sich zu. „Mal schauen, ob hinter deinen großen Tönen auch Leistungen stecken.“ Tatsächlich hatte er momentan ohnehin nichts zu tun und dem Kerl beim Versagen zuzusehen würde ihn vielleicht auf andere Gedanken bringen. „Sicher.“, erwiderte Rye knapp. Somit hatte er sich seine eigene Falle gebaut. Ob er dort auch reinfallen würde, würde sich zeigen wenn er mit Gin in dieser Übungshalle angekommen war. In Wahrheit hatte er nämlich nicht die geringste Ahnung, ob er in etwas anderem als dem Töten gut genug war, um den Silberhaarigen zufriedenzustellen oder ihn gar zu beeindrucken. Doch darum ging es doch hier, oder nicht? Vermouth hatte ihn mitgenommen, weil er gut darin war, Menschen zu töten. Doch sie wusste nur, dass er tötete, nicht wie er tötete. Er wollte darin gar nicht gut sein… Er versuchte die Bilder der letzten Nacht aus seinem Kopf zu vertreiben. Er war nicht er selbst gewesen. Das hoffte er zumindest… „Woher wusstest du eigentlich, dass du mich hier finden würdest?“, unterbrach Gins fragende Stimme plötzlich Ryes Gedankengang. Er schaute sich irritiert um, da er nicht realisiert hatte, dass sie bereits ein Stückchen gegangen waren. Jetzt standen sie vor einem Fahrstuhl. „Das war nur Zufall.“, antwortete er ruhig, obwohl die Frage ihn innerlich verunsicherte. „Hat er etwas bemerkt…?“, ging es ihm durch den Kopf. Nein, das war unmöglich. Bevor der Silberhaarige weiter nachhaken konnte, wechselte Rye schnell das Thema. „Ich hab eine Stunde Zeit. Danach geh ich mir eine Wohnung anschauen...“, gab er Bescheid. Als er vor ein paar Stunden mit Vermouth telefoniert hatte, hatte die Frau außerdem noch offenbart, dass sie eine hübsche Wohnung für ihn gefunden hatte. Wahrscheinlich aus Freundlichkeit, da sie wohl der Annahme war, er wäre obdachlos oder so. Was aber nicht stimmte, nur hielt er sich selten in seinem Hotelzimmer auf. Jedoch hatte er dem Angebot erst mal zugestimmt. Vielleicht würde ihm die Wohnung gefallen, denn er hatte ja auch beschlossen, länger hier in Tokio zu bleiben. „Schön für dich.“, kam es von Gin nur kühl, während sich die Fahrstuhltüren endlich öffneten und die beiden hinein traten. So langsam begann Rye zu merken, dass der Silberhaarige nicht für Alltagsgespräche zu haben war. Dieser tippte inzwischen irgendeine Zahlenkombination auf den Tasten ein, woraufhin ein Piepen ertönte. „Was machst du da?“, fragte Rye verwundert, da dieses Rumgetippe in seinen Augen keinen Sinn ergab. Jetzt leuchteten mehrere Tasten und sie würden die betreffenden Stockwerke hintereinander abfahren. „Uns nach unten befördern?“, erwiderte Gin erstaunt. Da hörten die Tasten auch wieder auf zu leuchten und der Silberhaarige drückte die UG-Taste. Aber sie waren doch schon im Untergeschoss? „Also gibt es noch ein Untergeschoss?“, erkundigte er sich, um Klarheit zu erlangen. Gin nickte und meinte: „Die Zahlenkombination hat einen Mechanismus aktiviert, der uns Zugang zum zweiten Untergeschoss gewährt. Wäre doch ungünstig, wenn unberechtigte Personen in die Übungshalle gelangen könnten, nicht wahr?“ Das betonte er so, als würde er mit einem Kleinkind reden. Danach setzte er ein Grinsen auf und fügte belustigt hinzu: „Im Übrigen hättest du dir die Kombination einprägen sollen, falls du mal öfters dort üben willst.“ „Verstehe.“, entgegnete Rye und versuchte dieses herabwürdigende Verhalten zu ignorieren. Sicher doch, er war jetzt ‚der Neue‘ und hatte von vielen Dingen in dieser Organisation noch keine Ahnung und musste sich erst mal richtig einleben, weshalb der Silberhaarige wohl dachte, er könnte so mit ihm umgehen. „Warts ab...“, dachte Rye übel gesinnt und drehte sich von Gin weg, damit dieser sein finsteres Lächeln nicht sehen konnte. Als sich die Türen wieder öffneten, war alles dahinter stark abgedunkelt. Man konnte nur einen riesigen, leeren Flur erkennen. Es war so still und für Rye fühlte es sich an, als würde diese Stille eine gewisse Kälte erzeugen und er wusste nicht, ob es sich dabei um die Raumtemperatur oder seine eigene Kälte handelte. Solche großen Gänge kamen ihm bekannt vor... „Kommst du nun oder hast du es dir anders überlegt?“, holte Gins Stimme ihn plötzlich aus seiner Starre. Er war längst vorausgegangen und legte nun einen Lichtschalter um, woraufhin der Flur schwach erhellt wurde. Rye schüttelte den Kopf, um die vorherigen Gedanken zu vertreiben. „Entschuldige.“, erwiderte er knapp und ging mit zügigen Schritten an Gin vorbei, ohne ihn dabei anzusehen. Dieser passte sich trotzdem dem Schritttempo des Schwarzhaarigen an. „Scheint so als sei heute niemand hier. Besser für dich, falls du dich blamieren solltest.“, meinte Gin neckend und schielte unauffällig zum Schwarzhaarigen, welcher noch immer strikt geradeaus blickte. „Werde ich nicht, keine Sorge.“ Ein Lächeln bildete sich auf Ryes Lippen. Während sie weiter durch den Gang schritten, nutzte Gin die kurze Gelegenheit, um Rye etwas genauer zu betrachten, da dieser ihn gerade sowieso keines Blickes würdigte. Weil die schwarzen, langen Strähnen momentan nicht Ryes Hals verdeckten, konnte Gin dessen Tattoo darauf zum ersten Mal vollständig erkennen. „0012… was sollen diese Zahlen bedeuten?“, ging es ihm durch den Kopf, auch wenn er Rye diese Frage nie stellen würde. Denn tat er das, dann würde er diesem Typen mehr oder weniger offen zeigen, dass er sich für etwas an ihm interessierte. Aber vielleicht wusste Vermouth etwas darüber, sie hatte ihn immerhin verhört. Zwar hatte sie Gin nichts weiter verraten, doch diese Frau war mit ihrer Geheimniskrämerei unberechenbar und meistens wusste sie mehr, als sie preisgab. Ein Versuch war es jedenfalls wert. Als sie sich dem Ende des Fluren näherten, wurde der Eingang der großen Halle sichtbar. Dahinter trennte nach ein paar Metern ein langes Geländer aus Eisen den gefliesten Boden von einem tiefen Abgrund. Das Ganze sah aus wie eine Art Schussplattform. Rye staunte nicht schlecht, als er sich umschaute und diese riesige Räumlichkeit auf sich wirken ließ. Er trat bis an das Geländer heran, an welchem er sich mit beiden Händen abstützte und tief in den Abgrund blickte. Dieser Anblick war wirklich verlockend. Er erinnerte ihn an einen dieser Abende, welche er auf dem Dach eines Hochhauses verbracht hatte. Der Abendhimmel hatte in tiefroten Farben geleuchtet, die Luft war leicht feucht gewesen und die Umgebung totenstill. Alles, was zählte, war der Augenblick. Dieser eine Augenblick, in welchem er bis zum Rande des Daches herantrat und seine Augen in die Tiefe starrten. Es war, als hätte ihn diese Tiefe magisch angezogen. Er glaubte dort unten erwartete ihn die lang ersehnte Erlösung, welche ihn in Windeseile ins Jenseits befördern würde. Und weil er dieses grauenvolle Dasein endgültig satt hatte, verweilte er keine Sekunde länger, beugte sich vor, streckte die Arme zur Seite und ließ sich fallen. Seine Haare flatterten im Wind. Er fühlte sich schwerelos, ließ seine Augen geöffnet. Er wollte sehen, wie er starb. Der Tod würde ihn von diesem Fluch befreien und er musste nicht länger ein Monster sein. Er wollte dieses Monster in seinen Venen besiegen. Es töten… sich selbst töten… Doch der Tod wollte ihn einfach nicht in seine Arme schließen. Er spürte, wie der Tod ihn förmlich abwies. Ihn dazu verdammte, weiterzuexistieren. Und so zerbrach zwar das Gestein, auf welchem er aufprallte, doch er selbst trug keine einzige Schramme von dem Sturz davon. Nicht einmal der kleinste Schmerz durchzog seinen Körper. Mit leerem Blick blendete er die Umgebung aus, drehte sich auf den Rücken, blieb dort auf dem kaputten Gestein liegen und sah zum blutroten Himmel hinauf. Ein weiterer erfolgloser Versuch. Da legte sich plötzlich eine warme Hand auf Ryes Schulter. „Pass auf, sonst fällst du noch.“ Die sarkastische Warnung stammte von niemand anderem als Gin. Als sich der Schwarzhaarige umdrehte, stellte er fest, dass ihm ein Gewehr entgegengehalten wurde. „Wo hat er das auf einmal her?“, fragte er sich und blinzelte zweimal verwirrt, bevor er die Waffe zögernd annahm. Er analysierte sie genau und betrachtete sie von allen Seiten. Obwohl er sich sicher war, so ein Gewehr noch nie in der Hand gehabt zu haben, so war sie ihm aber nicht vollkommen fremd. Kurz darauf legte er sie zur Probe an und blickte durch das Zielfernrohr. „Wäre ideal, wenn du da lang zielst.“ Gin deutete in die entgegengesetzte Richtung, wo hinter dem Geländer auf den Leinwänden eine Simulation begann. Rye drehte verwirrt den Kopf. So eine hochmoderne Technologie war ihm total fremd. Hoffentlich würde ihn das nicht beeinträchtigen. „Wir fangen einfach an, 200 Yards.“, meinte der Silberhaarige und trat mit einem Grinsen im Gesicht zurück, woraufhin Rye nach vorne auf die Plattform trat. „Wird schon schief gehen.“, dachte er scherzhaft und legte das Gewehr erneut an. Wieder fühlte es sich seltsam vertraut an. Als würde er das nicht zum ersten Mal machen, was er allerdings für völlig absurd hielt. Durch das Zielfernrohr konnte er einen Mann mittleren Alters erkennen, welcher seelenruhig auf einer Parkbank saß und versuchte sich zu entspannen. Ein Profi würde wohl sagen, dass das viel zu einfach wäre. Das einzige Hindernis waren vielleicht ein paar wenige Passanten, die hin und wieder an der Bank vorbeiliefen. Rye zielte auf den Kopf des Mannes. Der Kopf war immer gut, da die Überlebenschance bei diesem Vitalpunkt sehr gering war. Der Schwarzhaarige zögerte nicht länger und als er sich einigermaßen treffsicher war, drückte er ab. Die Kugel flog in einer geraden Flugbahn, viel zu schnell für das menschliche Auge. Ryes letzte Zweifel lösten sich in Luft auf, als er das Loch in der Stirn erblickte. Er hatte getroffen. Während er sich zu Gin drehte, versuchte er seine innere Erleichterung zu verbergen. Die Gesichtszüge seines Partners blieben unverändert und er starrte ihn nur schweigend an. „Kein Lob?“, fragte Rye ironisch, da ihm klar war, dass er keines bekommen würde. „Zumindest noch nicht.“, dachte er motiviert. Der Treffer hatte ihm irgendwie neuen Ansporn gegeben. Vielleicht würde er den Nächsten auch schaffen. „Ich bin jemand mit sehr hohen Ansprüchen, solltest du wissen.“, erwiderte Gin tonlos. Im gleichen Moment wechselte die Simulation. „300 Yards.“, kommentierte er, woraufhin Rye sich wieder umdrehte und durch das Zielfernrohr sah. Es war derselbe Mann, diesmal allerdings aus größerer Entfernung und auf einem Fahrrad unterwegs. Es blieb nicht viel Zeit. Rye zielte wieder auf den Kopf und schoss keine drei Sekunden später. Volltreffer. Das hatte er zwar gehofft, aber nicht erwartet. War das nur Glück? „Warum hat er schon wieder getroffen? Am Anfang hatte es den Anschein, als würde er so ein Scharfschützengewehr das erste Mal in die Hand nehmen...“, dachte Gin verwirrt, auch wenn ihn das etwas verärgerte. Aber noch waren es keine weiten Entfernungen, vielleicht gerade mal für einen Amateur angemessen. Umso mehr hoffte der Silberhaarige, dass der nächste Treffer dem Kerl nicht gelang. „450 Yards.“, gab er ihm Bescheid und beobachtete, wie Rye allmählich selbstsicherer an das Ganze heranging. Auch der Zeitraum in welchem er zielte und abdrückte verringerte sich nach und nach mehr. Obwohl der Schwierigkeitsgrad immer höher wurde. Wieder getroffen. Gin unterdrückte ein Fluchen. Einerseits war es zwar gut, dass der Kerl anscheinend wenigstens zu etwas zu gebrauchen war, andererseits gönnte er ihm diese Art Erfolg nicht. Wenn das so weiterging, müsste er ihn wirklich noch loben. Und weil er das nicht wollte, ging er gleich zu 700 Yards über. „700 Yards, wenn du das schaffst, könntest du dich zumindest mit Chianti und Korn messen.“, meinte er herablassend und freute sich ein wenig über den verdutzten Gesichtsausdruck, den er jetzt zugeworfen bekam. Jedoch eine Beschwerde oder einen bissigen Kommentar ließ Ryes Stolz wohl nicht zu, weshalb er sich einfach wieder wortlos umdrehte und das Gewehr anlegte. „Mal schauen wie du damit zurechtkommst.“ Gin ging davon aus, dass diese Entfernung nun zu weit war. Doch da täuschte er sich. Die Kugel sauste blitzschnell und verfehlte letztlich ihr Ziel nicht. Na schön, dann war Rye eben so gut wie Chianti und Korn. Das machte ihn noch lange nicht zu etwas besonderem. Aber konnte er auch besser sein? Eine letzte Entfernung wollte Gin dem Schwarzhaarigen noch zumuten. „800 Yards. Danach bist du entlassen.“, sprach er, woraufhin Rye sich ihm kurz zuwandte. „Du meinst, danach bin ich gut genug?“, hakte er nach, bevor sich ein siegessicheres Lächeln auf seinen Lippen bildete. Gin ließ die Frage unbeantwortet, denn sonst hätte er sie bejahen müssen. Doch eine Antwort hatte Rye wohl auch nicht erwartet, da er sich einfach wieder umdrehte, um sich dann dem Ziel zu widmen. Obwohl es sich nur um den Bruchteil einer Sekunde handelte, dehnte sich dieser Augenblick für beide zu einer Ewigkeit aus. Rye erstickte den letzten Rest seiner Nervosität. Es gab keinen Grund mehr nervös zu sein. Er war gut. Nein, sogar fast perfekt. Auch wenn er dafür keine Erklärung fand. Der Sieg war zum Greifen nah. Wenn er jetzt traf, hätte er seine Aussage gegenüber Gin wahr gemacht. Und das war alles, was er in diesem Moment wollte. Er wollte Gin beeindrucken. Ihm zeigen, was es hieß, richtig zu schießen. Er wollte ein Lob aus seinem Mund hören. Nachdem Rye abgedrückt hatte, verlief alles ganz schnell. In hoher Geschwindigkeit durchschnitt die Kugel die Luft, bevor sie das auserwählte Ziel haargenau durchbohrte. Das Opfer sackte zusammen. Innerlich erfreut darüber, blieb der Schwarzhaarige äußerlich jedoch ruhig. Dann trat er von der Plattform und ging festen Schrittes auf Gin zu. Nicht mal jetzt konnte man irgendeine Emotion von seiner Miene ablesen. Kein Stirnrunzeln, kein Mundwinkelzucken, nichts. Gar nichts. Aber Rye durchschaute die Fassade, welche den inneren Stolz des Mannes verbarg. Direkt vor ihm blieb er stehen, woraufhin sich Stille ausbreitete. Rye ließ währenddessen seinen Blick über das Gesicht seines Gegenübers herabwandern. Von den stechend grünen Augen, die von Kaltblütigkeit gezeichnet waren, über die weichen Lippen, denen nach wie vor kein Wort entwich, bis hin zu dem Hals, der auch heute zur Hälfte von einem Rollkragen verdeckt war. Rye übermannte ein unwiderstehliches Bedürfnis, diesen herunterzuziehen. Mit seinen Fingern über das zarte Fleisch darunter zu fahren und ihn dann... „Ich bin überrascht. Du bist ja doch zu etwas zu gebrauchen.“, meinte Gin plötzlich, sodass Rye erschrocken den Blick hob. Er zog eine Augenbraue nach oben. „Also das bekommst du doch sicher auch netter hin...“, erwiderte er unschuldig, bevor ein schelmisches Lächeln seine Lippen umspielte. Gin zuckte mit den Schultern und sagte: „Vielleicht. Ich werd‘ dran arbeiten.“ Daraufhin ging er an Rye vorbei in Richtung des großen Flures, von welchem sie gekommen waren. „Hättest du es denn besser hinbekommen?“, fragte Rye noch. Gin blieb stehen und warf seinen Blick über die Schulter. „Spielt das eine Rolle? Ich habe nie gesagt, dass ich dich beeindrucken will.“, wich er der Frage geschickt aus und wandte sich mit diesen Worten von seinem Partner ab. Ein Grinsen schlich sich in Ryes Gesicht. „Aber das hast du bereits.“, sprach er übel gesinnt in Gedanken. Dann begab er sich ebenso zurück zum Fahrstuhl. Hoffentlich würde er es noch pünktlich zu der Verabredung mit Vermouth schaffen. Kapitel 6: Zwei Gesichter ------------------------- Vor einem riesigen Wohnblock blieb Rye mit großen Augen stehen, bevor er auf sein Handy-Display starrte und sich die SMS von Vermouth nochmal durchlas. Die genannte Adresse stimmte jedenfalls überein. Er musste hier richtig sein. Pünktlich war er auch. Aber im Allgemeinen sah diese Gegend hier in Vergleich zu denen, wo er sich sonst herumtrieb, viel wohlhabender und sauberer aus. Auch der Wohnblock selbst wirkte sehr modern, doch vor allem sah er auch teuer aus. Rye wusste nicht, ob er sich leichte Sorgen machen sollte, denn momentan konnte er sich nicht viel leisten. Als er sich umsah, fiel ihm auch schon von weitem die Blondine auf, die sich ihm in Schnellschritt auf Stöckelschuhen näherte. Rye nahm seine Sonnenbrille ab und ließ sie in seine Jackentasche gleiten. „Sorry, es ging nicht schneller. Hier ist es beinahe unmöglich, einen Parkplatz zu finden!“, entschuldigte sich Vermouth als sie vor dem Schwarzhaarigen anhielt. „Macht doch nichts, ich stehe erst seit zwei Minuten hier.“, erwiderte Rye ruhig und fügte mit Bedenken hinzu: „Aber hast du dir das auch gut überlegt? Ich meine-“ „Nun seh‘ sie dir doch erst mal an!“, unterbrach die Frau ihn jedoch, bevor sie ihn kurz darauf durch den Eingang des Wohnblocks scheuchte. „Es geht mir nur um den Preis.“, erklärte er, während die beiden durch den Flur liefen und in einen Fahrstuhl stiegen. „Mach dir darüber keine Gedanken. Ich hab schon drauf geachtet, dass es passt. In ein paar Tagen bekommst du die erste Geldsumme überwiesen.“ Nachdem Vermouth das beteuert hatte, kramte sie etwas aus ihrer Handtasche hervor. „Bevor ich es vergesse, deine neuen Personalien. Außerdem haben wir dir ein Konto errichtet, damit du natürlich auch Zugriff auf das verdiente Geld hast.“ Sie hielt ihm einen Umschlag entgegen, in welchem sich ein paar Papiere, eine Bankkarte, ein Führerschein und ein Personalausweis befanden. „Das ist nett, danke...“, entgegnete Rye. Und das meinte er tatsächlich so. Er konnte sich nicht dran erinnern, dass sich jemand mal so um ihn gekümmert hatte, ohne dass er selbst etwas dafür tun musste. Mit diesen Dokumenten besaß er nun eine Identität und musste so zumindest kein Niemand mehr sein. Er nahm den Umschlag an sich und warf daraufhin einen Blick auf den neuen Personalausweis, welcher wirklich täuschend echt aussah. Als wäre es schon immer seiner gewesen, den er bei sich gehabt hatte. „Dai Moroboshi...“, las er gedanklich vor. Dieser Name war mit schwarzen Druckbuchstaben auf den Ausweis eingraviert. So würde er jetzt wohl von nun an heißen. „Alles zu deiner Zufriedenheit?“, erkundigte sich die Blonde neugierig mit einem Lächeln auf den Lippen. Rye nickte. „Das will ich hoffen. Und pass gut drauf auf, noch einen gibt‘s nicht.“, meinte sie zwinkernd, während der Fahrstuhl im achten Stockwerk angekommen war und sich die Türen öffneten. Beide traten heraus in den Flur. „Wohnung 819... das war die letzte Tür rechts...“, überlegte Vermouth laut und holte den dazugehörigen Wohnungsschlüssel aus ihrer Tasche. Rye folgte ihr mit langsamen Schritten den Gang entlang. Dabei ließ er seinen Blick über die anderen Wohnungstüren schweifen. Anscheinend waren alle Wohnungen bewohnt, da sich neben jeder Tür ein Namensschild an der Wand befand. Schon mal der erste Nachteil. Das war auch etwas, was er an Hotels nicht ausstehen konnte. Überall diese Menschen. Von nun an würde er wohl gezwungen sein, einen auf netten Nachbar zu mimen und sich unauffällig zu verhalten. Da war es ihm lieber, allein in einer Hütte auf einem einsamen Hügel zu wohnen. Diesen Gedanken empfand er irgendwie als witzig und traurig zugleich. Manchmal quälte ihn die Einsamkeit, jedoch konnte er die Nähe von Menschen um sich herum nicht ertragen. „Wie ist es eigentlich gelaufen?“, fragte die Blonde plötzlich aus heiterem Himmel heraus. Rye sah sie verwirrt an, bevor er nachhakte: „Wie ist was gelaufen?“ „Du solltest doch mit Gin in der Übungshalle an deinen Schießkünsten arbeiten.“, erklärte sie, woraufhin dem Schwarzhaarigen klar wurde, was sie gemeint hatte. „Ach so, ja... Mehr als 800 Yards waren nicht drin.“, antwortete er schlicht. Vermouth warf ihm einen verdutzten Blick zu. „Ist das ein Scherz?“, fragte sie erstaunt. Mit so einem grandiosen Ergebnis hatte sie wirklich nicht gerechnet. „Nein.“, erwiderte Rye kopfschüttelnd. „Ist doch immerhin etwas, zu was ich nützlich bin, sagt Gin zumindest.“, fügte er noch trocken hinzu. „Klingt, als sei er nicht sonderlich nett zu dir gewesen.“, schlussfolgerte Vermouth aus dieser Aussage. Obwohl das auch zu erwarten war. Wenn Gin mal nett zu jemandem war, dann musste man sich ernste Sorgen machen. „Nett? Existiert dieses Wort in seinem Wortschatz überhaupt?“, antwortete Rye scherzhaft mit hochgezogener Augenbraue, womit er der Blonden wirklich aus der Seele sprach. Der Satz hätte von ihr stammen können. Rye hörte, wie der Frau ein leises Kichern entwich. Er selbst musste schmunzeln, als ein Gedanke in ihm aufkam: „Selbst wenn nicht, ich werd‘ ihn schon noch dazu bringen, nett zu mir zu sein.“ Und davon war er vollkommen überzeugt. Doch seine Gedanken gingen noch weiter. Er fing an zu überlegen, was er mit dem Silberhaarigen anstellen könnte, wenn dieser nicht bereit war, ihn zu respektieren. Da gab es viele obszöne Möglichkeiten, die ihm gerade spontan einfielen. Aber es war besser, nicht genauer darauf einzugehen. Nicht jetzt und nicht hier. Vor allem nicht, wenn Vermouth seelenruhig neben ihm herlief. „Mach dir nichts draus. Er war schon immer so, liegt an der Erziehung.“, säuselte sie nebenbei unbekümmert, ahnte jedoch nicht, dass sie damit Ryes Neugier geweckt hatte. Sein Interesse, mehr darüber zu erfahren, stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben, weshalb die Frau wohl beschloss, ein paar Kleinigkeiten preiszugeben: „Als Baby hat man ihn sozusagen direkt vor der Tür des Bosses abgesetzt, woraufhin dieser ihn unter seine Fittiche nahm. Daher kenne ich Gin schon sehr lange.“ „Also seid ihr zwei so was wie Kindheitsfreunde?“, wollte Rye daraufhin wissen und war überrascht über die Eifersucht, die bei dieser Frage plötzlich in ihm zum Vorschein kam. Er vertrieb sie schnell wieder. Aber Vermouth setzte nur ein geheimnisvolles Lächeln auf, welches der Schwarzhaarige nicht deuten konnte. Schweigend schüttelte sie den Kopf, bevor sie die Wohnungstür aufschloss, vor der beide inzwischen standen. „Aber das gerade hast du nicht von mir.“, stellte sie in strenger Tonlage klar, während sie in die Wohnung eintraten. Obwohl es draußen hell war, wirkte der Wohnungsflur wegen der schwarzen Tapete ziemlich dunkel, was Rye wirklich gut gefiel. Bis auf eine Fußmatte und eine bräunlichen Kommode, über welcher ein Wandspiegel hing, war der Flur jedoch leer. „Ich hoffe, dass dir das nicht zu dunkel ist, man könnte die Tapeten ja auswechseln oder-“ „Nein, das ist schon gut so.“, fiel der Schwarzhaarige Vermouth ins Wort. Dunkle Farben passten ohnehin besser zu ihm. Außerdem würde er sich hier drin sowieso nicht oft aufhalten. Er ging weiter geradeaus und betrat das Wohnzimmer, wo ihm sofort ein moderner Kamin ins Auge fiel, welcher in der Wand eingebaut war. Darüber befand sich ein großer Flachbildfernseher. Rye fuhr mit zwei Fingern über den rauen Stoff des grauen Ecksofas und musterte den tiefen Tisch davor, auf welchem eine Porzellanvase mit roten Rosen stand. Diese passten gut zu den ebenso roten Vorhängen an den zwei großen Fenstern neben dem Kamin. Als Rye seinen Blick weiter durch den Raum schweifen ließ, erblickte er auch ein Bücherregal an der rechten Wand. Dort suchte er sich das ein oder andere Buch aus, um sie kurz durchzublättern. Bei den meisten handelte es sich um irgendwelche weltweit bekannten Romane, Novellen oder Krimis. „Etwas Interessantes dabei?“, fragte Vermouth und blickte neugierig über Ryes Schulter. „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde...“, las die Blonde den Titel des Buchs, welches Rye gerade in der Hand hielt, laut vor und zog dabei eine Augenbraue nach oben. „Hab ich schon gelesen. Aber ein zweites Mal schadet ja nicht.“, kommentierte Rye den Blick der Frau schulterzuckend, woraufhin sie verwundert zu ihm aufsah. „Ach so? Ich weiß zwar, dass es sich hierbei um ein Werk von Robert Louis Stevenson handelt, worin eine Art Identitätsstörung thematisiert wird, aber gelesen hab ich es nicht. Worum geht es denn genau?“, erkundigte sie sich. Der Schwarzhaarige stellte das Buch zurück in das Regal, bevor er begann: „Mit der Identitätsstörung liegst du schon richtig. Diese betrifft den Protagonisten Dr. Henry Jekyll, welcher sein Leben lang gezwungen war, eine düstere, böse Seite in ihm zu unterdrücken. Eines Tages gelingt es ihm jedoch ein Elixier herzustellen, welches das Gute vom Bösen trennen kann. Zur Folge entsteht Mr. Edward Hyde, eine abgespaltene Persönlichkeit in dessen Form Jekyll endlich seine negativen, unterdrückten Neigungen und Gefühle ausleben kann.“ Während Rye sprach, verließ er das Wohnzimmer. Vermouth folgte ihm in den Flur und hörte dabei aufmerksam zu. „Jekylls Experiment bleibt allerdings nicht ohne Folgen.“, fuhr Rye fort, als er vor dem Wandspiegel stehenblieb. „Mr. Hyde gewinnt zunehmend die Oberhand und kommt immer öfters zum Vorschein. Aus Angst über die Folgen nimmt Jekyll sich letzten Endes das Leben, um zu verhindern, sich eines Tages nicht mehr zurückverwandeln zu können. Er wollte nicht den Rest seines Lebens als das Monster Mr. Hyde verbringen.“ „Verstehe, das klingt wirklich interessant.“, erwiderte Vermouth nur und betrachtete Rye nebenbei skeptisch, dessen Blick voll und ganz auf sein Spiegelbild fixiert war. Da drehte er sich plötzlich weg und sagte fröhlich: „Nicht wahr? Die Handlung war auch bis zum Ende hin fesselnd. Ich frage mich manchmal, ob es sich nicht leichter leben würde, mit zwei Gesichtern.“ Er drückte daraufhin einfach wahllos von irgendeiner Tür die Klinke herunter. „Was haben wir denn hier...“, murmelte er zu sich selbst, während er die Tür öffnete. „Das ist das Schlafzimmer.“, antwortete Vermouth hinter ihm, bevor beide den Raum betraten, in welchem es deutlich heller war als in den restlichen Räumlichkeiten der Wohnung. Die Sonne schien direkt durch das große Panoramafenster. Davor standen zwei blau-lila farbige Sessel und rechts daneben ein Schreibtisch. Das Bett war gigantisch. Darin würden problemlos mindestens drei Personen Platz finden. Um die Polsterung zu testen, ließ Rye sich kurz auf die Matratze fallen, die sich dann doch als ziemlich bequem entpuppte. An der Decke über ihm hing zudem noch ein Ventilator, welchen er wohl nie benutzen würde. Genau wie das Bett, in welchem er nie schlafen würde. Oder der Schreibtisch, an dem er nie arbeiten würde. Alles schien so sinnlos und doch diente es als Zweck seiner Tarnung. Wenn er nicht auffallen wollte, dann musste er wenigstens so tun als würde er wie ein normaler Mensch wohnen. Da hörte er plötzlich ein leises Lachen. Kurz darauf bemerkte er, wie sich Vermouth neben ihn auf das Bett setzte. Überrascht richtete sich Rye auf. „Und ich dachte schon, du seist eingeschlafen.“, säuselte die Frau und warf ihm ein schelmisches Lächeln zu. Er schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich finde das Bett ist viel zu groß für mich.“, gab er schließlich zu, woraufhin die Frau erwiderte: „Betrachte es positiv, du hast ausreichend Platz für deine nächtlichen Besuche.“ Als Rye das hörte, lief ihm ein Schauer über den Rücken. „Wie kann sie das so einfach sagen, ohne mit der Wimper zu zucken...“, dachte er verdutzt und war sich nicht sicher, ob das ernst gemeint war. Denn eins war klar: Falls er tatsächlich mal nächtlichen Besuch haben würde, dann würde die betreffende Person diese Wohnung nicht mehr lebend verlassen. So endete es immer, wenn er nur annähernd versuchte, sich zu amüsieren. Deshalb brachte er Sex auch direkt mit dem Tod in Verbindung. „Den es nie geben wird.“, ergänzte er Vermouths Satz. „Das kauf‘ ich dir nicht ab.“ Die schnippische Antwort von ihr erfolgte schnell, doch Rye ließ sich davon nicht beeinflussen und entgegnete tonlos: „Deine Entscheidung, aber ich rate dir davon ab dich zu vergewissern.“ Obwohl das eindeutig eine Warnung war, so kam es bei Vermouth nicht als solche an. Sie sah ihn herausfordernd an und fragte mit einer aufreizenden Tonlage: „Sonst was?“ Mit so einer Reaktion hatte Rye irgendwie gerechnet. Denn seit seiner ersten Begegnung mit der Blondhaarigen war ihm bereits aufgefallen, dass sie sich eher von Gefahr angezogen fühlte, anstatt sich von dieser fernzuhalten. Sonst wäre er immerhin nie ein Mitglied der Organisation geworden und würde vermutlich noch immer da draußen irgendwo im Nirgendwo herumstreunen. Mit einem leichten Kopfschütteln und einem gequälten Gesichtsausdruck gab er Vermouth zu verstehen, dass das nicht der richtige Zeitpunkt für solche Gespräche war. Der Frau entwich daraufhin ein Seufzen. Sie verschränkte die Arme und sprach ernst: „Na schön, ein anderes Thema: Samstag Abend halten wir im Westin Hotel mit einer anderen Gruppe ein Meeting ab. Weißt du, wo das ist?“ „In Ebisu?“, erwiderte Rye fragend, obwohl er sich eigentlich ziemlich sicher war, davon schon mal gehört zu haben. Vermouth nickte bestätigend und fuhr fort: „Du kannst dir sicher denken, dass ich dich auch dabei haben will. Meetings gehören zum Alltag unserer Organisation dazu und ich finde, daran solltest du dich schnellstmöglich gewöhnen. Auch wenn der Anlass meiner Meinung nach diesmal albern ist.“ „Inwiefern?“, wollte der Schwarzhaarige wissen, woraufhin Vermouth abfällig erklärte: „Die Typen können mit ihrer Ware auf dem Schwarzmarkt seit geraumer Zeit nicht mehr mithalten, wofür sie uns verantwortlich machen und behaupten, wir würden ihnen die ganzen Käufer wegnehmen. Und da sie nicht einsehen wollen, dass es einfach nur daran liegt, dass unsere Ware qualitativ hochwertiger ist und der Boss einen guten Sinn fürs Geschäft hat, verlangten sie nach einem Treffen, um die Angelegenheiten zu klären. Zugegeben, der Boss hat nur zugestimmt, weil er unnötige Streitigkeiten vermeiden wollte.“ Rye hörte der Rede aufmerksam zu. Dabei fiel ihm auf, dass er dem Boss, welchen Vermouth öfters Mal erwähnte, noch nie begegnet war. „Vielleicht werde ich am Samstag dieses Vergnügen haben...“, überlegte er. Er würde schon gern das Gesicht der Person sehen, welche so gütig gewesen war ihn in der Organisation aufzunehmen und ihm somit Zuflucht vor Eclipse gewährte. „Das Gesicht der Person, die laut Vermouths vorherigen Informationen für Gin anscheinend so etwas wie ein Vater ist.“ Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, bevor er der Blonden eine Frage stellte, deren Antwort ihn eigentlich am meisten interessierte: „Wird Gin auch da sein?“ Vermouth warf Rye einen irritierten Blick zu, bevor sie zweimal kurz blinzelte. „Als ob es das ist, was er zuerst fragt...“, dachte sie ungläubig. Sie hätte mit allen möglichen Fragen gerechnet, aber nicht mit solch einer. Die Frau fing immer mehr an zu begreifen, dass ihr Ratschlag an Rye, er solle seine Zeit nicht mit Gin verschwenden oder sich gar Hoffnungen machen, auf taube Ohren getroffen war. Ryes Interesse war für sie inzwischen mehr als offensichtlich. Nur den Grund dafür verstand sie einfach nicht. Seufzend strich sie ihre blonden Strähnen nach hinten und meinte dabei scherzhaft: „Warum? Du hast dich doch nicht etwa nach so kurzer Zeit schon verliebt?“ Ein schelmisches Lächeln zierte danach ihr Gesicht, welches sie allerdings wieder ablegte, als sie bemerkte, dass der Scherz bei ihrem Gegenüber nicht so ankam, wie er eigentlich sollte. Denn Rye starrte sie nur ausdruckslos an. Kein überraschter Blick, keine abweisende Geste, nicht mal ein kleines Zucken der Gesichtsmuskeln. Gar nichts. Nach einer Weile wiederholte er: „Ver...liebt?“ Das sprach er so aus, als würde er dieses Wort nicht kennen. Ein Fremdwort, von welchem er wohl bisher noch nie Gebrauch gemacht hatte, was wiederum sein folgender Satz bestätigte: „Ich habe noch nie geliebt.“ Obwohl er dies tonlos sagte, überraschten die Worte Vermouth. Auf irgendeine Weise faszinierte dieser Mann sie immer wieder aufs Neue. „Wahrscheinlich auch besser so. Gefühle machen nur verwundbar und sind zugleich Schwächen, die Feinde sich zu Nutze machen können.“, sagte sie schließlich schulterzuckend. Diesmal erfolgte schnell eine Antwort: „Und wie viele von eurer Organisation haben diesen Satz bereits verinnerlicht?“ „Die Meisten.“, entgegnete sie, erhob sich vom Bett und fügte daraufhin betonend hinzu: „Auch Gin.“ Fast hätte Rye gelacht. Das war immerhin nichts Neues für ihn. „Also: Samstag, 20:00 Uhr im Westin Hotel. Besorg‘ dir bis dahin bitte einen Anzug, falls du noch keinen besitzt.“, listete sie die Informationen des Meetings nochmal zur Erinnerung auf, während sie einen in Stoff eingewickelten Gegenstand aus ihrer Tasche hervorholte und diesen Rye in die Hand drückte. Es war nicht schwer zu erraten, dass es sich um eine Pistole handelte. „Die wirst du vielleicht brauchen, aber natürlich nur im Ernstfall. Noch Unklarheiten?“, fügte sie hinzu, woraufhin der Schwarzhaarige den Kopf schüttelte. Für ihn war klar, dass er die Waffe selbst in einem „Ernstfall“ nicht benötigen würde. „Ich will ja nicht auffallen.“, dachte er und hoffte nicht die Kontrolle zu verlieren. Wenn die Lage eskalieren und Blut fließen würde, konnte er jedoch für nichts garantieren. Als die Frau ihm den Rücken zukehrte, fiel ihm aber noch etwas ein: „Und was ist jetzt mit der Wohnung?“ Er hatte eigentlich beschlossen die Wohnung zu nehmen, jedoch ohne Schlüssel ging das schlecht. Dieser wurde ihm jetzt plötzlich zugeworfen. „Gehört von nun an dir. Außer, du willst sie nicht?“, kommentierte Vermouth die Geste. Rye betrachtete den Schlüssel in seinen Händen, bevor er seinen Kopf hob und sagte: „Doch.“ „Gut, dann viel Spaß damit. Wir sehen uns Samstag. Sei mir ja pünktlich.“, verabschiedete sie sich und streckte beim letzten Satz mahnend den Zeigefinger nach oben. Danach wandte sie sich endgültig ab. „Sicher doch.“, erwiderte Rye leise und ließ sich zurück auf das weiche Bett fallen. Seine schwarzen, langen Haarsträhnen lagen breitgefächert um ihn herum auf dem Bett verteilt. Er öffnete zwei Knöpfe seines Hemdes und versuchte sich ein wenig zu entspannen, bevor er die Augen schloss. Das Letzte, was er von Vermouth mitbekam, war das Schließen der Tür. Kapitel 7: Das Meeting im Desaster ---------------------------------- Gelangweilt lehnte Gin an der Wand und ließ seinen Blick durch die Lobby schweifen. Er fragte sich, wie er sich dazu nur überreden lassen konnte. Dieses Meeting war nichts als Zeitverschwendung. Obwohl er erst seit 20 Minuten hier war und die Gegenpartei bis jetzt noch nicht aufgetaucht war, konnte er schon vorhersagen, wie der Abend wohl oder übel enden würde. Er war lange genug in der Organisation, um zu wissen, wie die Dinge bei ihnen geregelt wurden und dass Gegner oder rivalisierende Gruppen für gewöhnlich immer aus dem Weg geräumt wurden. Egal mit welchen Mitteln. Der Silberhaarige stöhnte genervt und nippte anschließend kurz an seinem Sektglas, welches ihm vorhin von einem Angestellten angeboten worden war. Endlich ging Vermouth ihm nicht mehr auf die Nerven und er konnte ein wenig Ruhe genießen. In dem Moment, als Rye den Saal betreten hatte, war sie immerhin zu diesem geeilt. Da war Gin ausnahmsweise mal froh über das Erscheinen des Neulings gewesen. In diesem schwarzen Tuxedo machte Rye einen ganz anderen Eindruck als sonst, auch seine langen Haare waren heute zusammengebunden. Im Moment konnte Gin beobachten, wie Vermouth den Schwarzhaarigen offensichtlich verschiedenen hochrangigen Mitgliedern vorstellte. Sie zerrte ihn am Arm hinter sich her. „Fast schon wie ein Hündchen.“, spottete Gin gedanklich. „Sie präsentiert ihn als sei er irgendein seltenes Kunstwerk.“ Gerade schüttelte Rye einem älteren Organisationsmitglied mit dem Codenamen Pisco die Hand und lächelte dabei überfreundlich. Dass dieses Lächeln nicht echt war, erkannte Gin auf Anhieb. Für ihn war leicht zu durchschauen, dass Rye sich in Wirklichkeit einfach von allen überrumpelt fühlte und sich jetzt so gut wie möglich versuchte anzupassen. Zugegeben, Gin selbst hasste solche Veranstaltungen und er konnte es ebenso nicht ertragen unter so vielen Menschen zu sein. Dennoch empfand er keinerlei Mitleid für seinen neuen Partner. Er war immerhin selbst Schuld, wenn er immer in Vermouths Nähe blieb, welche die Aufmerksamkeit anderer förmlich wie ein Magnet anzog. Auch einer der Gründe, weshalb der Silberhaarige sich meistens so weit wie möglich von dieser Frau distanzierte. Auch jetzt hoffte er, dass Rye als eine ausreichende Ablenkung genügte und sie ihn für den Rest des Tages in Ruhe lassen würde. Doch plötzlich drehte sich der Schwarzhaarige um und richtete seinen Blick auf Gin, welcher daraufhin schnell in eine andere Richtung sah. „Ich hab den Kerl gerade ernsthaft die ganze Zeit angestarrt...“, musste er peinlich berührt feststellen. So interessant fand er ihn doch überhaupt nicht. Im Gegenteil. Und das würde sich so schnell auch nicht ändern, da konnte er noch so gute Fähigkeiten als Scharfschütze besitzen. „Mischt du dich nicht unter die Leute?“ Erschrocken über die Stimme hinter seinem Rücken, drehte sich Gin hastig um und erblickte Rye plötzlich direkt vor sich. Durch die schnelle Drehung verschüttete er etwas Sekt auf den gefliesten Boden. „Oh tut mir leid, ich wusste nicht, dass du so schreckhaft bist.“, entschuldigte sich sein Partner daraufhin ironisch. Gin ignorierte sowohl sein kleines Missgeschick als auch Ryes vorherigen Satz und fuhr diesen stattdessen an: „Was machst du hier?“ „Vermouth meinte, es wäre von Vorteil, wenn ich auch käme. Sie will, dass ich mich schneller eingewöhne.“, erklärte er ruhig, was Gin nicht überraschte. „Du bist trotzdem noch zu unerfahren für solche Meetings. Allein schon wie du dich verstellst ist auffällig.“, kritisierte er, ohne zu wissen, wie sein Gegenüber diesen Satz deutete. „Ach so, das ist dir also aufgefallen, weil du mich die ganze Zeit genau beobachtest hast.“ Rye lächelte Gin schelmisch an, welcher sich nun ertappt fühlte. „Es ist schließlich auch der Wille des Bosses, dass du unter Beobachtung bleibst.“, redete er sich jedoch raus, womit er nicht einmal falsch lag. „Stimmt ja, hatte ich beinahe vergessen.“, erwiderte Rye und fügte nach einem Blick auf die Menschen im Saal hinzu: „Und entschuldige, ich muss wohl noch lernen mit so vielen Leuten auf einmal klarzukommen.“ „Schon gut.“, meinte Gin ruhig. „Wo hast du Vermouth eigentlich gelassen? Nicht, dass die auch noch angedackelt kommt...“, sprach er dann seine Befürchtung laut aus. Doch Rye schüttelte nur den Kopf und sagte: „Keine Sorge, sie ist mit ein paar Anderen gegangen, um die eben eingetroffenen Gäste zu empfangen. Dieses Hotel hier gehört doch auch eurer Organisation, oder?“ „Nein, wir befinden uns auf neutralem Boden. Damit niemand im Vorteil ist. Allerdings wird denen das nichts nützen...“ Ein hinterhältiges Grinsen zierte Gins Lippen. „Also werden wir ihren Forderungen nicht nachkommen?“, hakte der Schwarzhaarige daraufhin nach, auch wenn er das irgendwie schon erwartet hatte. „Natürlich nicht.“, stellte der erfahrene Mörder klar und legte seine Hand auf Ryes Schulter, bevor er abwertend hinzufügte: „Aber überlass‘ das den Profis. Ich glaube, du bist noch nicht kompetent genug, um ordentlich zu verhandeln.“ Mit diesen Worten entfernte sich Gin von seinem Partner, welcher ihm nach einem Seufzen folgte. Eine halbe Stunde später Angespannt rutschte Rye auf seinem Stuhl hin und her. Lockerte danach seinen Kragen, da er sich fühlte, als würde er jeden Moment zu ersticken drohen. Auch wenn er natürlich wusste, dass es sich nur um Einbildung handelte und das nie passieren konnte. Das hatte er immerhin schon ausprobiert. Kurz nach seinem Gespräch mit Gin hatte Vermouth direkt vorgeschlagen die Diskussion in einen anderen Saal zu verlegen, welchen sie extra dafür gemietet hatten. So war er Gin dorthin einfach gefolgt und saß nun mit den anderen Mitgliedern an einer rundlichen Tafel, auf welcher sich neben ein paar Unterlagen für jeden ein Glas Wasser befand. Auch vor ihm stand eins, doch er rührte es nicht an. Die Gespräche rauschten an ihm vorbei wie alle anderen Geräusche im Raum. Dafür nahm er die ganzen Gerüche umso intensiver war. Da war dieser unverwechselbare, verführerische Duft von menschlichem Blut, aber auch ein leichter Schweißgeruch, der sich bei den betreffenden Personen womöglich aus Nervosität bildete. Beides ergab eine seltsame Mischung, die allerdings seinen Jägerinstinkt erweckte. Trotzdem versuchte der letzte rational denkende Teil in ihm diesen Instinkt mit aller Kraft zu unterdrücken. Er durfte nicht die Kontrolle verlieren. Nicht hier an diesem Ort. Nicht heute, wo er doch das Vertrauen der Organisation in ihn aufbauen musste. Würde jetzt etwas schiefgehen, müsste er wieder ganz von vorn anfangen und erneut in eine andere Stadt flüchten. Daran wollte er gar nicht denken. „Beruhige dich… lenk dich einfach ab...“, befahl er sich innerlich und suchte nach etwas, das aus seiner Sicht interessanter war, als der Gedanke die Menschen im Raum hier allesamt abzuschlachten. Während er sich umsah, blitzte mehrmals im Bruchteil einer Sekunde eine Art Wärmebild vor seinen Augen auf, welches er durch schnelles Blinzeln schnell wieder vertrieb. „Reiß dich zusammen!“, wies ihn seine wütende Stimme im Kopf zurecht. Die altgewohnte Wut auf sich selbst machte sich wieder einmal bemerkbar, wohl zu Recht. Momentan war er wirklich erleichtert, dass alle Anwesenden so sehr in das Gespräch vertieft waren, so dass niemand auf ihn zu achten schien und seine ungewöhnliche Haltung bemerkte. Alle Anwesenden bis auf eine Person. Rye spürte, wie er von rechts von jemandem unauffällig am Stoff seines Ärmels gezogen wurde. Irritiert drehte der Schwarzhaarige den Kopf zur Seite, nur um in das bestürzte Gesicht von Gin zu blicken. Oder war er wütend? Rye konnte den Blick nicht deuten. Auch schien Gin ihm etwas zu sagen, da sich dessen Lippen bewegten. Flüsterte er nur? Sprach er überhaupt mit ihm? Egal, wie sehr sich Rye auf seinen Gegenüber konzentrierte, er verstand kein einziges Wort. Nur die gedämpften Stimmen der anderen drangen noch zu ihm durch. „Der Anzug steht ihm wirklich gut, so kann man seinen Hals viel besser sehen...“, schwirrte ein Gedanke durch seinen Kopf, während er Gin weiter betrachtete. Wenn er sich voll und ganz auf den Silberhaarigen fixierte, konnte er sogar dessen gleichmäßigen Herzschlag wahrnehmen. Oder hören, wie ihm das Blut durch seine Venen rauschte. Ein unerwünschtes Bedürfnis stieg in Rye auf und er befeuchtete unbewusst seine Lippen. Nicht mehr lange und sein Verstand würde endgültig aussetzen… „DAS KANN DOCH NICHT EUER ERNST SEIN, KOMMT NICHT IN FRAGE! WAS GLAUBT IHR EIGENTLICH, WER IHR SEID?!“, schrie plötzlich jemand völlig außer sich und schlug die Hände dabei auf den Tisch, so dass fast alle Anwesenden zusammenzuckten vor Schreck. Rye hingegen war überglücklich, dass er soeben aus seiner Trance befreit wurde. Er konnte seine Aufmerksamkeit nun wieder vollständig dem Geschehen widmen. „Nun reg‘ dich doch nicht so künstlich auf. Dabei hatte ich gehofft, ihr wärt mit dem Vorschlag unseres Bosses einverstanden...“, sprach Vermouth an Ryes linker Seite in einer bedauernden Tonlage und stützte den Kopf auf ihrer Hand ab. „Eures Bosses? Selbst wenn der Vorschlag gut wäre, würden wir ihn nicht annehmen. Nicht von jemandem, der sich hinter seinen Untergebenen versteckt und es nicht auf die Reihe bekommt, selbst hier aufzutauchen! Schon dass er dich als Vertretung geschickt hat, ist eine bodenlose Frechheit!“, entgegnete ihr Gegenüber gereizt, welcher offensichtlich nicht vorhatte, sich in absehbarer Zeit zu beruhigen. Danach kippte die Stimmung im Raum schlagartig und die bereits vorhandene Anspannung nahm mindestens auf das Dreifache zu. Da spreizte Vermouth warnend ihren Zeigefinger und warnte: „An deiner Stelle würde ich gut aufpassen, was du sagst, Sigma.“ Nach einem Schmunzeln fügte sie belustigt hinzu: „False words could induce a disaster.“ Der Mann, der anscheinend den Namen Sigma trug, verengte die Augen. „Tze!“ Er stand mit einem Ruck auf und sagte laut: „Wir sind hier fertig.“ Nach diesen Worten erhob sich auch der Rest der feindlichen Belegschaft und folgte ihrem Vorgesetzten zur Tür. Vermouth lehnte sich genüsslich in ihrem Stuhl zurück, betrachtete ihre lackierten Nägel und kommentierte amüsiert: „Wirklich interessant, wie schnell ihr den Schwanz einzieht. Hätte ich nicht erwartet.“ Kurz vor der Tür blieb Sigma stehen, bevor er lediglich seinen Kopf leicht drehte. „Du hast mich offenbar falsch verstanden, als ich sagte, wir sind hier fertig, meine Liebe.“ Er setzte ein hämisches Grinsen auf und fügte bösartig hinzu: „Fertig mit euch.“ Kaum einen Augenblick später zückte er ein Messer aus seinem Ärmel und warf es schwungvoll in Vermouths Richtung. Die Klinge flog viel zu schnell für das menschliche Auge und… ...traf nicht das gewünschte Ziel. Rye ignorierte die verblüfften, teils schockierten Gesichter aller Anwesenden und gab unbekümmert von sich: „Stimmt… Den Boss… den kenne ich ja noch gar nicht.“ Er musterte das Messer in seiner Hand, welches er kurz zuvor gefangen hatte, bevor es die Blondine erreichen konnte. Diese sah ihn jetzt mit großen Augen an. Die folgende Stille spitzte sich immer mehr zu und niemand traute sich, sie mit dem kleinsten Laut zu unterbrechen. Schließlich räusperte sich die Führungsperson der Gegenpartei und sprach Rye dann direkt an: „Du bist also noch nicht lange bei denen tätig?“ Das hatte er wohl aus dem vorherigen Satz des Schwarzhaarigen geschlussfolgert, welcher sich gerade von seinem Stuhl erhob und im Plauderton erwiderte: „Nein, bin ich nicht. Ehrlich gesagt erst seit ungefähr einer Woche. Warum?“ „Ist dir das nicht zu suspekt, für jemanden zu arbeiten, den du noch nicht einmal gesehen hast?“, entgegnete Sigma mit einer Gegenfrage, woraufhin er von Rye einen nachdenklichen Blick zugeworfen bekam. „Eigentlich hat er ja recht...“, gestand sich Rye gedanklich ein und stützte sich an der Rückenlehne seines Stuhls ab. Aber auch wenn die Frage des Kerls der Tatsache entsprach, bedeutete das nicht, dass er sich das zu Herzen nehmen würde. Denn er war der Überzeugung, den Boss in naher Zukunft noch kennenlernen zu dürfen. Zeitgleich breitete sich erneut Stille aus. Jeder hielt sich zurück und die Meisten schienen ohnehin zu durcheinander für irgendwelche Worte zu sein. Rye senkte den Kopf und konnte dabei den aufmerksamen Gesichtsausdruck von Gin erhaschen, der aber auch leicht feindselig wirkte. Als würde der Silberhaarige ihm schweigend mitteilen: „Wage es bloß nicht, etwas Falsches zu sagen.“ Rye zauberte dieser Blick ein Lächeln auf die Lippen. Als er sich endlich eine Antwort parat gelegt hatte, kam sein Gesprächspartner ihm jedoch zuvor: „Wir hätten noch einen Platz für dich bei uns frei. Du erscheinst mir sehr geschickt und begabt, wir könnten dich gut gebrauchen. Selbstverständlich für eine viel höhere Bezahlung.“ Der Schwarzhaarige zog daraufhin nur eine Augenbraue nach oben. „Versucht der mich gerade ernsthaft anzuwerben?“, dachte er ungläubig. Da band der Mann Vermouth mit in das Gespräch ein und machte ihr den Vorschlag: „Wie wär‘s mit einem kleinen Tauschgeschäft. Ich bin bereit euren Vorschlag anzunehmen, wenn ihr uns dafür eins eurer Mitglieder übergebt.“ Dabei richtete er seinen Blick gezielt auf Rye und ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, welches Mitglied er meinte. Gerade als Vermouth ansetzte ihre Meinung lautstark zu verkünden, hob Rye die Hand, um an ihrer Stelle zu antworten: „Abgelehnt.“ Er ließ das Messer in der anderen Hand herumwirbeln, wodurch ihm der verblüffte Gesichtsausdruck von Sigma entging. „Sicher? Es wäre doch schade um deine außergewöhnlichen Fähigkeiten, wenn sie nicht richtig zur Geltung kommen, findest du nicht?“, hörte Rye bloß dessen Frage. Sein Lächeln kehrte zurück. „Ich weiß gar nicht, was Sie meinen.“, tat er absichtlich unwissend und warf dem Kerl anschließend einen provozierenden Blick zu. Doch er ließ diesem keine Zeit zu antworten. „Ach und bevor Sie gehen…“, er stoppte die Drehungen des Messers in seiner Hand, „Das wollen Sie bestimmt zurück haben, oder?“ Kurz darauf warf er die Klinge mit einer blitzschnellen Geste zu ihrem ursprünglichen Besitzer zurück, welcher von dieser nur haarscharf verfehlt wurde. Mit schockgeweiteten Augen blickte der Mann zu seinem Messer, das nun tief in der Wand hinter ihm steckte. Als er Rye wieder ansah, verzog sich seine Miene zu einer wütenden Grimasse. „Genug mit den Nettigkeiten, erledigt sie, alle! Und fangt mit diesem Bastard dort an!!“, verlangte er dann laut und wies zuletzt mit dem Finger auf den Schwarzhaarigen. Danach befolgte ein Großteil der Untergebenen den Befehl, indem sie ihre Waffen zogen und diese auf die Mitglieder der Organisation richteten. „Ihr denkt doch nicht im Ernst, dass ihr uns so einfach los werdet?“, kaum hatte Vermouth die Frage gestellt, waren die Organisationsmitglieder ebenso bewaffnet. Nur Rye zückte seine Pistole nicht, da er sie nicht mal mitgenommen hatte. Wozu auch? Er wollte es schließlich vermeiden Blut zu vergießen, aber seine Mitstreiter schienen diesbezüglich wohl anderer Ansicht zu sein. „Hey, hey… ihr wollt doch jetzt nicht wirklich ein Massaker starten?“, befürchtete Rye gedanklich, musste sich jedoch eingestehen, dass er die Situation selbst herbeigeführt hatte und mal wieder zu übermütig gewesen war. Leider bestätigte Vermouths nächste Aussage mehr oder weniger seinen Verdacht: „Wir werden dafür sorgen, dass niemand von euch dieses Hotel lebend verlassen wird.“ Daraufhin tippte einer der Untergebenen Sigma auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nach einem genervten Zischen erwiderte der Kerl in einer abschätzigen Tonlage: „Na dann, versucht es doch.“ Eine Sekunde später fielen die ersten Schüsse. Rye versuchte so gut wie möglich allen Kugeln auszuweichen. Immer darauf achtend, dass seine Bewegungen dabei nicht zu schnell wirkten. Zwar würden ihn die Kugeln nicht verletzen, doch es wäre auffallend, wenn er später keine Wunden davon tragen würde. „Ich muss hier schnellstens raus...“, dachte er, als ihm bewusst wurde, was passieren würde, wenn das erste Blut floss. Auch wenn jeder der Anwesenden sich bisher geschickt genug anstellte, um nicht getroffen zu werden, gab es bestimmt bald die ersten Verletzten und Toten. Als sich Rye prüfend umsah, welcher Weg durch das Chaos am sichersten wäre, fiel ihm jedoch etwas anderes auf: Anscheinend hatten gewisse Personen ebenfalls vor, sich aus dem Staub zu machen. Dieser Sigma nutzte mit ein paar seiner Untergebenen die Gelegenheit und verließ gerade unauffällig den Raum. „So einfach kommst du mir nicht davon...“ Ein hinterhältiges Grinsen umspielte Ryes Lippen, als eine Idee in seinem Kopf Gestalt annahm: „Wenn ich ihn fange und ausliefere, könnte ich dafür in der Organisation vielleicht weiter aufsteigen...“ Ein Kinderspiel. Und man würde ihn mit Sicherheit dafür loben. Vielleicht würde dann sogar Gin nicht mehr auf ihn herabblicken und endlich als Partner respektieren. Der letztere Gedanke spornte seinen Willen noch mehr an, weshalb er gleich danach zur Tür rannte, um die Kerle zu jagen. Überrascht beobachtete Gin, wie Rye plötzlich aus dem Raum stürmte. „Flieht er etwa…?“, vermutete der Silberhaarige zuerst, doch Ryes Gesichtsausdruck, welchen er noch hatte erhaschen können, widersprach diesem Gedanken. Es wirkte viel mehr, als wäre er von etwas angetrieben worden. Als Gin seinen Blick durch die Umgebung schweifen ließ, bemerkte er auch, was das gewesen war. Außer Rye fehlten nämlich noch weitere, ganz bestimmte Personen im Raum. Er stieß den Kerl, der ihn gerade angreifen wollte, achtlos beiseite und lief ebenso aus der Tür. Dahinter entdeckte er Rye noch am Ende des Gangs, wie dessen lange, schwarze Strähnen hinter der nächsten Ecke verschwanden. „Rye!!“, schrie der Silberhaarige mit einem wütenden Unterton in der Stimme, während er seinem Partner begann zu folgen. „Dieser leichtsinnige Mistkerl! Er glaubt doch nicht im Ernst, dass er allein gegen die ankommt!“, fluchte er gedanklich. Schon den ganzen Abend ging Rye ihm gewaltig gegen den Strich. Wie er große Töne gespuckt und schließlich mit seiner letzten Aktion das Fass zum überlaufen gebracht hatte. Für wen hielt er sich eigentlich? Auf einmal hörte Gin ein lautes, schallendes Geräusch, durch welches der Boden unter ihm anfing zu beben. Ungläubig sah er nach hinten. Das war zweifellos eine Explosion gewesen. Hier im Gebäude. „Deswegen hat der Kerl die ganze Zeit auf die Uhr geschaut und so seltsam reagiert, als ihm etwas zugeflüstert wurde...“, schlussfolgerte der Silberhaarige. „Dann war das mit Sicherheit noch nicht die letzte Bombe. Wahrscheinlich wollen sie uns hier drin alle lebendig begraben.“ Entschlossen schlug er ein schnelleres Tempo an. Jetzt musste er erst mal Rye einholen. Danach hieß es: nichts wie raus hier. Rye rannte pausenlos weiter und ignorierte die Erschütterung unter seinen Füßen. Sein Jagdinstinkt beherrschte fast all seine Sinne. Er würde erst stehenbleiben, wenn er diesen Schuft erreicht hatte. Doch leider war das nicht so leicht, wie eigentlich geplant. Denn immerhin musste er in einem menschlichen Tempo rennen, um nicht aufzufliegen. Schließlich gab es hier eine Menge Zeugen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Überwachungskameras, die all seine Taten aufzeichneten. Auch wenn die Organisation die Aufnahmen womöglich nicht hier lassen würde, so würden sie sich diese trotzdem ansehen und auswerten. Da glaubte Rye plötzlich, jemand würde seinen Namen rufen. Mit geweiteten Augen sah er kurz über die Schulter und entdeckte Gin am Ende des Flures. „Gin…? Aber wieso folgt er mir?“ Gerade fiel dem Schwarzhaarigen kein logischer Grund dafür ein. Oder hatte er etwas falsch gemacht und Gin wollte ihn jetzt zurückholen? Er schüttelte energisch den Kopf und lief einfach weiter. Gleich hatte er den Mistkerl geschnappt. Aufgeben kam gar nicht mehr in Frage. Doch im nächsten Augenblick spürte Rye eine unerträgliche, brennende Hitze hinter seinem Rücken, gefolgt von einer starken Druckwelle, die ihn unweigerlich zu Boden riss. Einen Moment lang glaubte er, die Hölle würde ihn einholen. Er nahm kaum wahr, wie sein Körper einige Meter weit durch den Flur flog, bis er gegen die nächste Wand prallte. Der laute Knall hinterließ ein schallendes Echo in seinem Kopf. „Eine Explosion…?“ Der Schwarzhaarige blinzelte ein paar Mal desorientiert, bevor er sich vorsichtig wieder aufrichtete und in den von Rauch erfüllten Gang starrte. Die Wände beidseits des Flures hinter ihm waren komplett zertrümmert. Selbst Decke und Boden hatten einige Risse bekommen. Ein Wunder, dass sie noch nicht eingestürzt waren. „Verstehe, nicht mal dadurch kann ich sterben.“, erkannte Rye und betrachtete dabei seine angekokelten Klamotten, die zudem von Staub und Dreck übersät waren. Er stieß ein Seufzen aus. Irgendwie zum heulen, auch wenn ihn das längst nicht mehr überraschte. Ein normaler Mensch wäre jetzt womöglich tot oder zumindest außer Gefecht gesetzt, je nach dem, wie weit die betreffende Person von der Explosion entfernt gewesen wäre. Plötzlich weiteten sich Ryes Augen. „Gin! Er war doch hinter mir!“, übermannte ihn die erschreckende Erkenntnis, doch zeitgleich fiel ihm noch etwas Wichtiges ein: Sigma - Der Anführer dieser seltsamen Gruppe. Er war spurlos verschwunden. „Ich darf diesen Kerl nicht entwischen lassen. Gin kommt bestimmt auch allein zurecht. Außerdem ist er viel zu hochnäsig, um sich von mir helfen zu lassen.“, dachte er fest überzeugt, zuckte dabei mit den Schultern und wollte gerade weiter gehen… Aber irgendwie konnte er keinen einzigen Schritt setzen. Unsicher drehte er sich um. „Soll ich wirklich...“ … Schwer atmend lag Gin auf dem Boden. Seine Ohren waren wie betäubt. Er wollte aufstehen, doch sein Körper bewegte sich kein Stück und fühlte sich viel zu schwer an. Alles tat ihm höllisch weh, allerdings würde er sich die Schmerzen nie direkt eingestehen. Anscheinend hatte ihn die Druckwelle tatsächlich ziemlich heftig erwischt, auch wenn er seiner Meinung nach noch weit genug von dieser entfernt gewesen war. Es hätte deutlich schlimmer enden können. Und wie es schien, sollte es das auch noch… Seine Sicht war nur leicht verschwommen, weshalb er die Umrisse mehrerer paar Schuhe auf sich zukommen sah, welche dann vor ihm stehenblieben. Kurz darauf spürte er, wie sein Kopf am Haaransatz gewaltsam hochgezogen wurde. Ein Mann mit tiefen Augenbrauen und kantigem Gesicht schien ihm irgendwas zu sagen. Der Silberhaarige konnte es nicht hören. Er wollte die Hand über sich wegschlagen, oder sich zumindest anderweitig wehren, aber seine Arme zitterten nur und blieben schlaff. Währenddessen wurde ihm der Lauf einer Pistole an die Stirn gedrückt. Es war aussichtslos. „Wer hätte gedacht, dass ich in so einer armseligen Lage sterben würde.“ Beinahe hätte er gelacht. Eigentlich hatte er sonst noch nie darüber nachgedacht, wie er aus dem Leben treten würde. Aber ehrenvoll für die Organisation zu sterben schien ihm ein guter Weg zu sein. Denn es gab immerhin nichts anderes. Nichts, das wichtiger war… Doch der Schuss, der ihn ins Jenseits befördern sollte, erfolgte nie. Gin merkte, wie der Griff an seinem Kopf nachließ, nachdem seinem Gegenüber die Pistole aus der Hand geschlagen wurde. „Rye…?!“ Der Silberhaarige glaubte durch die Nachwirkungen der Explosion eine Halluzination zu sehen. Das vor ihm konnte unmöglich Rye sein. Die Explosion hätte diesen voll erwischen müssen. Selbst wenn er weit genug entfernt gewesen wäre, müsste es ihm ähnlich wie Gin gehen. Zudem würde dieser überhebliche Kerl doch niemals zurückkommen, um ihn zu retten. Als Rye dem Mistkerl die Waffe aus der Hand geschlagen hatte, umfasste er dessen Kinn und Hinterkopf und brach ihm ohne zu zögern das Genick. Sein Opfer sank auf der Stelle zu Boden, während zeitgleich auch Gin durch den plötzlich fehlenden Halt wieder zusammenbrach, da er offensichtlich keinerlei Kraft besaß, um sich abzustützen. Trotzdem waren die grünen Augen des Silberhaarigen immer noch auf seinen Partner gerichtet. Sofort hörte Rye das Klicken mehrerer Pistolen, die nun allesamt auf ihn gerichtet waren. Unbeeindruckt starrte er die Gruppe vor sich an, bei welcher es sich scheinbar um eine hinzugekommene Verstärkung der feindlichen Organisation handelte. „Was? Soll ich mich jetzt ergeben, weil ihr in der Überzahl seid? Das ist erbärmlich.“, fragte er scherzhaft, woraufhin einer von denen gefährlich leise erwiderte: „Du kannst dich auch gern erschießen lassen.“ Danach herrschte eine Weile Stille, in welcher Rye einen überraschten Gesichtsausdruck vortäuschte, bis er schließlich in Gelächter ausbrach. Es stimmte, er würde sich gern erschießen lassen, was ihm aber leider nicht vergönnt war. Und das war so traurig, dass es ihn schon wieder amüsierte. „Was ist so lustig?!“, blaffte einer ihn kurz darauf wütend an. „Ihr seid alle so langweilig. Immer die gleichen, jämmerlichen Versuche. Und immer ist das Ende längst vorprogrammiert. Könnt ihr euch nicht mal was Effektiveres einfallen lassen?!“ Während Rye sprach wurde er zunehmend lauter. Mit seiner Antwort bezog er sich aber nicht allein auf die jetzige Situation, sondern auch auf viele andere, die er schon hatte durchmachen müssen. Schließlich war heute nicht das erste Mal, dass jemand versuchte, ihn umzubringen. Natürlich erfolglos. Und genau das machte ihn im Moment so wütend. „Was-“ „Schnauze!“, unterbrach er den Typen vor sich schreiend, bevor er eine Kampfhaltung annahm. „Schießt doch. Das ändert nichts daran, dass ich euch alle zur Hölle schicken werde!“ Kaum waren seine Worte ausgesprochen, ging er ohne Umschweife auf die Kerle los. Obwohl die Grenze seiner Beherrschung fast überschritten war, versuchte er sie so zu töten, dass kein Blut floss. Es blieb also nur die Möglichkeit ihnen das Genick zu brechen, was dem Schwarzhaarigen aber nicht sonderlich schwer fiel. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, es auf eine möglichst menschliche Weise zu tun ohne dabei nicht die Kontrolle zu verlieren. Am lästigsten waren die unendlich vielen Schüsse, denen er irgendwie ausweichen musste. Der ein oder andere Streifschuss war nicht weiter von Belang, doch eine Kugel traf ihn genau an der Schulter. Zum Glück war Gin der einzige Zeuge, den er am Leben lassen würde. Rye ging jedoch davon aus, dass dieser wegen den Nachwirkungen der Explosion ohnehin nicht alles um sich herum mitbekam. Rye tötete schließlich sein letztes Opfer und warf es anschließend achtlos zu Boden. Als wäre es nur ein nutzloser Gegenstand, den er jetzt nicht mehr brauchte. Alles war so schnell gegangen, dass er gar nicht wahrgenommen hatte, wie viele er letztlich beseitigt hatte. Zählen wollte er die Leichen um sich herum auf dem Boden auch nicht. Jetzt fiel dem Schwarzhaarigen jedoch wieder auf, dass sich unter den Leichen jemand befand, der sehr wohl noch recht lebendig war. Taumelnd ging Rye auf Gin zu, welcher ihn immer noch ansah. Er versuchte sich mit jedem seiner Schritte zu beruhigen, denn die Aktion hatte ihn mehr Beherrschung gekostet als anfangs vermutet. Inzwischen war von dieser nämlich kaum noch etwas übrig und Gins hilfloser, verlockender Anblick am Boden verstärkte Ryes momentanes Verlangen. Am liebsten würde er sofort über ihn herfallen. „Nein… ich… will das nicht… noch nicht...“, dachte er, fasste sich dabei mit der Hand an die Stirn und schloss kurz die Augen. Versuchte dann, alle negativen Gedanken zu vertreiben. Bis er plötzlich über einen reglosen Körper stolperte und zu Boden stürzte. Als Rye erschrocken die Augen aufriss, musste er feststellen, dass er direkt vor Gin gelandet war. Er kniete sich hin und drehte anschließend den Körper des Silberhaarigen vorsichtig auf den Rücken. „Gin... hast du sehr Schmerzen? Kannst du aufstehen?“, fragte Rye mit gefasster Tonlage und stützte sich über seinen Partner, welcher leise erwiderte: „Seh ich so aus?“ „Eh... nein... entschuldige.“ Rye schüttelte leicht durcheinander den Kopf. Für was genau er sich eben entschuldigt hatte, wusste er auch nicht wirklich. Vielleicht weil die Antwort auf seine vorherigen Fragen offensichtlich gewesen war. Sein Blutdurst warf ihn völlig aus der Bahn. Deswegen versuchte er lediglich auf sein klares Ziel hinzuarbeiten, dass er Gin nur helfen wollte. Nichts anderes. „Wir müssen hier raus, sonst stirbst-… sterben wir hier drin noch. Ich kann dich tragen…“, meinte er ruhig und ignorierte seinen Versprecher. Doch als er seine Aussage in die Tat umsetzen wollte, versuchten zwei schwache Hände seine eigenen wegzuschlagen. „Das kannst du vergessen, als ob ich mich von dir tragen lasse!“, wurde er kurz darauf von Gin heiser angefaucht. „Sei doch nicht so stur!“, schrie Rye mit finsterer Miene zurück und fügte gedanklich hinzu: „Ich habe gerade einen hauchdünnen Geduldsfaden und wenn der reißt dann gnade dir Gott.“ Bevor er den Silberhaarigen einfach gewaltsam über seine Schulter werfen konnte, hörte er plötzlich eine weibliche Stimme hinter sich, begleitet von mehreren, schnellen Schritten. „Rye, Gin! Ein Glück! Ich dachte schon, euch hätte es erwischt.“, rief Vermouth erleichtert und näherte sich den beiden langhaarigen Männern. „Mich wundert es eher, dass ihr alle noch lebt.“, murmelte Rye und beobachtete, wie die Blonde Gins Zustand überprüfte. „Don't underestimate us, Darling.“, lautete Vermouths Antwort, woraufhin sie zwei anderen Mitgliedern mit einer Handgeste bedeutete, dass sie herkommen sollten. „Da ist nichts zu machen. Tragt ihn raus. Uns läuft die Zeit davon, wir müssen den Fluchtweg durch den Keller nutzen.“ Nach ihren Worten zogen die zwei Mitglieder Gin wieder auf die Füße und stützten ihn an den Schultern ab. Anders als zuvor, ließ der Silberhaarige das widerstandslos zu. Aber das interessierte Rye nun nicht mehr. Er war bereits von dem verräterischen Duft in seiner Nase zu sehr vom Geschehen abgelenkt. Dieser stammte eindeutig von den verletzten Mitgliedern, die gerade mit Gin an ihm vorbeigegangen waren. Innerlich fluchend hielt Rye sich unauffällig die Nase zu und wollte sich gerade abwenden, als ihn jemand am Arm packte. „Wo willst du denn hin? Zum Keller geht‘s in die andere Richtung!“, wies Vermouth den Schwarzhaarigen zurecht, bei welchem die Worte aber nicht mehr ankamen. Um sich nichts anmerken zu lassen, versuchte Rye das Rauschen in seinen Ohren zu überspielen und nickte einfach. Dann ließ er sich von Vermouth ein paar Meter hinterherziehen, bis sich diese sicher war, dass er der Truppe von allein weiter folgen würde. Gemäß Vermouths Aussage gingen alle hinunter zum Keller und nahmen dort den Fluchtweg, welcher in die Kanalisation führte. Den genauen Weg prägte sich Rye nicht ein, was ihm aufgrund des Wärmebilds vor seinen Augen ohnehin nicht mehr gelingen würde. Generell konnte er durch die zunehmende Benommenheit nichts mehr von seiner Umwelt wahrnehmen, geschweige denn auf irgendwas reagieren, das man versuchte ihm mitzuteilen. Wenn das Gesagte überhaupt an ihn gerichtet war. Und so folgte er schweigend den rot-gelben Gestalten vor sich und wartete auf die perfekte Gelegenheit, um zu verschwinden. An einer Abzweigung blieb Vermouth mit allen Anwesenden stehen und sprach: „Ab hier teilen wir uns auf. Als große Gruppe weiterzulaufen wäre zu riskant. Wie ihr rauskommt, wisst ihr ja.“ Danach begannen die Mitglieder sich in kleinere Gruppen aufzuteilen und verschwanden in verschiedene Richtungen. „Ihr kommt mit mir mit, schließlich muss Gin auf die Krankenstation. Sonst bringt mich der Boss noch um.“, befahl sie den übrigen Dreien und fügte den letzten Satz scherzhaft hinzu. Leicht besorgt musterte sie den silberhaarigen Mörder, welcher kaum noch bei Bewusstsein war. Äußerlich konnte man auf den ersten Blick zwar keine lebensbedrohlichen Wunden erkennen, aber wer wusste schon, wie es innerlich aussah. Da fiel ihr plötzlich ein, dass sie Rye den Weg nach Draußen noch gar nicht erklärt hatte. Irritiert leuchtete sie mit der Taschenlampe die Umgebung ab, doch der Neuling war nirgends zu sehen. „Stimmt etwas nicht?“, erkundigte sich einer der Männer. Die Blonde schüttelte den Kopf. Sie ging davon aus, dass sich Rye wahrscheinlich bereits einer anderen Gruppe angeschlossen hatte und er später von selbst wieder auftauchen würde. Das würde zumindest zu ihm passen. Auch wenn Vermouth sich ein wenig um ihn sorgte, da sein Zustand zum Schluss etwas kränklich gewirkt hatte. „Los jetzt, wir müssen uns beeilen.“, meinte sie streng und ging anschließend voran. … Wie abgetrennt von der Welt schwankte Rye durch den Abwasserkanal. Sein Kopf brannte. Sein Körper fühlte sich fremd, wie ferngesteuert an. Als würde er ihm nicht mehr gehören. Der Blutdurst lähmte all seine Sinne. Und trotz dessen besaß er einfach keinen Willen mehr, um weiterzugehen. Besonders viel erkennen konnte er nicht mehr. Er hörte nur das Platschen des Wassers unter seinen Füßen und roch den ekelhaften Gestank um sich herum. Aber das war ihm ganz recht so, schließlich lenkte der schlechte Geruch ein bisschen von dem Verlangen nach Blut ab. Nichts würde ihn dazu bringen, diese Kanalisation vorerst zu verlassen. Denn wenn er das tat, würde in den folgenden Minuten jemand sterben. Also hielt er es für besser, hier unten zu schmoren bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. „Was nie passieren wird...“, wurde ihm letzten Endes bewusst. Daraufhin spürte er, wie der Halt unter seinen Füßen nachließ und er in das schmutzige Wasser fiel. Darin verweilte er eine Weile. Am liebsten wollte er nie wieder aufstehen. Obwohl das Wasser bereits seine komplette Kleidung durchnässt hatte und sein schwarzes, langes Haar klatschnass war, konnte er keinerlei Kälte an seiner bleichen Haut wahrnehmen. Es fühlte sich irgendwie angenehm an. Sogar fast befreiend. Er war allein. Hier unten war niemand. Hier konnte er keinen Menschen verletzen. Und allein diese Tatsache genügte. „Hey, sieh‘ mal! Dahinten ist noch jemand!“ … „Ist er tot? Er scheint nicht mehr zu atmen!“ … „Das ist doch… Rye!“ Rye horchte angespannt. Das waren eindeutig Stimmen gewesen. Er richtete sich langsam auf, wobei ihm ein paar nasse Haarsträhnen ins Gesicht fielen und einige Wassertropfen sein Gesicht hinunter liefen. Als er sich umdrehte, erblickte er zwei männliche Gestalten, darunter einer dessen Stimme ihm irgendwo her bekannt vorkam. Sie leuchteten beide mit einer Taschenlampe auf ihn. „Oh, du lebst ja doch noch.“, meinte einer der Männer im ruhigen Ton und kam Rye näher, welcher von der plötzlichen Bewegung ruckartig zurückwich. Jedoch schien der Mann ihn beruhigen zu wollen. „Keine Angst, wir können dir helfen. Bist du verletzt?“, erkundigte er sich, woraufhin Rye hastig den Kopf schüttelte und erwiderte: „Verschwindet.“ Dabei erschreckte ihn seine eigene Stimme, welche auf einmal so düster klang. Auch die Haltung der beiden Männer schien sich schlagartig zu verändern, trotzdem hielt der vordere Mann ihm seine Hand entgegen und redete unbekümmert weiter: „Du kannst doch aber nicht hierbleiben. Wenn du dich verlaufen hast, dann-“ „Wieso verschwindet ihr nicht?!“, wütend und zugleich verwundert, woher diese Wut überhaupt kam, packte er die Hand des Mannes und zog diesen mit voller Wucht zu Boden. Danach stand Rye auf, um den anderen Mann, der gerade weglaufen wollte, ebenso auf den Boden zu schleudern, sodass das Wasser in alle Richtungen spritzte und der Aufprall ein schallendes Echo erzeugte. Schweigend betrachtete er seine beiden Opfer vor sich, welche ihn mit schreckgeweiteten Augen anstarrten. Jetzt war es endgültig zu spät. Sein Verstand hatte sich verabschiedet. Zu lange hatte er heute versucht, dagegen anzukämpfen. Nun gab er sich geschlagen. Das Monster in seinem Inneren hatte gewonnen. Die Stimmen der Männer drangen nicht mehr zu ihm durch, stattdessen stürzte er sich auf sie, um ihnen die Bewegungsfähigkeit zu rauben, was mit wenigen Knochenbrüchen schnell erledigt war. Mit rot funkelnden Augen und einem übel gesinnten Grinsen im Gesicht sprach Rye bedauernd zu den Beiden: „Tut mir leid, aber ich muss euch töten.“ Kapitel 8: Was ist Eifersucht? ------------------------------ 3 Tage später in der Scarlet Lounge „Ich bin überrascht, dass du aufgetaucht bist. Wo hast du dich denn die letzten drei Tage rumgetrieben? Du hast nicht mal auf meine SMS geantwortet.“, wollte Vermouth leicht beleidigt von Rye wissen, welcher sich gerade zu ihr gesellte. Er wirkte irgendwie mitgenommen, müde, oder als würde ihn etwas quälen. „Tut mir leid.“, meinte Rye vorerst, da er sich über Vermouths Laune im Klaren war. Doch eine ehrliche Antwort auf ihre Frage fiel ihm nicht ein, weshalb er ausweichend erklärte: „Ich musste mich ein wenig ausruhen... schließlich wäre ich Samstag Abend fast gestorben. Mein Handy war die Zeit über ausgeschaltet.“ Er hoffte, dass die Frau ihm diese Lüge glauben würde. Zwar stimmte das mit dem Ausruhen, aber ganz bestimmt nicht weil er fast gestorben wäre. Eher hatte er versucht mit der Tatsache umzugehen, dass er wieder Mal die Kontrolle verloren und zwei Menschen getötet hatte. Noch dazu Mitglieder der Organisation. Davon durfte niemand erfahren. Jedoch machte ihn das Kichern von Vermouth im nächsten Moment stutzig. Hatte sie ihn etwa durchschaut? War die Ausrede zu einfach gewesen? Hätte er einen anderen Grund vorbringen sollen? Doch Rye musste feststellen, dass seine Befürchtungen umsonst waren. „Also für jemanden, der beinahe gestorben wäre, bist du noch gut unterwegs. Wobei du die letzten Tage zu wenig geschlafen hast?“, erwiderte Vermouth unbekümmert. Bei der Frage schlich sich ein Hauch Besorgnis in ihre Stimme. „Ja, richtig… das hab ich wirklich nicht. Ist aber nicht so schlimm.“, erwiderte Rye mit einem unschuldigen Lächeln, bevor er schnell vom Thema ablenkte: „Wie geht‘s dir denn eigentlich?“ Die Antwort interessierte ihn überhaupt nicht, aber etwas Besseres fiel ihm gerade nicht ein. Und die meisten Frauen neigten dazu, besonders viel zu erzählen, wenn es um ihr eigenes Befinden ging. „Bestens. Da fällt mir ein, ich muss mich ja noch bei dir bedanken. Immerhin hast du mir an dem Abend das Leben gerettet. Der Messerwurf kam ziemlich unerwartet.“ Rye erinnerte sich an die Sache mit dem Messer, oder anders gesagt den Auslöser für das ganze Desaster. „Nicht doch. Meinetwegen ist irgendwie alles schiefgegangen. Ich hab den Kerl zu sehr provoziert und war-“ „Du warst einfach wunderbar!“, unterbrach die Blonde ihn jedoch begeistert, woraufhin seine Augen vor Verwirrung groß wurden. Seiner Meinung nach war er alles mögliche, aber sicher nicht wunderbar gewesen. „Du hast eine außergewöhnlich schnelle Reaktionsfähigkeit, bist sehr gut im Nahkampf und obendrein hast du Gin beschützt. Ohne dich wäre er vermutlich über die Klinge gesprungen.“, lobte Vermouth den Schwarzhaarigen aus dessen Sicht zu Unrecht. „Falsch.“, betonte er deshalb und erklärte dann der Wirklichkeit entsprechend: „Ich war zu vorschnell und Gin ist mir gefolgt. Mit anderen Worten, ohne mich wäre er erst gar nicht in diese Lage geraten.“ „Das konntest du doch aber nicht wissen. Also hör schon auf, so schlecht von dir zu reden.“, während Vermouth das sagte, steckte sie sich eine Slim-Zigarette an und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Aber Gin-“ „Und um den brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen. So schnell macht der schon nicht schlapp.“, unterbrach sie Rye erneut, welcher daraufhin nur schweigend den Kopf senkte. Nach einer Weile hakte die Frau neugierig nach: „Jetzt mal ehrlich, warum interessierst du dich so für ihn?“ Das war etwas, was sie sich einfach nicht erklären konnte. Die Antwort auf diese Frage wollte sie zu gern erfahren. Allerdings wurde sie nur emotionslos angesehen und es machte nicht den Anschein, dass Rye vorhatte ihr den Grund verraten. „Ich finde es nur schade um dich, weil dieses Interesse immer einseitig bleiben wird. Gin kann niemanden mögen, respektieren oder gar lieben. Wobei, aus Erfahrung kann ich dir sagen, dass er für One-Night-Stands noch zu haben ist.“, redete sie daher einfach weiter und musste bei ihrem letzten Satz schmunzeln. „Und warum wolltest du ihn dann als Partner für mich?“, wollte Rye nach dem ganzen Gerede wissen. Er musste sich beherrschen, dabei noch einigermaßen nett zu klingen. Denn Vermouths letzter Satz hatte etwas in ihn geweckt, worauf er lieber nicht genauer eingehen wollte. Allein die Vorstellung an das Gesagte machte ihn aus unerklärlichen Gründen wütend. „Du wolltest ihn als Partner.“, meinte Vermouth jedoch nur schulterzuckend. „Das hab ich nie gesagt.“ „Mit Worten vielleicht nicht.“ Danach herrschte Stille, in welcher die Frau Rye ein vielsagendes Lächeln zuwarf und er sich eingestehen musste, dass sie irgendwie recht hatte. Sein Verhalten hatte ihn damals verraten. „Siehst du, jetzt hast du ihn mit deinem Verhalten beschworen.“, sprach Vermouth plötzlich. Rye folgte ihrem Blick zum Eingang, wo Gin tatsächlich gerade die Bar betrat. Rye blieb ungläubig der Mund offen stehen. Nicht einmal die kleinen Schrammen im Gesicht des Silberhaarigen waren schon verheilt und am Rand des Rollkragen glaubte er einen Bluterguss hervorlugen zu sehen. „Das kann nicht wahr sein... als ob der schon wieder auf den Beinen ist!“, fluchte er gedanklich und hielt es für besser umgehend das Weite zu suchen. „Ich gehe dann mal...“, murmelte er und wollte sich von seinem Platz erheben, wurde dabei jedoch von Vermouth zurück auf den Stuhl gezogen. „Hiergeblieben.“, kam es schnippisch von ihr und keinen Moment später winkte sie Gin heran, welcher ganz offensichtlich ebenso wenig über die zufällige Begegnung erfreut war. „Geht es dir etwa schon besser oder hast du dich mal wieder selbst entlassen?“, begrüßte Vermouth den Silberhaarigen, während dieser sich auf den freien Stuhl neben Rye setzte. „Sicher doch. Du weißt, wie sehr ich die Krankenstation hasse.“, antwortete Gin mürrisch, worauf die Frau tadelnd erwiderte: „Selbst Schuld, dann pass‘ in Zukunft besser auf. Du kannst froh sein, dass Rye noch rechtzeitig gekommen ist. Sonst hätte es viel schlimmer für dich ausgehen können, Schätzchen.“ Daraufhin lief Rye ein unangenehmer Schauer über den Rücken und er drehte schnell den Kopf zur Seite, als sich Gins bohrender Blick auf ihn richtete. „Wenn du mich nur gerufen hast, um mir das auf die Nase zu binden, kann ich ja wieder gehen.“, kam es von dem Silberhaarigen gereizt. Als er jedoch aufstehen wollte, wurde auch er von Vermouth aufgehalten. „Nein, eigentlich wollte ich dich etwas fragen.“, meinte sie. „Und das wäre?“, entgegnete Gin, während er sich erneut setzte. Bei dieser ungleichmäßigen Bewegung fiel Rye auf, dass sein Partner anscheinend immer noch Schmerzen hatte und dessen Beine sein Körpergewicht wohl noch nicht tragen konnten. Schon zuvor war dem Schwarzhaarigen aufgefallen, dass Gin beim Laufen das rechte Bein etwas nachzog. Auch seine Arme zitterten ein wenig, als er sich jetzt eine Zigarette ansteckte. „Hab ich‘s mir doch gedacht… aber schon witzig, wie er versucht, die Schmerzen zu verbergen.“, dachte Rye amüsiert und stützte lächelnd den Kopf auf seiner Handfläche ab. Doch bei Vermouths nächster Frage verging ihm das Lächeln sofort wieder. „Gibt es Neuigkeiten bezüglich der verschwundenen Mitglieder? Hat man sie schon gefunden?“ Da entwich Gin ein Seufzen. Es war noch keine zwei Stunden her, dass ihn der Boss darüber informiert hatte. Und das war gewiss nichts Erfreuliches gewesen. „Hat man, sind aber bereits tot.“, verriet er trocken. Nach einem kräftigen Zug von seiner Zigarette fügte er hinzu: „Die lagen da unten mindestens drei Tage. Und dem Aussehen der Leichnamen nach zu urteilen, ist es keine normale Todesursache...“ Müde fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. Es stand außer Frage, dass man die zwei Opfer zu dieser seltsamen Mordserie dazu zählen konnte. Nur dieses Mal war die Sache viel ernster, da es sich schließlich um Mitglieder der Organisation handelte und das direkt nach diesem katastrophalen Treffen. Deswegen war der Druck auf Gin gewachsen. Der Boss wollte, dass er diesen Irren schnellstmöglich fand und zu ihm brachte, damit er ihm selbst die Hölle heiß machen konnte. Nun hatte Gin Dank der Laune seines Vorgesetzten Kopfschmerzen. „Sag nicht, das hängt mit dieser Mordserie zusammen?“, fragte Vermouth und zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Gin nickte nur und erwiderte: „Cognac und seine Leute konnten das ohne Zweifel bestätigen. Es ist dasselbe Muster wie bei den anderen Morden. Gerade versuchen sie die Identitäten der beiden Opfer zu ermitteln. Selbstverständlich wird davon nichts an die Öffentlichkeit gelangen.“ „Mordserie…?“ Rye verstand überhaupt nicht, wovon die Beiden da redeten und starrte sie abwechselnd mit großen Augen an. Zwar war es Pech, dass man die Leichen der Männer gefunden hatte, aber wieso gingen sie sofort von einer Mordserie aus? „Das ist wirklich beunruhigend… schon aus dem Grund, weil die Morde auf eine völlig unmenschliche Art begangen werden. Derjenige muss schlimmer als ein Psychopath sein.“, meinte Vermouth in angespannter Tonlage. „Cognac sagte, man könnte ein Tier nicht ausschließen. Aber das glaub ich nicht.“, spottete Gin daraufhin. „Psychopath…? Meinen die etwa… mich?“ Rye konnte es nicht ganz begreifen. Er wusste nicht, dass bereits Ermittlungen aufgenommen worden waren und man wohl schon dabei war, ein Täterprofil zu erstellen. Zudem besaß die Organisation anscheinend alle möglichen Informationen über die einzelnen Morde. Er verfolgte nicht mal die Medien, weshalb er auch sonst nirgends von einer Mordserie gehört oder gelesen hatte. Allmählich wurde er nervös, versuchte sich aber nichts anmerken zu lassen und lauschte weiter dem Gespräch. „Aber das kann doch auch sein. Vielleicht lebt dieses Etwas da unten in der Kanalisation und kommt nur bei Dunkelheit aus seinem Versteck heraus, weshalb man ihm tagsüber nicht begegnen kann.“, vermutete Vermouth, woraufhin Rye entgeistert die Stirn runzelte. „Als ob ich in der Kanalisation lebe...“, kommentierte er ihre These gedanklich. „Und? Sollen wir jetzt die Kanalisation nach dieser Gestalt oder was auch immer absuchen?“, gab Gin der Frau missbilligend zu verstehen, dass er das bestimmt nicht tun würde. „Na dann viel Spaß.“, dachte Rye scherzhaft, welcher sich mit Sicherheit nicht an der Suche beteiligen wollte. Schließlich konnte er schlecht nach sich selbst suchen. „Aber warum nicht? Ein Versuch wäre es doch wert, meinst du nicht auch, Rye?“, wandte sich Vermouth plötzlich an den Schwarzhaarigen, woraufhin sie von ihm aufgelöst angesehen wurde. „Da er die ganze Zeit schon so still ist, wird er wohl nichts beizutragen haben.“, antwortete Gin jedoch für ihn, womit er auch recht hatte. „Mich interessiert das doch gar nicht...“, bestätigte Rye deshalb die Aussage. Der Frau entwich ein Seufzen. Auch Gin stöhnte nach kurzer Stille genervt und warf einen Blick auf die Getränkekarte vor sich. Bisher hatte er immerhin noch nichts bestellt, anders als Vermouth, welche schon lange einen Cocktail vor sich stehen hatte. Dieser wurde aber auch noch nicht von ihr angerührt. „Soll ich dir einen Martini spendieren? Vielleicht bekommst du dann bessere Laune.“, bot sie an und zwinkerte Gin danach vielsagend zu. „Schließlich ist es schon eine Weile her, seit wir das letzte Mal einen gemixt haben.“ Rye verzog danach verwirrt das Gesicht. Diese in Rätsel gesprochenen Worte musste er sich dreimal durch den Kopf gehen lassen, ehe er die Bedeutung dahinter verstand. Von dieser war er dann jedoch überhaupt nicht begeistert. Bei einem Martini handelte es sich nämlich um ein Mischgetränk bestehend aus Vermouth und Gin. „Als ob ich das nochmal nötig hätte.“, lehnte Gin zu Ryes Erleichterung ab, doch einen Moment später stutzte der Schwarzhaarige: „Nochmal…?“ „Warum nicht?“, wollte die Frau daraufhin enttäuscht wissen. Gin antwortete ihr aber nicht direkt sondern meinte stattdessen scherzhaft: „Du hast doch ohnehin schon einen neuen Betthasen. Amüsier‘ dich doch lieber mit ihm.“ Er deutete mit einer abfälligen Geste auf Rye, welcher jedoch bei diesem Satz erstarrte, bevor er die Beiden komplett ausblendete und stattdessen in einer Gedankenspirale versank: „Was soll das? Neuer Betthase? Aber… Bedeutet das dann, dass er mal mit ihr im Bett war?“ Ein unangenehmer Schauer überlief ihn bei dieser Erkenntnis. Doch ein anderes, bekanntes Gefühl ergriff ebenso Besitz von ihm: Die Wut. Den Grund für diese Wut konnte er sich allerdings nicht erklären. Fühlte sich so Eifersucht an? War er überhaupt eifersüchtig? Wenn ja, warum? Dass er sich nicht mal selbst verstand, regte ihn nur zusätzlich auf. Während sich seine Hände auf seinen Oberschenkeln langsam zu Fäusten ballten, ließ er seinen Blick unauffällig zu Vermouth schweifen, welche sich gerade lachend die Hand vor dem Mund hielt. Rye verengte die Augen. „Ich will ihn, und wenn ich etwas will, lasse ich es mir nicht von dir nehmen.“, dachte er übel gesinnt und betrachtete die Frau dabei weiter, als wäre sie ein schädliches Insekt. Ob es seine eigenen Mordgelüste oder die des Monsters in seinem Inneren waren, konnte er nicht unterscheiden. Es interessierte ihn auch nicht mehr. Soeben hatte er einen Entschluss gefasst und er würde sich davon auf keinen Fall abhalten lassen. Von nichts und niemandem. Daraufhin erhob er sich ruckartig von seinem Stuhl und lenkte so die Aufmerksamkeit von Gin und Vermouth wieder auf sich, welche ihn überrascht anstarrten. „Es ist spät, daher verabschiede ich mich für heute.“, verkündete Rye tonlos und noch bevor die Blonde etwas erwidern konnte, bat er sie: „Begleite mich.“ Nun glaubte Rye in ihrem verwunderten Gesichtsausdruck auch Neugier erkennen zu können. „Warum?“, fragte sie, obwohl der Schwarzhaarige ihr ansehen konnte, dass sie sich bereits eine ganz bestimmte Antwort darauf erhoffte. Und diese Antwort sollte sie auch bekommen. „Ich will es so.“, begann Rye und sah Vermouth dabei tief in die Augen, bevor er verführerisch hinzufügte: „Außerdem… willst du dich nicht noch vergewissern?“ Da umspielte auch schon das erwartete Lächeln ihre Lippen. Jetzt hatte er sie. „Mit Vergnügen. Dann lass uns gehen.“, antwortete sie in der gleichen Tonlage und erhob sich ebenso von ihrem Platz. Gin hingegen ließ das Geschehen völlig unkommentiert, auch wenn er sich bestimmt seinen Teil dazu dachte. Und das sollte er ruhig. „Denk, was du willst. Aber du wirst nie erraten, was ich eigentlich vorhabe und dass du der Grund für meinen Entschluss bist.“, sprach Rye gedanklich zu dem Silberhaarigen und konnte es nicht lassen, diesem dabei ein hämisches Lächeln zuzuwerfen, als er nebenbei seinen Arm um Vermouths Hüfte legte. Gin beobachtete schweigend, wie Rye und Vermouth gemeinsam die Bar verließen. Er war ein wenig froh über die einkehrende Ruhe, die er jetzt dringend benötigte. „Soll er doch machen, er wird schon sehen, was er davon hat.“, dachte er spottend und wusste, dass Rye nur ein weiterer Liebhaber von Vermouths langer Liste sein würde. Für sie waren Männer ohnehin nichts weiter als Spielfiguren und wenn sie jemanden nicht mehr brauchte, ließ sie denjenigen wie üblich einfach links liegen. Und niemand außer ihm hatte es je gewagt vorher eine Abfuhr zu erteilen. „Aber schon seltsam… wieso war Rye nicht auf der Krankenstation? Generell scheint er topfit zu sein… und das obwohl er genauso weit von der Explosion entfernt gewesen war wie ich. Er hat nicht mal einen Kratzer!“ Das war Gin sofort aufgefallen, als er Rye erblickt hatte. Jedoch wollte er ihn nicht darauf ansprechen. „Am dem Abend hatte er sogar noch genug Kraft gehabt, die ganzen Kerle problemlos auszuschalten.“, fiel ihm zudem wieder ein. Eine Tatsache, die ihn die letzten drei Tage beschäftigt hatte. „Er hat dafür nicht mal eine Waffe verwendet.“ Auch wenn Gin zu jenem Zeitpunkt nicht vollständig bei Besinnung war, so hatte er versucht, sich jede von Ryes Bewegungen einzuprägen. Aus dem Grund, weil er seinen eigenen Augen nicht trauen wollte. Das ganze Szenario war einfach zu verrückt gewesen, als dass es hätte wahr sein können. Ein normaler Mensch hätte das niemals fertig gebracht. Oder doch? Wer wusste schon, was Rye vor seinem Gedächtnisverlust für ein Mensch gewesen war und was er für diese eigenartige Organisation namens Eclipse alles getan hat oder tun musste. „Ob das mit seinem seltsamen Tattoo am Hals zusammenhängt?“, überlegte der Silberhaarige und erinnerte sich daran, wie er Vermouth letztens kurz darauf angesprochen hatte. Dennoch hatte er keine zufriedenstellende Antwort bekommen, sondern nur den Namen von Ryes früherer Organisation erhalten, von welcher er aber noch nie zuvor etwas gehört hatte. Ein Seufzen entwich ihm. Diese ganzen Fragen in seinem Kopf. Und ein Großteil drehte sich nur um ein und dieselbe Person: Rye. Wütend ballte er seine Hand auf dem Tisch zur Fast und zwang sich dazu wieder über die Mordserie nachzudenken. 20 Minuten später „Und, bist du jetzt zufrieden?“, fragte Vermouth belustigt, als sie mit Rye zusammen dessen Wohnung betrat und er hinter ihr leise die Tür schloss. „Was genau meinst du?“, hakte der Schwarzhaarige nach, nahm dabei seine Strickmütze ab und hing seinen Trenchcoat-Mantel an den Kleiderhaken. „Nun tu doch nicht so.“, meinte die Frau daraufhin, zog ebenso ihren Mantel aus und fügte neckend hinzu: „Das eben in der Bar hast du doch nur abgezogen, um zu sehen wie Gin darauf reagiert.“ Rye musste schmunzeln. In der Tat hatte ihn das wirklich ein wenig interessiert. Doch er kannte Gin inzwischen gut genug und wusste schon vorher, dass es diesen kaltlassen würde. „Du glaubst also, ich wollte ihn eifersüchtig machen? Und das, obwohl ich ihm egal bin? Wie albern.“, verleugnete er diese hintergründige Motivation, um sein eigentliches Vorhaben in die Tat umsetzen zu können. „Also stimmt das nicht? Und da dachte ich, ich tu dir den Gefallen und spiel‘ mit.“, offenbarte die Frau amüsiert und betrat währenddessen das Wohnzimmer. Rye folgte ihr und entgegnete: „Jetzt enttäuschst du mich aber.“ Als sich Vermouth nach diesen Worten verwundert umdrehte, erklärte er mit leicht frustrierter Stimme: „Ich dachte, du interessierst dich wirklich für mich und hast deshalb mein Angebot angenommen.“ Betont geknickt ging er an ihr vorbei und machte es sich auf der Couch bequem. „Vielleicht tu ich das ja auch.“, tat sie geheimnisvoll, bevor sie sich zu dem Schwarzhaarigen gesellte, welcher sie nun erstaunt ansah. „Vielleicht?“, wiederholte er mit einem Hauch von Hoffnung in der Stimme. Vermouth nahm sich eine Rose aus der Vase, welche sich auf dem Tisch vor ihnen befand und rieb ein paar der glatten Blütenblätter zwischen ihren Fingern. „Gut aussehend bist du ja. Davon abgesehen weiß ich nicht viel über dich, aber gerade das macht dich meiner Meinung nach interessant. Man neigt dazu, mehr über dich herausfinden zu wollen.“, erklärte sie, ohne Rye dabei direkt anzusehen. „Ich glaube, du weißt nicht mehr über mich, als ich über mich selbst weiß.“, sprach dieser die eigentlich traurige Wahrheit laut aus. Aber es machte ihm nichts aus, denn irgendwie fürchtete er sich vor seiner Vergangenheit, welche bestimmt aus vielen Gründen schmerzhaft sein würde. Selbst wenn sein früheres Leben schön gewesen war, so war diese schöne Zeit nun erloschen und unerreichbar. Der Mann, der er vielleicht mal gewesen war, war ohnehin bereits am Tag seiner Verwandlung gestorben. Das, was er jetzt war, verabscheute er. Und Dinge, die er verabscheute, waren ihm egal. „Keine Sorge, dissoziative Amnesie muss nicht für immer anhalten. Eines Tages wirst du-“ Vermouth brach den Satz ab, als plötzlich ein kalter Finger ihre Lippen berührte und Rye ihren Kopf zu sich drehte, wodurch sich ihre Blicke trafen. Sie begann automatisch das Gesicht ihres Gegenübers zu analysieren oder besser gesagt: Es zu bewundern. Ryes smaragdgrüne Augen schienen förmlich zu glitzern. Seine Haut war bleich, aber makellos und stand im Kontrast zu den schwarzen, langen Haaren, welche sein schönes Antlitz noch stärker zur Geltung brachten. Da bildete sich ein Lächeln auf Ryes Lippen und er flüsterte ihr sanft ins Ohr: „Solche Gespräche langweilen mich.“ Seine Stimme ließ sie für einen Moment erschaudern, nur um ihr Herz kurz darauf viel schneller schlagen zu lassen. „Du brauchst nicht nervös zu sein.“, meinte Rye verführerisch. Er platzierte einen federleichten Kuss auf ihren Hals und begann langsam den Reißverschluss ihres Rockes zu öffnen. Vermouth wollte etwas sagen, doch es war, als würde ihr ein dicker Kloß im Hals jegliche Worte verwehren. Ihr fielen auch keine Worte mehr ein. Oder waren keine mehr vonnöten? Sollte sie sich dem Kommenden einfach hingeben? Gerade jetzt wirkte Rye plötzlich so anziehend auf sie und der Grund dafür war ihr völlig fremd. Sie merkte kaum, wie sie von ihm vorsichtig mit dem Rücken auf das Sofa gedrückt wurde und er sich über sie beugte. Danach knöpfte er ihre Bluse auf, woraufhin kalte Hände ein Kribbeln an ihrer Haut erzeugten. Entspannt schloss die Blonde ihre Augen. Bereit, sich weiter von diesem wunderbaren Mann verführen zu lassen, ließ sie ihre Hände zu Ryes Hemd wandern, um dieses ebenso aufzuknöpfen. Als sie jedoch über die Brust darunter fuhr, stutzte sie. Es war vielleicht nicht ungewöhnlich, dass einige Menschen kalte Hände besaßen, aber die Haut unter ihren Fingern war noch viel kälter. Noch dazu fühlte sie sich hart an. Wie ein Stein. Als würde sie eine Leiche berühren. Auch glaubte sie, nicht mal einen Herzschlag ertasten zu können. Da sprach auf einmal eine düstere Stimme: „Weißt du, ich bin dir wirklich dankbar für das, was du alles für mich getan hast...“ Vermouth öffnete ihre Augen, doch bei dem Anblick, der sich ihr bot, erstarrte sie vor Schreck. Blutrote Augen schienen sie mit einem bösartigen Blick förmlich zu durchbohren. Ein breites Grinsen zierte Ryes Gesicht und offenbarte zugleich messerscharfe, spitze Reißzähne. Rye beobachtete amüsiert, wie die Blonde sich panisch unter ihm wand und es letztlich doch nicht schaffte, sich von den festen Griffen um ihre Handgelenke zu befreien. „Aber ich hasse Frauen wie dich.“, beendete er seinen Satz und schlug keine Sekunde später seine Zähne in ihren Hals. Das letzte was er von ihr hörte, war ein markerschütterndes, angsterfülltes Schreien. Kapitel 9: Verschwunden ----------------------- 3 Tage später Gereizt verließ Gin das Büro seines Bosses und musste sich dabei beherrschen, nicht die Tür hinter sich zuzuknallen. Jetzt lagen seine Nerven endgültig blank. Immer wenn er dachte, es könnte nicht mehr schlimmer kommen, machte Vermouth ihm wie üblich einen Strich durch die Rechnung. Dieses Mal war sie dafür nicht mal anwesend. Diese Abwesenheit war auch der Grund für das Gespräch mit seinem Vorgesetzten gewesen. Seit drei Tagen war es um Vermouth herum ziemlich still geworden. Sie war sozusagen unauffindbar, auch wenn Gin das nicht sonderlich interessierte. Immerhin kam das regelmäßig vor. Jedoch wohl mit dem Unterschied, dass sie dem Boss vorher eine Nachricht hinterließ. Bisher hatte sie aber nicht mal auf dessen Nachrichten geantwortet oder gar ein Lebenszeichen von sich hören lassen. Schließlich wurde der Silberhaarige trotz vieler Widersprüche damit beauftragt, nach Vermouth zu suchen. Völlig übertrieben und überflüssig. Der Boss tat so, als wären bereits mehrere Wochen vergangen. Vielleicht hatte diese Trulla sich auch einfach nur in irgendein Love-Hotel zurückgezogen. Mit einem ihrer dutzenden Liebhaber. „Oder mit Rye. Von dem hab ich die letzten Tage auch nichts mehr gehört.“, fiel Gin auf. Er blieb stehen und drückte die Pfeiltaste an der Wand, um den Fahrstuhl zu holen. „Wieso habe ich das Gefühl, dass er spurlos verschwinden würde, wenn nicht immer jemand auf ihn aufpasst...“, überlegte er und war zugleich überrascht, dass ihm so ein Gedanke überhaupt in den Sinn kam. Im nächsten Moment öffneten sich die Fahrstuhltüren. Gin stieg ein und drückte die Taste zum Erdgeschoss. „In letzter Zeit verstehe ich Vater einfach nicht. Erst halst er mir diese Mordserie auf und jetzt soll ich auch noch nach Vermouth suchen. Er weiß ganz genau, dass ich mit Ersterem genug beschäftigt bin!“, beschwerte er sich weiter. Und die billige Begründung, dass er Vermouth mit am besten kannte, war noch lange kein nachvollziehbarer Grund, gerade ihn zu der Suche zu verdonnern. Des Weiteren war dem Silberhaarigen unklar, weshalb der Boss am Ende des Gesprächs versucht hatte, ihn bezüglich der Mordserie zu beruhigen. „Was die Mordserie betrifft, sei unbesorgt. Ich habe so ein Gefühl, dass sich das bald von selbst klären wird.“, erinnerte sich Gin an die rätselhaften Worte seines Vorgesetzten. Danach hatte er gefragt: „Sag nicht, du weißt, wer dahinter steckt?“ „Nicht direkt, aber ich habe da eine Vermutung. Konzentrier‘ dich jetzt lieber erst mal auf Vermouth.“ „Und wenn das vielleicht ohnehin zusammenhängt?“ „Wir wollen es nicht hoffen.“ Das wäre Gin ehrlich gesagt lieber gewesen. Eine offiziell tote Vermouth konnte immerhin nicht weiter in der Weltgeschichte herumrennen. Es ärgerte ihn, dass der Boss ihm seine Vermutung nicht verraten hatte. Allmählich glaubte er, dass es den älteren Mann amüsierte, ihn derart unter Stress zu setzen. Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, wartete davor bereits eine Person, über deren Begegnung Gin gerade irgendwie froh war. Cognac war momentan wirklich der Einzige, mit dem er sich noch normal unterhalten konnte. Außerdem hoffte er, nach einem Gespräch mit ihm bei der Mordserie vielleicht einen Schritt weiterzukommen. „Gibt es was Neues?“, fragte Gin tonlos und stieg aus dem Fahrstuhl. Zum Glück ließ der alte Mann sich auf ein kurzes Gespräch ein. „Nur das Übliche. Wir konnten die Identitäten der beiden getöteten Mitglieder ermitteln, was aufgrund ihres Zustandes leider etwas gedauert hat. Einer von ihnen besaß einen Codenamen. Scotch. Der Andere war nur ein Handlanger. Nicht weiter von Belang.“, berichtete er kühl. Die Identitäten der Opfer waren Gin nicht sonderlich wichtig. Dem Täter war das immerhin auch gleichgültig. Wichtiger waren die Tathergänge und die Spuren, die an den Tatorten zurückgelassen worden waren. „Verstehe, der Codename sagt mir nichts.“ Von einem Scotch hatte Gin wirklich noch nie etwas gehört. Was wohl unter anderem daran lag, dass er überwiegend allein arbeitete. Jedoch wollte er den Älteren noch etwas fragen, was ihm gestern kurz vor dem Schlafengehen aufgefallen war: „Eine Sache noch: Du sagtest, dass die Körper der Opfer meistens blutleer sind?“ „Richtig.“ Cognac nickte bestätigend. „Und welche Blutmenge ist ungefähr immer an den Tatorten zurückgeblieben?“, stellte Gin seine eigentliche Frage. Cognacs Miene blieb unverändert. „Ich weiß, worauf du hinauswillst. Je nach Körpergewicht besitzt ein Mensch durchschnittlich fünf Liter Blut. Wenn die Körper aber blutleer sind und das Blut am Tatort die fehlende Menge nicht ausgleicht, dann fragt man sich...“ „...wo das restliche Blut ist.“, beendete der Silberhaarige den Satz seines Gegenübers. Daraufhin starrten sie sich an, als würden sie im Gesicht des jeweils anderen eine Antwort auf diese mysteriöse Frage finden. Letztlich konnte es sich keiner von ihnen erklären. Es war aussichtslos. „Und wenn der Täter das Blut selbst entwendet oder… zu sich nimmt?“, äußerte Gin nach einer Weile vorsichtig einen Verdacht. Ein Ausdruck der Verwunderung glitt über Cognacs Gesicht, bevor er fragte: „Dann sollen wir jetzt also nach einer Art Vampir fahnden?“ Beide fingen an zu lachen. Dieser Gedanke an das Unmögliche war wirklich albern. Aber in einem Fantasy-Roman wäre das wahrscheinlich die Lösung. „Einen Menschen könnte man dann immerhin ausschließen.“, meinte Cognac. Er versuchte, wieder möglichst ernst zu klingen. „Wer weiß, kranke Menschen gibt es genug auf der Welt und jeder einzelne von ihnen ist unberechenbar.“ Das sagte Gin nur, um von der Möglichkeit, dass es sich vielleicht doch um Tiermorde handelte, abzulenken. Denn er selbst hielt das immer noch für unwahrscheinlich. Allerdings, welcher Mensch würde bitte… „Diesem Menschen sollte es dann wegen des Eisenüberschusses aber ziemlich dreckig gehen.“, entgegnete Cognac scherzhaft. „Ich weiß...“, kam es mürrisch vom Silberhaarigen. „Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein Tier oder was auch immer… Also dass… Ach, das Ganze macht mich wahnsinnig!“, fauchte er anschließend überfordert. Sein Gegenüber senkte verlegen den Kopf und musste sich offensichtlich ein Lachen verkneifen. Auch, wenn er ebenso im Dunkeln tappte. Danach sah er Gin verständnisvoll an, klopfte ihm auf die Schulter und meinte: „Ich weiß, dass du es momentan nicht leicht hast… schließlich wurdest du ja auch mit den Ermittlungen beauftragt. Ich werde dich natürlich unterstützen und dir helfen, wo ich kann.“ Gin zwang sich ein leichtes Lächeln auf. Trotz der Tatsache, dass ihm das langsam alles zu viel wurde. Beinahe verzweifelt scherzte er: „Du kannst nicht zufällig auch eine verschwundene Vermouth wieder auftreiben?“ „Du weißt doch, wie sie ist. Sie taucht schon von allein wieder auf. Wolltest du etwas Wichtiges von ihr?“, erkundigte Cognac sich unbekümmert. Auch ihm war ein plötzliches Verschwinden von Vermouth nicht neu. „Nein, aber der Boss will, dass ich nach ihr suche.“, maulte Gin. Ein Seufzen entwich ihm. „Nun ja, der momentanen Lage nach kann ich es verstehen, dass er schnell besorgt ist.“, erwiderte der Ältere und als er bemerkte, dass Gin diese Antwort nicht sonderlich aufheiterte, schlug er vor: „Fang doch erst mal einfach an. Mit wem hatte sie zuletzt Kontakt? Frag denjenigen, vielleicht weiß die Person etwas.“ „Rye hatte sie glaube abends mit zu sich genommen.“ Gin brauchte nicht lange überlegen. Innerlich fluchte er, dass er schon wieder bei Rye gelandet war. In letzter Zeit schlich sich dieser Blödmann immer häufiger in seine Gedanken. Besonders lebhaft war die Erinnerung an ihre erste Begegnung, als der Schwarzhaarige ihn wie versessen angestarrt hatte. Oder dessen beschämtes Schweigen in der Bar vor drei Tagen. Oder die abfällige, zugleich bedachte Art, wie Rye mit ihm redete. Oder… „Rye? Etwa der Neuling?“ Gin überhörte beinahe Cognacs fragende Stimme. Er nickte aufgewühlt und hakte nach: „Du hast schon von ihm gehört?“ „Es spricht sich eben schnell rum.“, erklärte der Ältere. „Gesehen hab ich ihn allerdings noch nicht. Du musst ihn mir demnächst unbedingt mal vorstellen.“ „Glaub mir, da verpasst du nichts.“, entgegnete der Silberhaarige tonlos und zweifelte daran, dass er Rye überhaupt irgendjemanden vorstellen wollte. Nicht, bevor er selbst aus ihm schlau geworden war. Immerhin hatte er jetzt einen Anlass, seinem Partner ein paar Fragen zu stellen. Eine viertel Stunde später lehnte Gin in der Tiefgarage an seinem Porsche und starrte nachdenklich auf das Display seines Smartphones. Ryes Nummer hatte er bereits gewählt. Er musste nur noch auf die Anruftaste drücken, wobei es nicht einfach war, sein Zögern für diese kurze Fingerbewegung zu überwinden. Einerseits war es vielleicht klug Cognacs Ratschlag zu befolgen und Rye zuerst ein paar Fragen über Vermouth zu stellen, um bei der Suche nach ihr zumindest einen Anfang zu haben. Andererseits war sich Gin nicht sicher, ob er diesen Kerl jetzt überhaupt sehen wollte. Oder auch nur dessen Stimme zu hören, welche teils seltsam beruhigend aber auch manchmal nervig klang. Hinzu kam, dass die Fragen nach Vermouth nicht die Einzigen in seinem Kopf waren, auf die er gern Antworten wollte. Die Zahlenkombination auf seinem Display hatte der Silberhaarige mittlerweile so lange mit verengten Augen fokussiert, dass er sie unbeabsichtigt schon fast auswendig kannte. Begleitet von einem genervten Stöhnen sprang Gin letztlich über seinen Schatten und rief seinen Partner an. Während er dem gleichmäßigen Tuten an seinem Ohr lauschte, zog er hoffend die Möglichkeit in Betracht, dass Rye gar nicht ran gehen würde. Jedoch löste sich dieser Funken Hoffnung in Luft auf, als eine seidenweiche Stimme am anderen Ende der Leitung sich meldete: „Sieh an, das ist das erste Mal, dass du mich anrufst. Oder hast du dich verwählt?“ Natürlich konnte dieser überhebliche Kerl das Telefonat nicht mit einem einfachen ‚Hallo?‘ oder ‚Was ist?‘ beginnen, das wäre ja zu einfach und nicht provozierend genug. Entschlossen, nicht darauf einzugehen, fragte Gin ohne Umschweife: „Wo bist du gerade?“ Dabei versuchte er zu vermeiden, dass Neugierde in seiner Stimme mitschwang. „In meiner Wohnung, warum?“ Mit dieser normalen Antwort hatte Gin nicht gerechnet. Auch war er etwas überrascht, dass sich der Schwarzhaarige dort aufhielt. Er hatte ihn an anderen, spannenderen Orten vermutet. „Macht es dir was aus, wenn ich spontan vorbeikomme?“ Obwohl das eigentlich eine einfache Frage war, beschlich Gin ein unangenehmes Gefühl, während er sie stellte. Als würde er gewisse, falsche Absichten damit verfolgen. Wenn er daran dachte, dass Vermouth womöglich Ryes letzter Besuch gewesen war und wie das mit hoher Wahrscheinlichkeit geendet hatte, wurde ihm noch unwohler. „Warum?“, wiederholte sein Gesprächspartner jedoch unerwartet abweisend. Gin zögerte kurz und schloss seine Finger fester um sein Smartphone. „Ich würde dir gern… ein paar Fragen stellen.“, verriet er schließlich, ein wenig verärgert über den unsicheren Unterton in seiner Stimme. „Dann frag.“ Wieder nur eine knappe Antwort, die Gin erneut aus irgendeinem Grund nicht zufrieden stellte. Es klang so kalt. Desinteressiert. So überhaupt nicht, wie er es sonst von Rye gewohnt war. Auf diese Weise würde er bestimmt nicht in dessen Wohnung gelangen. „Persönlich meinte ich. Nicht während des Telefonats.“, erwiderte er tonlos. Danach folgte eine Stille, in welcher Gin zu sehen glaubte, wie sich ein breites Lächeln auf Ryes Lippen bildete. Immerhin bekam er diesmal eine längere Antwort: „Verstehe, die Fragen sind also so wichtig, dass du mich unbedingt dabei sehen musst.“ Ryes Stimme klang belustigt, so dass sich die Aussage in Gins Ohren komplett falsch anhörte. Natürlich war das Absicht gewesen. Aber einen wahren Kern hatte die Aussage dennoch. Es stimmte tatsächlich, dass Gin den Schwarzhaarigen dabei lieber sehen wollte. Um dessen Gesichtszüge während des Gesprächs genaustens analysieren zu können. So ließ sich leichter erkennen, ob Ryes Antworten der Wahrheit entsprachen oder nicht. Denn Stimmen konnte man leicht verstellen, doch nicht jeder war geübt darin auch seine Gesichtsausdrücke dementsprechend anzupassen oder die ganze Zeit ein Pokerface beizubehalten. Dass es seinem Partner an schauspielerischen Fähigkeiten mangelte, hatte Gin bereits am Abend des Meetings bemerkt. Er würde ihn nicht täuschen können. „Also, darf ich?“, hakte er nochmals nach. „Gern. Wenn du meine Adresse kennst?“, schoss Rye freundlich zurück. Natürlich war das nicht der Fall. Bis vor kurzem hatte es Gin ja nicht mal interessiert. „Nein, die wäre?“, fragte er so kurz wie möglich. Nachdem Rye ihm die Adresse genannt hatte, gab er Bescheid: „Ich brauche ungefähr 20 Minuten. Bis gleich.“ „Okay, bis gleich.“, verabschiedete sich der Schwarzhaarige, woraufhin Gin das Telefonat beendete. Er stieg in seinen Porsche, zündete den Motor und fuhr los. Ryes Wohnung befand sich im Bezirk Minato, wohin er nicht lange brauchen würde. Kapitel 10: Besuch ------------------ Aufgewühlt lief Rye im Wohnzimmer auf und ab. Hinter der Couch blieb er ruckartig stehen und sah sich prüfend im Raum um. Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf. Jedoch achtete Gin bestimmt mehr auf andere Details, was also bedeutete, dass dem Silberhaarigen trotzdem etwas auffallen könnte. Obwohl sich Rye zu hundert Prozent sicher war, alle Spuren beseitigt zu haben. Mit einem analysierenden Ausdruck in den Augen musterte er den rauen Stoff des Ecksofas an genau der Stelle, an welcher er Vermouth vor drei Tagen das Leben genommen hatte. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen, als die Erinnerung an diese Tat vor seinem inneren Auge kurz aufblitzte. Es war wirklich seltsam befriedigend, dass sie tot war. Aber auch verwirrend, dass er seine Tat nicht bereute. Sonst tat er das immer. Immer hatte er sich elend, schuldig, oder gar abscheulich gefühlt. Doch jetzt suchte ihn keines dieser Gefühle heim. Er war sich über seine Handlungen im Klaren gewesen und hatte diese sogar noch ausführlich geplant. Vielleicht war das der entscheidende Unterschied, der ihn diesmal nichts bereuen ließ. Es war alles von seinem freien Willen ausgegangen. Er hatte sie töten wollen. Ihre Leiche hatte er noch in derselben Nacht weggebracht. An einen sicheren, gut versteckten Ort. Also gab es doch eigentlich keinen Grund zur Sorge. „Wieso bin ich dann trotzdem nervös?“, überlegte er. „Etwa nur, weil Gin jeden Moment auftauchen wird und er zum ersten Mal meine bescheidende Wohnung betritt?“ Dennoch blieb ihm ein Rätsel, aus welchem Grund sich sein Partner überhaupt dazu entschieden hatte herzukommen. Ein paar Fragen schienen ihm nicht die Mühe wert zu sein. Der Verdacht, es könnte etwas mit Vermouth zu tun haben, wollte nicht ganz verschwinden. Im nächsten Augenblick läutete es auch schon. Rye verließ das Wohnzimmer und ging mit schnellen Schritten zur Eingangstür. Ohne die Sprechanlage zu betätigen, öffnete er die Tür und musste sein Erstaunen verbergen, als er Gin dahinter erblickte. Zwar hatte er seinen Partner bereits einmal ohne dessen typischen, schwarzen Ledermantel und Hut gesehen, doch der erneute Genuss dieses schönen Anblicks überraschte ihn nicht weniger. Der dunkelblaue Doppelreiher Trenchcoat und die schwarze Jeans standen ihm wirklich gut. So wirkte er nicht so ernst und fast wie ein Freund, der spontan auf einen Besuch vorbei gekommen war. „Willst du mich nicht hereinbitten?“, fragte Gin plötzlich mit gehobener Augenbraue. „Was-? Eh-… Ja. Komm rein.“, erwiderte Rye verdattert und wurde sich bewusst, dass er den Silberhaarigen bisher nur sprachlos angestarrt hatte. Als Gin an ihm vorbeiging, versuchte der Schwarzhaarige unbemerkt dessen Duft einzuatmen. Er roch nach Zigarettenqualm. Aber auch irgendwie süßlich. Ob das der Geruch seines Blutes war? Oder einfach nur ein Parfüm? Letzteres hielt er für unwahrscheinlich. Er schloss langsam die Tür und folgte seinem Partner durch den Flur. Gin ließ seinen Blick durch den Flur schweifen, in welchem ihm aber nichts Ungewöhnliches auffiel. Daher öffnete er zielstrebig die nächstbeste Tür und betrat das Wohnzimmer. Was ihn bereits irritierte, war Ryes abwesendes Verhalten. Aber wenn er genauer darüber nachdachte, hatte sich der Kerl ohnehin noch nie normal benommen. „Warst du vor drei Tagen mit Vermouth hier?“, erkundigte er sich. „Möglich.“, hörte er Rye hinter seinem Rücken mehrdeutig antworten. „Willst du deine Jacke nicht lieber ausziehen?“ „Ich bevorzuge es, sie anzubehalten. Und ich möchte, dass du meine Fragen mit Ja oder Nein beantwortest, verstanden?“, stellte Gin klar, als er sich zu dem Schwarzhaarigen drehte und betonte seine Aussage bewusst so, dass sie sogar für Kleinkinder gut verständlich war. Er hatte wirklich keine Lust auf irgendwelche geheimnisvollen Frage-Antwort-Spielchen, über deren Bedeutung er sich noch tagelang den Kopf zerbrechen müsste. Rye nickte mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen. „Sie war hier.“, beantwortete er die Frage. Natürlich nicht mit einem einfachen ‚Ja‘. „Was habt ihr-… Für wie lange?“ Gin biss sich auf die Unterlippe. Er hatte beinahe die falsche Frage gestellt. Die Frage, deren Antwort er auf keinen Fall erfahren wollte. Ryes eindringlicher Blick machte ihn aus unerklärlichen Gründen nervös, weshalb er unauffällig den Kopf zur Seite drehte. Dabei vergaß er völlig, dass er den Schwarzhaarigen genau im Auge behalten wollte, um dessen Gesichtszüge während der Antworten zu analysieren. Doch das Blatt schien sich sehr schnell gewendet zu haben. Denn er war derjenige, der sich von Rye analysiert fühlte. „Nach einer Stunde ist sie wieder gegangen. Warum? Ist ihr etwas passiert?“, bohrte dieser neugierig. Wer wusste schon, ob das nicht gespielt war. Gin versuchte seinem Gegenüber wieder in die Augen zu schauen und verriet: „Sie ist seit drei Tagen verschwunden. Und ich frage dich, weil du sie anscheinend zuletzt gesehen hast.“ „Ach so, du machst dir also Sorgen um sie.“ Ryes Stimme besaß auf einmal einen verärgerten Unterton und Gin konnte erkennen, wie sich die Fingernägel des Schwarzhaarigen langsam in dessen Handflächen drückten. Doch sein Blick blieb emotionslos. „Nein.“, stellte Gin klar - wobei sich Ryes Fäuste umgehend wieder lockerten - und fügte hinzu: „Ich wurde damit beauftragt sie zu suchen.“ „Aha. Und jetzt verdächtigst du mich zuerst, nur weil ich sie zuletzt gesehen haben soll? Das kannst du doch gar nicht wissen.“, schoss Rye beleidigt im lauten Tonfall zurück und setzte abrupt einen Schritt nach vorn, sodass Gin zurückwich. „Nun ja, nehmen wir mal an, jemand hat ihr etwas angetan. In dem Fall würde der Täter sie natürlich zuletzt gesehen haben. Also ja, das könntest nach meinem aktuellen Wissen, auch du sein.“, unterstellte er ihm, woraufhin sich die Gesichtszüge seines Partners verdüsterten und ihm eine bedrohliche Aura verliehen. Gin hatte ihn damit wohl weiter provoziert. Was aber seiner Meinung nach besser war, als sich einschüchtern zu lassen. Das kam überhaupt nicht in Frage. Er bereitete sich innerlich darauf vor von Rye wütend angeschrien oder zurechtgewiesen zu werden. Dessen Miene nach zu urteilen fehlte bis dahin nicht mehr viel. Jedoch lösten sich gegen Gins Erwartung die angespannten Gesichtsmuskeln seines Gegenübers. Kurz darauf hörte er ein leises Kichern, welches nach und nach immer lauter wurde, bis Rye schallend vor sich hin lachte. Verdattert zog Gin die Augenbrauen nach oben und wich zur Sicherheit noch ein paar Schritte zurück. Zugegeben, er hatte bisher nie Angst empfunden, aber das war wirklich gruselig. Rye lehnte sich gegen den Sofarücken und fasste sich mit der Hand an die Stirn. Seine Augen glänzten vor Erheiterung und schielten zu dem Silberhaarigen herüber. „Jetzt verstehe ich.“, begann er, immer noch lachend. „Du gehst davon aus, dass ich ihr etwas Zuleide getan habe und hast mich deswegen nicht ohne Hintergedanken besucht. Die Fragen dienen nur zur Ablenkung, damit du unauffällig meine Wohnung nach Hinweisen durchsuchen kannst. Hab ich recht?“ Ein Schauer durchlief Gin. Das war direkt ins Schwarze getroffen. Nun bereute er seine vorherige Aussage und würde sie am liebsten zurücknehmen. Aber hatte er sich wirklich nur deswegen verraten? Wie gerissen war dieser Kerl bitte? Mit einem amüsierten Lächeln musterte Rye seinen Gegenüber. Er wusste, dass er richtig lag. Sonst hätte Gin ihm wahrscheinlich längst geantwortet. Dessen Miene war so kalt und emotionslos wie immer. Als wäre sie eine Maske der Abwehr, um das Empfinden zu verbergen und seinen Stolz zu bewahren. Aber da bemühte er sich vergeblich. Denn auch wenn Rye es Gin äußerlich nicht ansah, konnte er deutlich hören, wie das Herz des Silberhaarigen höher schlug. Ein Anzeichen für Nervosität. Doch es war besser es unkommentiert zu lassen. Gin war einfach zu gut darin sich nichts anmerken zu lassen, sodass eine abschätzige Bemerkung ungewöhnlich wirken würde. Allerdings täuschte Rye auch nur den Unbekümmerten vor und überspielte seine wahren Emotionen genauso. In Wirklichkeit gefiel es ihm gar nicht, dass Gin ihm so schnell auf die Schliche gekommen war und bereits verdächtigte. Nur weil er Vermouth zu sich eingeladen hatte. Während Gins Anwesenheit. Vielleicht war das doch kein so kluger Schachzug gewesen. „Aber dass er mich nur deswegen sofort verdächtigt… Er scheint mich wirklich nicht sonderlich zu mögen.“, dachte Rye und unterdrückte ein Seufzen. Was würde er alles dafür tun, um von Gin respektiert zu werden. Nicht mehr lange und er wäre gezwungen zu anderen Mitteln zu greifen. Doch das war momentan weniger von Belang. Erstmal musste es ihm gelingen, den Verdacht des Silberhaarigen zu zerstreuen. Und er hatte auch schon eine Idee, wie er das schaffen konnte. „Na schön.“, betonte er in einem herausfordernden Tonfall. „Sieh dich in Ruhe um. Überall, wo du willst. Ich möchte ja nicht, dass du völlig umsonst hierher gekommen bist.“ Er zwinkerte Gin mit einem süffisanten Lächeln zu, welcher daraufhin stutzig die Stirn runzelte. Wenn der Schwarzhaarige ihm freiwillig anbot die Wohnung zu durchsuchen, sollte es so wirken, als hätte er ohnehin nichts zu verbergen. „Oder er denkt, es ist nur eine Finte...“ Irgendwie schätzte er Gin so ein. Genau das würde er denken. „Weil er mir nicht vertraut.“ Der Gedanke reizte ihn. „Ich weiß, was du vorhast. Du tust so, als sei es dir egal, um den Verdacht von dir abzulenken. Aber das funktioniert nicht.“, offenbarte sein Partner mit scharfem Unterton. Wie befürchtet. Rye hatte ihn richtig eingeschätzt. Mit geschürzten Lippen beobachtete er, wie sich Gin begann offen im Raum umzusehen. Er hatte trotzdem nicht vor, es dabei zu belassen. „Nach was willst du denn überhaupt suchen?“, wollte er wissen, ließ den Silberhaarigen aber nicht zu Wort kommen und fing stattdessen an scherzhaft zu raten: „Ein Haar? Blutspuren? Abgetrennte Körperteile? Oder vielleicht ihre Leiche?“ Dabei wirbelte er dramatisch mit den Händen herum. „Sei still.“, murmelte Gin genervt, der gerade ein Regal durchkramte. Dort würde er schon mal nichts finden. „Dass du mir aber nichts durcheinander bringst, ich möchte später nicht stundenlang aufräumen.“ Rye ignorierte Gins Antwort und versuchte ihn weiterhin aus dem Konzept zu bringen. Denn auch wenn sich der Silberhaarige dadurch genervt fühlte, drauf eingehen tat er trotzdem. „Ich hab gesagt du sollst still sein!“, erfolgte sogleich die erwartete Reaktion. Ryes Mundwinkel zuckten und er musste sich ein Kichern verkneifen. „Entzückend, wie schnell er gereizt ist.“, dachte er amüsiert. Gin warf ihm einen bösen Blick zu, bevor er eilig das Wohnzimmer verließ. Rye sah ihm neugierig hinterher. Als er ihm folgte, stellte er fest, dass sein Partner soeben die Tür zum Schlafzimmer geöffnet hatte. Zumindest befand er sich nicht mehr im Raum des stattgefundenen Mordes, was Rye ein wenig erleichterte. In anderen Räumen war Vermouth sowieso nicht gewesen und er musste sich keine Gedanken mehr machen. „Du musst mir nicht wie ein Hund hinterhergelaufen kommen.“, meinte Gin abfällig, während er das Zimmer betrat. Es war offensichtlich, dass er sich von Ryes bloßer Anwesenheit gestört fühlte. Dieser ließ sich davon nicht beeinflussen und entgegnete tonlos: „Das ist meine Wohnung.“ „Richtig.“, stimmte Gin ihm zu und zog zeitgleich die Decke mit einem Ruck vom Bett, nur um daraufhin auf eine leere Matratze zu blicken. „Aber du hast gesagt ich darf mich in Ruhe umsehen.“, ergänzte er betonend. „Okay, okay. Ich bin ja schon ruhig.“, versprach Rye. Aber das glaubte er sich selbst nicht einmal. Sein Schweigen würde mit Sicherheit nicht sehr lange andauern. Höchstens nur, wenn er sich ausreichend ablenkte. Doch es gab in dieser gesamten Wohnung momentan eben nur eines, was interessant genug für ihn war: Gin. Für alles andere war ihm seine Aufmerksamkeit viel zu schade. Also lehnte er sich an die Wand und beobachtete still, wie sich der Silberhaarige vor dem Bett hinkniete, um einen Blick darunter zu werfen. Allein dieser Anblick brachte Rye zum schmunzeln. In seinem Kopf spielte er verschiedene Möglichkeiten durch, wie er sich die Situation zu Nutze machen könnte. Der Gedanke, dass sich Gin in seinem Schlafzimmer befand, er ihm schutzlos ausgeliefert war, es keine Zeugen gab und er eigentlich mit ihm machen konnte, was er wollte, bereitete ihm unverschämtes Vergnügen. Denn da gab es zu viele, abartige Dinge, die er am liebsten ohne zu zögern tun würde. Ohne dass Gin eine Chance hätte, sich zu wehren. Und es war beinahe unkontrollierbar diese Dinge nicht in die Tat umzusetzen. Warum er es nicht einfach tat oder was ihn noch davon abhielt, konnte er sich nicht erklären. „Ich glaube, ich erlebe gerade ein wirklich besonderes Ereignis.“, begann Rye nachdenklich, wohlwissend, sein Versprechen gebrochen zu haben. Doch er musste sich mit Worten ablenken, bevor das hier ein böses Ende nehmen würde, weil er noch tiefer in seine Fantasien versank. „Du... auf allen Vieren... in meinem Schlafzimmer...“ Er hoffte, dass Gins bissige Antwort ihn anderweitig erheitern konnte. „Du musst auch echt alles kommentieren, oder?“, fragte der Silberhaarige genervt und richtete sich wieder auf. Rye lächelte schelmisch und zuckte mit den Schultern. „Ist mir nur in den Sinn gekommen.“, erwiderte er mit einer Unschuldsmiene. „Dann behalt‘s für dich.“, konterte Gin. Seine Augen zogen sich düster zusammen. „Kann ich versuchen.“ Diesmal versprach Rye es nicht. Denn die Garantie, dass er es einhielt, gab es nicht. „Während du deine Durchsuchung fortsetzt, werde ich dir einfach weiterhin genüsslich dabei zusehen.“ Den Satz konnte er sich dennoch nicht verkneifen. Gin ließ die Bemerkung mit einem genervten Stöhnen und Augenrollen unkommentiert. Eine halbe Stunde später lehnte sich Gin erbittert und leicht überanstrengt gegen die Holztischkante in der Küche. Jetzt hatte er fast alle Räume durchsucht und sämtliche, kleinen Ecken dieser blöden Wohnung inspiziert. Natürlich vergeblich. Zwar gab es ein paar Auffälligkeiten, die ihm komisch vorkamen, aber die standen nicht zwingend in Verbindung zu Vermouth. Beispielsweise wirkte Ryes Wohnung vom Gesamteindruck her ziemlich unbewohnt. So schlicht, unpersönlich und leblos. Alles war aufgeräumt, jedoch zu aufgeräumt. Er hätte beinah daran gezweifelt, dass dies hier überhaupt Ryes Wohnung war, wenn er nicht dessen Klamotten in den Schlafzimmerschränken gefunden hätte. Selbst die Matratze des Bettes war nicht bezogen. Weiterhin befand sich an vielen Stellen etlicher Staub. Sogar an Gegenständen, die man als normaler Mensch eigentlich täglich benutzte. Gin warf einen Blick auf die Herdplatte vor sich und das daneben befindliche Spülbecken, auf welchen ebenso eine Staubschicht lag. „Hast du schon in der Mikrowelle nachgesehen?“, hörte er plötzlich eine amüsiert klingende Stimme hinter sich. „Es war ja schon zu lange still gewesen...“ Gin warf einen Blick über die Schulter und sah Rye im Türrahmen stehen. Den Kerl erfolgreich zu ignorieren war wirklich eine unmögliche Kunst. Er wollte gar nicht aufzählen, wie oft er sich in der letzten halben Stunde beherrschen und die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht auf die nervigen Anmerkungen des Schwarzhaarigen einzugehen, welcher sich dabei prächtig zu amüsieren schien. „Halt die Klappe.“, murrte Gin und verschränkte die Arme. In seinen Fingern breitete sich ein Kribbeln aus, als er die Messer gegenüber an der Wand entdeckte, welche an einer Magnetleiste befestigt waren. Am liebsten würde er eins davon nehmen, um es in Ryes Richtung zu werfen. Aber er glaubte, dass sein Partner ohnehin ausweichen würde. So, wie er beim Abend des Meetings mit unbeschwerter Leichtigkeit ein Messer gefangen hatte. Seine Reaktionsfähigkeit war unmenschlich schnell. „Vielleicht würde es sich doch lohnen.“, überlegte er. „Du solltest wirklich lernen netter zu mir zu sein. Schließlich bist du derjenige, der sich gerade in der Höhle des Löwen befindet.“, sprach Rye ernst und stand plötzlich fast neben Gin. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie sich der Schwarzhaarige vom Fleck bewegt hatte. Dennoch ließ dieser Satz Gins Alarmglocken läuten. Noch dazu kam ihm Ryes schlagartig veränderte Haltung unheimlich vor. Dessen gute Laune war aufgelöst, als hätte es sie nie gegeben. „Was willst du mir damit sagen?“, fragte Gin vorsichtig in ernster Tonlage. Doch die Reaktion seines Gegenübers jagte ihm einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Als hätte er Gins vorherige Absichten durchschaut, griff Rye nach einem der Messer an der Wand und beobachtete den Silberhaarigen aus den Augenwinkeln. „Nichts… aber mal angenommen ich hätte, wie du vermutest, ihr etwas angetan oder sie sogar umgebracht. Was würde mich davon abhalten dich hier an Ort und Stelle auf die gleiche Weise zu töten?“, erklärte Rye völlig gelassen. Sein Blick war eindringlich. Doch seine Worte nicht zu deuten. Was sollten diese plötzlichen Psychospielchen? Dazu fiel Gin keine passende Antwort ein. Aber anscheinend brauchte er sich auch keine mehr zurechtlegen, da Rye von allein fortfuhr: „Warst du dir dieses Risikos nicht bewusst oder warum wolltest du mich trotzdem besuchen? Oder glaubst du in Wirklichkeit gar nicht, dass ich der Täter bin?“ Die Fragen brachten Gin zum nachdenken. Ja, warum hatte er diese Wohnung überhaupt betreten? Er kannte bereits viele von Ryes Fähigkeiten und war sich darüber im Klaren gewesen, dass sein Partner im Ernstfall kein leichter Gegner wäre. Und gerade in diesem Augenblick, während er den Schwarzhaarigen schweigend musterte, wie dieser mit dem Messer in seiner Hand spielte, zweifelte er sogar an seiner eigenen Überlegenheit. Aber er spürte nicht das kleinste Anzeichen von Angst. Der Gedanke, dass Rye eine Gefahr für ihn sein könnte, war ihm nie gekommen. „Willst du mich jetzt etwa einschüchtern?“, fragte Gin ruhig und zog unbeeindruckt eine Augenbraue nach oben. Rye lächelte breit und trat mit einem Schritt direkt vor ihn. Das Messer befand sich immer noch fest in seiner Hand. „Das ist nicht meine Absicht.“, gab er zu. „Aber letztlich sind wir doch alle Mörder. Auch du und ich.“ „Hast du gut erkannt, Sherlock.“, erwiderte Gin sarkastisch und rollte mit den Augen. Auch um seinem Gegenüber zu verdeutlichen, dass er sich wirklich nicht im geringsten eingeschüchtert fühlte. „Und… wie viele Menschen hast du schon getötet?“, wollte Rye wissen. Es schien ihn tatsächlich zu interessieren. Nur aus welchem Grund verstand Gin nicht. „Mir doch egal. Seh ich aus, als würde ich meine Zeit damit verschwenden meine Opfer zu zählen?“ Es war ihm schon immer gleichgültig gewesen. Denn was hatte es für einen Sinn, sich die Namen und Gesichter der Menschen zu merken, die man tötete? Sie waren tot und man würde ihnen nie wieder begegnen. Da fuhr Gin vor Schreck zusammen, als plötzlich eine Messerspitze neben ihm in den Tisch gerammt wurde und Ryes freie Hand sich auf die andere Seite abstütze. „Sei doch nicht gleich so gereizt. Das war eine ganz normale Frage.“, meinte der Schwarzhaarige beleidigt. Dessen kalter Atem strich über Gins Lippen, während sein eigener stockte. Ihre Nasenspitzen trennten nur noch wenige Zentimeter. So nah war er Rye noch nie gewesen. Er spürte, wie die smaragdgrünen Augen ihn mit ihrem kalten Blick durchbohrten. Doch er konnte sich nicht abwenden. Diese Augen hielten ihn im Bann. Sein rational denkender Teil befahl ihm sich aus der Schlinge zu befreien und Rye von sich wegzustoßen. Jedoch ein anderer, unbekannter Teil hinderte ihn daran und ließ seinen Körper erstarren. Es war wirklich ein undefinierbares Gefühl. Wenn er nicht bald antwortete, würden sie womöglich noch ewig in dieser Position verharren. Denn Rye machte keinerlei Anstalten, sich vorzeitig von ihm abzuwenden. Also zwang sich Gin doch eine Antwort über die Lippen: „Wie soll ich bei dem ganzen Durcheinander nicht gereizt sein? Allein die bevorstehende Suche nach Vermouth ist Grund genug dazu...“ Obwohl er seinen Kopf leicht drehte, um dem Blick des Schwarzhaarigen zu entkommen, hörte sich seine Stimme beschämter als gewollt an. Im Augenwinkel konnte er sehen, wie Ryes Lippen ein Lächeln umspielte. Er spürte ein leichtes Zupfen in seinen Haaren und registrierte, dass sich Rye eine seiner silbernen Strähnen gegriffen hatte und diese nun spielerisch um den Zeigefinger wickelte. „Dann lass mich dir helfen. Zu zweit geht die Suche bestimmt schneller voran.“, schlug Rye vor. Unmittelbar danach schüttelte Gin den Kopf. „Du wärst mir ganz sicher keine Hilfe.“ Er schlug Ryes Hand abweisend von seinen Haaren weg, doch im selben Moment wurde nach seinem Handgelenk gegriffen. „Ich kann mich bemühen.“, versuchte Rye ihn zu überzeugen, was er ihm keinesfalls abkaufte. „Erst machst du dich über mich lustig, dann versuchst du mich umzubringen.“ Gin deutete auf das Messer, welches nach wie vor im Tisch steckte. „Und jetzt willst du mir plötzlich helfen? Vergiss es.“ Kurz darauf entwich dem Schwarzhaarigen ein leises Lachen. Gin runzelte die Stirn. Er wurde aus dem Kerl einfach nicht schlau. „Noch dazu werd‘ ich von deinen Stimmungsschwankungen auf Dauer wahnsinnig.“, sprach er seinen Gedanken laut aus. Da verstummte Rye plötzlich, bevor er endlich Gins Handgelenk losließ und ihn mit großen Augen anstarrte. „Ist es so schlimm?“, hakte er verunsichert nach. „Merkst du das nicht?“, erwiderte Gin genervt. Schließlich ging er davon aus, dass sich Rye mit Absicht so verhielt. Um ihn gezielt aus der Fassung zu bringen. Und so schwer es war, das zuzugeben: bisher war das noch keinem so oft und so erfolgreich gelungen. Doch dass Rye ein gequältes Lächeln aufsetzte, überraschte ihn erneut. „Entschuldige.“, meinte er. Gin glaubte, sich verhört zu haben. „Meint der das ernst?“, fragte er sich. Ryes geknickten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, entsprach es der Wahrheit. Aber bei ihm konnte man nie wissen… Weil er nichts dazu sagen wollte - zudem fiel ihm auch nichts Passendes ein - füllte er die Stille mit einem Seufzen. Nach einer Weile begann Rye vorsichtig: „Also darf ich-“ „Nein!“, schnitt Gin ihm jedoch das Wort ab, woraufhin sein Gegenüber einen Schmollmund zog. „Aber als Partner hilft man einander.“, brachte er als Argument hervor, wovon sich Gin nicht überzeugen ließ. Das merkte auch Rye und sprach deshalb weiter: „Und überleg‘ doch mal: Solange wir Partner sind, muss ich auf Befehl des Bosses unter deiner Beobachtung bleiben. Das hast du selbst gesagt. Wenn du allein nach Vermouth suchst, wirst du schlecht beides tun können.“ Immer noch schwieg Gin. Es fiel ihm schwer, sich einzugestehen, dass Rye nicht falsch lag. Aber dessen Erklärung würde noch lange nicht ausreichen, um seine Meinung zu ändern. „Was würde der Boss wohl sagen, wenn ich irgendwas Dummes anstelle, ohne dass du es vorher verhindern konntest, weil du deinen Befehl missachtet hast...“, säuselte Rye in unschuldiger Tonlage, die allerdings arglistige Hintergedanken verbarg. „Du wirst aber nichts Dummes anstellen.“, stellte Gin mit einem drohenden Klang in der Stimme klar und sah den Schwarzhaarigen böse an. „Oh doch das werde ich.“, offenbarte dieser und gab Gin mit einem hinterhältigen Grinsen zu verstehen, dass seine Aussage ernst gemeint war. Es sei denn, er ging seiner Bitte nach... „Soll das eine Erpressung sein?“, fragte der Silberhaarige streng. Es war ohnehin zwecklos. Rye würde auf keinen Fall nachgeben. Und Gin wollte das Risiko nicht in Kauf nehmen. Am Ende bekam er vielleicht wirklich noch Ärger, den er überhaupt nicht gebrauchen konnte. Seine Nerven lagen bereits blank genug. „Vielleicht.“ Rye presste die Lippen zusammen, um nicht Lachen zu müssen. Nach einem weiteren Seufzen gab sich Gin letztlich geschlagen und meinte: „Okay, meinetwegen. Dann hilf mir eben. Solange du dann aufhörst mir den letzten Nerv zu rauben.“ „Du wirst es nicht bereuen, versprochen.“, beteuerte Rye und legte seine Hände auf Gins Schultern. Sein darauffolgendes Lächeln war triumphierend. „Das tu ich bereits.“, klagte Gin gedanklich, bevor er die bleichen Hände von seinen Schultern wegnahm. Entsprechend der Farbe fühlten diese sich sehr kalt, aber auch glatt an. Irgendwie war Gin aufgefallen, dass Rye schon die ganze Zeit, wenn auch auf eine exzentrische Weise, körperliche Nähe zu ihm suchte. Hoffentlich war das nur Einbildung. „Das glaub ich dir erst, wenn ich es sehe.“, spottete er, um Ryes fragwürdiges Versprechen nicht unerwidert zu lassen. Er hatte das Gefühl, dass schwere Zeiten auf ihn zukamen. Seine Arbeit war jetzt schon anstrengender, als er sie bisher je erlebt hatte. Kapitel 11: Theorien -------------------- Schweigend beobachtete Gin wie die Regentropfen leise auf die Frontscheibe seines Porsche prasselten. Er seufzte, schloss die Augen und legte seinen Kopf auf dem Lenkrad ab. Rye war schon seit einer gefühlten Ewigkeit weg, um eine von Vermouths engeren Bekanntschaften zu befragen. Immerhin hatte Ryes Hilfe auch ein paar Vorteile: Er konnte sich ab und zu eine Pause genehmigen und musste nicht jede Person alleine überprüfen. Denn die Pausen benötigte er dringend, wie er im Laufe des Tages feststellen musste. Auch wenn er meist versuchte, es zu verbergen, hatte er immer noch mit den Nachwirkungen der Explosion von jenem Samstagabend zu kämpfen. Sein Körper erreichte schneller sein Limit als gewöhnlich und er fühlte sich folglich schlapp und müde. Sie waren schon seit frühmorgens unterwegs und inzwischen ging fast die Sonne unter. Das Schlimme aber daran war, dass bisher alle Befragungen erfolglos geblieben waren. Niemand wusste etwas über Vermouths Verschwinden, geschweige wo sie sich momentan aufhielt. Nicht mal die Manager ihrer Lieblingshotels hierzulande konnten ihnen darüber eine Auskunft geben. In Amerika, wohin Vermouth des Öfteren mal verreiste, war es ebenso vergebens. Das berichteten ihm zumindest die Mitglieder per SMS, die er mit der Erkundung beauftragt hatte. Allmählich glaubte Gin wirklich, dass Vermouth längst nicht mehr am Leben und sie womöglich dem Täter dieser mysteriösen Mordserie zum Opfer gefallen war. Unwahrscheinlich wäre das jedenfalls nicht, da es bereits zwei andere Mitglieder erwischt hatte. Oder es gab auch die Möglichkeit, dass Rye ihn anlog, was er sogar für schlüssiger hielt. Nur das Motiv fehlte. Eigentlich wurde Rye vom ersten Tag an immer von Vermouth bevorzugt und übertrieben nett von ihr behandelt, weshalb der Schwarzhaarige keinen Grund gehabt hätte, ihr etwas anzutun. „Aber nicht jeder Täter benötigt ein Motiv.“, dachte Gin, was ihn wieder zu der Mordserie zurückführte. Es gab sehr wohl Menschen, die wahllos mordeten oder nicht aus eigenen Motiven handelten. Er selbst tötete Menschen immerhin auch überwiegend für eine andere Person. Seinen Boss. Plötzlich öffnete sich die Beifahrertür und ohne aufsehen zu müssen, wusste Gin, dass sich ein durchnässter Rye neben ihn setzte. Kurz darauf spürte er, wie ihm etwas Warmes an die Wange gehalten wurde. Als er die Augen öffnete und den Kopf hob, erblickte er einen braunen Kaffeebecher. „Hier. Du siehst ziemlich erschöpft aus.“, meinte Rye in einem freundlichen Ton. Hatte er deshalb so lange gebraucht? Aber wieso? Solche netten Gesten war Gin nicht gewohnt und daher suchte er nach einem Hintergedanken, den Rye damit verfolgt haben könnte. Der Kerl tat bestimmt nichts aus reiner Freundlichkeit. Und wenn es nur dazu diente, sich einzuschmeicheln. „Danke.“, sagte Gin tonlos und nahm das warme Getränk entgegen. „Ich hoffe, du magst schwarzen Kaffee?“, hakte Rye unsicher nach, was der Silberhaarige mit einem schlichten Nicken beantwortete. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, begann sein Partner spottend: „Die Explosion hat wohl immer noch ihre Spuren hinterlassen, was?“ Mit verengten Augen funkelte Gin ihn böse an und ließ den Kommentar vorerst unerwidert. Jedoch fiel ihm zeitgleich ein, welche gewisse Frage er Rye noch nicht gestellt hatte und dass sich nun die perfekte Gelegenheit dafür bot. „Und was ist mit dir?“, erkundigte er sich. Doch Rye tat so, als wüsste er nicht, wovon die Rede sei und starrte ihn verwirrt an. „Du warst nicht auf der Krankenstation. Und obwohl du genau so weit von der Explosion entfernt gewesen warst wie ich, scheint es dir ja blendend zu gehen.“, erklärte Gin gereizt, obwohl er sich sicher war, dass Rye bereits wusste, was er meinte. Dessen Antwort ließ ihn allerdings baff werden. „Nein, war ich nicht. Du irrst dich.“ Das sagte er mit einer Selbstverständlichkeit, als entspräche es der Wahrheit. „Will der mich für dumm verkaufen?“, dachte Gin ungläubig. Er hatte alles noch ganz genau in Erinnerung. Rye war zweifellos vor ihm gewesen. Und dass die Explosion ihn nicht verfehlt hatte, war an seinen kaputten, teils angekokelten Klamotten zu erkennen gewesen. „Natürlich. Ich hab dich gesehen.“, beharrte Gin, woraufhin Rye den Kopf schräg legte und eine Augenbraue nach oben zog. „Gin.“, begann er mit fester Stimme. „Du wurdest von der Druckwelle stark erwischt. Als ich dich reglos und verletzt am Boden vorgefunden habe, hattest du kaum alle deine Sinne beisammen. Du bringst da anscheinend etwas durcheinander.“ Jedes Wort sprach er langsam und deutlich aus. Als redete er mit einem geistig Verwirrten, wodurch sich Gin gedemütigt fühlte. Er hatte mit allen möglichen Antworten von Rye gerechnet, aber nicht, dass dieser anfangen würde die Tatsachen zu verdrehen und alles abzustreiten. „Vor der Explosion hatte ich definitiv noch alle meine Sinne beisammen. Und nur weil ich mich nicht bewegen konnte, heißt das nicht, dass ich nichts von meiner Umgebung mitbekommen habe.“ Gin ließ sich nicht beirren. Aber der Schwarzhaarige schien seine Meinung nicht ändern zu wollen. „Du widersprichst dir.“, behauptete er. „Was?“ Der Zorn stieg immer weiter in Gin auf. „Eben sagtest du, ich müsste ebenso auf der Krankenstation gewesen sein, wenn mich die Explosion erwischt hätte. Es sollte mir also genauso wie dir ergehen. Tut es aber nicht. Mir geht es gut. Allein das beweist doch, dass du dich irren musst.“, erklärte Rye. Gin biss die Zähne zusammen und zerdrückte beinahe den Kaffeebecher in seiner Hand. Würde er diesen nicht halten, hätte er Rye längst eine reingehauen. Der Kerl legte sich einfach alles so zurecht, wie es ihm gerade in den Kragen passte. Und damit war er anscheinend noch nicht fertig. „Was willst du eigentlich? Was willst du denn hören?“ Seine plötzliche Gereiztheit brachte Gin zum Zögern. Genau da lag das Problem. Er wusste nicht, was er von ihm hören wollte oder welche Antwort ihn zufriedenstellen würde. Er konnte sich nicht mal erklären, aus welchem Grund er es wissen wollte. Vielleicht weil es ihn ärgerte, dass es Rye nicht auch so schlecht wie ihm ging. „Die Wahrheit.“, erwiderte er schließlich trocken. Rye entwich ein Seufzen. „Das ist die Wahrheit. Akzeptier‘ sie oder lass es bleiben. Mir egal.“, fauchte er und drehte sich genervt von dem Silberhaarigen weg. Dieser trank den Rest seines Kaffees in einem Zug leer, um danach endlich den Becher in der Hand zerdrücken zu können. Besser er ließ das Thema an der Stelle ruhen. Bei einer weiteren Diskussion würde er ohnehin nichts erreichen können. Er startete den Motor, mit dem Vorhaben, Rye zurück zu seiner Wohnung zu fahren. Zwar hätte er ihn sofort rausschmeißen können, aber da gab es noch eine Sache, die ihn interessierte. Damit musste er jedoch mindestens ein paar Minuten warten, bis sich Rye wieder einigermaßen beruhigt hatte. Heute würden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit eh zu keinen Erkenntnissen mehr gelangen. Zudem hatten die bisher erfolglosen Befragungen Gin den letzten Rest seiner kaum vorhandenen Motivation geraubt. Einige Minuten verstrichen, in denen Gin ab und zu seinen Blick unauffällig zu Rye schweifen ließ, welcher die ganze Zeit auf die Straße hinaus starrte, sodass er seinem Gesicht nichts entnehmen konnte. An der nächsten roten Ampel entschied sich Gin dazu, seine vorerst letzte Frage zu stellen. „Eins noch.“, begann er vorsichtig. Rye sah ihn zum ersten Mal seit der kleinen Auseinandersetzung wieder an. Allerdings mit einer finsteren Miene, die verriet, dass er noch immer gereizt war. „Dieses Tattoo an deinem Hals...“ Gin setzte eine Sprechpause, als er bemerkte, wie sich die Augen seines Partners weiter verengten und dessen Stirnfalten noch tiefer legten. Scheinbar hatte der Silberhaarige einen empfindlichen Punkt getroffen. „...was hat das zu bedeuten?“, vervollständigte er schließlich seine Frage. Rye senkte nachdenklich den Kopf, bevor er eine Hand um seinen Hals krallte, um die Ziffern auf seiner Haut zu verdecken. „Es gehört sich nicht, jemandem mit Gedächtnisverlust Fragen über seine Vergangenheit zu stellen.“, wich er aus. „Ich dachte, du wüsstest es vielleicht trotzdem. Und wenn nicht, würde ich gern deine Theorien hören… falls du welche hast.“, entgegnete Gin. Es war echt ungewohnt, sein Interesse so offen zu zeigen. Immerhin hatte ihn bisher kein einziger Mensch in seinem Leben interessiert. Aber Rye war nun mal kein normaler Mensch. So jemandem wie ihm war er noch nie begegnet. Ob er das nun als Fluch oder Segen betrachten sollte, war eine andere Sache. Eigentlich konnte er ihn nicht ausstehen und seine Art war oft unerträglich nervig. Aber da gab es auch etwas an ihm, was Gin nicht definieren konnte. Etwas, das nahezu einladend wirkte. Wie ein Rätsel, welches danach schrie, gelöst zu werden. Von ihm. Rye schwieg nach wie vor. Entweder hatte er sich über dieses Tattoo noch nie Gedanken gemacht oder er wollte einfach nicht darüber sprechen. Die Ampel wechselte auf grün. Gin stellte seinen Fuß wieder auf das Gaspedal, legte den Gang ein und fuhr weiter. Gerade, als er die Hoffnung fast aufgegeben hatte, antwortete sein Partner schließlich doch. „Drei Theorien habe ich.“, verriet er. So viele hatte Gin nicht erwartet. Mit gehobenen Zeigefinger begann Rye: „Erstens: Die Zahlen stehen für etwas, was ich nicht kenne und dienen vielleicht meiner Identifizierung.“ Er hob noch einen zweiten Finger und fuhr fort: „Zweitens: Es könnte auch das Gegenteil sein. Anstelle von einen echten Namen besitze ich nur diese Nummer, die den Zweck erfüllen soll, mich zu entpersönlichen.“ Abschließend spreizte er einen dritten Finger und beendete seine Aussage: „Und drittens: Die Zahlen haben überhaupt keine Bedeutung. Es kann sich um eine Nummer wie jede andere handeln, von denen es aber unendlich viele gibt. Mit anderen Worten: Es gibt möglicherweise noch viele, andere… wie mich.“ „Wie dich?“, hakte Gin nach, welcher ein paar Sekunden brauchte, um das Gesagte von Rye auf sich wirken zu lassen. Er wusste nicht, wie er die dritte Theorie deuten sollte. „Meint er damit andere Mitglieder, die aus Eclipse geflohen sind?“, kam ihm in den Sinn. „Und all diese Mitglieder haben solche Nummern am Hals tätowiert?“ Die Wahrscheinlichkeit, dass er das jemals herausfinden würde, war sehr gering. Zudem war er sich nicht sicher, ob er wirklich noch anderen Mitgliedern dieser seltsamen Organisation begegnen wollte. Wenn die auch so wären wie Rye konnte er darauf gern verzichten. Gin bemerkte im Augenwinkel wie dieser mit den Schultern zuckte. „Interpretier‘ in diesen Unsinn aber nicht so viel herein. Eigentlich weiß ich es doch gar nicht. Und mir ist es auch egal.“, meinte er dann kühl, was Gin gleich zweimal überraschte. Zum einen, weil der Schwarzhaarige seine eigenen Aussagen als Unsinn abstempelte und zum anderen… „Ist es ihm wirklich egal?“ „Wieso?“, wollte er umgehend wissen. „Sagen wir… ich kann mich selbst nicht sonderlich gut leiden, weshalb ich auch nichts über mich und meine Vergangenheit wissen will. So einfach ist das.“, erklärte Rye mit einem Lächeln auf den Lippen, welches Gin noch mehr irritierte. Es passte nicht zu seinen abfälligen Worten, die obendrein ihm selbst galten. Doch bevor Gin etwas darauf erwidern konnte, kam sein Partner ihm zuvor: „Würdest du mich da vorn bitte rauslassen? Ich hab noch ein paar Dinge zu erledigen.“ Er wies auf eine Parklücke kurz vor der nächsten Abzweigung. Auch wenn sich der Silberhaarige fragte, was das wohl für Dinge waren, hakte er diesmal nicht weiter nach. Das waren definitiv genug Fragen für heute gewesen. Allerdings hatten ihn die Antworten wie erwartet nicht sonderlich zufrieden gestellt und schlauer war er dadurch auch nicht geworden. Eher im Gegenteil: Jetzt schwirrten ihm noch mehr offene Fragen als vorher im Kopf herum. Schweigend ging er Ryes Bitte nach und parkte in der Lücke, auf welche sein Partner gezeigt hatte. „Danke.“, sagte dieser anschließend freundlich und löste den Gurt. „Dann bis morgen.“ Gin nickte nur still, ohne den Schwarzhaarigen dabei anzusehen. Plötzlich strichen kalte Finger über seine Wange. Erschrocken weitete er die Augen und starrte in das besorgte Gesicht von Rye, welcher mit sanfter Stimme klarstellte: „Morgen werde ich fahren. Wir wollen ja nicht, dass du noch einen Unfall baust, so schnell erschöpft wie du bist.“ Gin benötigte eine Weile, um zu antworten, da die Finger auf seiner Haut ein kribbelndes Gefühl hinterließen, welches ihn ablenkte. „Du musst nicht-“ „Keine Widerrede. Komm morgen früh 9:00 Uhr hierher. Ich hol dich ab und dann fahren wir zum Kabuzika.“, wurde er von Rye jedoch unterbrochen. „Stimmt, zum Theater haben wir es heute nicht geschafft...“, fiel ihm auf. Vermouth sollte dort demnächst irgendeine wichtige Hauptrolle in einem Stück spielen, wie sie letztens nebenbei erwähnt hatte. Sonst nahm sie ihr Können als Schauspielerin sehr ernst und wenn sie sich wirklich dazu entschieden hätte, kurzfristig zu verschwinden, dann hätte sie zumindest dort abgesagt. Falls nicht, so wäre fast eindeutig bewiesen, dass ihr etwas passiert sein musste. „Bis morgen.“, wiederholte Rye in der gleichen Tonlage wie zuvor und riss Gin aus seinen Überlegungen. Dieser hatte seinen Blick währenddessen keine einzige Sekunde von seinem Gegenüber abgewendet. Nachdem die kalten Finger von Gins Wange geglitten waren, öffnete Rye die Beifahrertür und verließ den Oldtimer. Rye wartete, bis der schwarze Porsche losfuhr und um die nächste Ecke verschwunden war. Er spürte die noch verbliebene Wärme in seiner Hand, mit welcher er Gins Wange berührt hatte. Da seine eigenen Hände so kalt waren, hatte sich die Haut des Silberhaarigen hingegen wie eine brennende Hitze angefühlt. Hitze, von der er mehr wollte. Obwohl Rye wusste, dass die Suche nach Vermouth vollkommen sinnlos war, hatte er das bewusst so eingefädelt, um möglichst viel Zeit gemeinsam mit Gin verbringen zu können. Er genoss jede Sekunde seiner Nähe. Allein Gins süßlicher Duft war beinahe süchtig machend, sodass es Rye schwerfiel, für einen längeren Zeitraum ruhig neben ihm zu sitzen. Deswegen musste er auch gerade aussteigen. Es ging einfach nicht mehr. Von frühmorgens bis zum späten Nachmittag war wirklich eine Herausforderung. Die Folgen davon bekam er längst zu spüren. Wegen der Mühe, die er aufbringen musste, sich unter Kontrolle zu halten, war er jetzt viel durstiger als normalerweise am Ende des Tages. Abgesehen davon verwunderte Rye die plötzliche Neugier von Gin, welche er zunehmend als störend empfand. Er hatte keine Lust, sich ständig neue Lügen und Ausreden auszudenken, wieso es ihm nach der Explosion noch so gut ging. Für Vermouth war das auch nicht weiter von Belang gewesen. Nur Gin war eben viel aufmerksamer und noch problematischer: Er ließ sich nicht lange zum Narren halten und durchschaute Lügen sofort. Rye würde es also niemals schaffen, ihn von etwas Anderem zu überzeugen. Er konnte bloß hoffen, dass das Thema für seinen Partner erledigt war und sie nie wieder darauf zurückkommen würden. Kapitel 12: Gefallener Engel ---------------------------- Stutzig starrte Gin auf sein Handy-Display. Es war jetzt 9:00 Uhr. Frühmorgens. Und er stand wie ausgemacht an der Stelle, wo sich Rye gestern von ihm verabschiedet hatte. Der Weg hierher war zu Fuß von seiner Wohnung aus nicht sonderlich weit gewesen. Obwohl er sich nicht sicher war, wie genau der Schwarzhaarige das gemeint hatte, dass er heute fahren würde. Gin bezweifelte, dass Rye ein eigenes Auto besaß. Zumindest hatte er dieses noch nie gesehen. „Kann er auch vergessen, dass ich ihn meinen Porsche fahren lasse.“ Solange er nicht davon überzeugt war, dass Ryes Fahrkünste dafür gut genug waren, würde er das niemals zulassen. Dieser Oldtimer war fast sein ganzer Stolz. Aus dem Grund hatte er ihn auch lieber in der Tiefgarage der Organisation stehen lassen. „Aber hat der Kerl sich gestern ernsthaft Sorgen gemacht?“ Irgendwie konnte Gin das nicht glauben, da ihm kein nachvollziehbarer Grund dafür einfiel. Seufzend lehnte er sich gegen einen Baum hinter ihm. Er hob den Kopf und sah, wie einzelne Sonnenstrahlen durch die dichte Baumkrone schienen und ihn blendeten. Den Lärm des Verkehrs versuchte er auszublenden, indem er die Augen schloss und sich auf das Rauschen der Blätter konzentrierte. „Wo bleibt der denn...“, dachte er genervt. Auch wenn es sich bisher nur um ein paar Minuten handelte, konnte er Unpünktlichkeit trotzdem überhaupt nicht ausstehen. Er fühlte sich immer total lächerlich, wenn er auf eine Person warten musste. Endlich registrierte er, wie ein Auto neben ihm zu parken schien und kurz darauf jemand ausstieg. Der Motor lief noch. „Verzeih. Wartest du schon lange?“ Als Gin Ryes ruhige Stimme hörte, öffnete er die Augen. Jedoch schoss sein Blick sofort zu dem schwarzen Chevrolet Silverado, der hinter seinem Partner stand. „Wo hast du den denn so plötzlich her?“, fragte der Silberhaarige erstaunt, während er mit langsamen Schritten auf den Wagen zuging, um ihn genauer betrachten zu können. Am Kotflügel befand sich eine leichte Eindellung und an der Seite des Autos waren einige langgezogene Kratzspuren. „Schick, nicht wahr? Hab ich gestern Abend noch gekauft.“, offenbarte Rye stolz, was Gin allerdings einen Schauer über den Rücken jagte. „Vielleicht ist es ein Gebrauchtwagen...“, versuchte er eine Begründung zu finden, um sich davon zu überzeugen, dass die Delle und die Kratzer am Lack nicht von Rye verursacht worden waren. „Die waren bestimmt schon vorher da…“ „Und für ein Neumodell war er wirklich billig.“, fügte sein Partner in gleicher Tonlage hinzu, woraufhin Gin ein weiterer Schauer durchfuhr. „Und wieso hast du es gekauft? Ich bezweifle, dass du richtig fahren kannst.“, wollte Gin wissen, zeigte vorwurfsvoll auf die Delle und wandte sich danach Rye zu, welcher ihn nur verwirrt anstarrte. „Ich hab dir doch gestern gesagt, dass ich heute fahren werde. Da musste ich eben auf die Schnelle noch ein Auto besorgen. Und als ich meinen Kontostand überprüft habe, war da zu meinem Glück plötzlich so viel Geld drauf...“, erklärte Rye schlicht, wobei sich in den letzten Satz ein Hauch Verwunderung mischte. „Mit anderen Worten: Du bist sonst noch nie zuvor in deinem Leben Auto gefahren.“, formulierte Gin die Antwort des Schwarzhaarigen um. Dieser setzte ein schiefes Lächeln auf und sagte beschwichtigend: „Doch, natürlich. Es ist nur etwas länger her. Aber verlernt hab ich es nicht, du musst dir also keine Sorgen machen.“ Gin zog misstrauisch eine Augenbraue nach oben. Das klang nicht sonderlich überzeugend, was Rye nach kurzer Zeit selbst zu bemerken schien. Er fuhr deswegen fort: „Gin. Mal ehrlich, wenn ich nicht fahren könnte, wäre ich wohl kaum unversehrt hier angekommen.“ „Naja, nach einer Explosion bist du ja anscheinend auch vollkommen unversehrt. Von daher ist das für mich kein Argument.“, entgegnete Gin unbeeindruckt und zuckte mit den Schultern. So einfach würde er sicher nicht in diese überhebliche Amikarre steigen und schon gar nicht mit Rye als Fahrer. Dessen Gesichtsausdruck hatte sich inzwischen verfinstert, was wiederum bedeutete, dass die Provokation die gewünschte Wirkung erzielt hatte. Der Kerl konnte ruhig merken, dass er wegen des Gesprächs gestern immer noch verärgert war. Aber zu Gins Überraschung: Rye ging nicht darauf ein und meinte stattdessen streng: „Wenn du weiter so diskutierst, verlieren wir bloß kostbare Zeit. Also steig endlich ein.“ Gin runzelte die Stirn und rührte sich nicht von der Stelle. Allein für diesen Befehlston würde er diesen Idioten am liebsten einfach den Rücken zukehren und gehen. „Zwing mich nicht...“, begann Rye nach einer Weile drohend, bevor er wütend die Lippen zusammenpresste. Aus Protest verschränkte Gin die Arme und fragte herausfordernd: „Sonst was?“ Eine Antwort erhielt er jedoch nicht. Rye kam ihm schweigend immer näher und mit jedem Schritt wirkte die Aura, die von ihm ausging, bedrohlicher. Er ließ seine Hand in die Jackentasche wandern, wodurch Gin alarmiert zurückwich, bis er die harte Tür des Chevrolet hinter seinem Rücken spürte und stehenblieb. Gefasst griff Gin unter seinem Mantel nach seiner Beretta, zog diese aber noch nicht. „Ich glaube, ich bin noch nie einem so verdammt sturen Menschen begegnet.“, musste Rye gereizt feststellen und blieb direkt vor Gin stehen. Auch wenn er solche Streitigkeiten mit dem Silberhaarigen allmählich leid war, gefiel ihm der Gedanke diesen ins Auto zu zwingen schon ein wenig. Gerade in diesem Augenblick amüsierte ihn das Verhalten von Gin wieder mal wirklich sehr. So konzentriert und tapfer. Die Hand unter seinem Mantel verborgen, wo er bestimmt eine Schusswaffe fest umklammert hielt. Jede Sekunde bereit dazu, diese auch gegen ihn zu verwenden. „Aber würdest du dich das mitten in der Öffentlichkeit wirklich wagen?“, stellte Rye seinem Partner gedanklich eine Frage und zog nebenbei sein Portmonee aus der Jackentasche. Als er dieses aufklappte, musterte Gin verdutzt den Führerschein in der Innenseite und ließ seine Hand langsam wieder nach unten sinken. Die Spannung in der Luft war gebrochen. „Reicht dir das als Beweis?“, kommentierte Rye seine Geste genervt. Gin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es kam kein Ton heraus. „Tja damit hast du nicht gerechnet, was?“ Mit einem siegessicheren Lächeln steckte Rye das Portmonee zurück in die Jackentasche, während Gin nachdenklich die Stirn runzelte. Vollständig überzeugt war er immer noch nicht. Aber Ryes Geduldsfaden war gerissen. Ohne Vorwarnung packte er Gin an der Schulter und zog ihn von der Autotür weg, sodass er diese problemlos öffnen konnte. Kurz darauf schubste er den Silberhaarigen einfach wortlos auf den Beifahrersitz – dessen Beschwerden ignorierte er dabei - und knallte die Tür zu. „Sag mal hast du sie noch alle?!“, fauchte Gin wütend, sobald sich Rye neben ihn gesetzt und die Fahrertür geschlossen hatte. „Schnall‘ dich an, bevor ich das auch noch für dich übernehme.“, erwiderte er drohend und sah seinen Partner im Augenwinkel scharf an. Er drückte aufs Gas und fuhr los, wobei Gin durch den plötzlichen Ruck gegen die Kopflehne prallte. Angespannt krallten sich seine Hände in den Ledersitz, nachdem er sich hastig den Gurt umgelegt hatte. Rye erhöhte die Geschwindigkeit und spürte dabei wie das Adrenalin seinen Körper erfüllte. So schnell zu fahren löste in ihm einen unerklärlichen Nervenkitzel aus, obwohl er ohne den Chevy in der Lage war noch viel schneller zu sein. Er vergaß völlig, dass er zu Gins Sicherheit eigentlich vorsichtig fahren sollte. Denn mit den Verkehrsregeln war er nicht sonderlich vertraut. Er kannte nur ein paar Schilder und wusste, dass man nicht über eine rote Ampel fahren durfte. Aber das war dann auch schon alles. Und so hübsch er den Chevy von Außen fand: Der komplizierte Mechanismus und die vielen Hebel und Knöpfe im Inneren waren teils sehr verwirrend. Das ein oder andere hatte er sich gestern von Gin abgeguckt, den Rest musste er wohl oder übel noch selbst herausfinden. Nur hoffte er, dass das nicht im falschen Moment geschehen würde. „Stopp!!“, schrie Gin auf einmal aufgebracht neben ihm, woraufhin er vor Schreck reflexartig auf die Bremse trat und der Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Das grausige Geräusch übertönte beinahe das Hupen eines anderen Autos, welches mit hoher Geschwindigkeit vor ihnen vorbeiraste, sodass man nur einen roten Schweif erhaschen konnte. Aufgelöst ließ Rye seinen Blick über die Kreuzung schweifen, bevor er in das wütende Gesicht von Gin sah. „Wenn du vorhast dich in den Tod zu fahren dann lass mich bitte vorher aussteigen.“, meinte er angespannt und schaute wieder geradeaus. Ryes Hände schlossen sich fester um das Lenkrad. Da die Fahrbahn inzwischen leer war, fuhr er weiter. Diesmal behielt er aber ein langsameres Tempo bei. „Wenn das so einfach ginge...“, dachte er und versuchte seine aufkommende, deprimierte Stimmung zu vertreiben, indem er sich genauer auf die Umgebung und den Verkehr konzentrierte. „Tut mir leid. Ich war unachtsam… es wird nicht wieder vorkommen.“, entschuldigte er sich irgendwann beiläufig, um die Stille zu unterbrechen, die ihn zu stören begann. „Gib doch einfach zu, dass du nicht fahren kannst.“, wurde ihm jedoch gereizt entgegen geschleudert. Rye schwieg. Er wollte das nicht zugeben. Besonders nicht vor Gin. Das wäre zu peinlich und dieser würde nur noch mehr auf ihn herabsehen als ohnehin schon. Er hörte ein Seufzen. „Ich weiß, dass du von der Organisation eine neue Identität bekommen hast und Vermouth dir höchstwahrscheinlich die entsprechenden Dokumente dafür gegeben hat. Darunter wohl auch den Führerschein, auf welchem übrigens ‚Dai Moroboshi‘ steht. Ein falscher Name, den du erst nachträglich erhalten haben musst, da du deinen echten nicht kennst.“, erklärte Gin daraufhin tonlos. Also hatte er ihn von Anfang an durchschaut und bisher nur nichts gesagt. Letztlich war es Rye wieder nicht gelungen seinen Partner zu täuschen, dessen strengen Blick er jetzt auf sich spürte. „Hab ich recht?“, hakte Gin nach. Mehr als ein stilles Nicken wollte Rye nicht erwidern. Kurz darauf sah er im Augenwinkel, wie sich ein ironisches Lächeln auf Gins Lippen bildete. „Diese Frau macht mir nichts als Ärger, sogar wenn sie spurlos verschwunden ist.“, bezog er sich abfällig auf Vermouth. Da schlich sich auch ein kurzes Lächeln auf Ryes Lippen, welches ihm aber wieder verging, als der Silberhaarige neugierig fragte: „Wenn du doch weißt, dass du nicht fahren kannst, was wolltest du mir dann damit beweisen?“ „Ich sagte doch bereits einmal, dass ich dir nichts beweisen will.“, erinnerte Rye und verzog seinen Mund zu einem traurigen Lächeln, welches nicht zu ihm passte. Wie hätte Gin diesen selbstgefälligen Satz vergessen können, den Rye zu ihm sagte, bevor er in der Übungshalle seine außergewöhnlichen Schießkünste präsentiert hatte. Mit dem Ziel ihn zu beeindrucken. „Das war nur nett gemeint, weil ich dachte, dass das Fahren dich erschöpft. Nichts weiter.“, ergänzte Rye. Gin verengte die Augen. „Nun, das hier erschöpft mich zwar nicht, bringt mich dafür aber um. Deine schlechte Fahrweise verwickelt uns noch in einen Unfall. Sehr nett.“ „Du bist so undankbar.“, murmelte Rye beleidigt, doch da er sein Gesicht dann zu einer amüsierten Grimasse verzog, schien er es nicht ernst zu meinen. Währenddessen überlegte Gin, was er tun könnte, um nicht länger Ryes gefährlicher Fahrweise schutzlos ausgeliefert zu sein. Da gab es die Möglichkeit anstelle von seinem Partner selbst zu fahren. Jedoch bezweifelte er, dass dieser ihm das erlauben würde. Ein hartnäckiger Protz eben. Dennoch wollte Gin es wenigstens versuchen. „Würde es dir...“ Er sprach nicht weiter. Nein, Rye zu fragen war nicht sonderlich effektiv. Aber wenn er es ihm befehlen würde, konnte er nichts dagegen sagen. „Da vorn hältst du an. Ich kauf mir schnell neue Zigaretten. Und wenn ich zurück bin, tauschen wir die Plätze, verstanden?“ Er wies auf einen Parkplatz gegenüber von einem kleinen Kiosk, der sich auf der anderen Straßenseite befand. Rye warf ihm einen kurzen, verwunderten Blick zu. Aber er akzeptierte den Entschluss wortlos und fuhr auf den Parkplatz. „Soll ich dich begleiten?“, bot der Schwarzhaarige ihm in einer sanften Tonlage an, als er den Motor ausstellte. Gins Stirn legte sich in Falten. „Wofür?“, fragte er abweisend und stieg aus, bevor Rye zu Wort kommen konnte. Nachdem er die Tür zu geknallt hatte, schüttelte er verständnislos den Kopf. „Der soll gefälligst aufhören, mich wie ein hilfloses Häufchen Elend zu behandeln. Als ob ich nichts alleine könnte.“, beschwerte er sich gedanklich und ging mit schnellen Schritten über die Straße zu dem Kiosk. Rye stützte seinen Kopf auf dem Lenkrad ab und beobachtete, wie sich Gin mit zügigen Schritten immer weiter von dem Parkplatz entfernte. Ein Schamgefühl breitete sich in ihm aus. Natürlich musste genau das passieren, was er eigentlich von Anfang an vermeiden wollte. Vielleicht wäre es nicht so ausgegangen, wenn er vorhin nicht so schnell gefahren wäre. Er war es zu gewohnt in solchen lebensgefährlichen Situationen leichtsinnig zu sein, da nichts und niemand ihm Schaden zufügen konnte. Zumindest nicht physisch. Seine Psyche hingegen war er sehr empfindlich und das bekam er in letzter Zeit immer häufiger zu spüren. Es gab kaum ein Gefühl, welches Gin noch nicht in ihm ausgelöst hatte. Ob direkt oder indirekt spielte keine Rolle. Jedoch war das Schlimmste daran, dass er einige dieser Gefühle nicht mal definieren konnte. Und diese Unwissenheit wandelte sich schließlich in Wut um. Wut, die tödlich enden könnte. Für Gin. Als dieser den Kiosk betrat, beschloss Rye auszusteigen. Er wusste nicht, ob es an der warmen Luft im Autoinnenraum oder seinem unwohlen Empfinden lag, aber das bekannte Gefühl zu ersticken wollte nicht verschwinden. Als er sich gegen die Motorhaube lehnte, stellte er bedauernd fest, dass die Luft draußen nicht viel erfrischender war. Der Sommer rückte immer näher. Nur wie viel Zeit bereits seit seiner Flucht aus Eclipse vergangen war, wusste er nicht. Vielleicht ein paar Monate. Es hatte wenige Tage später nochmal geschneit und Tokio war von einer dicken Schneeschicht bedeckt gewesen. Er erinnerte sich daran, dass der Schnee in seiner Hand nie getaut war, als er ihn berührt hatte und sein lebloses Empfinden sich dadurch verstärkt hatte, weil er die Kälte des Schnees an seiner Haut nicht wahrnehmen konnte. Da war nur die Kälte in seinem Inneren gewesen. Und die war bis heute geblieben. So unerträglich. Zehn Minuten später verließ Gin den Kiosk mit einer neuen Schachtel Zigaretten in seiner Jackentasche. Er hatte sich mit Absicht nicht beeilt, um den Kopf etwas frei zu bekommen. In Ryes Nähe zu sein war immer wieder auf eine neue Weise anstrengend. Ein bisschen erinnerte er ihn deswegen an Vermouth. Sie hatte ebenso immer etwas Neues gefunden, womit sie ihm den letzten Nerv rauben konnte. Aber ihre Methoden unterschieden sich von Ryes. Während Vermouth dies aus reiner Spottlust tat, verfolgte Rye stets ein ihm unbekanntes Ziel. Von weitem konnte Gin seinen Partner sehen, wie sich dieser gegen die Motorhaube seines Chevys lehnte. Den Blick dabei ununterbrochen an ihm geheftet. Die smaragdgrünen Augen blinzelten kein einziges Mal. Aber warum? Ryes bleiche Haut schien in dem hellen Sonnenlicht zu leuchten. Seine pechschwarzen Haare wehten in geschmeidigen Bewegungen im Wind. Er lächelte weich. Regte sich nicht. Wirkte beinahe wie ein Engel. Ein gefallener Engel. Erst jetzt realisierte Gin, was für eine unerträgliche Schönheit Rye ausstrahlte. Schönheit, die der kaltblütige Mörder sich nie eingestanden hatte. Nur warum fiel ihm das gerade in diesem Moment auf? Was war anders als sonst? Wie hypnotisiert trat Gin auf die Straße. Wie er überhaupt bis dorthin gelangt war, hatte er nicht wahrgenommen. So sehr war er in seine Gedanken vertieft gewesen. Doch plötzlich stand Rye nicht mehr an seinem Chevrolet. Er war weg. Wohin hatte Gin nicht sehen können. Da kehrte die Realität mit einem Schlag zurück, als er ein hohes, kreischendes Geräusch in unmittelbarer Nähe hörte. Erschrocken wandte er seinen Blick. Zu spät. Er hatte kaum genug Zeit das Bild des LKWs vor seinen Augen zu verarbeiten oder gar zu begreifen, dass er in der nächsten Sekunde sterben würde. Er hielt die Luft an. Dann übermannte ihn die erwartete Welle des Schmerzes. Allerdings aus der falschen Richtung. Er spürte, wie der Halt unter seinen Füßen nachließ und sein Kopf kurz darauf gegen den harten Bordstein knallte. Zeitgleich ertönte ein metallisches Krachen, das seine Ohren betäubte. Er konnte nur erhaschen, wie zwei Hände die Vorderseite des LKWs von ihm weg drückten und dieser anschließend rüttelnd zum Stillstand kam. Der Silberhaarige bemerkte kaum einen Augenblick später ein festes Gewicht auf seinen Körper, welches ihn daran hinderte auch nur einen Muskel zu bewegen. Eine kalte Hand glitt hinter seinen Kopf und hob diesen leicht an. Endlich konnten seine Augen wieder ein scharfes Bild erkennen. Jedoch nur für wenige Sekunden. Er sah Rye direkt vor sich und dachte wieder einmal an eine Halluzination. Das konnte gerade unmöglich passiert sein. Ryes Lippen bewegten sich viel zu schnell. Als würde er auf ihn einreden. Er konzentrierte sich darauf und konnte tatsächlich noch etwas verstehen: „Gin?… Gin!!… Bist du verrückt geworden?!“ Die Konturen von Ryes Gesicht verschwammen langsam vor seinen Augen und das Letzte, was er hörte, war: „Du kannst doch nicht…“ Dann verlor er endgültig das Bewusstsein. Kapitel 13: Beschuldigungen --------------------------- Langsam drehte Gin den Kopf zur Seite, wobei ein weicher Stoff über seine Gesichtshälfte strich und ein dumpfer Schmerz am Hinterkopf ihn endgültig erwachen ließ. Irritiert öffnete er die Augen und stellte fest, dass er in einem Bett lag. Bequem und sorgfältig zugedeckt. „Wie zur Hölle bin ich hierher gekommen?“ Er suchte in seinen wirren Erinnerungen nach einer Antwort auf diese Frage. Da gab es Momentaufnahmen von Rye an seinem Chevrolet, einen Kiosk, einen LKW, der auf ihn zuraste und Rye, welcher… Verdutzt runzelte Gin die Stirn. Ja, was hatte Rye getan, bevor ihm schwarz vor Augen geworden war? Wenn sich Gin das letzte Ereignis genauer durch den Kopf gehen ließ, wurde ihm klar, dass er eigentlich nicht mehr am Leben sein konnte. Der LKW hätte ihn voll erwischen müssen. Ohne jeden Zweifel. Er konnte gar nicht in einem bequemen Bett liegen, in einem Zimmer, das ihm vollkommen fremd war. Oder vielleicht kannte er es doch? Jetzt, wo er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, bemerkte er gewisse Ähnlichkeiten mit einem anderen Zimmer… „Was hast du dir nur dabei gedacht?!“ Erschrocken setzte sich Gin auf und bemerkte, dass Rye mit verschränkten Armen und einem vorwurfsvollen Gesichtsausdruck im Türrahmen stand. Der Silberhaarige fasste sich wegen des wiederkehrenden Schmerzes an den Hinterkopf und versuchte ihn irgendwie auszublenden. „Wie lange steht er schon da?“ Er betrachtete Rye verwundert und vergaß völlig, weshalb dieser ihn gerade wütend angeschrien hatte. „Was hast du...“, begann er einen Satz, von welchem er selbst nicht wusste, wie er ihn beenden sollte. Sein Mund schloss sich wieder. Seine Augen wandten sich jedoch keine Sekunde von seinem Partner ab, dessen Miene unverändert blieb. Aus welchem Grund war er so wütend? „Ich hab dich hierher gebracht. Mein Schlafzimmer solltest du doch noch erkennen, nachdem du es letztens so genau unter die Lupe genommen hast.“, wurde Gin kalt entgegen geschleudert. Bevor er aber etwas erwidern konnte, redete Rye weiter auf ihn ein: „Du kannst doch nicht einfach über die Straße gehen, ohne vorher zu gucken! Das weiß doch jedes Kind!“ Gin blieb still. Also wollte ihm sein Gedächtnis doch keinen Streich spielen und er wäre tatsächlich beinahe von einem LKW überfahren worden. „Stellt sich aber immer noch die Frage, wieso ich nicht tot bin...“, überlegte er. Als er Rye das direkt fragen wollte, kam dieser ihm erneut zuvor: „Du kannst vom Glück reden, dass ich rechtzeitig reagiert habe, sonst wärst du…“ Gin traf es wie ein Blitz. Der Rest des Satzes rauschte an ihm vorbei. Jetzt fiel ihm wieder ein, was genau passiert war oder besser gesagt: warum er noch am Leben war. Rye hatte den LKW aufgehalten… ihn weggedrückt… mit seinen bloßen Händen. „Wie hast du es geschafft, den LKW anzuhalten?“, wollte er umgehend erfahren. Er verstand überhaupt nicht, wie das möglich gewesen sein konnte. Mal davon abgesehen, dass es sich möglicherweise nur um eine Einbildung handelte, da er sich den Kopf vielleicht zu hart angestoßen hatte. Doch er zweifelte nicht an dem, was er mit seinen eigenen Augen gesehen hatte. „Wovon sprichst du?“, wurde er von Rye verwirrt gefragt, jedoch immer noch mit einem wütenden Unterton in der Stimme. Gin zögerte und starrte nach unten auf die Decke. Allein der Gedanke war verrückt. Ausgesprochen würde es noch viel absurder klingen. Zumal etwas in seinem Inneren ihm verriet, dass Rye es auch wirklich für absurd hielt. Sonst wäre er längst darauf eingegangen anstatt nachzufragen. „Ich meine, wieso warst du so schnell bei mir? Du standest an deinem Auto und hättest niemals so schnell sein können.“, formulierte Gin seine Gedanken ein wenig um, damit es nicht ganz so verrückt klang. Aber das schien nichts zu ändern, da Rye ihn nun anstarrte, als hätte er den Verstand verloren. „Ich hab vor dem Kiosk auf dich gewartet und war direkt neben dir, als es passiert ist.“, korrigierte der Schwarzhaarige ihn, woraufhin sich Gin beherrschen musste, ruhig zu bleiben. Schon wieder log dieser Kerl, dass sich die Balken bogen. „Bevor was passiert ist?“, hakte er nach. Bevor er Rye weiter konfrontierte, wollte er lieber gleich dessen veränderte Version des Ereignisses hören. So blieb es ihm erspart, dass Rye ihm die Worte im Mund verdrehte und so tat, als wäre er der Lügner. „Wir wollten zurück zum Parkplatz gehen. Du bist einfach achtlos über die Straße gegangen, wobei dich fast ein Lastwagen angefahren hätte. Ich konnte dich gerade noch rechtzeitig zurückziehen. Jedoch bist du vor Schreck über den Bordstein gestolpert und hast dir den Kopf angeschlagen.“, erzählte Rye tonlos und sah ihn dabei streng an. Am liebsten hätte Gin laut los gelacht. Vor Entsetzen. „Wirklich interessant, wie du dir ohne mit der Wimper zu zucken eine komplett neue Story ausdenkst und mir diese dann als die Wahrheit auftischst.“, dachte er und hätte diesen Gedanken gern laut ausgesprochen. Jetzt war er sich zu 100% sicher, dass Rye mit seinen Behauptungen in Bezug auf die Explosion ebenso gelogen hatte. Zweimal würde sich Gin ganz bestimmt nicht verarschen lassen. Seine Hände krallten sich in den weichen Stoff der Decke. Er konnte seine Wut nicht länger unterdrücken. „Du warst überhaupt nicht neben mir! Du warst drüben auf dem Parkplatz und als der LKW mich fast erwischt hatte bist du wie aus dem Nichts aufgetaucht und hast ihn mit deinen Händen einfach zum Stehen gebracht! Vorher hast du mich weggestoßen und dabei bin ich mit dem Kopf an den Bordstein geknallt!“, sprudelte es unkontrolliert aus ihm heraus und er musste sich im Anschluss vor Schmerzen wieder an den Hinterkopf fassen, da er sich wohl zu hastig bewegt hatte. Während er versuchte wieder zu Atem zu kommen, sah er, wie Rye seufzend den Kopf schüttelte und auf ihn zukam. „Gin… dein Kopf scheint echt heftig was abbekommen zu haben. Du bringst vieles durcheinander.“, meinte er und strich ihm dabei sanft über den Haaransatz. „Soll ich dich zu einem Arzt fahren?“, fragte er in besorgter Tonlage. Aufgebracht schlug Gin die Hand von seinem Kopf weg und wich umgehend auf dem Bett zurück. Er musterte seinen Partner mit finsterer Miene, welcher ihn nun überrascht ansah. „Und wieso hast du das nicht längst getan?“ Gin bemerkte noch einen Haken an Ryes verlogener Story. Ein normaler Mensch hätte sofort am Unfallort einen Krankenwagen gerufen. „Aber stattdessen hat er mich zu sich nach Hause gebracht…“ Er verstand den Sinn dahinter nicht. Schließlich könnte er auch eine Gehirnerschütterung erlitten haben und wäre daher in medizinischer Obhut eigentlich besser aufgehoben. „Ich war mir nicht sicher, weil du mal sagtest, dass du die Krankenstation nicht leiden kannst. Außerdem scheint dir deine Gesundheit ohnehin nicht sonderlich wichtig zu sein wenn du einfach ohne vorher zu gucken über die Hauptstraße läufst.“, brachte Rye als Grund hervor und zuckte anschließend mit den Schultern, bevor er noch bitter hinzufügte: „Soll ich dich nun zum Arzt fahren oder nicht?“ „Nein!“, fauchte Gin. Es kotzte ihn an. Es kotzte ihn an, dass Rye ihn anlog, wie einen Geisteskranken behandelte und ihm obendrein noch für alles was passiert war die alleinige Schuld zuschob. „Dann hör auf dich zu beschweren.“, zischte der Kerl beleidigt und wandte sich ab. „Und du sollst gefälligst aufhören mich anzulügen!“, zischte Gin zurück, bevor seine Verletzung ihm stechende Wellen des Schmerzes durch den Kopf sandte. Rye warf besorgt seinen Blick über die Schulter, als Gin vor Schmerz aufstöhnte und sich mit beiden Händen an den Hinterkopf fasste. Es überraschte ihn, dass er diesmal nicht versuchte die Schmerzen zu verstecken. Rye wusste nicht, ob er es bereuen sollte, Gin nicht ins Krankenhaus gebracht zu haben. Vor Ort hätte es zu viel Aufsehen erregt und er hätte die Sache dann auch nicht mehr vertuschen können. Es war viel leichter gewesen mit Gin - welcher ohnehin bewusstlos war - vom Unfallort zu fliehen. Da sich Rye aus bestimmten Gründen generell von Krankenhäusern fernhielt, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als den Silberhaarigen hierher zu bringen. Die Ausrede, die er Gin dafür erzählen musste, war jedoch lächerlich. Genau wie die abgeänderte Version des Beinaheunfalls. Klar, aus Sicht des normalen Menschenverstandes klang seine Version eindeutig glaubwürdiger und vor allem realistischer. Doch sie entsprach trotzdem nicht der Wahrheit. Es gefiel Rye nicht, Gin anzulügen, aber ihm blieb keine andere Wahl. Was sollte er denn sagen? Das, was er in Wirklichkeit war, musste ein Geheimnis bleiben. Niemand durfte es erfahren. Sich zu verraten wäre fatal und er wusste nicht, wie lange es von da an noch dauern würde, bis Eclipse ihn entdeckte. Zwar hatte diese Mordserie bereits viel Aufmerksamkeit erregt, aber keine Spur führte auf ihn zurück. Noch war er sicher. Hoffte er. Denn er wollte sich gar nicht ausmalen, was Eclipse mit ihm anstellen würde, wenn sie ihn fanden. Sein Magen verkrampfte sich bei dieser Vorstellung. In dieser Hinsicht war sein Gedächtnisverlust auch ein Problem. Er konnte sich nicht an die Leute erinnern, die er in Eclipse vielleicht gekannt hatte. Falls jemand von dieser Organisation ihm tatsächlich einmal über den Weg lief, würde er das mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mal merken. Und auf der Flucht zu sein, ohne zu wissen, vor wem man eigentlich davonlief, war der pure Horror. „Tut mir leid, aber so ist es für uns beide am besten.“, sprach Rye gedanklich zu Gin. Kurz stellte der Schwarzhaarige sich vor, was passieren könnte, wenn Gin die Wahrheit erfuhr oder wie er darauf reagieren würde. Womöglich würde das den Silberhaarigen nur in Schwierigkeiten bringen. Vielleicht musste er ihn dann sogar töten, um nicht selbst in weitere Schwierigkeiten zu geraten. Erneut überkam Rye Übelkeit. Der Gedanke, dass Gin einfach weg - nicht mehr bei ihm - wäre, ließ ihn unerträglichen Schmerz empfinden. Aus dem Grund hatte er ihm vorhin auch das Leben gerettet, ohne vorher über seine Entscheidung nachgedacht zu haben. Wenn er einfach nur tatenlos zugesehen hätte, hätte er sich das niemals verzeihen können. Alles andere konnte er sich nicht erklären. Bedrückt ließ Rye seinen Blick wieder zu Gin wandern, welcher ihn längst nicht mehr ansah und sich die Bettdecke halb über den Kopf gezogen hatte. Ein leichtes Lächeln umspielte Ryes Lippen bei diesem Anblick. Er lauschte Gins gleichmäßigen Atemzügen, die ihn zunehmend beruhigten. „Gin?“, erkundigte er sich nach einer Weile vorsichtig. Falls Gin bereits eingeschlafen war, wollte er ihn nicht wecken. „Was?“, antwortete dieser ihm jedoch mit einer kalten, abweisenden Tonlage. „Tu mir den Gefallen und ruh dich aus. Du kannst gehen, wann immer dir danach ist. Ich werde erst sehr spät zurück sein. Zum Theater fahre ich allein und werde dir per SMS berichten, was bei rausgekommen ist.“, gab Rye mit ruhiger Stimme Bescheid. „Mach doch, was du willst.“ Es war kaum zu überhören, dass sein Partner sauer auf ihn war. Aber so ein undankbares Verhalten wollte er nicht wortlos auf sich sitzen lassen. Zwar log Rye ihn ganz offensichtlich an, weshalb sich Gin vielleicht hintergangen fühlte, aber warum konnte er es nicht einfach akzeptieren? Was war so schwer daran, die abgeänderte Version hinzunehmen? Sie war das Beste für alle und würde keine weiteren Probleme bereiten. „Sicher doch. Und du brauchst dich übrigens nicht bei mir bedanken, ich habe dir gern dein Leben gerettet.“, erwiderte er teils ironisch und verließ nach diesen Worten das Schlafzimmer, begleitet mit einem unsanften Knallen der Tür. Gin ging nicht weiter darauf ein und ignorierte Ryes beleidigten Abgang. „Bei dir ist das eher so was wie eine Strafe wenn du mir das Leben rettest...“, murmelte er genervt und setzte sich wieder auf. Für einen Moment überlegte er. Normalerweise gab es keinen Grund länger hierzubleiben. Schließlich hatte er die Wohnung bereits durchsucht, weshalb es hier nichts mehr gab, was ihn interessierte. Es wirkte ohnehin alles leblos. Das Bett war unter anderem immer noch nicht bezogen worden. Gin fragte sich, ob Rye einfach nur zu faul dafür war oder er auf dem Sofa schlief. Er selbst schlief auch überwiegend abends auf dem Sofa ein und benutzte das Bett kaum. Jedoch glaubte er nicht, dass das bei Rye auch der Fall war. Gin setzte sich an den Bettrand und starrte nachdenklich zur Tür. Vergeblich versuchte er Erklärungen für Ryes seltsames Verhalten zu finden. Es musste einfach eine Erklärung für die ganzen Lügen geben. Aber diese Lügen waren nicht das Einzige, was ihn störten. Denn eines stand mittlerweile für ihn fest: Rye verheimlichte etwas und er versuchte mit allen Mitteln, dieses Geheimnis zu bewahren. Seine unmenschlichen Fähigkeiten hingen mit Sicherheit damit zusammen. Aber woher konnte er diese haben? „Etwa… Eclipse?“ Das war die einzige Information, die er über Rye besaß. Sonst gab es nichts, was man als Anhaltspunkt nehmen könnte. Doch war Eclipse wirklich die Antwort auf alle Fragen? „Das ist langsam echt albern...“, wurde Gin letztlich bewusst. Er verstand nicht, wieso er sich plötzlich so auf Rye fixierte. Als wäre sein Leben eine große Bühne und alle Scheinwerfer waren auf Rye gerichtet. Dabei hatte er wirklich Wichtigeres zu tun als sich über diesen arroganten Mistkerl Gedanken zu machen. Da gab es immerhin noch die Mordserie und Vermouths Verschwinden. Mal außer Acht gelassen, dass sich sein Gefühl verstärkte, dass beides zusammenhing. Langsam erhob sich Gin vom Bett und schnappte sich seine Jacke, welche sorgfältig auf einen der blau-lila farbigen Sessel vor dem Fenster gelegt worden war. Er überprüfte alle Taschen und stellte erleichtert fest, dass nichts fehlte. Anschließend verließ er das Schlafzimmer. Während er durch den abgedunkelten Flur ging, zog er sich seine Jacke über. Als er sie jedoch zuknöpfen wollte, blieb er verdutzt vor einer bräunlichen Kommode stehen und starrte auf die leere, schwarze Tapete dahinter. „Hing hier letztens nicht noch ein Spiegel oder hab ich das falsch in Erinnerung?“, fragte er sich und fuhr mit zwei Fingern über die glatte Oberfläche der Tapete. Doch da fühlte er an einem Punkt ein kleines Loch in der Wand, worin vorher ein Nagel gesteckt haben musste. Der Beweis dafür, dass dort wirklich ein Wandspiegel gehangen hatte. Gin senkte den Blick auf die Kommode, als er glaubte, darauf etwas aufblitzen zu sehen. Bei genauerer Betrachtung stellte er fest, dass es sich um einen kleinen Glassplitter handelte. Vielleicht war der Spiegel heruntergefallen und kaputt gegangen. Aber irgendwie bezweifelte Gin das. „Sagen wir... ich kann mich selbst nicht sonderlich gut leiden...“, hallten Ryes Worte in seinem Kopf wider und plötzlich sah er den Schwarzhaarigen vor sich, wie er völlig von Selbsthass übernommen den Spiegel in tausend Teile zerschlug und die Scherben klirrend zu Boden fielen. Gin blinzelte hastig, um die Szene aus seinem Kopf zu vertreiben. „Allmählich mache ich mich wirklich verrückt.“, dachte er augenrollend und verließ Ryes Wohnung, um zurück zu seiner eigenen zu laufen. Kapitel 14: Recherchen ---------------------- 2 Tage später „Also kann ich heute wieder nicht mit dir rechnen?“, fragte Rye am anderen Ende der Leitung. In seiner Stimme lag Enttäuschung. Eigentlich wollte Gin ihm nur eine SMS hinterlassen, doch bevor er das tun konnte, hatte Rye ihn schon angerufen. „Nein, mir geht es noch nicht wieder gut. Nachts hab ich kein Auge zu bekommen vor Kopfschmerzen.“, teilte Gin seinem Partner mit gespieltem Bedauern mit. „Warum erzähle ich dem das eigentlich...“, verfluchte er sich anschließend gedanklich. Das klang als sei er eine überempfindliche Mimose. Dabei brauchte er einfach eine Auszeit von dieser ermüdenden Suche nach Vermouth, die ohnehin nichts bewirkte. Und vor allem benötigte er eine Auszeit von Ryes Anwesenheit, was seinen Nerven die letzten zwei Tage gut bekommen war. Sollte der Kerl doch allein nach der blöden Tussi suchen. Dann konnte er wieder den Helden spielen wenn er sie fand und sich von ihr in den Himmel heben lassen. „Verstehe. Dann ruh dich weiter aus. Falls es nicht besser wird solltest du vielleicht lieber zum Arzt gehen.“, riet der Schwarzhaarige ihm. Gin biss sich auf die Unterlippe. Manchmal klang Ryes Stimme so lieb und fürsorglich, da glaubte man kaum, dass er so wütend werden konnte wie vorgestern. Die ganzen Vorwürfe von ihm geisterten Gin teils immer noch im Kopf herum. Und jedes Mal regte er sich erneut darüber auf, dass es nicht gerecht war, wie Rye ihn für alles beschuldigt hatte. Nur um von sich selbst abzulenken. „Danke, ich verzichte auf das Letztere. Viel Erfolg dir bei der Suche.“, wünschte er seinem Partner missbilligend. Erfolg war da bei weitem nicht in Sicht. Womöglich mussten sie sowieso bald aufgeben. „Und dir gute Besserung.“, erwiderte Rye, seinerseits jedoch aufrichtig gemeint. Gin schwieg für ein paar Sekunden und lauschte dem leisen Rauschen in der Leitung. Er überlegte, ob er sich bedanken sollte oder nicht. Zeitgleich wartete er, ob Rye vielleicht noch etwas hinzufügen würde, was aber nicht geschah. Letztlich entschied sich Gin dazu einfach aufzulegen. Peinlich berührt packte er sein Smartphone zurück auf den Tisch und ließ sich seitlich auf das Sofa fallen. Das gefiel seinem Kopf wiederum gar nicht, weshalb er sich mit Schmerzen beschwerte. Seufzend schloss Gin die Augen und versuchte sie zu ignorieren. Gin bemerkte nicht, wie er nach einer Weile einschlief. Auch bemerkte er nicht, dass er anfing zu träumen. Denn Ryes schönes Antlitz wirkte so täuschend echt. Dessen pechschwarze Strähnen fielen ihm über die Schulter, als er sich über Gin beugte. Wieder verdüsterten sich Ryes Gesichtszüge vor Wut. Wieder schrie er ihn an. Aber Gin hörte kein einziges Wort. Trotzdem lächelte er und hob seine Hand, um Rye zu beruhigen. Doch als seine Finger dessen Wange berührten, löste sich seine Gestalt in Rauch auf und verschwand in alles verschlingender Finsternis. Gin drehte erschrocken den Kopf in alle Richtungen, in der Hoffnung, Rye wieder zu erblicken. Aber um ihm herum war nichts. Nichts außer unendlicher Schwärze. Als Gin die Augen wieder aufschlug, fühlte er sich immer noch von Leere umgeben. Das war das erste Mal, dass er von Rye geträumt hatte. Und er konnte sich die Bedeutung hinter diesem Traum nicht erklären, geschweige denn verstehen, warum das melancholische Gefühl in seinem Inneren nicht verschwinden wollte. Es blieb den ganzen Tag über. Nach diesem Traum war es ihm nicht mehr gelungen wieder einzuschlafen. Er wälzte sich aufgewühlt auf dem Sofa von der einen Seite zur anderen und dachte über die verschiedensten Dinge nach. Die Zeit verging viel zu langsam und die Langeweile fing an ihn zu quälen. Irgendwann nervte ihn seine eigene Unruhe so sehr, dass er aufstand. Seine Wohnung verließ er aber nicht. Schließlich ertappte er sich dabei, wie er einen Blick auf sein Smartphone warf, um zu überprüfen, ob sich Rye vielleicht gemeldet hatte. Aber dem war nie so. „Hör auf ständig an ihn zu denken...“, ermahnte sich der Silberhaarige im leisen Tonfall selbst und fuhr mit der Hand über seine Stirn. Er glaubte, dass die Gedanken über Rye nie ein Ende nehmen würden, wenn er nicht endlich etwas über diesen Kerl in Erfahrung brachte. Um seinen Drang nach Informationen zu befriedigen, schnappte er sich seinen Laptop vom Schreibtisch und nahm ihn mit zum Sofa. Er stellte den Laptop auf den Tisch davor, fuhr ihn hoch und öffnete direkt den Internet-Browser. In der Suchleiste tippte er nur ein einziges Wort ein: Eclipse Die Suchergebnisse auf der ersten Seite waren frustrierend. Alles Mögliche wurde ihm angezeigt. Von irgendwelchen Softwares und Musikstücken bis hin zu x-beliebigen Filmen, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Eclipse kam aus dem Englischen und stand für Finsternis. Nichts davon entsprach seinen Erwartungen, weshalb er versuchte die Suchergebnisse einzugrenzen indem er ‚organization‘ in der Suchleiste hinzufügte. Daraufhin sahen die Ergebnisse vielversprechender aus. Es schien tatsächlich so was wie eine Organisation namens Eclipse zu geben und diese schien auch weitgehend im Netz bekannt zu sein. Gin stieß auf einige Foren, in welchen über die mysteriöse Gruppe diskutiert wurde. Jedoch befand er sich auf der betreffenden Seite längst nicht mehr im Surface Web. Manche hielten Eclipse für eine Terrororganisation, andere wiederum behaupteten es handelte sich um eine Sekte, die Versuche an Menschen durchführen würde und dass ihre genauen Ziele unergründlich wären. Dann gab es noch Trolle, die von sich selbst behaupteten Teil dieser Gruppe zu sein und Angst und Schrecken verbreiteten. Und eine Person schrieb, dass die Existenz von Eclipse nicht einmal bewiesen sei und sich irgendwelche Spinner diesen Mythos ausgedacht hätten. Gin stolperte über Begriffe wie Anomaly breed oder Kyonshī-Island. Letzteres war anscheinend eine Insel, von welcher Gin aber keinen Standort ermitteln konnte. Es gab sie nirgendwo. Nach einer Weile entwich dem Silberhaarigen ein Seufzen. Mit den ganzen Gerüchten konnte er nichts anfangen und wenn er dann doch mal auf eine Spur stieß, verlief diese ins Leere. Er scrollte im Forum weiter herunter, bis ihm die Augen weh taten. Umso weniger zufriedenstellende Fakten er dabei fand, desto enttäuschter wurde er. Als er schon fast aufgeben wollte, fiel ihm auf einmal ein Link ins Auge, der von einem Nutzer vor zwei Jahren gesendet worden war. Ohne zu zögern klickte Gin den Link an und wunderte sich, dass dieser ihn zu einer normalen Anzeige weiterleitete, die lediglich ein gewöhnliches Buch mit dem Titel ‚Geschichte im Überblick - Volksgruppen und deren Traditionen von der Antike bis heute‘ anbot. Momentan konnte man es aber leider nicht direkt auf der Webseite kaufen. Stattdessen wurden ein paar Buchhandlungen vorgeschlagen, wo es möglicherweise noch erhältlich war. Eine davon befand sich sogar hier um die Ecke. Immerhin ein Vorteil in einer großen Metropole wie Tokio zu wohnen. „Was für ein Zufall...“, dachte Gin ironisch und schielte unauffällig zur Uhr. Die Buchhandlung schloss erst in zwei Stunden. Das würde er noch locker schaffen. „Das werde ich nicht wirklich tun...“ Unentschlossen starrte er auf den Bildschirm und zählte gedanklich Argumente auf, welche für und welche gegen einen kurzen Besuch in die Buchhandlung standen. Einerseits gab es keine Garantie dafür, dass das Buch ihn weiterbringen würde. Andererseits schien es der einzige Hinweis zu sein, dem er noch nachgehen konnte. Und wenn er das Buch dort nicht bekommen konnte, war er wenigstens etwas an der frischen Luft, um sein Gedankenkarussell zu beenden. „Was soll‘s...“ Schulterzuckend holte Gin Kugelschreiber und Papier, um den Titel und die ISBN des Buches zu notieren. Er klappte den Laptop zu, warf sich seinen dunkelblauen Trenchcoat über und verließ die Wohnung. Für den Weg benötigte er nur eine knappe viertel Stunde. Als er die Buchhandlung betrat, stellte er erleichtert fest, dass diese fast menschenleer war. Keine nervige Schlange an der Kasse und am Informationstresen. Nur eine übermüdete, junge Angestellte, die gelangweilt auf ihren Computer schaute und nebenbei Kaugummi kaute. Gin ging zielgerichtet auf die Frau zu und beschloss diese direkt anzusprechen, um keine Zeit zu vertrödeln. Wer weiß, wie lange es dauern würde, die unzähligen Regale zu durchsuchen und bei so wenig Kunden würde er sich dabei obendrein noch beobachtet fühlen. Als Gin an den Tresen trat, blickte die Frau durch ihre rote, runde Brille zu ihm auf. „Entschuldigen Sie.“, begann er freundlich und schob ihr den Zettel mit den Infos hin. „Ich suche dieses Buch, könnten Sie bitte mal nachsehen, ob Sie es vielleicht hier haben?“ Die Frau nickte desinteressiert und tippte kurz darauf wild auf ihrer Tastatur herum, bevor sie mit der Maus einen Augenblick scrollte. Sie zog ihre Augenbrauen nach oben und meinte bedauernd: „Tut mir leid, junger Mann. Das haben wir nicht mehr auf Lager.“ Gin unterdrückte ein Stöhnen und presste stattdessen missmutig die Lippen zusammen, was auch der Frau nicht entging. Nachdem sie kurz überlegt hatte, nahm sie einen Kugelschreiber zur Hand und kritzelte etwas auf die Rückseite des Zettels. „Das Buch, welches Sie suchen, bekommt schon lange keine Neuauflagen mehr und besitzt ohnehin schon sehr wenig Exemplare. Daher sollten Sie ihr Glück vielleicht lieber in der Bibliothek versuchen. Ich hab Ihnen die Adresse mal aufgeschrieben.“, erklärte sie monoton und gab ihm anschließend den Zettel wieder zurück. „Verstehe. Haben Sie vielen Dank.“, erwiderte Gin, woraufhin die Frau schweigend nickte und sich wieder ihrem Bildschirm widmete. Gin kehrte ihr den Rücken zu und verließ die Buchhandlung, um die Bibliothek zu suchen. Zum Glück war diese leicht zu Fuß zu erreichen. „Unwahrscheinlich, dass ich es dort bekomme. Und bei der Pechsträhne, die ich in letzter Zeit irgendwie habe...“, vermutete er frustriert. Wobei er ‚in letzter Zeit‘ wohl eher mit ‚seit Rye aufgetaucht ist‘ ersetzen konnte. Obwohl dieser ihn eigentlich aus gefährlichen Situationen befreite, war der Kerl meistens die Ursache für diese Situationen gewesen. Mehr oder weniger zumindest. Zuvor war Gin niemals, nicht mal ansatzweise, in Schwierigkeiten geraten, aus denen er sich nicht hätte selbst heraus helfen können. Nach 20 Minuten erreichte Gin die Bibliothek, welche mindestens doppelt so groß wie die Buchhandlung war. Allein der Hauptsaal war riesig. In der Mitte befand sich eine alte Wendeltreppe aus Stahl, die sich über alle Stockwerke erstreckte. Die Gänge dieser wurden von Holzgeländern begrenzt. Die Regale bedeckten jeden Zentimeter der Wand. So viele Bücher auf einmal hatte Gin tatsächlich noch nie gesehen. Überfordert schaute er sich nach einem Angestellten um, was unter den vielen Menschen schwer zu erkennen war. „Kann ich Ihnen helfen?“ Die Stimme gehörte einem Mann seines Alters, welcher rot gelocktes Haar besaß und ein grünes Poloshirt trug. Gin hatte ihn gar nicht richtig wahrgenommen und als einen Kunden abgestempelt. „Ähm ja…“ Er kramte den Zettel aus seiner Jackentasche und reichte ihn seinem Gegenüber. „Ich bin auf der Suche nach diesem Buch.“ Der Mann las sich den Zettel kurz durch und sagte schlicht: „Einen Moment.“ Danach verschwand er im Schnellschritt. „Also hab ich ausnahmsweise doch Glück?“, hoffte der Silberhaarige. Es dauerte nicht lange, bis der Mann wirklich mit einem Buch in der Hand zurückkam. Kaum zu glauben. Gin staunte nicht schlecht. „Dieses hier?“, wollte der Angestellte sich versichern. Gin warf einen Blick auf das schwarze Cover, das bis auf den in Gold eingravierten Titel leer war. Es stimmte mit dem Bild auf der Webseite überein. „Ja, das ist es.“, bestätigte er nickend und nahm es seinem Gegenüber aus den Händen. Dabei verspürte er irgendwie das Gefühl eines kleinen Erfolges. „Gut. Da haben Sie aber Glück. Das Buch ist nämlich die meiste Zeit verliehen, da es oft von Studenten für Referate und Präsentationen verwendet wird. Ich selbst habe es auch schon gelesen. Es besteht sozusagen aus Ansammlungen von Schriften aller Art, die teils von bekannten früheren Persönlichkeiten verfasst wurden.“, erzählte der Mann in einer begeisterten Tonlage, während er Gin zur Kasse führte. Das klang schon mal vielversprechend. „Dann bräuchte ich kurz Ihren Ausweis und eine Unterschrift. Für wie lange?“ „Ich denke eine Woche genügt.“, gab Gin an. Die Formalitäten waren schnell erledigt. Er steckte das Buch in seine Innentasche, wünschte dem Angestellten noch einen schönen Abend und ging anschließend durch die Haupttür wieder nach draußen. Neben dem Haupteingang blieb Gin kurz stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Da bemerkte er im Augenwinkel ein paar Meter entfernt zwei seltsame Männer in schwarzen Anzügen, die ihn anstarrten. Als er den Kopf drehte, wandten beide ihren Blick wieder ab. Sie trugen Sonnenbrillen und tiefgezogene Hüte. Gin verengte misstrauisch die Augen. Die Kerle waren vorhin jedenfalls noch nicht da gewesen. „Und wieso stehen sie vor einer Bibliothek, wenn sie nicht reingehen?“, grübelte er, wandte den Blick dann jedoch wieder von ihnen ab. „Kann ja sein, dass sie noch auf jemanden warten.“ Unbekümmert lief er die große Steintreppe herunter und fing kurz dahinter an zu rennen, um noch rechtzeitig bei Grün über die Ampel zu kommen. Als sich auf der anderen Straßenseite die Menschenmasse in alle Wege zerstreute, blieb Gin abrupt stehen. Die beiden Männer standen nun drüben an der Ampel und warteten, bis diese wieder umschaltete. Nur Zufall? Das Gefühl von Misstrauen machte sich erneut bemerkbar. Einer der Männer schien nebenbei zu telefonieren, dennoch hatten beide die Blicke stets auf den Silberhaarigen geheftet, welcher langsam weiterging. Gin hoffte, dass er sich irrte, und die Typen gerade nicht dabei waren ihn zu verfolgen. Wenn das tatsächlich der Fall war, durfte er sich nichts anmerken lassen und musste so tun, als würde er sie nicht wahrnehmen. Er tat es fürs Erste ab und lief weiter den Weg entlang. Bevor er sich nicht vollkommen sicher war, dass die Typen ihm nicht mehr folgten, konnte er nicht zurück zu seiner Wohnung. So einfach würde er sie ganz bestimmt nicht zu seiner Adresse führen. Also beschloss er ein paar Umwege zu gehen. Nach wenigen Minuten täuschte er vor sich eine neue Zigarette anzünden zu wollen und ließ dabei versehentlich sein Feuerzeug fallen. Während er dieses wieder aufhob, drehte er den Kopf leicht zur Seite, sodass er den Weg hinter sich sehen konnte. Zu seinen Missfallen liefen ihm die Kerle tatsächlich noch hinterher. Zwar waren sie ein Stück entfernt, aber sie waren immer noch da und machten keine Anstalten ihre Richtung zu ändern. Da fiel Gin zwischen den Bäumen neben ihm ein Parkeingang auf. Dort könnte es ihm vielleicht gelingen die Kerle abzuschütteln. Wenn das nicht half, musste er wohl oder übel zu anderen Mitteln greifen. Ohne zu Zögern bog er gezielten Schrittes in den Park ein und begann dort sein Schritttempo zu erhöhen. Dabei kam er sich total lächerlich vor. Wenn man selbst Jäger war, sollte man sich eigentlich unter keinen Umständen zum Gejagten machen lassen. Doch was tat er gerade? Er lief vor zwei Unbekannten davon, die er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Das Blatt sollte schnellstmöglich wieder gewendet werden. Der Kies knirschte ungewöhnlich laut unter seinen Füßen, was wohl daran lag, dass Gin sonst weit und breit keine anderen Geräusche hören konnte. Er lief keiner Menschenseele über den Weg. Abgesehen davon war es inzwischen dunkel geworden, sodass es ihm schwerer fiel den Ausgang zu finden. Nicht, dass er den Kerlen noch aus Versehen direkt in die Arme lief. Irgendwie sah in Parks fast jeder Weg gleich aus und ohne die Orientierungsschilder musste man echt aufpassen, wo man lang ging. Gerade jetzt kam ihm plötzlich wieder die Mordserie in den Sinn. Die momentane Situation war einfach zu passend. Wenn der Täter ihm hier auflauern würde, gäbe es nicht einmal Zeugen. Und gerade weil er allein war, würde dem Täter keine Auswahl zur Verfügung stehen. Gin erinnerte sich daran, wie Cognac ihm geraten hatte spät abends nicht mehr allein unterwegs zu sein. Könnte er es bereuen diesen Ratschlag nicht befolgt zu haben? Doch selbst wenn würde Gin diesen Psychopathen zu gern einmal sehen wollen. Es interessierte ihn, ob er tatsächlich keine Chance hätte sich zu wehren und ob er vielleicht sogar sterben könnte. Aber vorher wollte er dem Täter noch ein paar Fragen stellen. Denn es war für ihn unergründlich, wie man so viele Menschen auf so eine abnormale Art töten konnte, ohne dabei ein Ziel zu verfolgen. Das wollte Gin nicht glauben. Es musste ein Ziel geben. Es gab immer eins. Nach einer Weile konnte der Silberhaarige endlich erkennen, dass der Weg aus dem Park hinaus führte. Er konnte auch schon wieder ein paar Menschen auf der dahinterliegenden Straße erblicken. Hoffend, seine Verfolger losgeworden zu sein, verließ Gin den Park und trat auf den belebten Gehweg. Auf den ersten Blick sah er keine Männer in schwarzen Anzügen. Doch als er erleichtert aufatmen wollte, fiel ihm plötzlich eine andere, verdächtige Person auf, die den Männern von zuvor vom Verhalten sehr ähnelte. Ein Mann auf der anderen Straßenseite beendete gerade ein Telefonat und sah dann prüfend zu Gin. Er trug ebenso eine Sonnenbrille, jedoch keinen schwarzen Anzug sondern lediglich ein violett-rotes Hemd und eine weiße Hose. Gin glaubte, den Kerl schon mal irgendwo gesehen zu haben. Nur fiel es ihm einfach nicht ein, da er das Gesicht des Mannes nicht richtig erkennen konnte. Ein Schauer überkam Gin, als der Mann auf einmal begann die Straßenseite zu wechseln. Den Blick dabei immer noch fest auf ihn gerichtet. Sofort drehte sich Gin weg und überquerte im Schnellschritt ebenso die Straße, wobei er im Augenwinkel erhaschen konnte, wie der Mann innehielt und zurückging. Gin drehte sich um und sah, wie seine beiden Verfolger den Park verließen und zu dem Mann im rot-violetten Hemd stießen. Also hatte er richtig geschlussfolgert, dass sie zusammen gehörten. Aber wer waren sie? Und noch viel wichtiger: Was zur Hölle wollten sie von ihm? Genervt verzog Gin das Gesicht. „Ach, scheiß drauf.“, fluchte er gedanklich und beschloss zu Plan B überzugehen. Er hatte keine Lust die halbe Nacht durch die Straßen zu irren nur um die Kerle irgendwie abzuhängen. Selbst wenn ihm das gelang, würden sie es mit Sicherheit nicht dabei belassen und ihn irgendwann erneut finden. Gin lief zügig weiter und richtete seine Aufmerksamkeit auf eine Gasse links von ihm, die in wenigen Metern von der Hauptstraße abzweigte. Als er sich nochmals umdrehte, erblickte er wie erwartet seine Verfolger, welche noch auf Abstand blieben. Er fragte sich, wie lange sie dieses Spiel noch spielen wollten. Schließlich machte es nicht den Anschein, als wollten sie sich bemühen, dem Ganzen so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten. Es schien sie eher hämische Freude zu bereiten ihm hinterherzulaufen. Wahrscheinlich hatten sie unbegrenzte Zeit für solche Spielchen übrig oder es diente einfach nur zur Einschüchterung. Gin erreichte die Gasse und bog in diese ein. Sie war glücklicherweise menschenleer und die Gebäude besaßen auf beiden Seiten keine Fenster. Auf dem Boden lag kreuz und quer irgendwelcher Müll verteilt und die Container an den Wänden waren alle überfüllt. Am Ende der Gasse befand sich eine Abzweigung, die zu einer kleinen Treppe hinaufführte. Aber so weit ging Gin nicht. Er blieb stehen, lehnte sich an die Wand und lauschte. Seine Verfolger würden bestimmt jeden Moment hier auftauchen. Und er würde genau hier auf sie warten. Um sie zu erledigen. Nach wenigen Minuten hörte Gin mehrere, gleichmäßige Schritte. Drei Gestalten näherten sich ihm aus dem dunklen Schatten. Als Erstes erkannte Gin die Erscheinung des Mannes im rot-violetten Hemd. Die beiden anderen Männer blieben dicht hinter ihm und behielten dabei stets eine angespannte, aufmerksame Haltung bei. Die ihres Vordermannes wirkte eher entspannt, da er die Hände in beide Hosentaschen verbarg. Bei den Männern im Anzug handelte es sich demzufolge wahrscheinlich um seine Untergebenen, die wohl in einer Ernstlage jederzeit bereit dazu wären ihr Leben für ihn zu opfern. Gin musterte die Drei abschätzig. Von Nahem wirkten sie nicht sonderlich bedrohlich. „Hast du es endlich aufgegeben?“, fragte der Vordere nun belustigt und blieb vor dem Silberhaarigen stehen. Zu Gins Verwunderung war ihm die Stimme nicht fremd. Somit war er sich sicher, dass er den Mann kennen musste. Und als dieser mit einer eleganten Geste die Sonnenbrille abnahm, bestätigte sich seine Vermutung. Das Meeting, welches im Desaster geendet war. Vor ihm stand Sigma. Der Anführer der Organisation, welche für das ganze Chaos verantwortlich gewesen war und die Bomben deponiert hatte. „Wie ist es ihm gelungen zu entkommen? Hatte Rye ihn nicht verfolgt?“ Plötzlich wirbelten Gin viele Fragen im Kopf umher. Er war bis jetzt immer davon ausgegangen, dass Rye den Kerl damals erwischt und getötet hatte. So, wie er alle anderen Feinde ebenso mit Leichtigkeit getötet hatte. „Du scheinst ja sehr überrascht zu sein mich zu sehen.“, kommentierte Sigma Gins verwirrten Gesichtsausdruck. Nichtsdestotrotz dass der Kerl noch am Leben war, versuchte Gin einen klaren Kopf zu bewahren. Er setzte wieder seine gewohnte, emotionslose Miene auf, woraufhin Sigmas Lippen ein amüsiertes Lächeln umzuckte. „Ich hatte mir schon überlegt Verstärkung zu holen, aber ich schätze allein stellst du keine sonderlich große Bedrohung dar.“, sprach er herabwürdigend und betrachtete Gin dabei wie ein hilfloses Kätzchen, dass sich irgendwo allein verirrt hatte. Am liebsten hätte der Silberhaarige diesem Typen sofort den Schädel eingeschlagen. „So ein arrogantes Arschloch.“, dachte er gereizt, bevor er tonlos fragte: „Und was genau willst du jetzt von mir?“ Obwohl sich Gin das schon ungefähr denken konnte. Der Kerl war mit hoher Wahrscheinlichkeit immer noch sauer wegen den unfairen Verhandlungen und der Ablehnung seines Tauschgeschäftes, die Vermouth ihm am Abend des Meetings deutlich erteilt hatte. Und da Sigma diese Niederlage nicht auf sich sitzen lassen wollte, versuchte er jetzt wahrscheinlich wie ein Kleinkind verzweifelt noch etwas daran zu ändern. Allerdings verstand Gin nicht wirklich, was er damit zu tun hatte. Er selbst konnte darauf doch gar keinen großen Einfluss nehmen. Höchstens nur sein Boss. Denn Vermouth war schließlich momentan nicht in der Lage zu verhandeln und selbst wenn sie es wäre, würde sie sich auf so einen Kindergarten ebenso wenig einlassen. „Ohne Umschweife direkt auf den Punkt… du scheinst auch nicht anders als deine Kumpanen zu sein.“ Sigma verschränkte die Arme und legte den Kopf schräg, was sein Lächeln noch eingebildeter wirken ließ. „Du weißt ja, Zeit ist Geld.“ Gin zuckte mit den Schultern. „Aber eigentlich interessiert es mich auch nicht wirklich. Wenn du mich wegen dem Meeting nochmal zur Rede stellen willst, da kann ich dir auch nicht helfen. Bedaure.“ Daraufhin begann sein Gegenüber leise zu lachen. Gin rollte mit den Augen. Der Kerl wurde von Sekunde zu Sekunde nerviger. Schlimm genug, dass er ihm ins Gesicht schauen musste. „Du nimmst den Mund ja ziemlich voll, dafür, dass du allein bist.“, meinte Sigma und räusperte sich, bevor er wieder eine halbwegs ernste Miene aufsetzte. „Aber nein, das ist nicht der Grund. Es gibt Dinge, die sich nun mal nicht mehr ändern lassen. Immerhin gibt es auch noch anderes außer Waffen, was sich gut auf dem Schwarzmarkt verkaufen lässt.“ Gin zog missbilligend eine Augenbraue nach oben. Die Wortwahl gemischt mit dieser seltsamen Tonlage ließ die Bedeutung hinter dem Satz widerlich erscheinen. Er wollte gar nicht wissen um was genau es sich bei den Waren handelte. „Aha.“, gab er trocken von sich. Weiter nachfragen tat er bewusst nicht. Damit würde er das Gespräch noch mehr hinauszögern und er konnte den Kerl jetzt schon nicht mehr ertragen. Der war mit seiner Predigt jedoch leider noch nicht fertig. „Weißt du, ich finde es nur ungerecht, dass Renya glaubt er sei durch seinen großen Machteinfluss unantastbar. Er ist wirklich ein törichter Mensch… da bekommt man Lust ihm mal eins auszuwischen. Verstehst du, was ich meine?“ Sofort riss Gin die Augen weit auf. Der Zorn, der ihn bei diesen Worten erfüllte, war unermesslich. Jetzt hatte dieser Mistkerl die Grenze eindeutig überschritten. „Wie kann er es wagen...“, sprach er hasserfüllt in Gedanken. Niemand durfte es wagen den Namen seines Bosses einfach so in den Mund zu nehmen und schon gar nicht die Unverschämtheit besitzen so abfällig über ihn zu sprechen. Personen, die das dennoch taten, würden jede einzelne Silbe gnadenlos bereuen. Doch ehe er in seiner Manteltasche nach seiner Beretta greifen konnte, vernahm er das Klicken mehrerer Pistolen, deren Läufe ihn in sekundenschnelle fixierten. Als ob die Kerle mit dieser Reaktion längst gerechnet hatten, weshalb sich Gin die Frage stellte, ob diese Provokation mit Absicht von ihnen herbeigeführt wurde. „Lass es lieber. Du kannst sowieso keine drei Menschen gleichzeitig erschießen und wir wollen doch nicht, dass jemand verletzt wird.“, meinte Sigma warnend und setzte ein triumphierendes Lächeln auf. „Ach? Bist du dir da wirklich so sicher?“, fragte Gin mit einer provozierenden Tonlage, während er den Griff um seine Beretta schloss. Kaum einen Augenblick später hörte er ein zischendes Geräusch, da der Pistolenschuss durch einen Schalldämpfer abgedämpft wurde. Gleichgültig lenkte Gin seinen Blick auf das Einschussloch dicht neben ihm an der Hauswand. „Nur damit wir uns richtig verstehen: Ich habe kein Problem damit dich auf der Stelle zu erschießen. Du erfüllst zur Not auch tot deinen Nutzen.“ Das Lächeln verschwand aus Sigmas Gesicht. Stattdessen begann er sich dem Silberhaarigen noch weiter zu nähern und fügte dabei beschwichtigend hinzu: „Nimm es mir nicht übel. Falls es dich aufmuntert, du warst nicht meine erste Wahl. Aber Renyas anderen Liebling konnten wir leider nicht ausfindig machen.“ Gin ging einfach mal davon aus, dass der Kerl damit Vermouth meinte. Es kam niemand anderes in Frage. Sie und er waren die Einzigen in der Organisation, die ein sehr vertrautes Verhältnis zum Boss pflegten. Während es hingegen anderen Mitgliedern nicht einmal gestattet war überhaupt mit diesem in irgendeiner Weise zu kommunizieren. „Du weißt nicht zufällig, wo sie sich versteckt hat?“, wollte Sigma erfahren. „Denkst du im Ernst, dass ich dir das verrate?“, tat Gin so, als wüsste er über Vermouths Aufenthaltsort Bescheid. Innerlich wünschte er sich jedoch, dass es wirklich so wäre. Dann wäre er wahrscheinlich niemals in diese missliche Lage gekommen. Obwohl er diese Frau zum Tod nicht ausstehen konnte, musste er sich eingestehen, dass mit ihrer Anwesenheit seine letzten Tage um Einiges friedlicher verlaufen wären. Besonders hätte er den Störfaktor Rye nicht ertragen müssen, welcher gerade wie immer der Ursprung des ganzen Ärgers war. „Ich musste ja unbedingt dieses Buch ausleihen...“ Die Bitterkeit seines Gedankengangs galt ihm selbst. „Na, soll mir auch egal sein. Du eignest dich gut als ihr Ersatz, vielleicht sogar noch viel besser.“ Sigma hob die freie Hand, um mit seinen Fingern über Gins Wange zu fahren. Doch diese sanfte Geste wurde von dem Silberhaarigen vereitelt, indem er die Hand umgehend wegschlug. Gins Augen blitzten vor Wut auf. Er neigte dazu, das Risiko einfach einzugehen und seine Beretta zu ziehen. Aber vorher wollte er noch wissen, welches genaue Ziel dieser Schnösel verfolgte. Es war ihm ein Rätsel welchen Nutzen er oder Vermouth bitte erfüllen sollten. Einen Nutzen, wofür er nicht mal lebendig sein brauchte. „Willst du mir nicht mal langsam verraten, was du mit mir vorhast anstatt um den heißen Brei herumzureden?“, fragte er gelangweilt. Auch wenn er daran zweifelte eine vernünftige Antwort zu erhalten. „Mit dir? Da gibt es eine Menge Möglichkeiten. Wer weiß, vielleicht verkaufe ich dich auch wenn sich Renya nicht breit schlagen lässt. Dein Gesicht bringt bestimmt eine hohe Geldsumme ein.“, erwiderte Sigma im Plauderton und versuchte erneut Gins Wange entlangzustreichen. Begleitet mit einem angewiderten Gesichtsausdruck schlug Gin die Hand ein zweites Mal weg. Er bereute seine Frage zu tiefst. „Verstehe, dir geht es also nur um meinen Boss. Das ist schon armselig, dass du mich dafür extra als Druckmittel benutzen musst nur um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Du scheinst es ja wirklich nötig zu haben. Leider Pech für dich, dass ihn das nicht im Geringsten interessieren wird.“ Der letzte Satz brachte Gin zum Nachdenken. Zwar hatte er das in einem ziemlich sicheren Tonfall gesagt, doch für einen kleinen Moment fragte er sich wirklich, wie Vater wohl auf seinen Tod reagieren würde. Ob es ihn kaltlassen würde? Konnte er ihn einfach ersetzen? Wahrscheinlich. Jeder war letzten Endes ersetzbar. Gin versuchte diese schmerzhafte Erkenntnis zu verdrängen. Es spielte keine Rolle. Das durfte es nicht. Gefühle wie Trauer konnten für Vater zu verhängnisvollen Schwachstellen werden. „Oh da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher. Seine Aufmerksamkeit will ich gar nicht. Du bist nichts weiter als ein Mittel zum Zweck. Ich werde ihm nach und nach alles nehmen, bis er von der Bildfläche verschwindet… und da fange ich am Besten mit seinen treuesten Untergebenen an, hinter denen er sich ja immer so feige versteckt.“, sprach Sigma hinterhältig, was sich für Gin aber nach einem schlechten Witz anhörte. Dieser aufgeblasene Schnösel – seinem Boss alles nehmen? Ihn von der Bildfläche verschwinden lassen? „Der Kerl liebt es wirklich zu scherzen...“, dachte Gin ironisch. Nur das diese Scherze nicht mal annähernd witzig waren, sondern einfach lächerlich. „Ich glaube du mutest dir da ein bisschen zu viel zu. Denkst du im Ernst-“ Der Lauf von Sigmas Pistole unter seinem Kinn ließ Gin den Satz unterbrechen. Der Druck war so stark, das er den Kiefer nicht mehr öffnen konnte. Das Gesicht seines Gegenübers verzog sich zu einer verärgerten Grimasse. „Deine Respektlosigkeit geht mir ganz schön auf die Nerven.“, knurrte Sigma gereizt und ließ dabei seinen Blick über die strenge, unveränderte Miene des Silberhaarigen wandern. Da verformten sich seine Lippen wieder zu einem Lächeln und er fügte abfällig hinzu: „Sogar jetzt versuchst du noch deinen Stolz zu bewahren. Da will ich glatt umso mehr sehen, wie dein Gesicht aussieht, wenn du vor Schmerzen schreist und nach deinem Leben bettelst.“ Kurz darauf krallte sich eine Hand in Gins Haare und knallte seinen Kopf an die raue, kalte Wand. Dadurch bekam er zu spüren, dass sich sein Kopf noch immer nicht vollständig von dem vorgestrigen, harten Aufprall erholt hatte. Die Wellen des Schmerzes betäubten für einen Moment seine Sinne, weshalb er nicht mitbekam, wie sich sein Gegenüber mit seinem ganzen Gewicht gegen ihn drückte und ihm den Pistolenlauf an die Brust presste. Gedanklich fluchend musste Gin anschließend feststellen, dass er so nicht mehr unbemerkt an seine Beretta heran kam. Seine drei Gegner konnte er ebenso nicht mehr sehen, da sein Kopf seitlich an die Wand gedrückt wurde. Aber er hörte mehrere Schritte, woraus er schloss, dass die beiden Handlanger näher kamen. Auch hörte er nebenbei das Klicken einer weiteren Pistole. Jedoch nicht aus derselben Richtung. „Loslassen.“, sprach eine seidenweiche Stimme im Befehlston, die Gin unter Millionen wiedererkennen würde. Obwohl ihm die Person, die diese Stimme gehörte am liebsten gestohlen bleiben konnte. „Rye… Wie kann das sein?“ Kapitel 15: Grausames Schicksal ------------------------------- „Nimm sofort deine Hände von ihm weg. Oder du wirst es bereuen.“, fuhr Rye in einem drohenden Tonfall fort. Er schien die überraschten Blicke auf sich zu ignorieren. Gin beschlich ein unangenehmes Gefühl. Am liebsten würde er sich einfach in Luft auflösen. Bis jetzt hatte es ihn nicht interessiert, wie jämmerlich er gerade aussehen musste. Doch jetzt von Rye so gesehen zu werden empfand er mehr als nur erniedrigend. „Aber wieso ist er hier? Er hat sicherlich nicht durch Zufall gemerkt, dass ich mich in einer misslichen Lage befinde. Und man geht auch nicht einfach so ohne Grund in einer abgelegenen Gasse spazieren, die sich dazu noch in einem Bezirk befindet, wo man noch nicht einmal wohnt.“, überlegte er verdutzt. Das alles ergab keinen Sinn. War er Rye vielleicht doch über den Weg gelaufen und er hatte ihn bloß nicht bemerkt? Und jetzt war der Kerl ihm unauffällig bis hierher gefolgt? Auch das hielt Gin für ausgeschlossen. Denn die Wahrscheinlichkeit jemanden, den man kennt, in dieser Großstadt zufällig zu begegnen war sehr gering. Unter den Menschenmassen war es so gut wie unmöglich einen Bekannten herauszufiltern. Zudem sollte Rye eigentlich nach Vermouth suchen. „Wenn ich das überlebe, ist er mir eine Erklärung schuldig...“, beschloss der Silberhaarige. Und da gab es noch viele andere Fragen, auf die Rye ihm noch Antworten schuldete. „Sieh an… du hast ja gerade noch gefehlt.“, meinte Sigma gereizt, wobei Gin ihm da ausnahmsweise zustimme. Der Griff in seinen Haaren lockerte sich nicht mal ansatzweise und auch sonst schien Sigma der Drohung keine Beachtung zu schenken. Er wirkte kein bisschen eingeschüchtert. Noch nicht. „Du hast jetzt genau zwei Möglichkeiten. Entweder du leistest meiner Aufforderung nicht folge und ich erschieße dich… oder du lässt ihn los, ich lasse dir dein Leben und wir reden vernünftig miteinander. Aber ich möchte dich warnen: Wenn du ihn tötest, werde ich dafür sorgen, dass du einen zehn Mal qualvolleren Tod erleiden wirst.“ Ryes Stimme jagte offenbar nicht nur Gin einen Schauer über den Rücken. Sie besaß einen bedrohlich tiefen Klang. Erleichtert spürte Gin, wie sich Sigmas Griff aus seinen Haaren löste. Doch dabei blieb es auch. Das Körpergewicht verlagerte er nicht und auch die Waffe blieb fest an Gins Brust gedrückt. Trotzdem nutzte Gin den neuen Bewegungsfreiraum, um den Kopf zu drehen, sodass er Rye sehen konnte. Nach diesen Worten verspürte er ein unerklärliches Verlangen den dazugehörigen Gesichtsausdruck seines Partners zu sehen. Rye war inzwischen ein paar Schritte näher gekommen und dass die beiden Handlanger ihn bedrohten, schien für ihn nicht weiter von Belang zu sein. Er tat so, als wären sie Luft und richtete sowohl seine Waffe als auch seinen durchbohrenden Blick einzig und allein auf Sigma. In Ryes weit aufgerissenen Augen leuchtete die pure Boshaftigkeit. Die bedrohliche Aura ließ ihn beinahe wie ein versessener Psychopath wirken. Für einen Augenblick fragte sich Gin, ob das mal wieder ein Teil von Ryes fassettenreicher Persönlichkeit war, den er noch nicht kannte. Dabei wurde ihm klar, dass er diesen Teil nie kennenlernen wollte. „Du hast sie doch nicht mehr alle!“, fuhr Sigma den Schwarzhaarigen aufgebracht an, welcher sich davon aber nicht beeinflussen ließ. „Ich sage es dir noch ein letztes Mal: Lass ihn los.“ Es herrschte ein paar Sekunden Stille, die sich für Gin wie eine Ewigkeit anfühlten. Die Luft schien vor Anspannung zu vibrieren. Keiner traute sich ein Wort zu sagen oder gar irgendein leises Geräusch von sich zu geben. Sigma schien über seine nächste Entscheidung genaustens nachzudenken. Er wirkte mittlerweile tatsächlich eingeschüchtert, wenn nicht sogar schon verängstigt. Zugegeben, Rye war wirklich gut darin Menschen in seinem Umfeld vor Angst erstarren zu lassen und das allein durch seine bloße Ausstrahlung. Die zwei Handlanger waren inzwischen so verunsichert, dass sie sogar wirklich daran zweifelten den Schwarzhaarigen erschießen zu können. Sonst hätten sie längst ein paar Kugeln abgefeuert. Sigma gab ihnen ebenso wenig den Befehl zu schießen. Gin versuchte währenddessen Ryes Worte auf sich wirken zu lassen und zu begreifen, aus welchem Grund sein Partner so sprach. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass Rye das für ihn tat oder besser gesagt sich wegen ihm so verhielt. Doch es gab noch etwas Anderes, das Gin komisch vorkam: Rye redete nicht wie jemand, der lediglich einen Freund beschützen wollte. Sondern wie jemand, der sein Eigentum zurück verlangte. „Na schön, hier hast du ihn!“ Plötzlich spürte Gin, wie Sigma von ihm abließ und kurz darauf seinen Kragen ergriff, um ihn mit voller Kraft zu Rye zu schleudern. Der Silberhaarige war so sehr in seine Gedanken vertieft gewesen, dass es ihm nicht gelang, rechtzeitig zu reagieren. Ehe er sich versah, war er Rye stolpernd in die Arme gefallen, welcher ihn umgehend am Arm packte und hinter sich zog. Beschämt beobachtete Gin über Ryes Schulter hinweg, wie dieser und Sigma sich gegenseitig tödliche Blicke zuwarfen. Wobei Sigma da deutlich den Kürzeren zog. „Ich wusste doch, dass du vernünftig sein kannst. Nur ich muss dich leider enttäuschen, für ein vernünftiges Gespräch hast du mich bereits viel zu sehr provoziert.“, sprach Rye während sein Tonfall immer finsterer wurde und ihm anschließend ein leises Knurren aus der Kehle entwich. Die Atmosphäre schien sich mit einem Schlag erneut zu verändern. Ohne den Blick von Sigma abzuwenden, meinte Rye leise zu Gin: „Geh zurück zur Hauptstraße und warte im Auto auf mich. Es wird nicht lange dauern.“ Kaum waren die Worte ausgesprochen, verzog der Silberhaarige missbilligend das Gesicht und erwiderte: „Warum? Du kannst nicht einfach-“ „Hast du mich nicht verstanden?! Ich hab gesagt du sollst zum Auto gehen! HAU AB!“, schrie Rye mit düsterer, kratziger Stimme und sah über seine Schulter hinweg zu Gin. Dieser erstarrte im ersten Moment vor Schreck. Was ihn dort zornig anfunkelte waren nicht mehr Ryes smaragdgrüne Augen, sondern zwei blutrot leuchtende Rubine. Im nächsten Moment fing Gin an zu rennen. Er war sich allerdings selbst nicht sicher, was ihn letztlich dazu brachte, auf dem Absatz Kehrt zu machen. Ryes befehlende Stimme, die plötzlich so fremd klang, als würde sie aus den Tiefen der Hölle entspringen? Oder die bedrohliche Aura des Schwarzhaarigen? Oder lag es daran, dass er sich von diesen roten Augen durchbohrt gefühlt hatte? Während er rannte versuchte Gin dem Gefühl in ihm einen Namen zu geben. Es war keine Angst oder Furcht. Eher Bedenken, was passieren würde, wenn er nicht auf Rye hörte. Sobald dieser Gedanke in sein Bewusstsein drang, tauchten Szenarien vor seinem inneren Auge auf, die sich abspielen könnten, wenn er woanders hinlief oder er einfach dort stehengeblieben wäre. Nachdem Gin los gerannt war, schloss Rye die Augen und wandte sich wieder seinen Gegnern zu. Er konnte sich nicht länger zurückhalten, diese auf der Stelle zu zerfetzen. Eigentlich hatte er schon mit diesem Gedanken gespielt, seit er bemerkt hatte, dass die Typen begannen, Gin zu verfolgen. Doch da er sich nicht sicher gewesen war, hatte er noch nicht eingegriffen. Erst in dem Moment, als ihm klar geworden war, dass sich Gin nicht mehr selbst aus der Lage heraushelfen konnte. „Ich wusste gar nicht, dass du ein Faible für diesen Mann hast.“, sprach einer der Kerle belustigt, offensichtlich um Zeit zu schinden. Rye konnte nicht mehr unterscheiden von wem genau dieser Satz gestammt hatte. Es war ihm auch egal. Sie würden ohnehin alle sterben. Und er würde sie höchstpersönlich zur Hölle schicken und dafür sorgen, dass sie dort niemals wieder herauskamen. „Und ich wüsste nicht, was euch das anzugehen hat.“, erwiderte Rye mit der Stimme, die ihm selbst so fremd war. Er senkte seine Waffe und steckte sie zurück in die Manteltasche. „Eigentlich nichts, aber da du uns gestört hast….“ Rye ignorierte die unvollständige Drohung. Egal, was damit angedeutet werden sollte, es spielte keine Rolle mehr für ihn. Das Einzige, was er von den Kerlen noch hören wollte, waren ihre jämmerlichen Todesschreie. Und danach nie wieder etwas. Der Schwarzhaarige knöpfte sich den Mantel auf, ließ ihn über seine Schultern gleiten und zu Boden fallen. „Was soll das werden?“, fragte eines seiner Opfer lachend, was Rye ein Schmunzeln entlockte. „Dir wird das Lachen gleich vergehen.“, dachte er hinterhältig, bevor er meinte: „Nun ja, ich hab den Mantel recht gern und ich möchte nicht, dass er schmutzig wird, wenn ich euch gleich in Einzelteile zerreiße.“ Obwohl er das todernst meinte, vernahm er kurz darauf schallendes Gelächter. Es klang wirklich unerträglich. Er beschloss die Sache so schnell wie möglich zu Ende zu bringen. Er wollte Gin nicht so lange warten lassen. „Du hältst ganz schön viel von dir. Du hast dich beim letzten Mal schon so aufgespielt. Wird Zeit, dass du auf den Boden der Tatsachen zurückkehrst, mein Lieber.“ Der Besitzer dieser Stimme schien kurz darauf mehrere Schüsse abzugeben, von denen Rye aber so gut wie nichts spürte. Er riss die Augen auf, woraufhin drei rot-orangene Gestalten in seinem Blickfeld zu sehen waren. „Was zum Teufel-?!“ „Wird eher Zeit, dass ich nachhole, was ich beim letzten Mal leider versäumt habe.“, unterbrach Rye die panische Stimme mit übel gesinnter Tonlage. Er ließ den Kerlen keine Chance zu reagieren, sondern stürzte sich direkt auf sie. Sofort übermannte ihn ein erleichtertes Gefühl. Er wusste, dass er im Nachhinein keine Reue empfinden würde. Immerhin tat er das nicht für sich. Nicht, um seinen Durst zu stillen. Das war nur Nebensache. Aber Gin würde so nie wieder von diesen abscheulichen Typen belästigt werden können und mit diesem Motiv fiel es dem Schwarzhaarigen überraschend leicht deren armseliges Leben zu beenden. Angespannt rutschte Gin auf dem Beifahrersitz in Ryes Chevrolet hin und her. Es hatte ihn überrascht, dass der Wagen nicht abgeschlossen gewesen war. Zwar war der Motor aus, doch der Schlüssel steckte noch. Vielleicht war Rye der Meinung, dass keiner auf die Idee kommen würde, diese blöde Amikarre zu stehlen. Gin würde die Kiste jedenfalls nicht freiwillig fahren. Oder generell wieder bei Rye mitfahren. „Moment mal...“ Erst jetzt begann er seinen Fehler zu realisieren, von dem er allerdings nicht wusste, wieso er ihn überhaupt erst begangen hatte. „Ich hab einfach nach seiner Pfeife getanzt...“, erkannte er, ohne sich den Grund dafür erklären zu können. Durch das Seitenfenster starrte Gin in Richtung Gasse. Rye war noch nicht zu sehen. Er könnte es also noch schaffen, abzuhauen. Sorgen machte sich der Silberhaarige um seinen Partner nicht im Geringsten. Er zweifelte nicht daran, dass Rye jeden der Kerle ohne mit der Wimper zu zucken mundtot machen würde. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance. Womöglich hatte die niemand. Das Bild von Ryes roten Augen wollte einfach nicht aus Gins Kopf verschwinden. Sich einzureden, dass es aufgrund der Dunkelheit nur Einbildung gewesen sein könnte, half auch nicht. Nach allem, was er schon in Ryes Gegenwart seit Beginn ihres ersten Treffens erleben musste, überraschte ihn allmählich nichts mehr. Plötzlich wurde die Fahrertür aufgerissen, sodass Gin vor Schreck zusammenzuckte. Rye war schneller wieder zurück als vermutet. Leider. Wortlos schlug der Schwarzhaarige die Tür hinter sich zu und startete den Motor, während er Gin dabei keines Blickes würdigte. Was diesem sofort auffiel: Die mörderische Wut in Ryes Gesichtsausdruck. „Hast du sie getötet?“, fragte Gin mit leiser Stimme, auch wenn er die Antwort längst wusste. Er bemerkte, wie schwer es ihm fiel, seinen Partner anzusprechen. Rye wirkte nämlich nicht so, als wäre er momentan für ein Gespräch zu haben. „Ja.“, antwortete er mühsam kontrolliert. „Sie haben es schließlich verdient.“ Gin nickte stumm. Ryes Stimme klang wieder so hell und weich wie normalerweise. Als hätte er sie wieder ausgewechselt. Dass sich eine Stimme so verändern konnte, war eigentlich unmöglich, außer vielleicht mit viel Übung. Aber diese düstere Stimme von vorhin hatte nicht einmal menschlich geklungen. Eher dämonisch. Das konnte nur Einbildung gewesen sein. „Schnall‘ dich an.“, befahl der Schwarzhaarige, während er bereits auf das Gaspedal trat. Der Chevrolet fuhr schlendernd mit quietschenden Reifen los. Gin krallte sich instinktiv in den Ledersitz und hielt den Atem an. Sich hier reinzusetzen war definitiv Selbstmord gewesen. Besonders da Rye innerlich mit seiner Wut zu rangeln schien und er sich von Äußerlichkeiten nicht beeinflussen ließ. Es interessierte ihn nicht mal, ob Gin seiner Aufforderung folge geleistet hatte. Ryes bleiche Hände zitterten und waren fest um das Lenkrad geklammert. Den Blick richtete er dabei starr durch die Frontscheibe. Doch seine Augen wirkten ausdruckslos. Als würde er etwas Anderes als die Straße vor sich sehen. Und genau da lag das Problem. Nachdem der Chevy wieder eine gerade Bahn fuhr, schnallte sich Gin an, wobei sein Herz beinahe schneller raste als der Wagen. Er musste Rye irgendwie beruhigen wenn er nicht hier drin sterben wollte. „Alles in Ordnung mit dir?“, versuchte er vorsichtig ein Gespräch zu beginnen. Rye presste die Lippen vor Zorn zusammen. „Das sollte ich eher dich fragen.“, erwiderte er mit angespannter Stimme, von welcher sich Gin aber nicht aus dem Konzept bringen ließ. Er zuckte mit den Schultern. „Bis jetzt schon. Aber ich weiß nicht, wie es sein wird, wenn du weiter wie ein Bekloppter fährst.“, machte der Silberhaarige seinen Partner darauf aufmerksam, die Geschwindigkeit zu drosseln, was aber nicht passierte. Unzählige Male überholte Rye irgendwelche fremden Autos, fuhr über eine rote Ampel und riss bei jeder Kurve das Lenkrad so scharf wie möglich herum. Das dröhnende Hupen der anderen Autofahrer war nur schwer auszublenden. Durch diese Fahrerei wurde ihm im wahrsten Sinne des Wortes schlecht. Er unterdrückte dieses Gefühl bestmöglich und verlangte von Rye zu erfahren: „Warum sollte ich überhaupt auf dich warten? Wo fährst du hin?“ Ihm fiel kein logisches Ziel ein. „Ich fahr dich nach Hause, wohin sonst?“, entgegnete Rye gereizt, woraufhin Gin verwirrt die Stirn in Falten legte. „Du weißt doch gar nicht, wo ich wohne.“, sagte er. „Das wirst du mir schon sagen, wenn du nicht vorhast eine lang andauernde Spazierfahrt mit mir zu machen.“, kam es gehässig von Rye. Jetzt hatte Gin genug. „Ich sag dir gar nichts, halt sofort an!“, forderte er streng. Jedoch traf diese Forderung auf taube Ohren. „Damit die nächsten Kandidaten, mit denen du noch eine offene Rechnung hast, kommen und dich kidnappen oder gar umbringen? Vergiss es.“, fuhr Rye ihn spöttisch an. „Die gibt es nicht.“ Das stimmte tatsächlich. Ein solcher Fehler war Gin sonst nie unterlaufen. All seine Gegner und Feinde der Organisation waren längst tot. Bei Sigma handelte es sich ausschließlich um ein Missverständnis. „Das soll ich dir glauben?“ Rye ließ sich nicht so einfach überzeugen. „Halt die Karre an und lass mich aussteigen!“ Gin ging nicht auf die Frage ein. Für eine Diskussion hatte er jetzt erst recht keine Nerven übrig. Schlimm genug, dass Rye so uneinsichtig war und ihn herumkommandierte. Als ob er das nötig hätte. Gin entwich ein frustriertes Seufzen. Sich aufzuregen würde ihn auch nicht weiter bringen. Und da Rye offenbar begann ihn zu ignorieren, musste er sich was Neues einfallen lassen. „Kannst du wenigstens irgendwo parken und eine Pause machen? Wenn du wieder runtergekommen bist, darfst du mich gern nach Hause fahren.“, bot Gin seinem Partner im freundlichen Tonfall an. Wobei diese Aussage natürlich gelogen war. Bei der nächstbesten Gelegenheit würde er die Flucht ergreifen. Da lockerten sich Ryes Hände am Lenkrad auf einmal. Er zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Gedanklich betete Gin, dass sich der Schwarzhaarige auf den Kompromiss einlassen würde. Womöglich musste er erst mal etwas von der Wut in seinem Inneren vertreiben, um eine Entscheidung treffen zu können. „Einverstanden.“, meinte Rye nach einer Weile tonlos. Gin spürte förmlich wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Er wurde von dem Gefühl der Erleichterung eingehüllt, als sein Partner in eine Lücke am Straßenrand einparkte und der Chevy zum Stillstand kam. Rye stellte den Motor aus, woraufhin sich Gin kraftlos im Sitz zurückfallen ließ. Er genoss die einkehrende Stille und hoffte, dass Rye diese nicht unterbrechen würde. Mit geschlossenen Augen atmete er ein paar Mal tief durch, um seinen rebellierenden Magen zu beruhigen. Dabei bemerkte er, dass Ryes Atem zittrig klang. Gin drehte leicht den Kopf und sah, wie der Schwarzhaarige schweigend den Autohimmel beobachtete. Sein Blick war leer. Er versuchte in der Dunkelheit Ryes Augenfarbe zu erkennen. Sie waren wieder zu einem leuchtenden Grünton gewechselt und schimmerten im schwachen Licht einer Straßenlaterne, die sich außerhalb des Chevys befand. Immerhin war es ihm erfolgreich gelungen Rye zum Anhalten zu bringen. Jetzt musste er es nur noch schaffen, den Wagen zu verlassen. Jedoch glaubte er, dass das nicht so einfach war. Ryes Persönlichkeit war viel zu wachsam, als dass er sich heimlich abschnallen und schnell die Autotür aufreißen konnte. Also blieb nur, dass sie gemeinsam den Chevy verließen und er sich dann unauffällig aus dem Staub machte. „Aber wie? Welchen Vorwand kann ich benutzen, um ihn vom Aussteigen zu überzeugen?“, überlegte Gin. Er beugte sich vor und ließ den Blick durch die nahe Umgebung schweifen. Ringsherum gab es nicht viel, was ihm helfen könnte. Das lag wohl daran, dass sie sich längst nicht mehr an einer Hauptstraße befanden. Doch Gin erkannte im Rückspiegel plötzlich seine Rettung. Ein leuchtendes Eingangsschild eines Ramenrestaurants mit der Aufschrift ‚Geöffnet‘. Das traf sich eigentlich ganz gut, denn er hatte den ganzen Tag noch nichts Anständiges gegessen und seinen verstimmten Magen würde es bestimmt auch gut tun. Prüfend sah er zu Rye und erschauderte, als sich ihre Blicke trafen. Sein Partner musterte ihn verwundert, bevor er fragte: „Ist was?“ Zu Gins Beruhigung klang Rye schon viel entspannter. „Naja, es ist spät… und ich hab noch nichts gegessen.“ Er machte eine Handbewegung in Richtung des Restaurants, woraufhin sich Rye umdrehte und dieses ebenso entdeckte. „Wenn du willst, können wir dort was essen...“, schlug der Schwarzhaarige in einem nachdenklichen Tonfall vor. Gin verdrehte gedanklich die Augen. „War ja klar, dass er unbedingt mitkommen will, diese lästige Klette..“, dachte er murrend. Aber bevor er nach Hause konnte, musste er das wohl über sich ergehen lassen. Vielleicht würde er die Gelegenheit nutzen können, um Rye während des Essens ein paar Fragen zu stellen. Es interessierte ihn unter Anderem brennend, wieso Rye zufällig in der Nähe gewesen war, um ihm aus der Klemme helfen zu können. „Meinetwegen.“, meinte Gin seufzend. Er schnallte sich ab und stieg aus. Kaum hatte er die Tür zu geschlagen, stand Rye schon neben ihm. Der Kerl war definitiv schneller als erlaubt und das bei Allem, was er tat. Mit abgewendetem Blick ging Gin an ihm vorbei zielgerichtet zum Restaurant. Durch die Glastür konnte er erkennen, dass nur wenige Gäste drinnen speisten. Rye betrat das Restaurant zuerst und hielt Gin die Tür auf, was dieser aber ignorierte. Die Tische waren an der Wand in einer Reihe aufgestellt, gegenüber von der Theke. Die Lampen an der Decke leuchteten in einem schwachen Orangeton und erzeugten mit den braunen Holzwänden eine warme, gemütliche Atmosphäre. Es war recht still, da nur die Angestellten miteinander redeten und die Gäste sonst vereinzelt verteilt im Raum saßen. Wortlos setzte sich Gin an den leeren Tisch am Ende der Reihe und schnappte sich auch gleich eine von den Speisekarten, die auf dem Tisch herumlagen. Kurz darauf nahm Rye gegenüber von ihm Platz, jedoch rührte er die Karte nicht an. Nach wenigen Minuten kam auch schon eine Kellnerin herbeigeeilt und fragte mit einem übertriebenen Lächeln auf den Lippen: „Guten Abend. Haben die Herren sich schon entschieden?“ Sie sah dabei hauptsächlich Rye mit einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck an, wurde jedoch nicht von ihm beachtet. Stattdessen waren Ryes Augen ununterbrochen auf Gin gerichtet, welcher deswegen peinlich berührt den Kopf senkte und tonlos sagte: „Ich nehm die Shoyu-Ramen und eine Bloody Mary.“ Nachdem die Kellnerin die Bestellung wortlos notiert hatte, fragte sie Rye im zuckersüßen Tonfall: „Und was ist mit Ihnen?“ Allmählich ging ihre Art Gin auf die Nerven. Die Frau machte den Eindruck, als würde sie Rye jeden Moment um den Hals fallen. Dieser wandte nur unwillig den Blick von dem Silberhaarigen ab und meinte: „Danke, ich möchte nichts essen.“ Die Kellnerin zog überrascht eine Augenbraue nach oben. „Und was zu trinken?“, hakte sie nach. Rye setzte ein weiches Lächeln auf und erwiderte freundlich: „Nein, auch nicht.“ Die junge Frau schien kurz wie benommen, bevor sie verdattert nickte. Gin hingegen verkniff sich ein Kopfschütteln. Wie musste der Kerl bitte auf sie wirken? „Na gut. Falls Sie es sich anders überlegen, rufen Sie einfach.“, gab die Kellnerin augenzwinkernd Bescheid und entfernte sich anschließend vom Tisch. Womöglich musste sie erst mal die Fassung wiedererlangen, die ihr bei Ryes Anblick offenbar verloren gegangen war. „Wieso wolltest du überhaupt mitkommen, wenn du sowieso nichts essen willst?“, wollte Gin von seinem Gegenüber wissen. Er verstand es nicht. Normale Menschen würden wenigstens ein Wasser bestellen. Aber Rye war ja kein normaler Mensch. „Ich wollte nur sichergehen, dass niemand dir dein Essen vergiftet oder auf die Idee kommt irgendwas gegen dich zu verwenden.“, entgegnete er schmunzelnd und stützte den Kopf in seiner Handfläche ab. „Aha. Ich kann es aber nicht leiden, wenn man mir beim Essen zuguckt.“ Gin glaubte, dass Rye ihn jetzt die ganze Zeit so verträumt anstarren würde. Und das würde ihn zunehmend stören. Der Kerl brachte auch ihn so langsam aus der Fassung. Vor gerade mal 15 Minuten hatte der Schwarzhaarige vor Wut förmlich gekocht und jetzt saß er ihm mit einer weichen Miene seelenruhig gegenüber, als sei nie etwas gewesen. „Ich auch nicht.“, meinte Rye ruhig. Das erklärte wohl alles. Wobei Gin jetzt wieder einfiel, dass Ryes Kühlschrank zu Hause komplett leer gewesen war. Wenn er also in der Wohnung kein Essen hatte und nicht gern in der Öffentlichkeit aß, wann und wo nahm er dann seine Mahlzeiten ein? „Was interessiert‘s mich...“ Momentan schwirrten Gin wirklich wichtigere Fragen im Kopf herum, als über Ryes Essensgewohnheiten. Er wusste gar nicht, welche er zuerst stellen sollte. Jedoch war es weniger motivierend, dass Rye wahrscheinlich jeder Frage ausweichen würde. Das wollte sich Gin von jetzt an nicht mehr gefallen lassen. „Kannst du mir eigentlich mal erklären, woher du wusstest, wo ich war?“, fragte er seinen Gegenüber direkt. Rye blinzelte ihn aufgelöst an. „Ich war nur zufällig in der Nähe und hab dich von weitem gesehen.“, antwortete er und Gin durchschaute die Lüge sofort. Es war auch nicht wirklich gut gelogen. Der Silberhaarige verengte die Augen. „Okay, wie du willst.“, meinte er unbekümmert und erhob sich von seinem Stuhl. Er war es leid sich andauernd diese Ausreden anhören zu müssen, besonders wenn Rye ihn dann immer wie den Schuldigen behandelte. Es wunderte ihn bereits, wieso der Kerl ihm noch keine Vorwürfe machte oder nicht auf ihn einredete. „Nein, warte!“, hörte Gin plötzlich Ryes Stimme hinter sich. Der Schwarzhaarige hatte sich über den Tisch gebeugt und hielt Gin nun am Ärmel fest. „Bitte setz dich wieder.“, fügte Rye in einem leiseren Tonfall hinzu. „Warum? Ich hab keine Lust mich ständig von dir belügen zu lassen.“ Gin wollte seinen Arm wegziehen, doch Ryes Griff war unerbittlich. „Ich werde dich nicht mehr anlügen, versprochen.“, entgegnete er, woraufhin Gin ihm einen misstrauischen Blick zuwarf. Innerlich war er jedoch erstaunt über Ryes indirektes Geständnis, dass er ihn bisher wirklich immer angelogen hatte. Das Versprechen konnte unmöglich ernst gemeint sein, auch wenn Ryes verletzt wirkender Gesichtsausdruck gegen diese Annahme sprach. „Gibt es ein Problem?“ Beide Männer drehten sich überrascht zu der Kellnerin, die mittlerweile mit der Bestellung zurück war. Eine Weile verharrten sie noch in der Position und sahen sich an, bevor Rye langsam Gins Ärmel wieder losließ. „Nein, alles in Ordnung.“, teilte er der Frau beschwichtigend mit und wandte sich Gin mit einer unschuldigen Miene zu. „Nicht wahr?“ „Hmh.“, kam es von diesem gereizt. Beide setzten sich wieder hin, wobei Gin dies nur widerwillig tat. Die Kellnerin ließ den kleinen Streit unkommentiert und nachdem sie Gin die Shoyu-Ramen und die Bloody Mary hingestellt hatte, verschwand sie wieder. „Also, ich höre?“, bezog sich Gin wieder auf seine Frage, was Rye offensichtlich gar nicht passte. Seine Lippen formten eine gerade Linie, sodass keine Antwort aus ihnen entweichen konnte. So ganz wollte er nicht mit der Wahrheit rausrücken, weshalb Gin ihm mit einer weiteren Frage entgegen kam: „Hast du mich verfolgt?“ Ertappt drehte Rye den Kopf zur Seite, um Gins eindringlichem Blick auszuweichen. „Nicht ganz, also…“, begann er und brach den Satz mittendrin ab. Gin wartete aufmerksam, bis sein Gegenüber nach ein paar Sekunden fortfuhr: „Ich hab dich in der Bibliothek gesehen, du mich aber nicht… Und als ich draußen bemerkt habe, dass diese Typen anfingen dir hinterherzulaufen, konnte ich nicht anders…“ „Und was wolltest du in der Bibliothek?“ Gin gab sich mit dieser Erklärung vorerst zufrieden, auch wenn er eine weitere Lüge witterte. Zumindest waren in der Bibliothek wirklich viele Menschen gewesen und er hatte sich auch nicht genauer dort umgesehen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sowohl er, als auch Rye, zufällig zur selben Zeit in der Bibliothek gewesen sein sollen, war immer noch sehr gering. „Ich hab da nach etwas gesucht, aber nicht gefunden. Und jetzt frag mich bitte nicht wonach, denn das geht dich wirklich nichts an.“, antwortete Rye ernst. „So eine Frage ist doch viel zu langweilig. Da gibt es noch dutzend interessantere, die ich dir stattdessen stellen kann.“, meinte Gin mit einem Grinsen auf den Lippen, woraufhin Rye die Stirn runzelte und skeptisch erwiderte: „Wieso hab ich das Gefühl, dass sich das zu einem Verhör entwickeln wird?“ Gins hämisches Grinsen wurde breiter. Zum ersten Mal glaubte er, dass er bei seinen Fragen auch nützliche und vor allem halbwegs ehrliche Antworten von Rye erhalten würde. Denn anscheinend wollte der Schwarzhaarige aus unerklärlichen Gründen auf keinen Fall, dass Gin einfach ging. Doch um das zu verhindern, musste er ehrlich antworten. Ihm blieb also keine Wahl. Im nächsten Moment vernahm Gin ein Seufzen von seinem Gegenüber. Dessen darauffolgende Worte kamen überraschend: „Es tut mir leid.“ „Was?“, fragte Gin verwirrt, woraufhin Rye den Kopf senkte. „Dieser Kerl von vorhin… das war doch der Anführer dieser seltsamen Gruppe von dem Meeting im Westin Hotel. Es ist meine Schuld, dass er dir auflauern konnte…“ Während Rye sprach, nahm Gin den Löffel in die Hand und begann langsam die Ramen zu essen. Wenn ihm der leckere Duft nicht in die Nase gestiegen wäre, hätte er beinahe vergessen, dass sie überhaupt dort standen. „Wieso sollte es deine Schuld gewesen sein?“ Er konnte seinem Partner immer noch nicht ganz folgen. „Ich habe ihn verfolgt. Und als ich ihn fast erwischt hatte, kam es zu der zweiten Explosion und ich entschied mich dafür, dir zur Hilfe zu eilen. So ist der Kerl mir entkommen, bevor ich ihn töten konnte.“, schilderte Rye die vergangenen Ereignisse, wie Gin sie bisher noch nie betrachtet hatte. Zwar hatte er mitbekommen, dass Rye ihm zur Hilfe gekommen war, jedoch nicht was dieser dafür aufgeben musste. „Letztlich wäre es egal gewesen, welche Wahl ich getroffen hätte. Wenn ich Sigma weiter verfolgt hätte, wärst du von seinen Leuten noch am selben Abend erschossen worden. Doch weil ich den Kerl habe entkommen lassen, konnte er dich jetzt im Nachhinein aufspüren. In beiden Fällen wärst du früher oder später gestorben.“ Ryes Stimme klang verzweifelt und verriet, dass er sich selbst verfluchte und für das Geschehene verantwortlich fühlte. Gin ließ den Löffel in die Brühe fallen und starrte den Schwarzhaarigen mit großen Augen an. Ryes Worte hatten ein undefinierbares Gefühl in ihm ausgelöst. Zu wissen, dass er ohne Rye keine Chance auf ein Leben gehabt hätte. Ohne Rye wäre er bereits tot und würde jetzt nicht vor ihm sitzen. Es so vor Augen gehalten zu bekommen, sorgte dafür, dass Gin allmählich anfing, die Rettung wertzuschätzen. Auch wenn Rye in vielerlei Hinsicht ein unerträglicher Geselle war, musste sich Gin eingestehen, dass sein Partner viel für ihn riskierte. Vielleicht sogar alles. Aus irgendeinem Grund schien er Rye wirklich wichtig zu sein. Doch Gin konnte und wollte das nicht nachvollziehen. Er behandelte den Schwarzhaarigen meistens von oben herab und war nie sonderlich nett zu ihm. Deshalb konnte er sich nicht ansatzweise erklären, wieso Rye ihn auf irgendeine Weise mochte. Oder hatte er diesbezüglich auch Hintergedanken? Wollte er etwas Bestimmtes von ihm und war nur deswegen so zuvorkommend und hilfsbereit? „Eigentlich hab ich ja nichts, was er wollen könnte.“ Da machte sich Gin keine Illusionen. „Das Schicksal ist immer so grausam zu mir.“, murmelte Rye plötzlich vor sich hin. Mit einem schmerzvollen Lächeln starrte er nach wie vor auf die Tischplatte. Gin fühlte sich jedes Mal aufs Neue von Ryes Worten überwältigt. Und diesmal konnte er sie nicht richtig deuten. An so etwas wie Schicksal glaubte er nicht einmal. „Was soll mein Leben mit deinem Schicksal zu tun haben?“, fragte er mit hoch gezogener Augenbraue. Rye blickte überrascht zu ihm auf. Als wäre ihm nicht bewusst, dass seine Worte gehört worden waren. „Vergiss es einfach… Nimm nicht immer alles so ernst, was ich sage.“ „Das tu ich auch nicht, glaub mir.“ Wo wäre Gin da bereits gelandet, wenn er das täte. Obwohl er viele Worte von Rye im Gedächtnis behielt. Womöglich auch zu viele. Die in Rätsel gesprochenen Worte waren eben eins von vielen Dingen, die Rye interessant wirken ließen. Nach kurzem Schweigen fügte der Silberhaarige noch leise hinzu: „Aber… trotzdem danke… dass du mich gerettet hast.“ Irgendwie fühlte er sich zu einem Dank gezwungen. Jedoch war es ihm noch nie so schwer gefallen, einen Satz auszusprechen. Es war ihm nicht nur peinlich sich zu bedanken, sondern auch den Tatsachen offen ins Auge zu blicken. Denn eigentlich hasste er es von jemanden gerettet werden zu müssen und Rye hatte dies inzwischen schon drei Mal getan. Das waren definitiv drei Male zu viel gewesen. Aber vielleicht würde Rye eher dazu tendieren ihm die Wahrheit zu sagen, wenn er ein ehrlich gemeintes Danke zu hören bekam. „Von welchem Mal sprichst du jetzt?“, fragte Rye scherzhaft, bevor er begann leicht zu lachen. Gin wandte vor Scham den Blick ab. Natürlich musste der Kerl die ohnehin peinliche Lage noch verschlimmern. „Nein im Ernst… wie hast du es geschafft so lange ohne mich am Leben zu bleiben bei den ganzen Gefahren, die du anziehst?“ Trotz der ersten drei Worte klang Ryes Tonlage ironisch und auch etwas arrogant. Jetzt ging er wirklich zu weit. Als ob Gin nicht ohne diesen Trottel überleben konnte. Immerhin entstanden die Gefahren meistens durch ihn. „Übertreib‘s nicht.“, meinte Gin trocken, woraufhin sich Rye die Hand vor den Mund hielt, um nicht erneut lachen zu müssen. „Mal was Anderes… was war vorhin eigentlich mit dir los?“ Nachdem der Silberhaarige diese Frage gestellt hatte, wurde Ryes Miene umgehend wieder ernst. „Ich war nur wütend, nichts weiter.“, spielte er es herunter. „Aber deine Augen und deine Stimme…“, begann Gin zögernd. Er wusste, dass der vollständige Satz wieder mal lächerlich klingen und Rye dementsprechend darauf reagieren würde. Obwohl er versprochen hatte nicht mehr zu lügen. Jetzt konnte Gin überprüfen, ob das Versprechen auch wirklich ernst gemeint war. „Was war damit?“, hakte sein Gegenüber mit angespannter Stimme nach. „Deine Augen waren plötzlich rot… und deine Stimme klang so anders. Viel tiefer. Als wär‘s nicht mehr deine gewesen.“ Gin bemühte sich die Worte so zurechtzulegen, dass es nicht völlig verrückt klang. Aber letztlich musste er feststellen, dass es immer verrückt klingen würde, unabhängig von der Formulierung. Und auch wenn er wusste, was er gesehen hatte, kam er sich dabei total bescheuert vor. Jedes Mal wieder. „Du denkst dir aber auch immer wieder was Neues aus…“, erwiderte Rye seufzend. „Das sagt ja der Richtige… elendiger Lügner.“ Gin konnte nicht verhindern, dass langsam die Wut in ihm aufkam. Der Kerl war mit seinen Anschuldigungen unverbesserlich. „Ich bin enttäuscht, dabei sagtest du eben noch, du willst nicht mehr lügen.“, erinnerte Gin seinen Partner, welcher genervt entgegnete: „Was nicht bedeutet, dass ich deinen Wahnvorstellungen zustimme. Wenn du mal rational denken würdest, würdest du merken, dass das, was du mir vorwirfst gar nicht möglich sein kann.“ „Aber du meintest doch eben du wirst nicht mehr lügen. Damit hast du indirekt zugegeben, dass du mich bisher immer nur angelogen hast. Also kann ich keine Wahnvorstellungen gehabt haben.“, wandte Gin ein. Es fiel ihm zunehmend schwerer ruhig zu bleiben. Er ertrug es nicht, dass Rye so mit ihm sprach. „So war das nicht gemeint.“, behauptete dieser jetzt auf einmal. „Nicht gemeint? Willst du mich verarschen?“ „Du konfrontierst mich ständig mit solchen blödsinnigen Sachen und beschwerst dich, wenn ich es abstreite. Es ist nicht nett mir so was vorzuwerfen und dann noch zu verlangen, dass ich es zugebe.“ Rye verschränkte beleidigt die Arme und lehnte sich im Stuhl zurück. Gin war mittlerweile mit seiner Geduld am Ende. Das Maß war voll. Als ob er sich so ein Verhalten bieten lassen musste. Was war so schwer daran einfach die Wahrheit zu sagen? Stattdessen musste er sich wieder rechtfertigen und als den Schuldigen abstempeln lassen. Gin verzog vor Wut das Gesicht und betrachtete Rye missbilligend. Er konnte diesen arroganten Mistkerl keine Sekunde länger ertragen, ohne dass er nicht auf ihn einschlagen würde. Mit einem Ruck erhob sich der Silberhaarige vom Stuhl, wobei er von Rye erstaunt angesehen wurde. Da es Gin ohnehin bereits in den Fingern juckte, griff er spontan nach seinem vollen Glas mit Bloody Mary und meinte verächtlich: „Nicht nett? Soll ich dir zeigen, was nicht nett ist?“ Kurz darauf kippte er den Inhalt des Glases in Ryes Gesicht und knallte es anschließend wieder auf den Tisch. Der Schwarzhaarige starrte ihn fassungslos an, während ihm die rötliche Flüssigkeit über sein Gesicht lief und anschließend vom Kinn auf seinen Kragen tropfte. Gin ignorierte die entsetzten Blicke der Angestellten und die Aufmerksamkeit der wenigen Gäste, die er mit dieser Geste auf sich gezogen hatte und fügte kalt hinzu: „Halt dich bloß von mir fern. Ich will nichts mehr von dir hören oder sehen. Mir reicht es, mach doch, was du willst!“ Als Rye diese Worte hörte, durchfuhr ihn ein Stich. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Gin drehte sich längst weg und entfernte sich mit schnellen Schritten von ihm. Den Silberhaarigen gehen zu sehen, schmerzte. Dessen Worte schmerzten. Von ihm abgewiesen worden zu sein schmerzte. Alles schmerzte. Rye spürte förmlich, wie etwas in ihm zerbrach und kurzerhand die Wut von ihm Besitz ergriff. Mechanisch nahm er eine von den Servietten und wischte sich das übel riechende Getränk aus dem Gesicht. Dann stand er auf. Gehen ließ ihn eine der Angestellten jedoch nicht. „Junger Herr, Sie müssen noch…“ Rye warf der Frau einen mörderischen Blick zu, ohne dass er sich dessen selbst bewusst war. Seine Gesichtszüge fühlten sich wie versteinert an. Die Frau beendete ihren Satz nicht. Womöglich war sie zu sehr eingeschüchtert. Rye überkam das Bedürfnis ihr auf der Stelle den Hals umzudrehen. Er hörte, wie ihr das Herz bis in die Fingerspitzen schlug. Doch bevor er das tun konnte, verließ er wortlos das Restaurant. Niemand wagte es, ihn nochmal aufzuhalten. Draußen konnte er es nicht lassen, sich nach seinem silberhaarigen Partner umzusehen. Aber zu seiner Enttäuschung erblickte er ihn nirgends mehr. Waren sie jetzt überhaupt noch Partner? Konnte er ihn noch so nennen? Oder war es ihm überhaupt noch erlaubt ihn anzusprechen? Rye durchfuhr ein weiterer Stich. Zwar war Gins Abweisung nicht mit einer Regel gleichzusetzen – er hielt sich sowieso nie an Regeln – doch was nützte es ihm, wenn Gin ihn trotzdem ablehnte? „Letztlich bin ich doch selbst Schuld… Ich hab ihn provoziert und obwohl ich weiß, dass er recht hat, schieb‘ ich ihm alles zu...“, dachte Rye verzweifelt und wurde sich über seinen Fehler im Klaren. Doch ändern konnte er daran nichts mehr. Die Worte, die er Gin zugeschleudert hatte, konnte er nicht wieder zurücknehmen. Eigentlich hatte Rye vor zurück zum Auto zu gehen, doch seine Beine trugen ihn nicht dort hin. Stattdessen bog er in eine Seitengasse ein, die sich neben dem Restaurant befand und ging ein Stück geradeaus. Er bekam gar nicht mit, wie er einen Schritt nach dem Anderen setzte. Irgendwann blieb er mit gesenktem Kopf stehen. „Eine Entschuldigung wird er bestimmt nicht mehr annehmen.“, vermutete er. Gin war eben niemand, der sich zweimal auf jemanden einließ. Der Schwarzhaarige hatte es endgültig bei ihm verbockt. „Ich bin so ein Idiot!!“, fluchte er unkontrolliert und schlug impulsiv gegen eine Mauer neben der er gerade stand. Dabei hatte er seine Kraft versehentlich unterschätzt. Das harte Gestein zerbrach sofort und einige Risse erstreckten sich über die Wand. Mit schockgeweiteten Augen beobachtete Rye, wie einer der Risse immer weiter nach oben kroch, bis ein Teil der Mauer in sich zusammenfiel. Er starrte auf seine Faust, welche begann, vor Wut zu zittern. Die Wut galt jedoch ihm selbst. Alles machte er kaputt. Ohne es zu wollen. Immer sagte er Dinge, die er im Nachhinein bereute. Was sollte er tun, wenn Gin ihn nicht wollte? Dieser Mann war immerhin das, was er wollte. Um jeden Preis. Er hatte seine Existenz noch nie als ein Leben bezeichnet. Doch wenn er so etwas wie einen Lebenssinn gehabt hatte, dann war dieser jetzt fort. Er konnte das Gefühl, welches er dadurch empfand nicht zuordnen. Und weil er das nicht konnte, wandelte er es in zusätzliche Wut um. Denn Wut war das einzige Gefühl, das er zuordnen konnte. Es war ihm so vertraut. Am liebsten würde er schreien. Aber ihm entwich kein einziger Laut aus der Kehle. Dafür schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und ließ sich langsam zu Boden sinken. Zum Glück war niemand hier, der ihn so sehen konnte. Trotz seinem Vorhaben, sich beruhigen zu wollen, gelang es ihm einfach nicht. Er konnte nicht verhindern, dass er in eine Gedankenspirale verfiel. „Aber… warum hab ich das wortlos hingenommen?“, fragte er sich. „Warum hab ich mich abweisen lassen?“ Eine Antwort auf diese Fragen fand er nicht. Er hatte sich noch nie von jemandem so respektlos behandeln lassen. Das durfte sich jetzt nicht plötzlich ändern. „Er darf mich nicht abweisen…“, beschloss Rye. Er war Gin in allen Dingen überlegen. Gin war schwach im Vergleich zu ihm. Er konnte nichts ausrichten, geschweige denn sich wehren. Er war ihm ausgeliefert und konnte nichts dagegen tun. „Wenn er mich nicht will, dann werde ich dafür sorgen, dass er mich will.“, schwor sich Rye. Er würde Gin dazu zwingen. Zur Not auch mit Gewalt. Vielleicht würde er ihn irgendwo einsperren. Dann hätte er ihn für sich allein und er könnte mit ihm tun, was auch immer er wollte. Fest entschlossen richtete sich Rye mit geballten Fäusten wieder auf und sprach übel gesinnt in Gedanken zu Gin: „Wenn du mich nicht willst, wirst du auch keinen anderen haben dürfen.“ Kapitel 16: Wie viel du mir bedeutest ------------------------------------- Rye streifte ewig ziellos durch die Straßen. Unaufhörlich in einem gedanklichen Konflikt mit sich selbst. Sein rational denkender Teil versuchte ihn noch verzweifelt von seinem Vorhaben abzuhalten. Der Drang, Gin umgehend für sich zu beanspruchen, war einfach zu groß. Doch es war nicht richtig. Er durfte das nicht tun. Aber was kümmerte ihn die Moral? Schließlich war Gin doch selbst Schuld. Er hätte ihn nun mal nicht abweisen dürfen. Er hätte diese ganzen Fragen nicht stellen dürfen und lieber die angepassten Lügen akzeptieren sollen. „Nein, das stimmt nicht… es ist meine Schuld…“, wies sich Rye kopfschüttelnd zurecht. Zwecklos. Es spielte keine Rolle wer die Schuld trug. Früher oder später hätte er sowieso zu diesen Maßnahmen greifen müssen. Denn Gin konnte niemanden respektieren, mögen oder lieben. So lauteten Vermouths Worte. Rye hatte sie nicht vergessen. Auf die schmerzfreie, normale Weise hätte er Gin nie bekommen können. Ihm blieb also nichts anderes übrig. Plötzlich blieb Rye abrupt stehen und sah sich um. Die Gegend kam ihm bekannt vor. Er hatte die ganze Zeit über nicht darauf geachtet, wo genau er lang gelaufen war. Doch jetzt realisierte er, in welche Richtung sein innerer Drang ihn getrieben hatte. Er war in Meguro, was er an den dicht beieinanderstehenden Kirschbäumen neben sich am Flussufer erkannte. Gins Wohnung war nicht mehr weit von hier entfernt. „Scheiße… wann hab ich…“ Seufzend lehnte er sich mit dem Rücken an ein Geländer. Jetzt konnte er es ohnehin nicht mehr ändern. Und er wusste, wenn er weglief, würde er irgendwann wieder hierher zurück finden. So war es jeden Abend. Zu seiner Überraschung waren heute weniger Menschen unterwegs. Es musste wirklich schon sehr spät sein. Letztlich gab Rye es auf, seinem Vorhaben zu widerstehen und schlug zielgerichtet den Weg ins Wohnviertel ein. Jedoch beeilte er sich nicht, da noch ein kleiner Teil in ihm hoffte, dass er doch noch von irgendwas aufgehalten werden würde. In seinem Kopf spielte er währenddessen ein paar Szenarien durch, die passieren könnten, wenn er Gin erfolgreich entführt hatte. Dabei fragte er sich, ob er dem Silberhaarigen dann endlich die Wahrheit über alles erzählen konnte. Schließlich würde er Gin keine Sekunde mehr aus den Augen lassen, sodass dieser gar nicht die Möglichkeit dazu hätte, es jemandem zu verraten. Und wenn Rye ihn eingesperrt ließ, konnte er auch nicht mehr in Gefahr geraten. „Abgesehen davon, dass ich die eigentliche Gefahr sein werde...“ Betrübt senkte Rye den Kopf und blieb stehen. „Das ist krank...“, gestand er sich ein. Auch wenn es keinen Unterschied machte. Alles, was er tat, war auf verschiedene Arten krank. Aber er hatte keine Wahl. Er war eben so. Ein Monster, das töten musste, um weiterzuexistieren. Das geschaffen wurde, um Menschen zu vernichten. Brutal, rücksichtslos und unbesiegbar. Es gab keine Alternative. Umso mehr er an das Töten dachte, desto bemerkbarer machte sich sein Durst nach Blut, den er bis jetzt versucht hatte zu unterdrücken. Er hatte sich wohl getäuscht, dass drei Menschen ihm für heute genügen würden. „Ich sollte es nicht übertreiben...“ Mit zusammengebissenen Zähnen hob er den Kopf, woraufhin eine einzelne Person in sein Blickfeld geriet. Sonst war der Weg komplett leer. Es würde keinem auffallen. Unsicher sah er sich um, bevor er doch beschloss, auf die rothaarige Frau zuzugehen, welche einen Koffer bei sich hatte und auf einer Bank offensichtlich auf jemanden wartete. Sie sah noch sehr jung aus. Vielleicht war sie Studentin. Sie schaute abwechselnd nach links und rechts auf die Straße und warf anschließend ungeduldig einen Blick auf ihre Armbanduhr. Rye hörte, wie eine innere Stimme ihm immer wieder zuschrie, es nicht zu tun und einfach umzudrehen. Doch er hörte nicht auf sie und ging weiter. Die Frau behielt er fest im Visier. Erst als er direkt neben ihr stand, bemerkte sie ihn und sah mit verwundertem Blick zu ihm auf. Ihre Miene wirkte so unschuldig. Rye glaubte auch einen traurigen Schatten in ihren blauen Augen erkennen zu können. „Ist was?“, fragte die Frau mit angespannter Stimme und riss Rye aus seiner Starre. Schnell suchte er nach einer plausiblen Antwort. „Denken Sie nicht, es ist gefährlich so spät hier allein zu sitzen? Sie wissen schon, wegen der vielen Morde...“ Beinahe hätte er selbst über den schwarzen Humor in seiner Antwort gelacht. Die Frau setzte ein gequältes Lächeln auf und erklärte: „Es geht nicht anders. Ich muss dringend nach Chiba. Meine Schwester ist gestorben.“ Rye zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Mit so was hatte er nicht gerechnet. Vielleicht kam es ihr deshalb nicht verdächtig vor, dass ein Fremder einfach so auf sie zuging. Ihr Kopf war wohl mit anderen Dingen gefüllt. „Oh… das tut mir leid.“, erwiderte er. Das Lächeln der Frau veränderte sich. „Muss es nicht, Sie kennen mich doch gar nicht.“, sagte sie daraufhin. Rye fiel auf, dass es ihm wirklich leid tat. Das Gefühl, einen wichtigen Menschen zu verlieren, kam ihm bekannt vor. Doch er hielt es für besser, diesem Gefühl nicht weiter auf den Grund zu gehen. Menschen, die er früher vielleicht mal gekannt hatte, waren jetzt nicht mehr wichtig. „Trotzdem… das muss sich furchtbar anfühlen.“ Wie ferngesteuert gesellte er sich zu ihr auf die Bank und starrte auf seine Oberschenkel. Erleichtert spürte er, wie allmählich Ruhe in ihn einkehrte. „Schon. Es ist seltsam… Ich hatte mich nie besonders gut mit ihr verstanden. Aber erst wenn ein Mensch plötzlich nicht mehr da ist, realisiert man, oft zu spät, wie gern man ihn eigentlich hatte. Jetzt bereue ich viele schlimme Dinge, die ich mal zu ihr gesagt habe.“, sprach die Frau neben ihm nachdenklich vor sich hin. Rye war über ihre Redseligkeit überrascht. Besonders gegenüber einem Fremden. Ihr schien es wirklich schlecht zu gehen. Wie ihm. „Das kommt mir irgendwie bekannt vor.“, verriet er und dachte dabei an den Streit mit Gin. Da verflog die innere Ruhe wieder und er begann sich erneut über den Silberhaarigen Gedanken zu machen: „Ob er heil zu Hause angekommen ist? Schläft er sogar vielleicht schon?“ „Haben Sie etwa auch jemanden verloren?“, fragte die Frau nun vorsichtig und beugte sich leicht vor, sodass ihre roten Haare über ihre rechte Schulter fielen. Gedanklich beantwortete Rye die Frage mit Ja. Je nach dem, wie man verlieren interpretierte. „Naja, sozusagen. Aber er ist nicht gestorben.“, meinte er, ohne Gins Namen zu erwähnen. Gerade konnte er das nicht. Zumal die Frau den kaltblütigen Mörder ohnehin nicht kannte, was wahrscheinlich auch besser so war. „Was dann?“, erkundigte sie sich. „Ein Streit.“ „Verstehe. Und ist das-… oh, ich… Entschuldigen Sie. Das geht mich ja gar nichts an.“ Rye drehte verwundert den Kopf zu ihr und sah, wie sie sich beschämt die Hand vor den Mund hielt. Ihre offene Art war zumindest etwas aufheiternd. Jedenfalls lenkte es den Schwarzhaarigen von seinen eigentlichen Absichten ab, von denen er inzwischen absah. Er hatte nicht mehr vor, sie zu töten. „Schon in Ordnung. Fragen Sie ruhig.“, meinte er, um ihr zu vermitteln, dass er das Gespräch gern weiterführen würde. „Also… wie lange ist es denn her?“, wollte sie wissen. „Ungefähr eine Stunde...“ So genau wusste Rye nicht, wie lange er bereits durch die Straßen geirrt war. Er wusste ebenso wenig, um welche Uhrzeit Gin das Restaurant verlassen hatte. Immer, wenn er bei ihm war, vergaß er die Zeit völlig. Besonders, da er wollte, dass sich jede Sekunde wie eine Ewigkeit anfühlte. „Doch noch ganz frisch… Sind Sie deshalb allein unterwegs? Weil sie den Kopf frei bekommen wollten?“, fragte die Frau in einer bemitleidenden Tonlage. Rye lächelte ironisch. „Ihr fehlt es jedenfalls nicht an Empathie.“, dachte er, bevor er entgegnete: „Gut geraten.“ Er lehnte sich zurück und starrte hinauf in den Himmel. Erst jetzt bemerkte er, wie sternenklar dieser war. Sonst hatte er den Himmel oft bei Nacht beobachtet. Hohe Gebäude waren dafür besonders gut geeignet, da man auf den Dachterrassen nicht mehr viel von der Welt der Menschen mitbekam. Nur das Rauschen des Windes zu hören war immer sehr entspannend gewesen. Doch jetzt hörte er ihn nicht. Es war vollkommen still. Auch die Frau sagte kein Wort mehr. Als Rye den Blick zu ihr zurück schweifen ließ, sah er, wie sie ebenso gedankenversunken in den Himmel starrte. „Es wäre vielleicht besser, wenn Sie die Sache schnell klären...“, riet sie ihm plötzlich. „Ich kenn‘ das gut. Ein Streit kann manchmal sehr lang anhalten und letztlich fühlen sich beide Seiten mies. Wollen Sie mir vielleicht erzählen, worum es bei dem Streit ging? Manchmal hilft es, sich einem Außenstehenden anzuvertrauen.“ Ihre Stimme klang fürsorglich. Sonst ging dem Schwarzhaarigen schnell jemand auf die Nerven. Aber momentan war es aus unerklärlichen Gründen nicht so. Er empfand es einfach als beruhigend sich mit ihr zu unterhalten. Auch wenn er nicht mal ihren Namen kannte. Und das war vielleicht auch nicht nötig. Denn irgendwann würde einer von ihnen zuerst aufstehen und gehen. Danach würden sie sich nie mehr über den Weg laufen. Ohne, dass er weiter darüber nachdachte, schwappten seine Sorgen einfach aus ihm heraus: „Ich weiß nicht… also ich… Ich weiß einfach nicht weiter. Es ist meine Schuld. Und ich denke nicht, dass er sich auch mies fühlt. Im Gegenteil.“ „Wahrscheinlich hat er mich… schon immer gehasst…“, fügte er gedanklich hinzu und verzog dabei sein Gesicht zu einer melancholischen Miene. Obwohl dieser Gedanke nur logisch war. Wenn sogar er selbst sich hasste, warum sollte es dann jemanden geben, der ihn mochte? „Warum sollte es Ihre Schuld sein?“, fragte die Frau verwundert. Rye nahm sie kaum noch wahr. Er war umgeben von unendlicher Leere und fühlte sich, als würde er allein auf dieser Bank sitzen. Als würde er mit sich selbst reden. „Es ist eben, wie Sie sagten. Man sagt die falschen Worte. Es artet jedes Mal aus… dabei will ich doch bloß in seiner Nähe sein. Aber er scheint mich zu hassen. Das hat er von Anfang an… Ich bin wohl einfach nur furchtbar.“, meinte er mit gebrochener Stimme. Er legte den Kopf in die Hände und schloss die Augen. „Sie sind bestimmt nicht so furchtbar, wie Sie denken. Zwar kenne ich Sie nicht, aber Sie machen einen gutherzigen Eindruck auf mich.“, versuchte die Frau ihn aufzumuntern und legte ihre warme Hand auf seinen Rücken. Eigentlich konnte Rye es nicht leiden, wenn ein Mensch ihn berührte. Doch die Wärme fühlte sich überraschend angenehm an, weshalb er die Hand nicht wegschlug. „Das hilft nicht wirklich.“, erwiderte er im kühlen Ton, woraufhin er ein leises Lachen vernahm. „Mag sein. Aber ich weiß, was vielleicht helfen könnte.“ Neugierig hob Rye den Kopf und erblickte ein warmherziges Lächeln. So hatte ihn schon ewig niemand mehr angelächelt. Und ihm wurde in diesem Moment bewusst, wie sehr er so ein Lächeln vermisst hatte. Ob Gin ihn vielleicht jemals so anlächeln könnte? Rye verspottete seinen Gedanken an das Unmögliche. „Und was?“, hakte er nach. „Sie müssen mit ihm sprechen. Wenn Sie wirklich glauben, dass es ihre Schuld ist, sollten Sie sich entschuldigen, bevor es vielleicht zu spät ist. So wie in meinem Fall...“, riet die Frau ihm und senkte anschließend betrübt den Kopf. Rye entwich ein Seufzen. Diese Option hatte er bereits verworfen. Es gab keinen Grund, weshalb Gin eine Entschuldigung annehmen sollte. Er würde ihm diese wahrscheinlich nicht mal mehr abkaufen. So oft, wie der Silberhaarige ihn schon als Lügner betitelt hatte. Und damit hatte er immer recht gehabt. „Er hat gesagt, er will mich nicht mehr sehen.“, sagte Rye wahrheitsgemäß. Es so offen auszusprechen jagte ihm einen unwohlen Schauer über den Rücken. Auf einmal packte die Frau ihn an den Schultern und entgegnete im energischen Tonfall: „Und das akzeptieren Sie einfach? So schnell gibt man doch nicht auf!“ Rye starrte die junge Frau erschrocken an, bevor sie peinlich berührt ihre Hände wegnahm. „Oh, tut mir leid. Ich reagiere manchmal etwas überstürzt.“, entschuldigte sie sich, was Rye ignorierte. „Ich hab nicht aufgegeben… aber ihn zu zwingen ist die einzige Möglichkeit, die von Erfolg geprägt sein könnte. Und ich bin die ganzen Versuche leid von ihm als Partner respektiert zu werden… obwohl das auch nicht das ist, was ich will. In Wirklichkeit will ich-“ Das Hupen eines Autos riss Rye plötzlich aus seinen Gedanken. Aufgelöst schaute er zu dem gelben Taxi, welches vor ihnen hielt. „Mein Fahrer ist da. Es war schön mit Ihnen reden zu können.“, gab die Frau Bescheid, griff nach den Händen des Schwarzhaarigen und drückte sie fest. „Ich wünsche Ihnen noch viel Glück mit Ihrem Freund. Hoffentlich vertragen Sie beide sich wieder.“, fügte sie lächelnd hinzu, bevor sie mit einem Ruck aufstand. Nachdem Rye die unvorhergesehene Geste verarbeitet hatte, entgegnete er freundlich: „Danke. Ich glaube, Sie haben mir etwas neuen Mut gegeben.“ Er wusste allerdings nicht, für was genau er jetzt diesen neuen Mut besaß. Es lag wohl allein in seinen Händen, was er jetzt als nächstes tun würde. „Das freut mich.“ Nach diesen Worten wurde das Gepäck der Frau von dem Taxifahrer im Kofferraum verstaut. Wortlos winkte sie Rye ein letztes Mal zu, was dieser mit einem netten Lächeln erwiderte. Danach stieg sie in den Wagen und fuhr davon. Rye erhob sich erst von der Bank, als das Taxi nicht mehr zu sehen war. Unsicher starrte er zu Boden, während er seinen vorherigen Entschluss nochmal überdachte. „Vielleicht sollte ich ein paar Tage warten… dann hat er sich bestimmt wieder beruhigt.“ Ein Gedanke, den er jedoch für unwahrscheinlich hielt. Wenn Gin ihn wirklich nie wieder sehen wollte, half auch keine Auszeit von wenigen Tagen. Womöglich würde er nur erneut abgewiesen werden, was sich dann noch unerträglicher anfühlen würde als beim ersten Mal. Rye nahm sein Smartphone aus der Jackentasche, um die Uhrzeit zu überprüfen. Es war jetzt 00:13 Uhr. Kurz nach Mitternacht. Um diese Zeit schlief Gin für gewöhnlich schon. Das wusste er, weil er sonst immer schon bei ihm war. Damals, als er Gin zum ersten Mal begegnet war, war er ihm noch am selben Abend unauffällig bis zu seiner Wohnung gefolgt. Warum er das getan hatte, konnte er sich zu diesem Zeitpunkt nicht erklären. Dieser Mann hatte einfach etwas an sich gehabt, wovon sich Rye magisch angezogen gefühlt hatte. Etwas Mysteriöses, aber auch Außergewöhnliches. Alles an Gin wirkte nahezu verlockend. Seine angenehme, raue Stimme. Sein bildschönes Aussehen. Besonders sein unwiderstehlicher Geruch. Rye vermisste jedes dieser Dinge, die er schon lange zu sehr begehrte. Er wollte Gin sehen. Bei ihm sein. Ihn beanspruchen. Sofort. Widerstandslos ließ sich Rye von seinem inneren Verlangen kontrollieren. Einem Verlangen, welches seinen Verstand vernebelte. Ohne es sich bewusst vorgenommen zu haben, lief er in rasender Geschwindigkeit zu einem gewissen 5-stöckigen Wohnblock, welcher niemandem weiter auffallen würde. Er sah genau so schlicht und langweilig wie die anderen Wohngebäude aus. Nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass sich Gins Wohnung im letzten Stock befand. Mit einem erfreuten Lächeln konnte Rye von unten erkennen, dass auch diesmal die Balkontür offen stand. Ein Glücksfall, welcher ihm jede Nacht vergönnt war. Zwar wusste er nicht, aus welchem Grund Gin die Balkontür nicht schloss, doch solange sich der Schwarzhaarige das zu Nutze machen konnte, hatte er gewiss nichts dagegen. Es wirkte fast schon wie eine Einladung. Rye musste nicht sonderlich viel Mühe aufbringen, um die einzelnen Balkons hochzuklettern und sich an den Metallgeländern hochzuziehen. Mit wenigen, geräuschlosen Bewegungen war das schnell erledigt. Vorsichtig setzte Rye einen Fuß nach dem Anderen auf den steinernen Balkonboden. Im Wohnzimmer war es dunkel. Es herrschte Stille. Abgesehen von leisen, gleichmäßigen Atemzügen konnte der Schwarzhaarige nichts hören. Mit einer behutsamen Geste schob er die weißen Gardinen beiseite und betrat den Raum. Sein Blick wanderte sofort zum Sofa, auf welchem Gin friedlich zu schlafen schien. Nur noch im weißen Hemd und langer Jogginghose. Die Beine leicht angewinkelt und eine Hand auf der Stirn abgelegt, sodass seine Augen dadurch etwas verdeckt wurden. Rye spürte, wie sich sein Körper automatisch bei diesem himmlischen Anblick anspannte. Er ging mit langsamen Schritten auf den schlafenden Mann zu, wobei er feststellte, dass er zunehmend nervöser wurde. Sonst war er das eigentlich nie gewesen. Außer in den ersten paar Nächten, die er hier verbracht hatte. Da hatte er noch befürchtet, dass Gin vielleicht aus irgendwelchen Gründen aufwachen könnte oder einen leichten Schlaf hätte. Aber zu seiner Überraschung schlief Gin immer sehr tief und egal, wie nah er ihm bisher gekommen war: Er hatte ihn nie aufgeweckt. Meistens hatte Rye jedoch nur zugesehen. Den Silberhaarigen beim Schlafen zu beobachten, beruhigte ihn einfach. So war er wenigstens beschäftigt und konnte sicherstellen, dass er nirgendwo in der Stadt umher irrte, wo er für viele Menschen eine Gefahr wäre. Nicht, dass er für Gin keine Gefahr war, doch bei ihm achtete er stets darauf nicht die Kontrolle zu verlieren und besaß zudem den Willen sich zu beherrschen. Zu Anfang war ihm das noch sehr schwer gefallen, aber mittlerweile war es auszuhalten. Dachte er zumindest. Denn von Sekunde zu Sekunde wurde ihm klarer, dass allein der schöne Anblick ihm heute nicht genügen würde. Er wollte mehr. So viel mehr. Von Gin. Er konnte an nichts anderes mehr denken. „Wenn ich das tue, gibt es kein Zurück mehr… und ich muss mit den Konsequenzen leben…“, warnte sich Rye gedanklich, während er sich zu Gin herabbeugte und eine Hand nach ihm ausstreckte. Dabei fragte er sich, ob er damit zurechtkommen würde, dass Gin sich ihm niemals unterwerfen würde. Womöglich würde der Kerl bis zum bitteren Ende stur bleiben und mit Hass auf ihn herabblicken. Selbst dann noch, wenn Rye ihn demütigen würde. Doch konnte er das? War eine solche feindselige Beziehung wirklich das, was er wollte? „Rye…“ Der Schwarzhaarige hielt inne. Mit geweiteten Augen starrte er auf Gins weiche Lippen, die sich gerade tatsächlich bewegt hatten. Doch bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass Gin immer noch schlief. Er hatte im Schlaf geredet. „Meinen Namen gesagt…“ Rye konnte es nicht glauben. Warum sollte Gin im Schlaf seinen Namen aussprechen? Träumte er etwa? Von ihm? Ein leichtes Lächeln zierte Ryes Gesicht. Irgendwie machte ihn das glücklich. Er beschloss fürs Erste, sein eigentliches Vorhaben nicht in die Tat umzusetzen. Heute war noch nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance. Allmählich baute sich wieder neue Hoffnung in ihm auf. „Du könntest mir doch verzeihen, wenn ich dich darum bitte, oder?“, stellte er Gin gedanklich eine Frage, auf die er am liebsten sofort eine Antwort erhalten würde. „Du ahnst gar nicht, wie viel du mir bedeutest...“ Rye stützte vorsichtig seine Hände links und rechts neben dem Silberhaarigen ab und beugte sich über ihn. „Und ich selbst kann mir nicht einmal den Grund dafür erklären…“, dachte er verzweifelt, während er Gins süßlichen Duft einatmete. Dieser Mann war wie eine Droge. Eine Droge, die nur ihm allein gehörte. Er würde sie mit niemandem teilen. Und wer es dennoch wagte, sie ihm wegzunehmen, sollte sterben. Als Rye mit einer Hand über Gins muskulöse Brust fahren wollte, stutzte er allerdings. Seine Finger ertasteten keine warme Brust, sondern einen kalten, ledrigen Buchumschlag. Verwirrt runzelte er die Stirn und nahm das Buch, welches bereits aufgeschlagen war, in die Hand. Nach einem kurzen Blick auf die aufgeschlagene Seite erstarrte er jedoch. Trotz der Dunkelheit konnte er klar und deutlich erkennen, was ganz oben in der Ecke für ein dick gedrucktes Wort stand: Eclipse „Hat er etwa...“, begann er gedanklich, doch plötzlich durchbebte ihn der nächste Schock. Gin, der bis eben noch friedlich geschlafen hatte, schreckte mit einem Ruck auf und war wach. Im Bruchteil einer Sekunde legte Rye das Buch wieder hin und wich zurück. Kapitel 17: Schatten -------------------- Eclipse war ein mächtiger Volksstamm bestehend aus Vampiren. Nachdem die Menschen zur Zeit der Antike allmählich sesshaft geworden waren, breiteten sie sich immer weiter aus. Bei Vampiren handelte es sich um gefürchtete, vom Fluch besessene Kreaturen, die sich ausschließlich von Menschenblut ernährten. Lange Zeit versuchte die Menschheit sie zu besiegen, schaffte es aber nie sie zu töten. Die Folge war eine jahrhundertelange Unterdrückung. Solange noch nichts über diese, den Menschen überlegenen, Wesen bekannt war, wurden sie allgemein als eine Anomalie bezeichnet. Vom Aussehen ähnelten sie den Menschen sehr, jedoch mit dem Unterschied, dass sie eine engelhafte Schönheit ausstrahlten. Eine Schönheit, die einladend auf Menschen wirkte und dazu diente, sie zu locken. Doch wenn Vampire nach Blut dürsteten, veränderte sich ihre Gestalt monströs und ihr wahres Gesicht kam zum Vorschein. Neben ihren Blutdurst und der ungewöhnlichen Schönheit zählten ewiges Leben, unbegrenzte Stärke, übernatürliche Schnelligkeit und kalte, undurchdringliche Haut zu ihren Merkmalen. Ihre Sinne arbeiteten schärfer als die der Menschen und jede ihrer Körperbewegungen war enorm flexibel. Es gab nichts auf der Welt, was die Menschen mehr fürchteten. Aber sie hörten nie vollständig auf, sich zu wehren. Etwa 150 Jahre nach dem Beginn der Unterdrückung durch Vampire, tauchte ein Alchemist auf, der nach jahrelanger Forschung eine Möglichkeit fand, sie zu schwächen. Angetrieben von dem Verrat seines eigenen Bruders, welcher zum Vampir wurde und sich Eclipse anschloss, verwendete er seine verbleibende Zeit auf Erden, um zusammen mit einer Widerstandsorganisation dieses Mittel zu perfektionieren. So entwickelten sie eine Möglichkeit Vampiren das ewige Leben zu nehmen, wodurch die Kreaturen zu Staub zerfielen, wenn ihre menschliche Zeit abgelaufen war. Als der Alchemist dieses Mittel nun bei seinem eigenen Bruder anwenden wollte, musste er jedoch feststellen, dass dieser bereits zum Anführer von Eclipse bestimmt worden war. Deshalb wurde durch seinen Versuch, das Mittel an ihm zu testen, ganz Eclipse davor gewarnt. Die Menschheit hatte nun zwar ein Mittel sich gegen die Vampire zu wehren, jedoch keine Möglichkeit, es anzuwenden. Es fehlte eine Waffe, mit welcher man die Monster lang genug ruhig stellen konnte, um es ihnen zu verabreichen. Wenn Gegenstände nicht halfen, musste man erneut zu chemischen Mitteln greifen. Das Betäubungsgift Curare entpuppte sich nach weiteren Jahren der Forschung als die einzig wirksame Substanz, die einen Vampir weit genug schwächen konnte, um ihm jegliche Bewegungsfähigkeit zu rauben. Mit dieser Erkenntnis konnten sich die Menschen endlich erfolgreich gegen die Vampire auflehnen. Um die Jagd auf die Kreaturen zu erleichtern, benutzte man Curare als Pfeilgift, um sie aus der Ferne außer Gefecht setzen zu können, um ihnen anschließend das eigentliche Mittel zu verabreichen. Vampire konnten sich von Natur aus nicht fortpflanzen. Um sich zu vermehren, waren sie dazu gezwungen Menschen zu ihresgleichen zu verwandeln, indem sie sie bissen und so ein Gift in den Blutkreislauf ihrer Opfer spritzten. Doch den Menschen gelang es immer besser sich vor diesen Angriffen zu schützen, weshalb die Vampire nach weiteren 100 Jahren langsam von selbst ausstarben. Daraufhin war es den Menschen möglich wieder in Ruhe und Frieden zu leben. Das Elixier des ewigen Lebens wurde an einem unbekannten Ort versteckt, wo niemand es jemals finden würde. Gerüchten nach soll der Alchemist es für sich behalten haben und unsterblich geworden sein. Ob der Verrat seines Bruders sein eigentliches Motiv war oder ihn etwas Anderes antrieb, kam nie ans Licht. Bis heute gibt es viele Nachahmer und Satiregruppen, deren Ziel es ist, die einstige Anomalierasse wieder auferstehen zu lassen. Es lässt sich schwer herausfiltern, welche davon eine wirklich ernstzunehmende Gefahr darstellen. ~~~ „Nun hör doch endlich auf mit schmollen. Du kannst ruhig zugeben, dass du mich vermisst hast!“, sprach Vermouth entzückt und eilte im Schnellschritt neben Gin her, welcher sie jedoch keines Blickes würdigte. Das Klackern ihrer Schuhe erzeugte ein Echo im Gang des Hauptgebäudes der Organisation. „Hab ich aber nicht.“, schoss Gin kalt zurück, bevor er sich beschwerte: „Kannst du mir mal verraten, wo zum Teufel du die ganze Zeit gesteckt hast? Ich hab einige Strapazen auf mich genommen, während ich nach dir suchen musste!“ Dabei gelang es ihm nicht, einen ruhigen Tonfall beizubehalten. Er hatte die Spielchen dieser Frau wirklich satt, welche jetzt anfing zu kichern. „Ich wüsste nicht, was daran lustig sein sollte...“, murmelte der Silberhaarige gereizt vor sich hin, was die Blondine jedoch überhörte. Plötzlich packte sie ihn am Handgelenk und blieb abrupt stehen. Stille kehrte ein, in der Gin Vermouth fragend ansah. „Aber Darling, du hättest nie nach mir suchen müssen...“, begann die Frau beschwichtigend und legte ihre Hand auf Gins Wange. Dieser konnte die Geste nicht deuten. Misstrauisch runzelte er die Stirn und fragte: „Was meinst du damit?“ Nachdem sich Vermouth vorgebeugt hatte, flüsterte sie: „Ich bin doch längst tot.“ Der Silberhaarige nahm einen kalten Atem an seinem Ohr wahr, der ihn erschaudern ließ. Doch bevor er das Gesagte verarbeiten und den Schreck in sein Gesicht lassen konnte, wurde alles ringsherum schwarz. Vermouths Hand an seiner Wange verschwand und er glaubte, allein zu sein. Gerade, als er nach der Frau rufen wollte, ertönte ein widerhallender, ohrenbetäubender Glockenschlag. Gin schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu. Aber es half nicht. Die Schläge drangen dennoch zu ihm durch und waren nach wie vor unerträglich laut. Benommen taumelte er ein paar Schritte zurück, bis er mit der Hüfte an etwas Hartes stieß. Als er nachsehen wollte und die Augen öffnete, blieb sein Blick jedoch an dem leblosen Körper vor seinen Füßen hängen. Mit geweiteten Augen blickte er auf Vermouths zugerichtete Leiche, die aussah, als wäre sie von einem Tier zerfetzt worden. Gin hob den Kopf und erkannte an den großen Mosaikfenstern, dass er sich in einer Kirche befand. Er hatte sich an eine der Holzbänke des Seitenschiffes gestoßen. Der Teppich unter ihm war lila und geziert von einer roten Blutlache, die sich plötzlich immer weiter auszubreiten begann, wie Gin erschrocken feststellen musste. Doch das Blut stammte nicht von Vermouths Leiche. Im Mittelschiff lagen dutzend tote Körper querbeet verteilt, ein paar aufeinander gestapelt, deren Blut nahezu einen Fluss bildeten. Mittendrin stand eine Person, die von oben bis unten mit Blut überströmt war. Obwohl die Person den Kopf gesenkt hielt und lange, schwarze Haare wie ein Vorhang das Gesicht verdeckten, konnte Gin erkennen, um wen es sich handelte. „Rye…“, wich es dem Silberhaarigen zögernd über die Lippen. Genau in diesem Moment drehte sich sein Partner zu ihm. Der Vorhang fiel und brachte die rotfunkelnden Augen von Rye zum Vorschein. Verschmiertes Blut umrandete dessen breites Grinsen. Boshaftigkeit lag in seinem Gesichtsausdruck. Gin wollte diesem bohrenden Blick entkommen, der ihn wie ein gefundenes Fressen musterte, doch er verharrte nur regungslos an Ort und Stelle. Keiner seiner Muskeln gehorchte ihm. Im nächsten Moment stand Rye bereits vor ihm, ohne dass Gin hatte sehen können, wie dieser überhaupt los gerannt war. Er kniff die Augen zusammen und spürte kurz darauf einen beißenden Schmerz an der Hand, welcher sich von dort in seinem ganzen Körper ausbreitete... Panisch schreckte Gin auf. Sein hastiger Atem erfüllte den Raum. „Beruhig‘ dich… das war nur ein-“ Gin hielt inne. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf den Schatten vor sich an der Wand. Rye stand wirklich in seinem Wohnzimmer und betrachtete ihn eindringlich. Seinem Schock nachgehend griff Gin reflexartig nach seiner Beretta und richtete sie auf die betreffende Stelle. Doch dort war niemand. Ryes Schatten war verschwunden. Gin holte tief Luft, um sich zu beruhigen und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Eine Einbildung…“, wurde ihm klar. Im Augenwinkel sah er, wie die Gardine von einem leichten Windzug bewegt wurde. Er war wieder mal eingeschlafen, ohne es zu merken und hatte deswegen vergessen die Balkontür zu schließen. „Langsam reicht es wirklich, ich werd sonst noch verrückt...“, ermahnte er sich gedanklich und schaute anschließend das Buch auf seinem Schoß vorwurfsvoll an. „Da haben sich wohl im Traum meine Hirngespinste mit dem Inhalt dieses blöden Buches vermischt...“ Er schüttelte den Kopf, um die letzten Fragmente des Traumes zu vertreiben. Doch dann stutzte er. „Aber mal angenommen, das was da drin steht, stimmt… Dann würde Ryes seltsames Verhalten in vielerlei Hinsicht einen Sinn ergeben...“ Er schnappte sich Feuerzeug und Zigarettenschachtel vom Tisch und ging auf dem Balkon, um eine zu rauchen. Dieser albernen Geschichte über Eclipse Glauben zu schenken wäre wirklich dumm. So etwas wie Vampire gab es schließlich nicht. Konnte es einfach nicht geben. In der realen Welt war kein Platz für solche Mythologien. „Aber die Eigenschaften von diesen Viechern… treffen irgendwie schon auf ihn zu…“, musste Gin überrascht feststellen. Ryes Haut war schon ungewöhnlich bleich und fühlte sich tatsächlich auch kalt an. Das hatte Gin oft bemerkt, als der Schwarzhaarige ihn in manchen Momenten berührt hatte, wenn auch nur ganz kurz. Und auch Ryes Bewegungen waren meist sehr schnell und flexibel. Im Nahkampf war er den Gegnern bisher immer überlegen gewesen. Meist durch rapide, geschickte Gesten und eine schnelle Reaktionsfähigkeit. „Als ich vor vier Tagen fast von dem Lastwagen überfahren wurde, war er auch urplötzlich bei mir… und dann hat er…“ Gin erinnerte sich daran, wie Rye den LKW mit seinen Händen einfach weggedrückt hatte. Somit stimmte diese Tatsache auch mit der Eigenschaft der unbegrenzten Stärke überein. Und dass Rye wirklich eine übermenschliche Stärke besaß, war Gin auch in vielen anderen Situationen aufgefallen. Selbst wenn es sich nur um einen unerbittlichen Griff um das Handgelenk gehandelt hatte, aus dem er sich unmöglich hätte befreien können. „Und wenn er unsterblich ist, so wie in diesem Artikel beschrieben, dann erklärt das auch, wieso er damals die Explosion unbeschadet überlebt hat.“, fiel ihm auf. Unbeabsichtigt steigerte er sich noch mehr in seinen angefangenen Gedankengang: „Ich hab ihn auch noch nie etwas essen oder trinken sehen. Außer bei unserer ersten Begegnung, doch da wurde ihm gleich darauf übel… und sein Kühlschrank zu Hause ist leer. Gestern im Restaurant hat er auch nichts bestellt...“ Gin wollte zwischenzeitlich einen Zug von seiner Zigarette nehmen, doch stellte verwundert fest, dass diese bereits ausgebrannt und ein Teil der Asche auf den Boden gefallen war. Achtlos schnipste er die Kippe weg. „Und wenn sie nach Blut dursten, zeigen sie ihre wahre Fratze...“, wiederholte er gedanklich einen Satz des Artikels, während das Bild von Rye aus seinem Traum vor seinem inneren Auge auftauchte und sich mit einer Szene des vorherigen Abends vermischte, als Rye ihn vor den Kerlen beschützt und tiefrote Augen ihn wütend angefunkelt hatten. „Hast du sie getötet? … Ja, sie haben es schließlich verdient…“, hallten seine und Ryes Stimme plötzlich in seinem Kopf wieder. „Moment mal…“ Gin zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Er entdeckte eine vermeintliche Verbindung zu der Mordserie. Allmählich schien sich das Puzzle zusammenzufügen. „Die Morde waren zwar schon in Gange, bevor Rye aufgetaucht war… doch erst kurz danach gab es die ersten zwei Tode in unserer Organisation… Cognac sagte doch, dass die Körper der Opfer immer blutleer sind und die fehlende Menge nicht mit der verbliebenen am Tatort überein stimmt…“ Gin erinnerte sich, wie er und Cognac letztens noch darüber gewitzelt hatten, ein Vampir könnte die Morde begangen haben. Jetzt jagte ihm dieser bizarre Zusammenhang jedoch etwas Angst ein. Es überraschte ihn, dass so vieles auf einmal einen Sinn ergab. Aber gleichermaßen störte es ihn, dass er sich Ryes Verhaltensweisen nur erklären konnte, wenn er davon ausging, dass dieser ein Vampir war. Und das war absoluter Schwachsinn… „So etwas gibt es nicht. Das kann nicht möglich sein. Es muss eine andere Erklärung geben.“, versuchte sich der Silberhaarige verzweifelt einzureden. Doch leider fiel ihm so etwas wie eine andere Erklärung nicht ein. Es war unausweichlich: Er hatte übernatürliche Dinge mit seinen eigenen Augen gesehen und diese konnten sich auch nur mit übernatürlichen Begründungen erklären lassen. Was hatte er denn Anderes erwartet? Was sollte sonst der Grund dafür gewesen sein, weshalb Rye seinen Fragen immer ausgewichen war und jegliche Vorwürfe abgestritten hatte? Welches Geheimnis hätte das ehemalige Mitglied von Eclipse sonst um jeden Preis bewahren wollen? Gins Hände schlossen sich um das Metallgeländer. Er starrte in die Tiefe und seufzte. „Und jetzt? Wenn ich ihn darauf anspreche, kann ich mir wieder was anhören.“, dachte er gereizt. „Zumal ich ihn eigentlich nicht mehr sehen wollte.“ Ein schadenfrohes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er sich an den Anblick erinnerte, wie Rye ihn im Restaurant völlig entsetzt angesehen hatte, während ihm die Bloody Mary vom Gesicht getropft war. Doch das war dem Kerl ganz recht geschehen, so lange und oft, wie er ihn schon bei der Suche nach Vermouth auf die Palme gebracht hatte. Da weiteten sich Gins Augen, als ihm die blonde Frau wieder in den Sinn kam. „Vermouth ist seit dem Abend verschwunden, wo sie mit Rye mitgegangen war… und mal angenommen, sie ist wirklich nicht mehr am Leben und Rye wäre dieser besagte Täter, dann müsste er ja…“ Bei dieser Erkenntnis runzelte der Silberhaarige verwirrt die Stirn. „Aus welchem Grund sollte er sie umbringen und mich danach anbetteln, mir bei der Suche nach ihr zu helfen… Vielleicht wollte er so den Verdacht von sich ablenken… Aber wieso macht er sich die Mühe? Das ist doch nichts als Zeitverschwendung…“ Egal, wie Gin versuchte sich Ryes Unterstützung zu erklären: Es blieb ihm ein Rätsel. „Warum sollte er sie überhaupt umgebracht haben? Sie war immer sehr gütig zu ihm gewesen… da hätte er eher ein Motiv gehabt, mich stattdessen zu töten.“ Eine Frage, die er sich bereits schon einmal gestellt hatte. Zwar waren die Hintergründe jetzt völlig andere, doch das änderte nichts daran, dass er immer noch keine Antwort auf diese Frage gefunden hatte. Und die würde er auch nie bekommen, wenn er Rye nicht selbst fragte. „Aber wie soll ich Antworten aus ihm bekommen, wenn er sich immer rausredet? Ich kann ihm ja schließlich nichts nachweisen…“, überlegte Gin. Doch kurz darauf merkte er, dass das so nicht ganz stimmte. Es gab doch eine Lösung. „Als ich ihn fragte, ob er Sigma und dessen Handlanger getötet hat, hat er es zugegeben. Und falls er wirklich auch die anderen Morde begangen hat, müsste er in dem Fall wieder nach dem gleichen Muster verfahren sein. Wenn Sigmas Leiche genauso zugerichtet ist, wie die bisherigen der Mordserie, dann hätte ich die eindeutige Bestätigung und Rye könnte nichts mehr leugnen.“ Cognac und seine Leute würden die Leichen bestimmt früher oder später finden. Und wenn es soweit war, konnte Gin einfach zum Tatort gehen und Cognac bitten, ihm die Leichen zu zeigen. Rye hatte die Tat immerhin schon gestanden und vielleicht auch indirekt alle anderen Morde. Aber das würde sich noch zeigen. Bis dahin war das ein recht guter Plan und wenn sich Gins Verdacht letzten Endes bestätigte, konnte er Rye damit konfrontieren. Allerdings gab es einen Haken. Der widersinnige Hintergedanke, dass Rye in Wirklichkeit ein Vampir war, wollte nicht aus Gins Kopf verschwinden. „Falls das wahr ist, wie soll ich ihm dann gegenübertreten, ohne von ihm getötet zu werden? In dem Artikel stand, diese Kreaturen seien unbesiegbar…ich hätte im Ernstfall also nie im Leben eine Chance gegen ihn!“, wurde ihm plötzlich bewusst, obwohl er sonst nie an sich selbst zweifelte. Doch Rye war ihm nun mal überlegen, auch wenn er sich das niemals eingestehen wollte. „Es gibt nur ein Mittel, um sich zu schützen…“ Im Artikel hieß es, dass Curare Vampire betäuben konnte. So etwas gab es bestimmt im Labor der Organisation. Da musste der Silberhaarige schmunzeln. Während er den Balkon verließ und die Tür hinter sich schloss, dachte er abfällig: „Wer hätte gedacht, dass ich mal so weit für jemanden gehen würde. Er ist wirklich eine elendige Nervensäge.“ Insgeheim verfluchte er sich dafür, dass er diesen Aberglauben über Vampire doch ein bisschen für wahr hielt. Aber wenn er seine Neugier stillen und seine Grübeleien um Rye ein für alle Mal beenden wollte, hatte er keine andere Möglichkeit. Kapitel 18: Beweis ------------------ Überrascht starrte Gin auf den von der Polizei längst gesicherten Tatort. „Das ging ja doch ziemlich schnell...“ Es war gerade mal 7:00 Uhr morgens. Nach diesem seltsamen Traum hatte der Silberhaarige die ganze Nacht kein Auge zu bekommen, weshalb er zeitig aufgestanden war und daraufhin die Wohnung verlassen hatte. Zudem war seine Neugierde, ob sich sein Verdacht bestätigte, einfach zu groß gewesen, um noch länger zu warten. Obwohl er fast daran gezweifelt hatte, dass sich die Leichen noch am selben Ort befinden würden. Rye hätte sie immerhin auch woanders verstecken oder entsorgen können. Mit zuversichtlicher Stimmung trat Gin bis an das Absperrband heran und ließ seinen Blick durch die Menge an Polizisten und Leuten von der Spurensicherung schweifen. Ohne Cognac würde er den Tatort nicht betreten dürfen. Glücklicherweise entdeckte Gin ihn nach kurzer Zeit. Der Ältere schien gerade ein Gespräch mit einem seiner Untergebenen zu führen und sah dabei ziemlich verärgert aus. Während sich Cognac im nächsten Moment kopfschüttelnd umdrehte, geriet Gin in sein Blickfeld. Verwundert ging er auf diesen zu. „Was ist los? Ich habe den Boss doch noch gar nicht benachrichtigt und es wurden auch noch keine Informationen über den Mordfall irgendwo veröffentlicht...“, sprach Cognac den Jüngeren nachdenklich mit leiser Stimme an. Er konnte sich offensichtlich nicht erklären, wie Gin so schnell von der Tat erfahren konnte. Doch das musste er auch nicht unbedingt wissen. Als Cognac dem Silberhaarigen auf die Schulter fasste, um ihn in eine stille Ecke zu schieben, bewegte dieser sich jedoch nicht von der Stelle. Bevor Cognac fragen konnte, kam Gin ihm zuvor: „Es sind drei Leichen, nicht wahr?“ Der alte Mann sah ihn erstaunt an und fragte: „Woher weißt du das?“ Gin antwortete ihm nicht und stellte stattdessen eine neue Frage: „Konntet ihr schon die Identitäten der Opfer ermitteln?“ Cognac zog die Augenbrauen zusammen. Scheinbar konnte er Gins vorwegnehmende Verhaltensweise nicht ganz deuten, weshalb er einige Sekunden brauchte, um die Frage zu beantworten. „Nein.“, erwiderte er schlicht. Doch die nächste Frage verwirrte ihn nur noch mehr. „Würdest du mir die Leichen zeigen? Ich bin mir sicher, dass ich euch diesbezüglich helfen kann.“ „Sag nicht, du hast etwas damit zu tun.“, sprach Cognac seine Befürchtung aus. Gin blieb allerdings still. Nach einem Seufzen willigte der Ältere schließlich ein. „Na gut, von mir aus. Aber ich bezweifle, dass du da noch was erkennen kannst.“, meinte er und zog währenddessen das Absperrband nach oben, damit beide Männer drunter durch gehen konnten. Gin folgte Cognac schweigend. Dessen Aussage ließ ihn ahnen, was er gleich zu sehen bekommen würde. Und das wollte er auch sehen. Den endgültigen Beweis für Ryes Taten, welcher nur noch wenige Schritte entfernt war. Und mit jedem Schritt steigerte sich die heimliche Vorfreude in Gin. Doch diese löste sich im nächsten Moment in Luft auf, als er mit Cognac am Ende der Gasse angekommen war, in welcher er am Abend zuvor noch von Sigma und dessen Handlangern bedroht wurde. Da war überall Blut, das sogar bis hoch an die Wände gespritzt war. Auf dem Boden lagen einige blutgetränkte Stofffetzen, Knochenteile und sogar Eingeweide verteilt. Es war nicht mehr zu erkennen, was davon mal zu wem gehört hatte. Auch an den zugerichteten Leichnamen konnte nichts mehr festgestellt werden, was auf die Identität der Opfer hinwies. Bei diesem Anblick stockte Gin der Atem. Es zu vermuten und letztlich bestätigt zu bekommen waren zwei völlig andere Dinge, wie er jetzt sprachlos feststellen musste. Die Vorstellung, dass Rye das gestern Abend zustande gebracht haben sollte, jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Trotzdem machte ihn eine Sache stutzig: Wieso war von dem vielen Blut nichts an Ryes Klamotten zu sehen gewesen? Gewechselt hatte er sie jedenfalls nicht, denn das wäre Gin sofort aufgefallen. Obwohl er im Wagen überwiegend auf Ryes Stimmung geachtet hatte, anstatt die Kleidung des Schwarzhaarigen genauestens zu analysieren. „Er war so wütend, als er zurückgekommen ist...“, erinnerte sich Gin. Doch das komplette Ausmaß dieser Wut befand sich erst in diesem Moment direkt vor seinen Augen. „Sie haben es schließlich verdient…“, hallte Ryes Satz abermals in seinem Kopf wider. Nur dass Gin die Worte jetzt anders deutete, was er lieber hätte lassen sollen. Er dachte daran, wie sich Rye Sigma gestern gegenüber verhalten und wie er mit ihm gesprochen hatte. Seinetwegen. Doch das konnte nicht der Grund gewesen sein. Unbeabsichtigt versank er in eine Gedankenspirale: „Was hat ihn so wütend gemacht, dass er sie gleich wortwörtlich zerfetzen musste? Er kannte Sigma nur von dem Meeting, sodass er doch gar keinen persönlichen Groll gegen ihn hegen konnte... Etwa nur, weil Sigma mich-… das ist doch lächerlich!“ „Alles in Ordnung?“, riss Cognacs verunsicherte Stimme Gin plötzlich aus seinen Gedanken. Er ignorierte die Frage und verriet trocken: „Das sind Sigma und zwei seiner Leute.“ Nebenbei bemerkte er, wie sich einige Puzzleteile in seinem Kopf zusammenfügten. Es war seltsam nun ohne Zweifel zu wissen, dass Rye der berüchtigte Täter dieser rätselhaften Mordserie war, deren Opfer alle auf eine so unmenschliche Art getötet wurden, dass sie mit Tierangriffen verglichen wurden. Aber vielleicht war dieser Vergleich berechtigt. Ein Mensch war Rye immerhin auf keinen Fall. Doch die Alternative wollte sich Gin einfach nicht eingestehen. Es gab keine Vampire. Mit langsamen Schritten entfernte er sich rückwärts von den Leichnamen, woraufhin er von Cognac in einem besorgten Tonfall gefragt wurde: „Was hast du denn so plötzlich?“ „Entschuldige, mir ist da gerade was eingefallen.“, log er. Ohne auf eine Reaktion des Älteren zu warten, drehte er sich weg und ging im Schnellschritt davon. Er ignorierte die verwirrten Blicke der Beamten auf sich und verließ den Tatort. Mehr gab es dort nicht zu sehen, was weiter von Belang wäre. Er hatte das, was er wollte: Den entscheidenden Beweis, um Rye konfrontieren zu können. Es war höchste Zeit dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen und alle nötigen Vorkehrungen zu treffen. Gin überlegte, wie er Rye am besten zur Rede stellen konnte und ob er vielleicht vorher den Boss kontaktieren sollte. Aber es bestand keine Garantie, dass dieser ihm überhaupt glauben würde. „Wenn ich ihm mit Vampiren ankomme, denkt er, ich hab den Verstand verloren...“ Ein ironisches Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Naja, vielleicht hab ich das inzwischen wirklich.“ Am Abend in der Scarlet Lounge Gedankenversunken nippte Gin an seinem Mojito-Cocktail. Bisher hatte er sich noch für keinen Weg entscheiden können, um mit Rye in Kontakt zu treten. Irgendwie hatte ihn immer ein mulmiges Gefühl beschlichen, als er versucht hatte, dem Schwarzhaarigen eine SMS zu schreiben, geschweige denn, ihn anzurufen. Nach seinem schroffen Auftritt gestern Abend würde das wahrscheinlich nur komisch rüberkommen und könnte möglicherweise Ryes Misstrauen wecken. Aber ein bisschen interessierte es Gin schon, was in Rye vorgegangen war, als er das Restaurant verlassen hatte. Sonst schien sein Partner sehr empfindlich und leicht zu provozieren zu sein. Doch gestern war keine Reaktion von diesem erfolgt. Rye hatte nicht einmal versucht, ihn nochmal aufzuhalten. „Ob er sauer ist? Nicht, dass er mir doch noch auflauert und mich umbringt.“, dachte Gin scherzhaft, obwohl das eigentlich gar nicht mal so unwahrscheinlich war. „Wenn er das wirklich vorhat, bin ich ja vorbereitet...“ Zwar hatte er vorhin aus dem Labor eine gefüllte Spritze mit Curare mitgehen lassen, fragte sich aber dennoch, ob er somit ausreichend vorbereitet war. Herausfinden wollte er das allerdings nicht unbedingt und einsetzten würde er die Substanz auch nur im Notfall. Als Gin einen weiteren Schluck von seinem Cocktail nehmen wollte, bemerkte er, dass dieser schon wieder leer war. Das war bereits sein Dritter gewesen. Genervt schaute er sich nach einem Kellner um, wobei sein Blick jedoch verdutzt beim Eingang hängen blieb, durch welchen kein geringerer als Rye gerade die Bar betrat. „Was will er hier? Ist er mit jemandem verabredet?“, schoss es Gin sogleich durch den Kopf. Eine Verabredung hielt er für unsinnig, da Rye bisher nie einen kontaktfreudigen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Die einzigen Personen, mit denen der Schwarzhaarige allgemein zu tun gehabt hatte, waren Vermouth und er gewesen. Und da Erstere verschwunden war, blieb nur noch er übrig. Jedoch schien Rye ihn diesmal nicht zu beachten. Bis jetzt. Aufgewühlt wandte Gin den Blick ab, als sich Ryes smaragdgrünes Augenpaar auf ihn richtete. Während Gin auf die Tischplatte starrte, konnte er förmlich spüren, wie Rye hinter ihm vorbeiging und ihm dabei ein Schauer über den Rücken lief. Für einen winzigen Moment hoffte Gin, dass sich sein Partner zu ihm gesellen würde. Doch sobald sich der Silberhaarige dieser aufkeimenden Hoffnung bewusst wurde, erstickte er sie sofort wieder. Zumal sich die Hoffnung nicht erfüllte, denn Rye ging ein paar Tische weiter und setzte sich zu einem fast vollen Tisch dazu. Die Mitglieder, die sich dort bereits befanden, kannte Gin alle nicht. Er saß immerhin sonst allein hier und vermied überflüssige, neue Bekanntschaften. Rye saß mit dem Gesicht zu Gin gewandt, sodass dieser es nicht wagte ihn genauer zu betrachten, um festzustellen, ob Rye ihn beobachtete oder sich einfach nur mit dem Gegenüber unterhielt. Oder beides. „Was soll das denn…“ Diese scheinbar offene Art kannte Gin von seinem Partner gar nicht, der gerade wie ein Wasserfall zu reden schien. Und weil er diese Art nicht kannte, glaubte er, dass Rye irgendwelche Hintergedanken haben musste. „Aber welche…“ Dass der Schwarzhaarige vielleicht hierher gekommen war, um ihn heimlich beobachten zu können, kam jedenfalls nicht in Frage. Rye hätte schließlich nicht wissen können, dass sich Gin hier aufhielt. Da stutzte dieser plötzlich. „Und wenn er es doch wusste?“, kam es ihm in den Sinn. Es war tatsächlich schon öfters vorgekommen, dass er von Rye gefunden wurde, ohne dass er sich den Grund dafür hätte erklären können. Und immer, wenn er nachgefragt hatte, war Rye wie üblich ausgewichen. „Okay, gestern hat er zugegeben mir gefolgt zu sein…“, gestand sich Gin ein. Doch genau das war der Knackpunkt. Jetzt schien es Sinn zu ergeben. „Kann es vielleicht sein, dass er mir fast immer folgt?“, fragte er sich. Das würde auch erklären, warum er an manchen Tagen so ein komisches Gefühl verspürt hatte, von jemandem beschattet worden zu sein. Besonders an dem einen Tag, wo er zu Fuß nach Hause gelaufen war. „Ich fahr dich nach Hause, wohin sonst?“, erinnerte er sich an das, was Rye ihm gestern im Auto auf die Frage geantwortet hatte, wohin er fahren wollte. Daraufhin hatte Gin behauptet, Rye wüsste nicht, wo er wohnen würde. Doch in diesem Augenblick erkannte der Silberhaarige, dass er damit falsch gelegen hatte. „Er weiß, wo ich wohne… weil er mir gefolgt ist.“, sprach er die unangenehme Erkenntnis in seinen Gedanken aus. Auch wenn es dafür keine Bestätigung gab. Er konnte sich irren. Allerdings flüsterte ihm ein vertrautes Gefühl zu, dass dem nicht so war. Rye verhielt sich in seiner Nähe immer sehr merkwürdig, vor allem anhänglich. Insofern, dass alles, was er sagte oder tat darauf hinwies, dass er auf eine bizarre Weise an Gin interessiert war. „Zumindest scheint er sehr auf mich fixiert zu sein…“, wurde diesem klar, während er den Schwarzhaarigen unbewusst musterte, welcher inzwischen verstummt war und dem Gespräch am Tisch nur noch mit halbem Ohr zuhörte. Wenn überhaupt. Wieder wandte sich Gin ab, um Ryes eindringlichem Blick zu entkommen. Er musste an etwas anderes denken, was nicht ganz so leicht war. „Und wenn diese Eclipse-Organisation, aus der Rye stammt, auch Nachahmer sind und sie versucht haben, diese Vampirrasse wieder auferstehen zu lassen? Und ihnen das sogar gelungen ist? Ist Rye wirklich geflohen oder hat er andere Ziele? Vielleicht hat er ja einen bestimmten Auftrag bekommen...“, ging es ihm stattdessen durch den Kopf. Dabei stellte er fest, dass es ihm immer noch schwer fiel, einzuschätzen, wie gefährlich Rye in Wirklichkeit vielleicht sein könnte. Er wusste ebenso wenig, welche Ziele dieser verfolgte und ob eins davon war, ihn früher oder später umzubringen. Womöglich würde sich Rye spätestens dafür entscheiden, wenn Gin ihn mit seinem Verdacht konfrontiert hatte. Und das würde heute noch geschehen. „Vielleicht gibt es einen Grund, wieso er mich nicht tötet. Wenn ich Glück habe, könnte ihn der gleiche Grund auch diesmal davon abhalten.“, hoffte Gin. Auch wenn die Chance, dass er recht hatte, nicht sonderlich hoch war. Aber man konnte ja nie wissen. Viel wichtiger war erst mal, wie er Rye von hier weg locken konnte. Falls der Verdacht, dass dieser ihn sowieso meistens überall hin folgte, stimmte, konnte er sich das jetzt zu Nutze machen. Er bräuchte also nichts weiter tun, als einfach zu gehen und Rye würde ihm von allein hinterhergelaufen kommen. „Ein Versuch ist es wert. Wenn es nicht funktioniert, muss ich ihn halt doch hinbestellen.“, dachte Gin entschlossen und stand anschließend mit einem Ruck auf. So, dass Rye es auch wirklich mitbekam. Wie erwartet schaute der Schwarzhaarige ihn immer noch prüfend an, als er seinen Blick zu ihm schweifen ließ. Gin setzte ein herausforderndes Lächeln auf und sah seinem Partner dabei fest in die Augen. Eine unausgesprochene Einladung, ihm zu folgen. Mehr oder weniger. Rye wusste schließlich nicht, dass er dahintergekommen war. Im nächsten Moment kehrte Gin ihm den Rücken zu, schob den Stuhl an den Tisch und verließ gezielten Schrittes die Bar, ohne sich nochmal umzudrehen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass Rye ihm folgen würde. Gin begab sich zum Fahrstuhl und fuhr hinunter in die Tiefgarage, wo er seinen Porsche geparkt hatte. Er ging langsam zwischen den Autos entlang, bis er seinen Oldtimer erreicht hatte. Direkt gegenüber stand glücklicherweise Ryes Chevrolet. Somit war die Chance höher, dass der Schwarzhaarige ihm damit folgen würde. Gin stieg in den Wagen und knallte die Fahrertür hinter sich zu. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn jedoch noch nicht herum. Stattdessen zündete er sich genüsslich eine Zigarette an und wartete einen kurzen Moment. Sein Blick war ununterbrochen an die Fahrstuhltüren geheftet, welche sich zu seiner Überraschung nach wenigen Minuten zu öffnen begannen. „Du scheinst es mir wirklich leicht machen zu wollen…“, dachte Gin abfällig, als er sah, wie ein gewisser schwarzhaariger Mann mit Strickmütze und Trenchcoat-Mantel aus dem Fahrstuhl trat. Gin verspürte umgehend das Gefühl eines kleinen Erfolges. Mit einem selbstsicheren Lächeln auf den Lippen richtete er den Blick nach vorn, startete den Motor und fuhr in einem gemächlichen Tempo aus der Tiefgarage. Draußen dämmerte es schon. Viel Verkehr herrschte dennoch, was Gin heute ausnahmsweise nicht sehr störte. Er hatte es schließlich auch nicht eilig. Immerhin wollte er sichergehen, dass es Rye leicht fallen würde, ihm hinterher zu fahren. Wie erwartet konnte Gin im Rückspiegel erkennen, wie sich der Chevy hinter ihm in dieselbe Spur einordnete. Zwischen ihnen befanden sich vier weitere Autos, die Gin genügten, um so tun zu können, als würde ihm nichts auffallen. An einer roten Ampel hielt er an und nutzte die zusätzliche Zeit, um sich einen passenden Zielort zu überlegen. Es musste möglichst abgelegen sein, um sich ungestört in Ruhe unterhalten zu können. Allerdings durfte es auch nicht zu abgelegen sein, sodass man zur Not noch in einer in der Nähe liegenden Menschenmasse fliehen konnte. Anders ausgedrückt: Ein Ort, wo es Rye nicht möglich sein würde, unauffällig einen Mord zu begehen. „Obwohl es fraglich ist, ob er sich wirklich dran hindern lassen würde. Wohl kaum. Wenn er sich dafür entscheidet, wird Flucht sowieso nicht mehr möglich sein. Er wäre viel zu schnell.“, wurde es Gin bewusst, während die Ampel wieder umschaltete und er erneut losfuhr. Irgendwie hatte er fast vergessen, wie dumm und lebensmüde diese Aktion hier gerade war. Sonst war er noch nie so leichtsinnig gewesen und er konnte sich nicht erklären, warum er es ausgerechnet heute trotzdem war. Etwas tief in seinem Inneren hielt wohl insgeheim immer noch daran fest, dass Rye ihm nichts tun würde. Unter keinen Umständen. Und solange er daran glaubte, wenn auch nur ein bisschen, konnte er unbekümmert weiterfahren. Gin gab zuerst vor, dieselbe Strecke wie immer zu fahren. Doch kurz bevor er seine Wohnung erreicht hatte, schlug er eine andere Route ein. Hin und wieder vergewisserte er sich unauffällig im Rückspiegel, ob der Chevy noch hinter ihm war. Erst als er sich diesbezüglich sicher war, bog er in die nächste Straße ein. Er fing an Hauptstraßen zu meiden und benutzte stattdessen Schleichwege. Solange, bis er der Meinung war, eine geeignete Stelle gefunden zu haben. Dort parkte er am Straßenrand und stieg aus. Die schmale, unbelebte Straße, in die er ging, entpuppte sich als Sackgasse, da sie von einem hohen Drahtzaun von der dahinterliegenden Hauptstraße abgetrennt wurde. Unsicher warf Gin den Blick über die Schulter und konnte noch erhaschen, wie hinter der Ecke ein Lichtstrahl am Boden, der von Autoscheinwerfern erzeugt wurde, erlosch. Dem Anschein nach war es zum Umkehren bereits zu spät. Gin blieb regungslos stehen und lauschte. Er beobachtete durch den Zaun, wie alle paar Sekunden ein Auto vorbeifuhr. Doch sonst tat sich nichts. Der Besitzer des vermeintlich fremden Autos, der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit hinter der Ecke im sicheren Schatten verbarg, hatte wohl nicht vor, sich von selbst zu zeigen. Gin atmete tief durch. Er nutzte den kleinen Moment, um sich zu sammeln, bevor er sich entschlossen umdrehte und mit fester Stimme begann: „Du brauchst dich nicht zu verstecken.“ Danach wartete er auf eine Reaktion, die jedoch nicht erfolgte. Es blieb still. Scheinbar genügte diese Anmerkung noch nicht, weshalb er in gleicher Tonlage hinzufügte: „Ich weiß, dass du mir gefolgt bist. Denn das tust du immer. Nicht wahr, Rye?“ Kapitel 19: Konfrontation ------------------------- Eine männliche Gestalt mit pechschwarzen, langen Haaren trat aus dem dunklen Schatten und bewegte sich mit gleichmäßigen, ruhigen Schritten auf Gin zu. „Stört dich das etwa?“, fragte die weiche, fast verführerische Stimme, an der er Rye immer erkennen würde. Mit einem frechen Lächeln auf den Lippen blieb dieser wenige Meter vor dem Silberhaarigen stehen. Die Hände hatte er in den Jackentaschen verborgen. Sein Blick wirkte entspannt, aber dennoch fühlte sich Gin durch ihn herausgefordert. Doch er ließ sich davon nicht beirren. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte. Verwirrend für ihn war zudem die selbstsichere, fast stolze Haltung mit der Rye auftrat. Als hätte er bereits gewusst, dass er ihn jetzt damit konfrontieren würde und als würde dies zu seinem Plan gehören. „Diesmal nicht. Ich verstehe nur nicht, was an mir so interessant ist, dass du mir immer folgen musst. Wartest du etwa auf die perfekte Gelegenheit, mich auch umzubringen?“, fragte Gin mit einer gewissen Vorsicht. Die Frage schien Rye jedoch etwas zu verwirren. Sein Lächeln verschwand. Die Augen verengten sich für einen kurzen Moment. Und schließlich fragte Rye mit einer angespannteren Stimme als zuvor: „Warum glaubst du das?“ Gin spürte die vorsichtige Wachsamkeit in seinem Gegenüber und konnte ihm ansehen, dass er das Gespräch lieber in eine andere Richtung gelenkt hätte. Aber das würde er ihm heute nicht gestatten. Darum konfrontierte er ihn direkt mit seiner Vermutung: „Weil du schließlich auch kein Problem damit gehabt hast, die ganzen Morde zu verüben, über denen in letzter Zeit oft in den Medien berichtet wird. Die sogenannten Tierangriffe.“ Aufmerksam beobachtete Gin Ryes Reaktion. Doch es war keine wirkliche Veränderung zu erkennen. „Das warst alles du gewesen, nicht wahr?“, warf er seinem Partner schließlich vor, gespannt, wie dieser die Frage beantworten würde. Erstaunlicherweise gelang es dem Schwarzhaarigen weiterhin den Unbeteiligten zu spielen. Er legte den Kopf schräg und erwiderte: „So was Grausames traust du mir zu? Das ist fast schon beleidigend.“ Gin zog eine Augenbraue nach oben. Zwar war er es gewohnt, dass Rye fast nie etwas zugab, doch gerade fühlte es sich anders an als sonst. Dieses Leugnen schien so sinnlos und wirkte zudem weniger durchdacht. Möglicherweise lag es daran, dass er wusste, dass Gin diesmal einen handfesten Beweis hatte. Vielleicht wusste Rye, dass er sich bereits auf verlorenem Posten befand. Seine nächste Aussage formulierte der Silberhaarige aufgrund dessen bewusst etwas unklar: „Ich hab es aber gesehen.“ Schlagartig veränderte sich die Haltung seines Gegenübers. Schock glitt ihm über sein Gesicht, den er jedoch schnell versuchte zu überspielen. Gin lächelte zufrieden. Rye war nach wie vor kein guter Schauspieler. „Wie?“, fragte er vorsichtig. „Sigmas Leiche.“ Gin beobachte, wie sich so etwas wie Angst in Ryes Gesicht widerspiegelte. Zufrieden fuhr er fort: „Ich bin heute früh in die Gasse zurückgekehrt und die Leichen dort waren im gleichen Muster zugerichtet wie bei den anderen Morden. Du hast mir ja selbst gestanden, ihn und seine Leute getötet zu haben.“ Zu Gins Verwunderung schien sich Rye wieder zu entspannen. „Vielleicht hat ja jemand anderes die Leichen im Nachhinein so zugerichtet. Außerdem, glaubst du im Ernst, diese ganzen Morde soll ein Mensch begangen haben? Das ist unmöglich.“, bestritt der Schwarzhaarige weiterhin. Diesmal wieder deutlich sicherer. Aber dennoch unglaubwürdig. Gin schloss für ein paar Sekunden die Augen und rang mit sich, ob er die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, wirklich aussprechen sollte. Schließlich öffnete er die Augen und wagte es: „Ich habe nie gesagt, dass du ein Mensch bist.“ Im nächsten Moment wich Gin stolpernd ein paar Schritte zurück, da er in zwei tiefgrüne, interessiert wirkende Augen blickte, die plötzlich viel näher als zuvor waren. Rye stand direkt vor ihm. Gin versuchte den ursprünglichen Abstand wiederherzustellen, doch jedem Rückwärtsschritt seinerseits folgte ein Schritt nach vorne von Rye. So lange, bis Gin den Drahtzaun an seinem Rücken spürte und stehenbleiben musste. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“, fragte Rye in einer neugierigen Tonlage, während er die kurze Distanz zwischen ihnen noch weiter verringerte, indem er sich vorbeugte. Gin drehte den Kopf leicht zur Seite, um direkten Augenkontakt mit seinem Gegenüber zu vermeiden. Sonst würde sich die aufkommende Nervosität nur verstärken. Während er schwieg, spürte er, wie Ryes kühler Atem über seine Wange strich und ihn im selben Augenblick erschaudern ließ. Instinktiv wanderte seine Hand in seine Jackentasche und schloss sich fest um die mit Curare gefüllte Spritze. Gin war sich jedoch nicht sicher, ob es wirklich vonnöten war, diese jetzt einzusetzen. Er zögerte sowohl mit seiner Entscheidung, als auch mit seiner Antwort, die er Rye noch immer nicht gegeben hatte. Als Gin jedoch den Mund öffnete, strich ihm der Schwarzhaarige ein paar silberne Strähnen hinters Ohr. „Du kannst es mir ruhig verraten.“, flüsterte Rye daraufhin verführerisch in dieses hinein, wobei Gin einen weiteren Schauer unterdrücken musste. „Er versucht mich aus dem Konzept zu bringen.“, wurde ihm klar. Er durfte nicht zulassen, dass Rye bei diesem Versuch auch erfolgreich sein würde. Mit eisernem Blick sah er seinem Partner tief in die Augen und sprach entschlossen: „Alles an dir wirkt unmenschlich. Angefangen bei deinem Aussehen.“ Er legte seine Hand vorsichtig auf Ryes Wange, um zu verdeutlichen, was er meinte: „Deine Haut ist ungewöhnlich blass und du scheinst eine sehr niedrige Körpertemperatur zu besitzen, mit welcher ein normaler Mensch nicht in der Lage wäre zu leben. Sogar dein Atem fühlt sich kalt an.“ Gin musterte Rye anschließend genau. Doch dessen Miene schien vor Erstaunen versteinert zu sein. Er machte zudem keine Anstalten etwas darauf erwidern zu wollen, weshalb der Silberhaarige einfach fortfuhr: „Du kannst dich unfassbar schnell bewegen und bist außergewöhnlich stark. In lebensgefährlichen Situationen benimmst du dich immer hochmütig. Zuerst dachte ich, du seist einfach nur dumm und unvorsichtig, doch das stimmt nicht. Du bist so, weil du weißt, dass dir nichts passieren kann. Es gibt nichts, was dich umbringen kann.“ Gin pausierte für einen Moment, um durchzuatmen. Je mehr er redete, desto unangenehmer wurde die Situation für ihn. Und Rye dabei unentwegt ansehen zu müssen, um diesem keine Schwäche zu zeigen, machte es nicht gerade leichter. Als er erneut begann zu sprechen, gelang es ihm nicht mehr, seinen scharfen Unterton beizubehalten: „Aber mal davon abgesehen… du scheinst weder zu essen noch zu trinken… Deine Augen können sich rot färben und sogar deine Stimme…“ Gin verstummte, als sich Rye plötzlich mit einem spielerischen Ausdruck in den Augen ein paar Schritte von ihm entfernte. Das breite Lächeln, welches er anschließend aufsetzte, konnte Gin nicht deuten. Er hatte eine andere Reaktion erwartet. Es war merkwürdig, fast schon verdächtig, dass Rye nicht wie gewöhnlich anfing irgendetwas zu bestreiten. Die Situation schien ihm mittlerweile eher hämische Freude zu bereiten. „Und?“ Dieses einzige, amüsiert klingende Wort war alles, was er darauf zu erwidern hatte. Misstrauisch verengte Gin die Augen und offenbarte: „Da du mir immer ausgewichen bist, habe ich selbst versucht etwas über dich herauszufinden. Allerdings hatte ich nur einen Anhaltspunkt: Eclipse. Die Organisation, aus der du angeblich geflohen bist. Und als ich im Internet darüber genauer recherchiert habe, wurde ich zu einem interessanten Buch weitergeleitet.“ „Du hast es dir gestern in der Bibliothek ausgeliehen.“ Ryes tonlose Unterbrechung war keine Frage. Immerhin wusste er es, da er ihm unauffällig bis dorthin gefolgt war. Wie ein Schatten. Ein kleines Lächeln zuckte kurz um Gins Mundwinkel, bevor er leicht nickte und seine Erklärung beendete: „In diesem Buch wurden Kreaturen beschrieben, deren Eigenschaften erstaunlicherweise gänzlich auf dich zutreffen. So fügte sich nach und nach alles zusammen und es fing an einen Sinn zu ergeben. Ich konnte herausfinden, was Eclipse für eine Gruppe ist. Aber noch viel wichtiger: was du bist.“ Gin behielt Rye währenddessen genau im Blick. Dieser hörte ihm bis zuletzt aufmerksam zu und verharrte regungslos. Auch seine Miene blieb bis zu dem Moment unverändert, in dem er anfing leise zu lachen. Gin runzelte die Stirn. Inzwischen bestand für ihn kein Zweifel, dass der Kerl irgendwas im Schilde führte. Was das allerdings war, wollte er lieber nicht in Erfahrung bringen. Auch wenn sein Gespür für Gefahr ihm verriet, dass er das sehr wohl noch herausfinden würde. „Es freut mich, dass du dir extra wegen mir solche Mühe gemacht hast.“ Kaum hatte Rye die Worte ausgesprochen, stand er im darauffolgenden Moment wieder unmittelbar vor Gin, welcher von dieser unerwarteten Bewegung zurückschreckte. Es geschah so schnell, dass er seiner Wahrnehmung nicht traute. Doch diesmal konnte er nicht mehr versuchen, den Abstand wieder zu vergrößern. Sein Körper presste sich nur automatisch stärker gegen den Drahtzaun, was nichts daran änderte, dass die dichte Nähe zu Rye sein Herz aus unerklärlichen Gründen zum rasen brachte. „Und, was waren das für Kreaturen?“, fragte Rye. Doch es klang nicht so, als würde ihn die Antwort wirklich interessieren. Scheinbar fand er nur Gefallen daran, Gin in die Enge zu treiben. Wortwörtlich. Ryes Hand krallte sich über Gins Schulter in den Drahtzaun, woraufhin er seine Frage in einer aufreizenden Tonlage umformulierte: „Was bin ich deiner Meinung nach?“ Gin musste sich konzentrieren, die Worte noch zu verstehen. Die vor Erheiterung glühenden Augen vor ihm brachten ihn durcheinander. Dass das von seinem Gegenüber beabsichtigt war, stand außer Frage. Dieser umfasste nun sanft sein Kinn, während er fordernd hinzufügte: „Sag schon.“ „Ich will das nicht aussprechen… So etwas gibt es nicht…“, entgegnete Gin missbilligend in Gedanken. Seine Befürchtung, dass Rye es nicht leugnen würde, war zu groß. Ausnahmsweise wünschte er sich, dass sein Partner ihm gleich sagen würde, dass er vollkommen den Verstand verloren hatte. Rye sollte einfach wieder alles abstreiten und Ausreden erfinden, die glaubwürdig klingen würden. Wie er es sonst immer getan hatte. Doch was er jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht tun würde. Letztlich zwang sich der Silberhaarige das unvermeidliche Wort über die Lippen: „Ein Vampir.“ „Lauter.“, erfolgte sogleich Ryes Antwort. Seine Stimme klang plötzlich viel härter und strenger. Gin presste die Lippen zusammen. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er geflüstert hatte. Dennoch würde er sich nicht wiederholen. „Du hast mich sehr gut verstanden.“, schoss er kalt zurück, wobei er sich sicher war. Er hatte immerhin gelesen, dass die Sinne eines Vampirs bei weitem stärker ausgeprägt waren als bei Menschen. Aber unabhängig davon war Rye ihm so nah, dass er es trotzdem gehört haben musste. Zum Glück ließ der Schwarzhaarige im folgenden Moment wieder von ihm ab und wich ein paar Schritte zurück. „Na schön.“, meinte er dabei tonlos. „Ich verstehe, so ist das also.“ Er schmunzelte höhnisch in sich hinein. „Du…wusstest das nicht?“, hakte Gin vorsichtig nach. Zumindest wirkte Ryes Reaktion nicht gespielt. Rye schloss die Augen und in seinem Gesicht bildete sich ein gekränktes Lächeln, für welches sich Gin den Grund nicht erklären konnte. Doch Ryes folgende Antwort ließ ihn verstehen. „Eclipse hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Glaubst du, dass es für mich eine Rolle spielt, welches Monster ich bin? Es ändert nichts.“ Die Verzweiflung in seiner Stimme faszinierte Gin für einen kurzen Augenblick. Sie schien darauf hinzudeuten, dass Rye das, was er war, nicht freiwillig sein wollte. Eclipse musste ihn unter Zwang gesetzt haben. „Doch ich muss zugeben, dass du mich sehr überrascht hast.“, wechselte er auf einmal das Thema und öffnete die Augen wieder. „Inwiefern?“, wollte Gin wissen. Kurz darauf setzte Rye ein breites Grinsen auf. Von seiner melancholischen Stimmung war keine Spur mehr in seinem Gesicht verblieben. Stattdessen begannen die smaragdgrünen Augen den Silberhaarigen begierig zu betrachten, sodass dieser das Gefühl bekam von dem Blick eines Raubtiers fixiert zu werden. „Du wusstest, was ich bin. Was ich getan habe. Wozu ich in der Lage sein kann. Aber trotzdem hast du mich hierher gelockt, um mich mit deinem Verdacht zu konfrontieren. Das war nicht sehr klug von dir.“, meinte Rye in einer düsteren Tonlage, wobei sich in den letzten Satz ein Hauch Belustigung schlich. Gin erstarrte. „Also hatte er es doch von Anfang an durchschaut…“, realisierte er. Rye hatte sich also nur aus Neugier dazu entschieden dieses Spiel mitzuspielen, welches sie mittlerweile nach seinen Regeln zu spielen schienen. Und er war scheinbar auch der festen Annahme, dass er der Gewinner sein würde. „Ich wollte eben einfach die Wahrheit wissen.“, erwiderte Gin und versuchte dabei so gut wie es ging nicht eingeschüchtert auszusehen. „Verstehe… Und sag, bist du jetzt zufrieden?“, fragte Rye. „Einigermaßen.“, gab Gin zu. Vollständig zufrieden gestellt war er natürlich nicht. Es gab noch so vieles, was er von seinem Partner wissen wollte. Doch er traute sich nicht mehr diesem auch nur eine einzige Frage zu stellen. Das war gerade nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Ryes Verhalten nach zu urteilen, konnte er sich nicht mal sicher sein, ob er den kommenden, richtigen Zeitpunkt überhaupt noch erleben würde. „Das ist gut…“, murmelte Rye erfreut, während seine Augen Gin für einen winzigen Moment wieder freigaben. Als er sie jedoch erneut auf ihn richtete, funkelten sie diabolisch. „Ich bin es aber noch nicht.“, ergänzte der Schwarzhaarige anschließend. Seine Stimme war erfüllt von Begehren. Den Grund dafür wollte Gin nicht erfahren, da die Chancen schlecht standen, dass dieses Begehren nichts mit ihm zu tun hatte. Rye kam wieder auf ihn zu. Allerdings diesmal mit langsamen, lautlosen Schritten. „Glaubst du im Ernst, dass ich in irgendeiner Weise Angst vor dir habe?“, kommentierte Gin Ryes Verhalten scherzhaft, als dieser vor ihm stehenblieb. Dabei bemerkte er zum Glück, dass er so ein Gefühl wie Angst gerade wirklich nicht empfand. Da war bloß eine gewisse Unsicherheit. Er rief sich die letzten gemeinsamen Wochen mit seinem Partner kurz zurück ins Gedächtnis. Er erinnerte sich bewusst an Momente, in denen Rye nett zu ihm gewesen war und an gefährliche Situationen, aus denen dieser ihm geholfen hatte. Er erinnerte sich an ruhige, ab und zu interessante Gespräche, die er mit ihm geführt hatte. An jedes einzelne freundliche Lächeln, das er ihm geschenkt hatte. Doch das alles führte ihn nur zu der entscheidenden Frage, ob die Person vor ihm noch der Rye war, den er kannte. Oder ob es sich bei dieser teuflischen Seite von Ryes fassettenreicher Persönlichkeit um seine wahre Gestalt handelte. Vielleicht waren die anderen Persönlichkeiten allesamt nur Masken gewesen, die er jetzt abgelegt hatte. „Das solltest du aber. Du solltest schreiend davonlaufen.“, riet Rye ihm mit leerem Blick. Der Gedanke an diese Vorstellung entlockte Gin ein leises Lachen, welches gerade bestimmt unpassend wirkte. Aber das war ihm egal. Er war noch nie vor etwas aus Angst davongelaufen. „Da kannst du lange warten.“, spottete er und beobachtete dabei, wie Rye vor Erstaunen die Augenbrauen nach oben zog und seine Lippen eine harte Linie bildeten. Doch erwidern tat er darauf nichts. Er schwieg einfach nur und schien in Gedanken zu versinken. Wenigstens war seine boshafte Stimmung verschwunden, weshalb Gin die Gelegenheit nutze, um eine Frage zu stellen, die ihn noch interessierte. „Hast du eigentlich auch Vermouth getötet?“, sprach er sie leise aus. Bei dem Namen der Frau verzog sich das Gesicht seines Gegenübers umgehend vor Verachtung, was Gin verwunderte. „Warum willst du das wissen?“, fragte Rye ungehalten. „Weil ich mir nicht erklären kann, was dich dazu verleitet haben sollte.“, entgegnete der Silberhaarige, woraufhin sich Ryes Augen verengten. Er senkte den Kopf und es kehrten ein paar Sekunden Stille ein. Gin wartete geduldig auf die Antwort seines Partners. Doch diese entsprach nicht seiner Erwartung. „Du willst es also unbedingt wissen?“, wollte sich Rye versichern und richtete seinen Blick prüfend auf Gin, welcher die Frage mit einem Nicken erwiderte. Es folgten weitere Sekunden Stille, in denen sich Rye anzuspannen schien. Als würde er etwas mit sich selbst in Gedanken ausdiskutieren und zu keiner Entscheidung gelangen. Schließlich entwich ihm ein Seufzen und er gab ein tonloses „Okay.“ von sich. Gin runzelte verwirrt die Stirn, doch bevor er nachfragen konnte, packte Rye ihn plötzlich am Handgelenk und zog ihn grob hinter sich her. Gins Versuch sich mit den Beinen abzubremsen, um an der Stelle zu verharren, war vergebens. Jegliche Bemühungen sich loszureißen scheiterten, weshalb er nach wenigen Schritten aufgab. Der Griff war einfach zu stark und tat zudem höllisch weh. Doch das schien Rye nicht zu interessieren. Er blickte einfach starr geradeaus und ging gezielten Schrittes zu seinem Chevrolet. „Was soll das?! Lass sofort los!“, beschwerte sich Gin erbittert. Auch wenn er wusste, dass Rye dem Befehl nicht nachkommen würde, so hoffte er zumindest, dass der Schwarzhaarige seinen Griff etwas lockern würde. Aber das tat er nicht. Im Gegenteil. Er erhöhte sogar noch sein Schritttempo, so dass Gin die letzten Meter bloß noch hinter ihm her stolperte. Wortlos riss Rye die Beifahrertür seines Chevys auf und stieß Gin ohne Vorwarnung auf den Autositz. Kurz darauf stützte er seine Hände im Türrahmen ab und beugte sich über den Silberhaarigen, welcher ihm einen entsetzten Blick zuwarf und sich keinen Millimeter vom Fleck rührte. „Wenn du doch versuchen solltest zu fliehen, werde ich dafür sorgen, dass du nie wieder einen Schritt laufen wirst.“, drohte Rye mit scharfer Stimme, bevor er die Tür zuknallte. Kaum eine Sekunde später öffnete sich die Fahrertür und der Schwarzhaarige setzte sich neben Gin. Dieser blieb während des Vorgangs still. Er nahm lediglich eine vernünftige Sitzposition ein und schnallte sich an. Die Drohung beachtete er nicht weiter, da er schließlich nicht vorhatte, zu fliehen. Dennoch fragte er sich, was in Rye gerade vorging. Dessen Miene wirkte zwar ausdruckslos und doch glaubte Gin Wut in Ryes Augen erkennen zu können. „Wo fährst du hin?“, verlangte Gin zu wissen, als der Chevy mit quietschenden Reifen losfuhr. Er hielt kurzzeitig die Luft an und wartete auf eine Antwort, welche er erst nach einer gefühlten Ewigkeit bekam. „Das wirst du gleich sehen.“, schleuderte Rye ihm nichtssagend entgegen, ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen. Gin nahm das schweigend einfach so hin. Eine andere Wahl hatte er sowieso nicht. Trotzdem bekam er eine böse Vorahnung, was den unbekannten Zielort betraf, da er zuletzt nach Vermouth gefragt hatte. Er ging längst nicht mehr davon aus diese noch lebend anzutreffen. Diesbezüglich war Ryes Verhalten aussagekräftig genug. Seufzend gab sich Gin der einkehrenden Stille hin, die er nicht mehr unterbrechen würde. Dass Rye das Tempo begann zu erhöhen, versuchte er bestmöglich zu ignorieren. „Er ist wirklich schlimmer als ein Psychopath…“, scherzte er gedanklich und lächelte dabei für einen kurzen Moment. Glücklicherweise bemerkte sein Partner es nicht, da er ihn nach wie vor ignorierte. Gin versuchte sich damit zu beruhigen, dass Rye so wenigstens auf die Straße achtete. Die Fahrt verlief weiterhin in Schweigen. Obwohl Gins Blick die ganze Zeit über zum Fenster gerichtet war, nahm er nicht wahr, wie die Umgebung an ihm vorbeirauschte. Er sah nur die möglichen Szenarien vor seinem inneren Auge, die passieren könnten, sobald sie den Zielort erreicht hatten. Die Meisten davon endeten nicht gut für ihn. Irgendwann bemerkte Gin, dass der Wagen hielt. Sofort geriet die Meeresküste der Bucht von Tokio in sein Blickfeld, an welcher er erkannte, dass sie sich am Hafen befinden mussten. Doch bei genauerem Umsehen fiel ihm noch etwas anderes auf. Die Umgebung sah ziemlich verwahrlost aus. Es schien nichts mehr in Betrieb zu sein. Die Lagerräume erfüllten schon lange keinen Nutzen mehr für jemanden. Sie waren verlassen und heruntergekommen. Keine Menschenseele lief hier herum. Er war allein mit Rye. Als Gin jedoch seinen Blick zum Fahrersitz lenkte, saß dort niemand mehr. Rye war bereits ausgestiegen. Zögernd schnallte sich Gin ab. Im selben Moment wurde die Tür an seiner Seite aufgerissen und er zuckte zusammen. Doch er hatte keine Zeit, sich von dem kleinen Schreck zu beruhigen, da sein Handgelenk erneut von Rye ergriffen wurde. Dieser zog ihn beinahe gewaltsam aus dem Wagen, knallte danach die Tür zu und zog ihn wieder hinter sich her. Leider am gleichen Handgelenk wie zuvor. Das würde mindestens blaue Flecken im Nachhinein geben. Falls Rye ihm vorher nicht den Arm ausriss. „Ob du‘s glaubst oder nicht, ich kann auch allein laufen!“, jammerte er, was Rye nicht zu hören schien. Gin versuchte einen Blick in dessen Gesicht erhaschen zu können. Es gelang ihm nur ganz kurz, doch dieser Moment genügte, um sich der Wut, die in Ryes Innerem zu toben zu schien, bewusst zu werden. Der Schwarzhaarige musste sich scheinbar mühsam kontrollieren diese Wut nicht versehentlich aus sich herauszulassen. Und damit war er wohl so sehr beschäftigt, dass Gins Stimme ihn nicht mehr erreichte. Vor einem alten, halb zerfallenden Backsteingebäude blieb Rye stehen. Bei dem Anblick wurde Gin noch unwohler zumute. Er hoffte bloß, dass sein Partner nicht vorhatte, ihn da drin bis in alle Ewigkeit einzusperren. Oder schlimmeres. Aber die leichte Neugier tief in seinem Inneren konnte er nicht ganz vertreiben. Aus irgendeinem idiotischen Grund wollte er schon wissen, was Rye gerade an so einem Ort wollte und ob es tatsächlich mit Vermouth zusammenhing. Die verrostete Stahltür wurde bereits zuvor aufgebrochen und ließ sich daher problemlos von Rye öffnen. Kurz darauf wurde Gin von ihm rabiat in die Halle geschubst, wobei er gerade noch vermeiden konnte, anschließend zu Boden zu fallen. Drinnen war es fast dunkel. Nur durch das löchrige Dach und die kaputten Fenstern schien das schwache Licht des Abendhimmels noch hinein. Was Gin sofort wahrnahm: Den seltsam riechenden Gestank, welcher in der Luft lag. Es roch nach totem Fleisch. Plötzlich fiel die Tür hinter ihm zu. Doch als er den Blick über die Schulter warf, entdeckte er zu seiner Verwirrung niemanden in Richtung der Tür. Rye war weg. So hatte es fälschlicherweise den Anschein. Denn als sich Gin wieder umdrehte, stand der Schwarzhaarige direkt vor ihm. Vor Schreck stolperte Gin ein paar Schritte zurück. Allmählich merkte er, wie sehr er es hasste, wenn Rye mitten aus dem Nichts irgendwo in seiner Nähe auftauchte. „Verrätst du mir jetzt mal langsam, was das hier werden soll?“, verlangte Gin nach einer Erklärung, woraufhin Rye ein vielsagendes Lächeln aufsetzte. „Ich will dir lediglich eine Antwort auf deine Frage geben.“, gab er an. Gin überraschte es, wie beherrscht die Stimme seines Partners auf einmal klang. Doch das trug. Ryes nach wie vor wütend funkelnde Augen verrieten ihn. „Da hätte mir auch ein einziges Wort genügt.“, entgegnete Gin gereizt. Wenn Rye seine Frage mit Ja beantwortet hätte, dann hätte er höchstens noch nach dem Grund gefragt. Keinesfalls wollte er die Antwort mit eigenen Augen sehen. „Nein.“, stieß Rye im tiefen Tonfall hervor, während er anfing ein paar Schritte zu gehen. „Ich will, dass du das siehst.“, ergänzte er hämisch. Gin erkannte, dass sich der Schwarzhaarige in eine ganz bestimmte Richtung bewegte. Zu mehreren Fässern, die an einer Säule standen. Die Frage, was sich dort drin befand, konnte er sich sparen. Es lag klar auf der Hand. Und doch hoffte er, dass sich seine schlimme Vorahnung als falsch entpuppte. Er wollte das einfach nicht sehen. Am liebsten würde er sich wegdrehen oder die Augen verschließen. Aber das würde Rye ihm mit Sicherheit nicht gestatten, was unter anderem seine nächste Aussage bestätigte: „Ich will, dass du sie so in Erinnerung behältst…“ „Warum…?“, schoss es Gin daraufhin durch den Kopf, da er nicht wusste, wie er die Worte deuten sollte. Er konnte sich nicht erklären, warum es Rye so wichtig war. Oder weshalb er das getan und ihn jetzt hierher gebracht hatte. Im nächsten Moment trat Rye gegen eines der Fässer, so dass dieses in Richtung des Silberhaarigen umkippte. Dabei kam ein bleicher, lebloser Körper mit mehreren Fleischwunden zum Vorschein. Der üble Gestank wurde stärker, weshalb sich Gin die Hand vor Nase und Mund presste. Auch wenn die Leiche so schlimm zugerichtet war, dass man kaum noch etwas erkennen konnte, wusste Gin, um wen es sich handelte. Er war froh, dass der Körper so aus dem Fass gefallen war, dass die übrigen blonden Haarsträhnen das Gesicht der Frau verdeckten, die er schon fast sein ganzes Leben gekannt hatte. Vermouth war zweifellos tot. Und ihr Mörder stand nur wenige Meter von ihm entfernt. Ein Vampir. Sein Partner. Rye betrachtete ihn mit eindringlicher Miene und verfolgte mit den Augen jede seiner Reaktionen. Gin atmete tief durch, bevor er seinen Blick erneut auf Vermouths Leiche senkte. Doch egal wie lange er sie anstarrte: Es wollte kein Gefühl in ihm aufkommen. Keine Trauer. Kein Schmerz. Keine Wut oder Verzweiflung. Gar nichts. Es ließ ihn vollkommen kalt, worüber er ein wenig erleichtert war. Schließlich hatte Rye solche Gefühle damit bewirken wollen und so musste der Silberhaarige ihm diesen Erfolg nicht gönnen. „Nenn mir einen Grund, warum ich dich nicht genau so enden lassen sollte.“, kam es plötzlich von Rye im Befehlston, während er achtlos an der Leiche vorbei ging und langsam auf Gin zukam. Dieser ließ seine Hand wieder nach unten sinken und versuchte den Gestank bestmöglich zu ignorieren. Er sah Rye unbeeindruckt an, bevor ein Lächeln seine Lippen umzuckte. „Kann ich nicht.“, gestand er offen. Ihm fiel wirklich kein plausibler Grund ein. Und selbst wenn es einen gab, spielte es keine Rolle. Falls Rye plante ihn hier zu töten, könnte er noch so viele nennen und es würde nichts ändern. „Ich dachte eigentlich, du könntest mir das erklären.“, fügte er hinzu, als Rye vor ihm stehenblieb und anschließend begleitet von einem verwirrten Stirnrunzeln fragte: „Was?“ „Warum du mich noch nicht umgebracht hast?“, verdeutlichte Gin tonlos. Rye verzog amüsiert das Gesicht und erwiderte: „Gute Frage.“ Womöglich beantwortete er die Frage mit Absicht nicht, was Gin begann aufzuregen. Er hatte keine Lust um den heißen Brei herumzureden und hasste es, wenn etwas nicht sofort auf den Punkt gebracht wurde. „Jetzt sag schon, was dein Problem ist!“, rutschte es ihm daher unüberlegt über die Lippen. Vielleicht einen Tonfall zu streng. Er wollte es eigentlich vermeiden, Rye zusätzlich zu provozieren. Aber es war schon zu spät. „Was mein Problem ist?! Du bist mein Problem!“, schrie Rye ihn wütend an. Gin wich umgehend zurück. Dieser Vorwurf warf ihn komplett aus der Bahn. Doch Rye ließ ihm keine Zeit, um nachzufragen. „Du bist mein Problem…“, wiederholte der Schwarzhaarige im leiseren Tonfall. „Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe…“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Gins Augen begannen sich zu weiten. Solche Worte hatte er nicht erwartet. Sie verwirrten ihn. „Seit er mich zum ersten Mal gesehen hat…?“, versuchte er sie auf sich wirken zu lassen. Dabei tauchte der Moment vor seinem inneren Auge auf, als sich ihre Blicke in der Scarlet Lounge zum ersten Mal begegnet waren. Rye hatte ihn so verlangend angestarrt, bevor Vermouth sie einander vorgestellt hatte. Und von da an war ein Problem nach dem anderen gefolgt. Unvorhersehbare Ereignisse und unangenehme Situationen. Aber inwiefern sollte er selbst das Problem gewesen sein? Vor allem er für Rye. Wenn hier jemand für wen ein Problem war, dann wohl eher umgekehrt. Da begann Rye auf einmal leise zu lachen. „Weißt du, es hat mich immer gestört, wie du auf mich herabgesehen hast, mich herumkommandiert hast und dachtest, du seist mir in allen Dingen überlegen… Aber wenn ich so darüber nachdenke, ist es eigentlich ganz witzig…“, meinte er. Doch bevor Gin zu einem bissigen Kommentar ansetzen konnte, krallte sich abrupt eine Hand in seine rechte Schulter. „Ist dir klar, wie leicht es mir fallen würde, dich zu zerfetzen?“, flüstere Rye ihm verführerisch ins linke Ohr, woraufhin es dem Silberhaarigen kalt den Rücken herunterlief. Zwar war ihm das sehr wohl klar, doch es von Rye auf diese Weise nochmals gesagt zu bekommen, erzeugte eine ganz andere Wirkung. „In Wahrheit bist du für mich nicht mehr als ein zärtliches, hilfloses Bambi.“, fügte Rye in bekümmerter Tonlage hinzu, während er seinen Kopf an Gins schmiegte und mit der Hand sanft durch dessen silberne Strähnen fuhr. Anfänglich brachten Ryes Liebkosungen den Silberhaarigen aus dem Konzept, doch als er sich den Worten bewusst wurde, verengte er pikiert die Augen. Das ging definitiv unter die Gürtellinie. Sein dadurch hervorgerufenes Vorhaben, diesen eingebildeten Kerl von sich wegzustoßen, konnte er jedoch nicht mehr in die Tat umsetzen. Rye entfernte sich plötzlich ruckartig von ihm. Noch bevor Gin seine Augen scharf gestellt hatte, stand sein Partner am anderen Ende der Halle. „Dennoch habe ich immer versucht es dir Recht zu machen.“, gab er mit fester Stimme zu und wandte den Blick dabei von Gin ab. „Doch du wusstest meine Bemühungen nie zu schätzen!“, fuhr er verärgert fort. Seine Hand zitterte vor Wut und ballte sich anschließend vor seiner Brust zur Faust. „Sogar wenn ich dir dein Leben gerettet habe, es war dir jedes verdammte Mal egal gewesen…“ Erneut verschwand er von der Stelle und tauchte unmittelbar danach auf der gegenüberliegenden Seite der Halle wieder auf, ohne dass es Gin gelang, die Bewegung mit den Augen zu verfolgen. „Du bist so ein gefühlskalter, undankbarer, narzisstischer Mensch!“, schrie Rye aus voller Kelle, sodass seine wütende Stimme ein schallendes Echo erzeugte. Mit unkontrollierter Wucht warf er einen Stapel mit Holzkisten neben sich um, die daraufhin quer durch die Halle flogen. Eine davon knallte gegen eine Stahlsäule und sprang begleitet von einem ohrenbetäubenden Krachen in mehrere Stücke. Gin konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen. Ansonsten ignorierte er die Geste. Viel mehr zog sich seine Aufmerksamkeit auf die Beleidigung, welche Rye ihm abgesehen von den Kisten noch entgegen geschleudert hatte. Ein bisschen erstaunt war er darüber schon. Noch nie hatte es jemand gewagt ihm das so direkt zu sagen. „Da fallen mir bessere Beleidigungen für dich ein.“, dachte Gin abfällig. Doch darum ging es jetzt nicht. Er sollte vielleicht eher darüber nachdenken, wie er Rye wieder beruhigen konnte. Sonst würden womöglich noch andere Dinge kaputt gehen. Aber ihm fiel nichts ein. Er befürchtete, dass jedes Wort falsch sein könnte und es Rye nur weiter provozieren würde. Zudem schien er mit seinem Monolog noch nicht fertig zu sein. „Aber am schmerzhaftesten war es, wie du mich gestern einfach abgewiesen hast...“ Seine Stimme klang zwar gekränkt, aber zumindest etwas ruhiger. Als die smaragdgrünen Augen Gin fixierten, leuchtete tief in ihnen pure Verbitterung. Doch da fuhr der Silberhaarige vor Schreck zusammen, als Rye erneut anfing zu schreien: „Dachtest du wirklich, dass ich mir das von dir bieten lasse?! Egal was du mir sagst, du wirst mir niemals entkommen!“ Kaum hatten die Worte Gins Ohren erreicht, spürte er zwei Gewichte auf seinen Schultern, die ihn unweigerlich zu Fall brachten. Ehe er überhaupt begriff, wie ihm geschah, fand er sich auf dem schmutzigen Boden wieder. Pechschwarze, lange Strähnen strichen über seinen Mantel, als sich Rye über ihn beugte und seine Handgelenke festhielt. Der Silberhaarige unterließ jeglichen Versuch sich zu bewegen oder gar aufzustehen. Es würde ohnehin keinen Zweck haben. Die Griffe um seine Handgelenke waren zu stark und Rye drückte ihn mit seinem gesamten Körpergewicht zu Boden, sodass er nicht den Hauch einer Chance hätte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als Rye wütend anzusehen und dessen nächste Entscheidung abzuwarten. Es verstrichen ein paar Sekunden in Stille, bevor sein Partner ihm mit leerem Blick eine Frage stellte: „Sag mir, hast du jetzt Angst?“ „Nein.“, entgegnete Gin sofort. Darüber brauchte er nicht nachdenken. „Du lügst.“, behauptete Rye jedoch, woraufhin sich Gins Stirn verdutzt in Falten legte. Das war hundertprozentig die Wahrheit gewesen. Auch wenn ihm bewusst war, wie todernst die Gefahr war, die von Rye ausging, so würde er dennoch nie Angst in dessen Nähe empfinden. „Du bist gut darin, dir äußerlich nichts anmerken zu lassen. Aber ich kann deutlich hören, wie dir dein Herz beinahe aus der Brust zu springen scheint.“, begründete der Schwarzhaarige seine vorherige Aussage, während er sich noch weiter herabbeugte. Jetzt konnte Gin sein schnelles Herzklopfen auch wahrnehmen. In jeder Faser seines Körpers pochte es. „Das ist aber nicht so, weil ich Angst habe.“, brachte Gin mühsam über die Lippen. Rye zog verwundert eine Augenbraue nach oben, bevor er neugierig fragte: „Sondern?“ Gin zögerte, ob er Rye den Grund wirklich erzählen wollte. Er ließ den Kiefer zusammengepresst und musterte das Gesicht seines Gegenübers. Doch leider musste er feststellen: Je länger sie schweigend in dieser Position verharrten, umso unangenehmer wurde sie ihm. Es war mehr als nur demütigend, dass Rye ihn so unter sich gefangen hielt. Letztlich überwand er sich, es doch auszusprechen: „Ich mag es einfach nicht, wenn mir jemand so nah kommt. Und gerade bist du mir deutlich zu nah… Aber das hat nichts mit dir persönlich zu tun.“ Den letzten Satz fügte er nur hinzu, weil er vermeiden wollte Rye wieder wütend zu machen. Wer wusste schon, wie dieser seine Antwort deuten würde. Eigentlich würde es Gin bevorzugen, wenn die Antwort einfach so im Raum stehenblieb. Er wollte nicht, dass Rye darauf einging, weshalb er ihm schnell zuvorkam und das Thema wechselte: „Wenn ich, wie du sagst, so ein großes Problem für dich bin, warum hast du mich dann nicht einfach getötet? Ich verstehe es nicht. Vermouth hingegen hat viel für dich getan und dich immer gut behandelt. Aber dennoch hast du sie anstatt mich getötet. Bist du-“ Unerwartet legte sich Ryes kalter Finger auf seine Lippen und hinderte ihn daran, den Satz zu beenden. Die Lippen des Schwarzhaarigen dagegen verformten sich zu einem leichten Lächeln. „Schhh. Bevor ich deine Fragen beantworte, musst du mir zuerst eine beantworten.“, verlangte Rye in beschwichtigender Tonlage, womit Gin nicht ganz zufrieden war. Wenn Rye ihm schon so eine Bedingung stellte, handelte es sich mit Sicherheit um keine gewöhnliche Frage. Womöglich würde er sie nicht so leicht beantworten können. Gin nickte misstrauisch, woraufhin der Finger von seinen Lippen verschwand. Der Körper über ihm spannte sich an. Ryes Miene wurde ernst. Doch sein Mund öffnete sich nicht. Es schien, als müsste er vorher selbst eine Menge Mut zusammennehmen, um die Frage stellen zu können. „Wenn du keine Angst vor mir hast…“, begann Rye schließlich verlegen und fragte nach kurzer Stille: „Wie denkst du dann über mich?“ Gin stockte der Atem. Das konnte Rye gerade unmöglich gefragt haben. Der Silberhaarige hatte sich auf alles Mögliche eingestellt, aber nicht auf so etwas. Das wollte und konnte er nicht beantworten. Er hatte noch nie jemandem ins Gesicht gesagt, wie er empfand. Und die Tatsache, dass Rye ihn gerade so ansah, als würde sein Leben davon abhängen, ermutigte ihn nicht wirklich es zu versuchen. „Was…?“ Mehr konnte er darauf nicht erwidern. Schnell drehte er den Kopf zur Seite, um Ryes Reaktion nicht sehen zu müssen, die sich unmittelbar auf dessen Gesicht abzeichnen würde. „Magst du mich? Hasst du mich? Interessierst du dich überhaupt für mich?“, sprach Rye hastig und wurde bei jeder der folgenden Fragen lauter. Gin presste die Lippen zusammen und überlegte, wie er am besten ausweichen könnte. „Wenn ich mich nicht für dich interessieren würde, hätte ich dann die ganzen Recherchen über dich angestellt?“, murmelte er beschämt. Selbst wenn er sein Interesse nur indirekt gestand, löste das ein unangenehmes Gefühl in ihm aus. Aber Rye schien das nicht mal ansatzweise zufriedenzustellen. Im Augenwinkel beobachtete Gin, wie Ryes Augenbrauen sich vor Erbitterung zusammenzogen. „Das beantwortet nicht meine Frage.“, meinte er. Gin unterdrückte ein Fluchen, bevor er letztlich zugab: „Ich weiß es nicht.“ „Du musst es wissen!“, beharrte Rye jedoch. Er hatte recht. Eigentlich müsste Gin es wissen. Und wenn er lang genug Zeit hätte, darüber nachzudenken, würde er bestimmt auch eine Antwort finden. Doch jetzt spontan ging das nicht. Sonst würde er nur die falschen Worte verwenden. Zumal er das Gefühl hatte, dass es für Rye nur eine richtige Antwort gab und alle anderen würde er nicht akzeptieren. „Du verlangst von mir, dass ich alle deine Fragen beantworte, aber mir kannst du nicht mal eine Einzige beantworten…“, unterbrach der Schwarzhaarige die spannungsgeladene Stille. Dabei klang er plötzlich so verzweifelt. „Ich müsste doch sowieso das antworten, was du hören willst!“, behauptete Gin, jedoch schüttelte Rye entgegen seiner Erwartung mit den Kopf. „Nein, das will ich nicht. Bitte sei ehrlich.“, bat er mit leiser Stimme. „Ich kann nicht bestreiten, dass ich ihn am Anfang nicht ausstehen konnte… Er ist so aufdringlich, bringt mich immer aus der Fassung und hat seine Emotionen nie im Griff! Aber letztlich wollte er aus irgendeinem Grund immer meine Anerkennung… Er hat mir immer versucht zu helfen und mir so oft das Leben gerettet… dafür kann ich ihn nicht hassen… Vielleicht, wenn ich ihn besser verstehen würde, dann… aber dafür muss ich…“ Egal, wie sehr Gin versuchte zu einer klaren Antwort zu gelangen: Er fand keine. Zumindest nicht jetzt, in diesem Moment. Nicht, wenn Rye so ungeduldig auf ihn hinab schaute. „In Wahrheit ist er so verletzlich, doch er versucht es immer zu überspielen… vielleicht hätte ich mehr Rücksicht nehmen sollen…“, wurde dem Silberhaarigen klar. Aber dafür war es zu spät. Er konnte es zukünftig nur besser machen. „Gib mir etwas Zeit.“, forderte er schließlich. Sofort breitete sich Enttäuschung in Ryes Gesicht aus, bevor er verwirrt fragte: „Warum?“ „Weil ich erst darüber nachdenken muss.“ Nach dieser knappen Erklärung entwich Rye ein Seufzen, doch er schien zu Gins Erleichterung endlich lockerzulassen. „Dann werde ich dich morgen nochmal fragen.“, erwiderte er, während er die festen Griffe um Gins Handgelenke löste und sich innerhalb einer Sekunde wieder aufrichtete. Dem Silberhaarigen überkam daraufhin eine weitere Welle der Erleichterung. Doch er stutzte, als er sich Ryes Antwort nochmal durch den Kopf gehen ließ. Ruckartig setzte er sich auf und wollte widersprechen: „Was?! Das ist-“ „Lang genug.“, fiel Rye ihm jedoch mit strengem Tonfall ins Wort. Gin hatte keine andere Wahl, als das zu akzeptieren. Trotzdem konnte er ein gereiztes Stöhnen nicht zurückhalten. Er senkte den Kopf und dachte: „Ich kann froh sein, dass er sich überhaupt darauf eingelassen hat.“ Im nächsten Moment wandte Gin den Blick, bevor er aufstand und sich ungläubig in alle Richtungen umsah. Rye war spurlos verschwunden. Offenbar hatte dieser ihn einfach ohne ein weiteres Wort zurückgelassen. „Das ist nicht sein Ernst…“ Der Silberhaarige lief aufgebracht in Richtung Tür und riss diese auf. Er verließ die Halle und ließ draußen seinen Blick durch die Umgebung schweifen. Viel erkennen konnte er nicht mehr, da es mittlerweile dunkel geworden war. Abgesehen von dem ruhigen Meeresrauschen herrschte Stille. Nichts deutete darauf hin, dass sich Rye noch in der Nähe befand. Sogar der Chevy stand nicht mehr an der Stelle, wo er zuvor von dem Schwarzhaarigen geparkt worden war. Genervt fuhr sich Gin durch den Pony. „Na toll, jetzt muss ich den ganzen Weg zurücklaufen!“, beschwerte er sich gedanklich, als ihm einfiel, dass er seinen Porsche ungewollt zurückgelassen hatte. Kapitel 20: Ein ungebetener Gast -------------------------------- Erschöpft lehnte sich Gin gegen die Tür, die er soeben geschlossen hatte. Noch nie war ihm der Weg zu seiner Wohnung so anstrengend vorgekommen wie heute. Allein für die Strecke vom Hafen bis zurück zu seinem Porsche hatte er mindestens eine halbe Stunde benötigt. Und von dort aus bis hierher nochmal 20 Minuten. Dennoch war die Zeit nicht ausreichend gewesen, um sich von Ryes sonderbarem Auftritt erholen zu können. Sogar jetzt noch kreisten Gins Gedanken in seinem Kopf wild umher und ließen sich einfach nicht ordnen. Am meisten dachte er über die Antwort auf Ryes Frage nach, die er ihm noch schuldete. Aber es wollte Gin einfach nicht gelingen, die richtigen Worte zu finden und langsam graute es ihm vor dem morgigen Tag. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn er Rye wieder keine Antwort geben konnte. „Ich versteh ihn einfach nicht… Warum will er das unbedingt wissen? Zumal die Frage total unpassend war!“, murrte der Silberhaarige gedanklich und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Innerlich stellte er sich bereits auf eine schlaflose Nacht ein, die er womöglich mit Grübeleien verbringen würde. Dabei benötigte er den Schlaf jetzt dringend. „Allerdings muss ich zugeben, dass ich entgegen meinen Befürchtungen noch relativ unversehrt davongekommen bin...“, gestand er sich ein. Immerhin hätte der Abend viel schlimmer für ihn ausgehen können. „Wenn man bedenkt, zu was er imstande ist, war er trotz seiner Wutausbrüche noch gnädig.“ Ein ironisches Lächeln huschte über Gins Gesicht. Er war froh mit dem Gefühl richtig gelegen zu haben, dass Rye ihn nicht umbringen würde. Schließlich hatte die Chance den ganzen Abend über bestanden. Ein falsches Wort hätte genügen können, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. „Letztlich hab ich nicht mal die gebraucht...“, dachte er ein wenig erleichtert, während er die Hand in seine Manteltasche gleiten ließ. Doch plötzlich breitete sich Erschrecken auf seinem Gesicht aus, als er ins Leere fasste. Die Spritze mit dem Curare war weg. Panisch überprüfte er seine anderen Taschen. Fehlanzeige. „Hab ich sie verloren?… Nein, unmöglich… Aber wie…“ Zuerst fand er keine plausible Erklärung. Doch als er weitere Möglichkeiten durchging, wie die Spritze hätte noch verschwinden können, traf es ihn. Natürlich hatte er sie nicht verloren. Denn sie wurde höchstwahrscheinlich gestohlen. Von niemand anderem als Rye. „Dieser hinterhältige Mistkerl!“, fluchte Gin und ließ seine Faust gegen die Wand krachen. Er brauchte sich erst gar nicht die Frage stellen, wieso er es nicht bemerkt hatte. So schnell wie sich Rye von einem Punkt zum anderen bewegt hatte, gab es für diesen oft genug die Gelegenheit. Besonders in dem Moment, als der Schwarzhaarige über ihm gewesen war, wäre es ein Kinderspiel gewesen. Trotzdem blieb eine Frage für Gin offen: „Wie hat er nur mitbekommen, dass ich sie dabei hatte?“ Seufzend schüttelte er den Kopf und zog sich seinen Mantel aus. „Was soll‘s, ich kann es eh nicht mehr ändern.“, versuchte er das Ärgernis herabzuspielen und hängte den Mantel nebenbei an den Kleiderhaken. Er konnte sich nur an das letzte Fünkchen Hoffnung klammern, dass ihm die Spritze vielleicht wirklich irgendwie verloren gegangen war. Und falls Rye sie doch gestohlen hatte, hoffte er, dass dieser ihn nicht darauf ansprechen würde. Sollte der Kerl sie doch behalten und glücklich damit werden. „Für den Fall, dass er mich doch drauf anspricht, muss ich wohl versuchen ihn zu überzeugen, dass das Zeug nicht für ihn bestimmt war...“, während ihm dieser Gedanke kam, merkte er gleichzeitig, wie albern dieser war. Natürlich würde er Rye nicht davon überzeugen können. Unmöglich. Mit schweren Schritten betrat der Silberhaarige das Badezimmer und zog sich den Pullover über den Kopf, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Wenn ihm der Schlaf schon nicht vergönnt sein sollte, wollte er sich wenigstens noch ein paar Minuten unter einer warmen Dusche entspannen. Als er jedoch seinen Gürtel öffnen wollte, verharrte er in der Bewegung. Irritiert musterte er sein Handgelenk und drehte dieses langsam. Genau an den Stellen, wo sich Ryes Finger in seine Haut gedrückt hatten, waren lila-bläuliche Blutergüsse erschienen. Gin fuhr langsam mit zwei Finger über die ungewollten Fingerabdrücke, welche zum Glück kaum schmerzten. „Er kann seine Kraft wirklich nicht kontrollieren…“, ging es ihm durch den Kopf. Womöglich hing das auch mit Ryes verstärkten Emotionen zusammen, die er genauso wenig im Griff hatte. Damit leben zu müssen war bestimmt furchtbar. Gin kniff kurz die Augen zusammen und fuhr fort, sich zu entkleiden. Sein Mitleid hatte dieser Kerl wirklich nicht verdient. Zudem fühlte sich das seltsam und ungewohnt an, denn ihm hatte noch nie jemand Leid getan. Rye musste Gin erst mal beweisen, dass er es wert war, sein Mitleid zu erhalten. Eine halbe Stunde später Nachdem Gin fertig mit Duschen war, eilte er zum Schlafzimmer, um sich T-Shirt und Jogginghose überzuziehen. Für gewöhnlich trug er die Sachen immer zum Schlafen. Auch wenn er genau genommen heute nicht schlafen würde. Deshalb hatte er sich unter der Dusche auch besonders viel Zeit gelassen. Sonst brauchte er höchstens 15 Minuten. Gin eilte zurück zum Badezimmer, um ein Handtuch für seine feuchten Haare zu holen. Dieses warf er sich über die Schulter, bevor er mit langsamen Schritten ins Wohnzimmer ging. Dort knipste er die Stehlampe neben der Tür an und schnappte sich anschließend Zigarettenschachtel und Feuerzeug vom Tisch, um auf dem Balkon eine Zigarette rauchen zu gehen. Die frische Luft fühlte sich zwar angenehm warm an, doch sie erinnerte Gin wieder einmal daran, dass der Sommer nicht mehr weit war. Er konnte diese Jahreszeit nicht ausstehen. Zumindest würden seine Haare jetzt schneller trocknen. „Okay, konzentrier‘ dich...“, befahl sich Gin gedanklich, nahm einen kräftigen Zug von seiner Zigarette und versuchte dabei seine Gedanken zu ordnen. Immerhin gab es momentan Wichtigeres, als über das Wetter und die Jahreszeiten nachzudenken. Obwohl er das eigentlich lieber tun würde anstatt tief in seinem Inneren nach einer Antwort für Rye zu suchen. Darin war er miserabel. Er war einfach kein Mensch von vielerlei Gefühlen. Entweder Personen gingen ihm gegen den Strich oder sie waren einigermaßen erträglich, so dass er vernünftig mit ihnen arbeiten konnte. Weitere Optionen hatte es für ihn nie gegeben. Was wollte Rye also von ihm hören? „Hasst du mich? Magst du mich?“, drängten sich dessen Fragen von vorhin in Gins Gedanken. Erstmal müsste er sich für eins davon entscheiden: Hasste oder mochte er Rye? „Weder noch…“, verzweifelt schlug sich Gin die Hand gegen die Stirn. Das könnte noch komplizierter werden als anfangs angenommen. Gin spuckte die Zigarette angewidert über das Balkongeländer in die Tiefe. Hin und wieder gab es Tage, da schmeckte ihm keine einzige Zigarette. Außerdem konnte das Nikotin ihm in dem Fall auch nicht helfen. „Das bringt doch alles nichts…“ Seufzend verließ er den Balkon und ging wieder ins Wohnzimmer. Er kam sich wirklich lächerlich vor. Wäre da nicht die Tatsache, dass Rye ein unbesiegbarer Vampir war, hätte Gin keinerlei Gedanken an dessen blöde Frage verschwendet. Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich auf das Sofa plumpsen. „Und wenn ich ihm nicht antworte, wird er auch keine meiner Fragen mehr beantworten…“ Schließlich gab es da noch so viele Fragen, die er seinem Partner gern stellen würde. Doch alles hatte eben seinen Preis. Ob dieser gerechtfertigt war, spielte meistens ohnehin keine Rolle. Vielleicht war es unfair, dass Rye von ihm eine Frage beantwortet haben wollte, die seine persönlichen Gefühle betraf, wenn er dagegen lediglich ein paar Informationen von dem ehemaligen Eclipse-Mitglied erfahren wollte. Ließen sich Gefühle und Informationen gleichsetzen? „Wohl kaum…“, dachte Gin gereizt. Ohne den Blick zu heben, griff er nebenbei abwesend nach der Wolldecke neben sich, um sich diese über den Schoß zu ziehen. Doch da stutzte er, als die Decke offenbar unter einem schweren Gewicht eingeklemmt war und festhing. Verwirrt drehte Gin den Kopf, nur um sich kurz darauf fast zu Tode zu erschrecken. „Was zum-?!“, entwich es ihm mit erstickter Stimme. Er sprang instinktiv vom Sofa, wobei er durch diese hastige Bewegung über seine eigenen Füße stolperte und sich den Ellbogen an der Tischkante stieß, als er zu Boden fiel. Doch der anschließend eintretende Schmerz lenkte ihn nicht von dem Schock ab, den er soeben wegen einem gewissen, ungebetenen Gast bekommen hatte. „Hast du dir weh getan?“, wurde Gin von einer sanften, von Sorge erfüllten Stimme gefragt, deren Besitzer ihm eine weiß schimmernde Hand entgegen streckte. Gin traute seinen Augen nicht. Vor ihm stand Rye. In seinem Wohnzimmer. Im fünften Stock. Als hätte er sich unbemerkt hierher teleportiert. Das musste ein Alptraum sein. „Vielleicht bin ich aus Versehen eingeschlafen…“, vermutete Gin und starrte seinen schwarzhaarigen Partner weiterhin mit geweiteten Augen an. Trotz des abgeschwächten Lichts leuchteten die Konturen von Ryes Antlitz so stark, dass seine Gestalt beinahe einem Engel ähnelte. Doch hinter dieser schönen Fassade verbarg sich in Wirklichkeit das Gesicht eines Teufels, der gerade bestimmt böse Absichten verfolgte. „Willst du nicht langsam mal aufstehen?“ Rye legte verwundert den Kopf schräg und beugte sich weiter zu Gin herunter. Dieser schlug die Hand vor sich jedoch achtlos weg. „Wie kommst du hier rein?!“, verlangte er zu wissen, obwohl ihm gerade noch hundert andere Fragen durch den Kopf schossen. Doch Rye lächelte nur und hielt ihm erneut die Hand hin. Gin ignorierte die Geste und richtete sich ohne Ryes Hilfe wieder auf. Dabei behielt er den Schwarzhaarigen genau im Auge, welcher gelassen antwortete: „Durch die Balkontür, die du netterweise ja immer offen lässt.“ Gin erstarrte. Mittlerweile hatte er sich von dem Gedanken verabschiedet, dass dies nur ein dummer Traum war. Rye war in allem unberechenbar. Auf die Schnelle in den fünften Stock zu steigen gehörte wohl zu einer seiner leichtesten Übungen. „Das ist aber nur, weil-“ „Ich weiß, dass du jeden Abend mehrmals auf dem Balkon eine rauchst.“, fiel ihm der Schwarzhaarige ins Wort, woraufhin ein unangenehmer Schauer über seinen Rücken kroch. Die Frage Woher? schluckte Gin wieder herunter, als er sich daran erinnerte, wie Rye indirekt zugegeben hatte, dass er ihm immer folgte. Darunter zählte auch der Weg zu seiner Wohnung. „Und dass ich jeden Abend eine rauche und die Tür immer offen lasse, kann er nur wissen, wenn er bereits… schon öfters hier war…“, wurde ihm begleitet von einem weiteren mulmigen Schauer bewusst. Das Gefühl, welches dabei in ihm aufkam, konnte er nicht benennen. Es war eine seltsame Mischung aus Wut und Scham. „Wenn du die Tür nicht schließt, interpretiere ich das als Einladung. Aber meinetwegen kannst du sie gern-“ „Hast du nichts Besseres zu tun?!“ Diesmal war es an Gin, Rye in einem aufbrausenden Tonfall zu unterbrechen. Er wollte gar nicht wissen, wann und wie oft sich dieser Kerl schon heimlich hier eingeschlichen hatte. Und noch weniger wollte er den Grund dafür erfahren. „Naja, um ehrlich zu sein, nein.“, erwiderte Rye mit einer Unschuldsmiene. „Dir zuzusehen empfinde ich als sehr beruhigend… und da ich nachts ohnehin nicht schlafe, gibt es nichts, was ich sonst tun könnte…“, erklärte er im Nachhinein, während er den Blick peinlich berührt senkte. Gin zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Dieser Grund klang harmloser als er bis eben noch befürchtet hatte. Auch wenn ihn die Vorstellung, wie Rye ihn beim Schlafen beobachtete, irgendwie in Verlegenheit brachte. Am besten wäre es, das Thema umgehend zu wechseln. „Und warum schläfst du nicht?“, fragte er vorsichtig. Die Antwort interessierte ihn tatsächlich. Konnten Vampire etwa nicht unter Schlafmangel leiden? „Als ich irgendwann bemerkt habe, dass es nicht zwingend notwendig ist, hab ich es einfach sein gelassen. Ich konnte die Alpträume nicht ertragen.“ Ryes Antwort bestätigte seine Vermutung. Nur der letzte Satz kam unerwartet. Zudem hatte Rye ihn leiser ausgesprochen als den vorherigen. Gern hätte Gin gefragt, um was für Alpträume es sich handelte. Doch der bedrückte Gesichtsausdruck des Schwarzhaarigen verriet ihm, dass er nicht darüber reden wollte. „Aber mal davon abgesehen… Du weißt hoffentlich, dass ich heute aus einem anderen Grund hier bin.“, lenkte Rye in ernster Tonlage auf ein anderes Thema um. Der traurige Schatten verschwand dabei aus seinem Gesicht. „Ach wirklich?“, spielte Gin absichtlich den Unwissenden. Er konnte erahnen, was gleich kommen würde. Und darauf war er noch nicht vorbereitet. „Ich will eine Antwort auf meine Frage.“, sprach Rye die schlimme Vorahnung im nächsten Moment aus. Doch so leicht würde Gin ihm das nicht durchgehen lassen. „Du hast gesagt, ich hab bis Morgen Zeit.“, wandte er ein, was allerdings belanglos für Rye zu sein schien. „Genau genommen ist es schon morgen.“, entgegnete er mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen und deutete mit dem Finger zur digitalen Wanduhr. 00:42 Uhr zeigten die grünlich leuchtenden Ziffern. So gesehen war es wirklich schon der nächste Tag. Der Punkt ging unglücklicherweise an Rye. Aber Gin hatte dennoch nicht vor, sich geschlagen zu geben. Bevor er nicht vernünftig ausgeschlafen hatte, war für ihn der morgige Tag definitiv noch nicht eingekehrt. „Und ich bin eben sehr ungeduldig…“, gestand Rye angespannt, wovon sich Gin nicht beeinflussen ließ. „Aha.“, gab er tonlos von sich und presste anschließend die Lippen zusammen, um seinem Partner zu verdeutlichen, dass er ganz sicher keine Antwort erhalten würde. Gin stellte sich innerlich darauf ein, gleich von Rye auf irgendeine Weise zum Antworten gezwungen zu werden. Er nahm deshalb eine wachsame Haltung ein. Doch zu Gins Überraschen setzte sich der Schwarzhaarige nur auf das Sofa, bevor ihm ein Seufzen entwich. „Du bist echt schwierig.“, beschwerte er sich, wobei er ein wenig überfordert klang. Aufgeben wollte er scheinbar trotzdem noch nicht, da er kurz darauf noch eine Frage hinterher warf: „Wo liegt denn das Problem?“ „Ich weiß einfach nicht, wie ich über dich denken soll.“, gab Gin etwas beschämt, aber ehrlich zu. Doch er hatte nicht mit Ryes folgender, zögerlich ausgesprochener Antwort gerechnet: „Dann erlaube mir, dir zu helfen.“ Der Silberhaarige bemerkte, wie ihn augenblicklich Unsicherheit beschlich. Er runzelte misstrauisch die Stirn. Ihm fiel auf Anhieb keine Möglichkeit ein, wie Rye ihm da helfen sollte. Das ergab keinen Sinn. „Wie?“, presste er mühsam zwischen den Lippen hervor. Obwohl er sich nicht sicher war, ob er das wirklich wissen wollte. Rye schwieg für einen Moment. Er vergrub seine Fingerspitzen in seine Oberschenkel, während er sich auf die Unterlippe biss. Gin bemerkte dieses angespannte Verhalten sofort, welches sein Misstrauen verstärkte. Rye wirkte, als würde er sich innerlich auf etwas vorbereiten, wodurch der Silberhaarige anfing zu glauben, dass ihm Schlimmes bevorstand. „Was soll das werden…?“ Schließlich entspannte sich Ryes Haltung wieder und er sprach mit ruhiger Stimme: „Komm her und setz dich.“ Sein Blick war weich. So freundlich, wie Gin ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. Zumindest kam es ihm seit dem letzten Mal wie eine Ewigkeit vor. Doch der Blick genügte nicht, um sein Misstrauen zu vertreiben. Er schüttelte langsam den Kopf und rührte sich nicht. „Ich tu dir schon nichts.“, versprach Rye, was Gin ihm nicht abkaufte. Irgendwelche Hintergedanken musste er haben, wenn dafür solch eine geringe Distanz zwischen ihnen notwendig war. Normal reden könnten sie auch, wenn Gin auf der Stelle stehenbleiben würde. „Darum geht‘s nicht.“, meinte er, nachdem er den Kloß in seinem Hals herunter geschluckt hatte. Doch Rye ignorierte die Ablehnung. „Bitte.“, versuchte er es weiter. Gin seufzte. Wenn auch widerwillig, gesellte er sich zu dem Schwarhaarigen auf die Couch. Rye hätte ohnehin nicht locker gelassen. Und bevor dessen Laune wieder einmal umschlagen würde, war dies für Gin die angenehmere Option. Rye lächelte zufrieden und seine grünen Augen schienen vor Freude zu leuchten. Offenbar war er sehr glücklich darüber, dass seine kleine Bitte erfüllt wurde. „Also, wie willst du mir helfen?“, wollte Gin erneut wissen. Er versuchte sich von seiner aufkommenden Nervosität nichts anmerken zu lassen und überspielte diese mit einer strengen Tonlage. Sein Gegenüber antwortete ihm nicht sofort, sondern hob vorsichtig eine Hand. Zuerst wollte Gin zurückweichen, doch die Geste erfolgte so langsam, dass er sämtliche Warnsignale über Bord warf. Ryes kalte Hand glitt unter seinen Pony, bevor sie herabwanderte und seine Augen verdeckte. Sobald sich Gins Sicht schwarz färbte, kehrte die Unsicherheit umgehend zurück. Rye nicht sehen zu können, beunruhigte ihn mit jeder verstreichenden Sekunde mehr. „Tu mir den Gefallen und halt für einen Moment still…“, vernahm er leise dessen zittrige Stimme. Gin überlegte, ob er sich daran halten sollte oder ob es klüger wäre, Ryes Hand wegzuschlagen und einfach aufzustehen. Es gelang ihm nicht eine Entscheidung zu treffen. Ebenso wenig konnte er sich auf das Unvorhersehbare einstellen. Etwas in seinem Inneren sagte ihm, dass er gleich einen stechenden Schmerz verspüren würde und dann alles vorbei war. Doch das schien völlig absurd. „Ich hab das schon länger nicht mehr gemacht und will dir nicht weh tun.“ Urplötzlich klang Ryes Stimme viel näher als zuvor. Als wäre sein Gesicht nur wenige Zentimeter entfernt. Gin durchlief ein Schauer. Sein Körper war wie gelähmt. Er hielt den Atem an, wodurch er wahrnehmen konnte, wie der von Rye über seine Lippen strich. Aber bei den ungleichmäßigen, kühlen Luftzügen blieb es auch. Das, was Gin beklommen erwartete, geschah nicht. Stattdessen wurde die Spannung zwischen ihren Gesichtern nahezu greifbar. Bis endlich etwas kaltes, weiches seine Lippen für den Hauch einer Sekunde berührte, bevor es auf einmal verschwand. Wieder erfolgte ein zittriger Atemzug von Ryes Seite. Gin blieb währenddessen still und versuchte sein starkes Herzklopfen auszublenden. Nach einem kurzen Moment spürte er die zaghafte Berührung erneut an seinen Lippen. Zwar diesmal intensiver, doch scheinbar noch immer nicht verweilend. Dafür hatte Gin keine Geduld übrig. Trotz der Warnung von Rye beugte er sich vor und fing unwillkürlich dessen Lippen ein. Das überraschte Keuchen, welches dem Schwarzhaarigen dabei entwich, ignorierte er. Von dem aufkommenden Kribbeln in seinem Bauch angetrieben, presste Gin seine Lippen stärker gegen Ryes, welche sich so glatt und kalt wie Eis anfühlten. Doch sie waren zudem ganz starr, wie der Rest von Ryes Körper, stellte Gin verunsichert fest. Er fragte sich, ob seine kleine, hastige Bewegung den Moment nun zerstört hatte. Vielleicht hatte seine Reaktion Rye aus dem Konzept gebracht. Oder etwas anderes entsprach nicht dessen Erwartungen. Doch als Gin mit dem Gedanken spielte, sich zurückzuziehen, verschwand die Hand über seinen Augen, strich seine Schläfe entlang und kalte Finger vergruben sich in seinen Haaren. Endlich erwachte Rye aus seiner Erstarrung und ging auf seinen Kuss ein. Deutlich entschlossener, aber immer noch beherrscht, begann er an Gins Lippen zu saugen. Begierig intensivierte der Silberhaarige den Kuss und schlang seine Arme vorsichtig um Ryes Hals. Er beachtete nicht weiter, wie sich sein Verstand zunehmend vernebelte und zog den Kopf seines Partners näher zu sich heran. Zu seiner Verwunderung gelang es ihm schnell die Kontrolle zu gewinnen, so dass Rye immer weiter mit dem Oberkörper auf das Sofa sank. Kurz musste sich Gin von Rye lösen, um Luft zu holen, was eher wie ein ersticktes Stöhnen klang. Kaum einen Augenblick später trafen ihre Lippen erneut aufeinander, wobei Gin spürte, wie ihm das Blut prickelnd durch die Adern schoss. Er hatte schon mehrere Frauen geküsst, doch diese Küsse waren allesamt unbedeutend und nichts im Vergleich zu diesem hier. Es fühlte sich anders, außergewöhnlich, so atemberaubend schön an. Jedoch konnte er sich nicht erklären, woher diese Empfindungen auf einmal kamen. Es war ihm ein Rätsel, warum er immer mehr von Rye wollte und woher dieses Verlangen kam. Instinktiv schmiegte er sich enger an den Mann unter sich und fuhr mit seiner Zunge über dessen Lippen. Allerdings wurde ihm der Einlass nicht gewehrt. Gin spürte, wie sich Ryes Körper anspannte und die Hand in seinen Haaren sich verkrampfte, bevor er ruckartig zurückgestoßen wurde. Gin öffnete benommen die Augen und fand sich plötzlich allein auf dem Sofa wieder. Mit hastigem Atem schaute er sich um und entdeckte Rye am anderen Ende des Raumes mit dem Rücken an die Wand gepresst. Das Gesicht abgewandt, konnte Gin doch den bestürzten Ausdruck darauf klar erkennen. Der Schwarzhaarige wirkte völlig ausgelaugt und benötigte offenbar einen Moment, um sich wieder zu sammeln. Allmählich begann sich der Nebel um Gins Verstand wieder aufzulösen. Er realisierte nur langsam, was eben passiert war. Doch die Erkenntnis erschütterte ihn. Sofort suchte er verzweifelt nach einer Erklärung für sein Verhalten. Nur um daraufhin beschämt festzustellen, dass es keine gab. Er wusste nicht, weshalb er sich auf den Kuss eingelassen hatte. Er konnte nicht einmal sagen, ob diese Entscheidung ein Fehler gewesen war oder nicht. Zumindest empfand er keine Reue. Eher ein Gefühl von Enttäuschung, welches jetzt nach und nach abklang. Dafür kamen Gefühle wie Verwirrung, Scham und vor allem Nervosität in ihm auf, als er bemerkte, wie sich Rye aus seiner Starre löste und den Blick auf ihn richtete. „Ich…“ Ryes Stimme versagte. Er senkte den Blick wieder, da er scheinbar nicht den Mut dazu hatte, Gin anzusehen. „Es tut mir leid.“, stieß er mühsam hervor, wobei Gin erkannte, dass Rye die Situation ebenso peinlich zu sein schien. Vielleicht sogar noch viel mehr. Schweigen breitete sich aus. Die Luft vibrierte vor Spannung und Unbehagen. Gin traute sich nicht, etwas auf diese Entschuldigung zu erwidern. „Was genau tut ihm leid? Dass er mich geküsst hat? Aber ich hab es doch… zugelassen…“ Seine Hände krallten sich in die Decke unter ihm. „Es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe. Verzeih, dass ich einfach so aufgekreuzt bin.“, schlug Rye plötzlich mit förmlicher Stimme vor. Unmittelbar darauf durchbebte Gin ein Schauer und ohne darüber nachzudenken, hielt er seinen Partner auf: „Warte!“ Erleichterung überkam ihn, da er noch rechtzeitig reagiert hatte und Rye nach wie vor an derselben Stelle stand. Dieser musterte ihn nun mit einer verwunderten Miene, aber auch mit vor Erwartung funkelnden Augen. Provisorisch suchte Gin nach den richtigen Worten, um sich zu erklären. Da fiel ihm der Grund ein, weshalb der Kuss eigentlich überhaupt erst erfolgt war. „Genügt dir meine Reaktion vorläufig als Antwort?“, fragte er im leisen Tonfall, während sich seine Hände fester in die Decke krallten. Ein grüblerischer Ausdruck trat in Ryes Gesicht, bevor er ein Lächeln hervorzauberte. „Vorläufig.“, betonte er anschließend. Ein Schmunzeln schlich sich auf Gins Lippen. Doch um Rye weiterhin davon abzuhalten, zu gehen, sprach er schnell: „Dann musst du jetzt deinen Teil der Abmachung erfüllen.“ „Wir hatten eine Abmachung?“, fragte Rye mit vorgetäuschter Verwunderung in der Stimme und zog eine Augenbraue nach oben. „Ja. Du wolltest meine Fragen beantworten.“, erinnerte Gin seinen Partner leicht schnippisch. Dieser verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte. „Kann das nicht bis morgen warten?“, schlug er vor. Offensichtlich war es ihm zu unangenehm noch länger hierzubleiben. Doch wenn er jetzt verschwand, würde es nichts ändern. Die Tatsache, dass sie sich geküsst hatten, würde morgen immer noch bestehen. Und es wäre morgen immer noch genauso peinlich für beide Seiten. Also warum nicht jetzt die Sache abschließen und sich mit anderen Gesprächen ablenken? „Nein, kann es nicht.“, beharrte Gin. Ryes darauffolgendes Lächeln wirkte gequält. Doch er schien den Silberhaarigen weiterhin umstimmen zu wollen: „Kannst du dir vorstellen, wie viel Anstrengung mich das kosten wird?“ Seine Stimme bebte. Gin konnte sich das sehr wohl vorstellen. Allein Ryes erschöpfte Haltung bewies, dass ihm der Kuss einiges an Mühe gekostet hatte, die Kontrolle zu bewahren. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben.“, warf Gin ihm trotzdem tonlos vor. Er empfand kein Mitleid. An seinem Zustand war Rye selbst Schuld. Er hatte schließlich mit hoher Wahrscheinlichkeit vorher gewusst, worauf er sich einließ. Für einen Moment stellte sich Gin gedanklich die Frage, wie er wohl auf Rye wirken musste. Wie ein Mensch auf ein Vampir wirken musste. Könnte es sein, dass es Rye, wenn auch nur ungewollt, nach seinem Blut verlangte? Das war etwas, was Gin den Schwarzhaarigen vorerst lieber nicht fragen wollte. Dieser starrte ihn mittlerweile schweigend an. Seine Miene war ausdruckslos. Dennoch war sich Gin sicher, dass Rye innerlich hoffte, dass er es sich anders überlegte und ihm gestatten würde, zu gehen. Was eigentlich totaler Blödsinn war. Gin könnte ihn nicht aufhalten, wenn er sich wirklich dazu entschied, zu verschwinden. „Also scheint sein Wille zu gehen nicht stark genug zu sein.“, schlussfolgerte Gin, bevor er Rye nach langem Schweigen ansprach: „Setz dich wieder.“ Es hatte sich unbeabsichtigt wie ein Befehl angehört, was Rye ein wenig zu amüsieren schien. Er verzog den Mund zu der Andeutung eines Lachens. Danach setzte er zögernd einen Schritt nach vorn, doch befand sich in der nächsten Sekunde schon neben Gin auf dem Sofa. Erstaunt musterte der Silberhaarige seinen Partner, der nun mit starrer Haltung und straffen Schultern neben ihm saß. Jedoch war der Abstand diesmal größer zwischen ihnen. Gin glaubte, wenn er Rye nur leicht antippte, würde dieser umgehend wieder zu der gegenüberliegenden Wand flüchten. Gerade wirkte er wie ein scheues Hundewelpen. Seine Augen waren genauso groß und funkelten unschuldig. „Bist du dir wirklich sicher? Es ist mitten in der Nacht… und du brauchst deinen Schlaf. Anders als ich.“ Rye hatte wohl immer noch nicht aufgegeben. „Damit du mir wieder dabei zusehen kannst? Nein danke, ich verzichte.“, erfolgte sogleich Gins bissige Antwort. Da blieb er lieber die ganze Nacht wach. „Na gut, wenn du unbedingt drauf bestehst…“ Endlich gab sich Rye geschlagen. Doch als Gin zu seiner ersten Frage ansetzte, hob er plötzlich die Hand, um noch etwas hinzuzufügen. „Bevor du anfängst, hab ich dir aber noch etwas zu sagen.“, verkündete er mit fester Stimme, woraufhin Gin überrascht die Augenbrauen nach oben zog. Er bedeutete Rye mit einem Nicken, dass er fortfahren sollte. Der Schwarzhaarige senkte den Blick und begann: „Ich möchte mich aufrichtig für mein Benehmen gestern… entschuldigen. Du sollst wissen, dass ich das zu tiefst bereue. Ich hab mich wie ein Idiot verhalten… Nein, noch um Einiges schlimmer…“ Letztlich versagte seine Stimme. Er stieß ein Seufzen aus und setzte erneut an: „Oft setze ich meine Gedanken zu schnell in die Tat um, ohne vorher darüber nachzudenken, ob es das Richtige ist… hinzu kommt, dass ich nicht mal mehr klar denken kann, wenn ich wütend bin. Dann hab ich mich nicht länger unter Kontrolle. Und gestern, da ist mir irgendwie alles hochgekommen, was ich die letzten Wochen versucht habe wegzustecken.“ „Erzähl mir was Neues.“, dachte Gin nach diesem unerwarteten Geständnis scherzhaft. Doch das, was er eigentlich schon lange wusste, wirkte jetzt ausgesprochen mit Ryes melancholischer Stimme ganz anders auf ihn. Es faszinierte ihn immer wieder aufs Neue, wenn Rye etwas offen von sich preisgab. Und das absolut ehrlich, ohne irgendwelche erdachten Lügen. „Aber du hast dennoch alles ernst gemeint, was du gesagt hast.“, meinte Gin, woran er nicht zweifelte. Rye nickte verlegen. „Nun, ganz im Unrecht warst du ja nicht. Vielleicht bin ich wirklich ein bisschen undankbar und gefühlskalt.“, gab Gin zu und lehnte sich zurück. Jetzt lenkte Rye seinen Blick wieder zu ihm. „Ein bisschen?“, spottete er, woraufhin beide etwas lachen mussten. Jedoch verging dem Silberhaarigen das Lachen als erstem, als ihm bewusst wurde, dass er sich eigentlich auch entschuldigen müsste. Schließlich war Rye seinetwegen so ausgerastet, weil er ihn so geringschätzig behandelt hatte. Und alles, was Rye ihm vorgeworfen hatte, entsprach letztlich der Wahrheit. Er war ein gefühlskalter, undankbarer, narzisstischer Mensch, welcher die Bemühungen anderer nie zu schätzen wusste. Darunter auch die Vergeblichen von Rye. Bei dieser Erkenntnis beschlich Gin ein Gefühl von Schuld und Reue. Er schluckte und drehte den Kopf zur Seite. „Was ist los?“ Rye bemerkte die veränderte Stimmung von Gin sofort. „Nichts.“, erwiderte dieser tonlos und ließ den Blick weiterhin abgewendet. Doch da umfasste Rye plötzlich sein Kinn und drehte seinen Kopf zu sich herum, um ihm in die Augen schauen zu können. „Wieso hab ich das Gefühl, dass das du lügst?“ Gin hätte Ryes Frage beinahe nicht gehört. In dem Moment, als sich ihre Blicke begegnet waren, hatte sich Gins Verstand in nichts aufgelöst. Er sah nur das sorgenvolle Glitzern in Ryes smaragdgrünen Augen, welche von dichten, schwarzen Wimpern umrahmt wurden. Die unteren waren besonders betont. Unbemerkt wanderte Gins Blick zu Ryes leicht geöffneten, vollen Lippen. Ein Kribbeln erfüllte seinen Bauch, was ihn bemerken ließ, wie sehr er diese Lippen noch einmal auf seinen eigenen spüren wollte. „Verdammt, reiß dich zusammen!“ Als sich Gin seiner unsinnigen Fantasien bewusst wurde, meldete sich umgehend sein Verstand zurück. Er begriff nicht, was plötzlich mit ihm los war. Sonst hatte er kaum auf Ryes Aussehen geachtet und jetzt überrumpelten ihn bei dessen Anblick irgendwelche Gefühle, von denen er glaubte, sie längst in sich ausgerottet zu haben. Das durfte nicht so sein. Gin verzog gereizt das Gesicht und entriss sich dem leichten Griff unter seinem Kinn. Doch er ahnte nicht, was diese Reaktion bei seinem Gegenüber auslösen würde, welcher ihn nun mit einer gekränkt wirkenden Miene anschaute. „Tut mir leid. Es ist nur…“, murmelte Gin und brach dann ab, da er nicht wusste, wie er den Satz beenden sollte. „Ist schon gut. Ich weiß, dass du nichts dafür kannst.“, erwiderte Rye beschwichtigend. Gin runzelte verwirrt die Stirn. „Was?“ „Das liegt an der Erziehung, hatte Vermouth jedenfalls zu ihren Lebzeiten mal erwähnt.“, erklärte Rye und setzte anschließend ein hämisches Grinsen auf. Er schien sich immer noch daran zu ergötzen, Vermouth umgebracht zu haben. Gin vermisste die Frau auch nicht wirklich. Und selbst wenn er sie vermisst hätte, dann spätestens jetzt nicht mehr. Immerhin konnte sie nun nicht mehr hinter seinem Rücken über ihn tratschen. „Diese hinterfotzige Hexe…“, fluchte er leise, was Rye ein Kichern entlockte. Beim Thema Vermouth entdeckte Gin jedoch die perfekte Gelegenheit, um zu seinen Fragen überzuleiten: „Du hast mir übrigens immer noch nicht verraten, warum du sie getötet hast. Also, ich höre.“ Rye verdrehte die Augen und stöhnte genervt. Eine Antwort gab er allerdings nicht. „Wenn du mir schon ihre Leiche präsentieren musstest, hab ich wenigstens ein Recht darauf, dein Motiv zu erfahren.“, drängte Gin ihn. „Ich konnte sie eben nicht ausstehen.“, meinte Rye schulterzuckend. Doch es wirkte wie eine Ausrede. „Konnte ich auch nicht. Aber deswegen bring ich sie nicht gleich um.“ Gin sah seinem Partner forschend in die Augen, welche sich nun vor Zorn verengten. „Von wegen du konntest sie nicht ausstehen. Warum hast du dann mit ihr geschlafen?“, schleuderte Rye ihm vorwurfsvoll entgegen. Gin blieb für einen Moment der Atem weg. Er erinnerte sich nur ungern an diese Nacht zurück und verdrängte sie meistens. Es war lediglich ein dummes Versehen gewesen - redete er sich zumindest ein, um mit diesem Fehler einigermaßen zurechtzukommen. „Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?“, stellte er eine Gegenfrage und machte dabei einen pikierten Gesichtsausdruck. Daraufhin entwich Rye ein entsetztes Keuchen. „Du steigst also mit Menschen, die du nicht ausstehen kannst in die Kiste. Sehr interessant, also ich würde da nicht mal ansatzweise in Stimmung kommen.“ Sein Tonfall klang beleidigt. Gin spürte förmlich, wie er rot anlief. Ob vor Scham oder Wut wusste er nicht. Vielleicht vor beidem. „Das-… Also… das waren andere Zeiten!“, redete er sich verdattert raus. „Damals hatten wir noch ein… ausgewogeneres Verhältnis zueinander.“ Er merkte, wie dämlich sich das anhörte. Auch Rye schien nicht sonderlich überzeugt zu sein und musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue. Doch plötzlich fiel Gin auf, dass der Schwarzhaarige es erfolgreich geschafft hatte, der ursprünglichen Frage auszuweichen. „So leicht kommst du mir nicht davon.“, schwor sich Gin gedanklich, bevor er spaßeshalber fragte: „Und warum wolltest du das jetzt unbedingt wissen? Warst du etwa eifersüchtig?“ Er rechnete mit irgendeinem sarkastischen Kommentar von Rye. Doch dieser reagierte ganz anders: Seine grünen Augen weiteten sich, während sich seine Haltung schlagartig anspannte und er die Hände in den Stoff seiner Hose krallte. Als würde er sich ertappt fühlen. „Das kann unmöglich sein… warum sollte er…“, ging es Gin ungläubig durch den Kopf. Doch da fügte sich alles zusammen: Die schadenfrohe Art und Weise, wie Rye ihm Vermouths Leiche präsentiert hatte. Der Kuss. Ryes jetzige Reaktion auf seine Frage. „Eifersüchtig.“, stieß Rye mit erstickter Stimme hervor. Er schien es selbst nicht zu glauben. „Wenn du es so nennen willst…“, fügte er leise hinzu und wandte den Blick dabei ab. Gin tat es ihm gleich. Dann herrschte Stille, in welcher der Silberhaarige versuchte der Tatsache ins Auge zu blicken: Rye hatte Vermouth getötet, weil er mal eine Nacht mit ihr verbracht hatte. Er würde wahrscheinlich viel Zeit brauchen, um das verarbeiten zu können. Nach einer Weile fragte Gin vorsichtig: „Und warum wolltest du mir unbedingt bei der Suche nach ihr helfen? Du wusstest doch die ganze Zeit, dass es sinnlos ist. Oder wolltest du den Verdacht von dir ablenken?“ „Nein.“, entgegnete Rye kopfschüttelnd. „Ich wollte einfach nur… Zeit mit dir verbringen. Das ist alles.“, gestand er anschließend mit deutlich hörbarer Beschämung in der Stimme. Gin schluckte und biss die Zähne zusammen. Diese Befragung entwickelte sich allmählich in eine Richtung, die ihm mehr als unangenehm wurde. Und die er zudem niemals erwartet hätte. Mit seiner Theorie, dass Rye irgendwelche geheimen, perfiden Ziele verfolgte, hatte er offensichtlich total daneben gelegen. In Wahrheit war es seinem Partner die ganze Zeit über nur um ihn gegangen. Das war eine erschreckende und zugleich erregende Erkenntnis. Gin beschloss das Thema Vermouth lieber erst mal auf sich beruhen zu lassen. Stattdessen hoffte er, dass er Rye trotz seines Gedächtnisverlustes noch ein paar Informationen über Eclipse entlocken konnte. „Kannst du dich vielleicht noch an irgendwas aus deiner Zeit in Eclipse erinnern? Weißt du, welches Ziel sie verfolgen?“ Falls das, was in diesem Buch stand, stimmte, dann könnte das wohl oder übel das Ende der Menschheit bedeuten. Schließlich war Rye der eindeutige Beweis dafür, dass es dieser Organisation bereits gelungen war, die einstige Vampirrasse wieder auferstehen zu lassen. Es war vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis sie weitere Vampire auf die Menschen loslassen würden. Könnte sich die Geschichte wiederholen und alle Menschen würden wieder von den Vampiren unterdrückt werden? Allein bei der Vorstellung lief es Gin kalt den Rücken herunter. „Sieh mich an.“, begann Rye plötzlich streng, woraufhin Gin seinen Blick automatisch auf ihn lenkte. Die Miene seines Partners war eindringlich, während er sprach: „Ich wurde zu dem einzigen Zweck geschaffen, Menschen zu töten. Sie dienen mir lediglich als Nahrung. Selbst, wenn ich das nicht wollen würde – und so ist es – habe ich keine andere Wahl, weil mein Organismus jegliche anderen Nahrungsmittel abstößt. Meine Versuche menschlichem Blut zu widerstehen waren vergeblich. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da übernimmt der Durst die Kontrolle über Sinne und Verstand. Mit anderen Worten: Ich greife unkontrolliert Menschen an. Es ist wie ein Teufelskreislauf, aus dem es kein Entkommen gibt. Was glaubst du also, verfolgt Eclipse für ein Ziel? Weltherrschaft klingt vielleicht etwas übertrieben, aber so abwegig ist das gar nicht. Stell dir vor, was passieren könnte, wenn es noch mehr von meiner Sorte gäbe.“ Gin wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Vorstellen wollte er sich das auf keinen Fall. Rye allein war schon gefährlich. Wenn es noch mehr Vampire gäbe, würde es womöglich nur wenige Tage dauern, bis einzelne Städte von ihnen beherrscht und die Menschen dort allesamt abgeschlachtet werden würden. Es gäbe unendlich viele Blutbäder. Eigentlich interessierte sich Gin sonst nicht für das Leben anderer Menschen. Blutbäder waren ihm immerhin nicht neu. Hin und wieder war er selbst für eines verantwortlich gewesen. Was das betraf unterschied sich Eclipse vielleicht nicht sonderlich von seiner Organisation. Letzten Endes strebte ein Großteil der Menschheit nach Macht und sehr viele davon würden alles aufs Spiel setzen, um an diese Macht zu kommen. Doch bei Eclipse war es anders. Sie waren keine Menschen, die anderen Menschen etwas zuleide tun wollten. Sie waren Monster. „Hab ich dich jetzt etwa erschreckt?“ Ryes scherzhaft klingende Stimme riss Gin aus seinen Horrorvisionen. Kaum zu glauben, dass eines dieser Monster gerade seelenruhig neben ihm saß: Rye, welcher manchmal so weich und herrlich lächeln konnte wie ein Engel. „Nein. Das Meiste wusste ich schon. Außerdem wäre es nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Vampire über Menschen herrschen.“, meinte Gin ruhig. „Echt? Hast du das auch aus dem Buch?“, wollte Rye wissen. Sein Interesse an diesem Buch war eindeutig. Gin nickte schweigend. „Darf ich das vielleicht auch mal lesen?“ Die Frage von Rye hatte der Silberhaarige vorausgesehen. „Als ob du dich davon abhalten lassen würdest, wenn ich es dir verbiete.“, erwiderte Gin ironisch, woraufhin ein schelmisches Lächeln Ryes Lippen umspielte. Ein Wunder, dass er das Buch noch nicht geklaut hatte. Wie die Spritze mit Curare. „Ich betrachte das mal als ein Ja.“, kam es selbstgefällig von Rye. Einen Augenblick später befand sich das Buch schon in seinen Händen, welches zuvor noch auf dem Tisch gelegen hatte. Gin rollte mit den Augen. „Im Übrigen, um auf den ersten Teil deiner Frage einzugehen: Ich kann mich nicht an das Geringste aus meiner Zeit in Eclipse erinnern. Höchstens an meine Flucht, die sozusagen ja immer noch andauert.“, redete Rye nebenbei, während er in dem Buch herumblätterte. „Und wie bist du geflohen?“ Gin stellte sich so eine Flucht so gut wie unmöglich vor. Aber als Vampir hatten die Chancen für Rye wahrscheinlich höher gestanden, zu entkommen. Dieser hatte die richtige Seite inzwischen aufgeschlagen, bevor er den Blick wieder hob und Gin direkt ansah. Sein darauffolgendes Lächeln wirkte traurig. „Ich kann mich nur noch an Bruchstücke erinnern. Es ging alles sehr schnell und ich war noch viel zu durcheinander, um vollständig zu realisieren, was um mich herum geschah. Es war eine riesige Einrichtung mit unendlich vielen Gängen und Fluren. Ich ließ hauptsächlich Trümmer und Leichen hinter mir zurück. Nichts konnte sich mir in den Weg stellen. Irgendwann glaubte ich, den Ausgang gefunden zu haben. Ich weiß noch, wie sich meine Hoffnung zur bitteren Enttäuschung umwandelte, als ich draußen weit und breit bloß das Meer erblickte. Ich hatte das Gefühl, die Sonne würde mir ins Gesicht lachen.“ Rye verzog vor Spott das Gesicht, doch seine Stimme schien weit weg zu sein. Kurz glaubte Gin, dass Ryes Augen durch ihn hindurch in weite Ferne blickten. In ihnen funkelte das Meer in hellen, bläulichen Farben und wurde von der Sonne beschienen. „Ich entschied mich für den Freitod und sprang ins Meer. Doch leider starb ich nicht. Die Wellen trieben mich bis an die japanische Küste, wo mich eine Gruppe von Fischern bewusstlos auffand. Mein Durst war unermesslich. Ich hab sie alle getötet. Als ich mir darüber im Klaren wurde, was ich getan hatte, empfand ich eine unbeschreibliche Abscheu vor mir selbst. Während ich durch einige Städte zog, hasste ich mich für meine Taten irgendwann so sehr, dass ich einfach nur sterben wollte… Aber das war mir nicht vergönnt. Ich hab alles probiert, was mir in den Sinn gekommen ist. Nichts funktionierte. Schließlich bin ich in meiner Verzweiflung vor ein paar Wochen hier in Tokio gelandet, wo Vermouth mich dann nach kurzer Zeit gefunden hat.“ Rye verstummte und schloss die Augen. Gin merkte ihm an, dass es ihm weh tat darüber zu sprechen und er sich deshalb so kurz wie möglich fasste. Jedoch war der Silberhaarige von den Selbstmordversuchen am Meisten geschockt. Zwar erinnerte er sich daran, wie Rye ihm mal gesagt hatte, dass er sich selbst nicht sonderlich leiden konnte – doch dass er sich so sehr hasste, dass er schon mehrmals versucht hatte sich umzubringen, hätte Gin nicht mal im Traum gedacht. „Den Rest kennst du ja. Die blutigen Details erspar‘ ich dir.“, fügte Rye plötzlich heiter hinzu, während er die Augen wieder öffnete und anschließend leicht lächelte. Als würde er seinen tiefen Schmerz hinter einer Fassade verstecken wollen. Doch Gin beachtete diese Fassade nicht weiter. Instinktiv griff er nach Ryes kalten Händen und drückte sie fest. Eine Weile starrte er unsicher in das erstaunte Gesicht des Schwarzhaarigen, bevor er über seinen Schatten sprang und mit einem scharfen Unterton in der Stimme sagte: „Versuch nie wieder dich umzubringen, klar?“ Rye brauchte ein paar Sekunden, um die Worte zu erfassen. Doch dann kehrte das Lächeln in seinem Gesicht zurück. Nur mit dem Unterschied, dass es diesmal echt war. Seine Augen blitzten vor freudiger Erregung. „Keine Sorge.“, meinte er dann beschwichtigend. „Das habe ich erst mal nicht vor.“ Er strich Gin sanft über die Finger, welcher überrascht den Blick abwandte und seine Hände schnell wegzog. Zum Glück schien Rye das nichts auszumachen, da er kurz darauf leise zu lachen begann. „Du solltest jetzt wirklich lieber schlafen. Es ist sehr spät.“, riet er dem Silberhaarigen anschließend. Aber dieser schüttelte mit dem Kopf. „Wie gesagt: Ich lass mich nicht von dir beim Schlafen beobachten.“, meinte er dann ein wenig eingeschnappt. „Ich verspreche, dass ich dich nicht beobachten werde.“, erwiderte Rye mit fester Stimme, bevor er kurz das Buch auf seinem Schoß anhob und hinzufügte: „Ich hab ja stattdessen was zu lesen.“ „Das dauert aber nicht die ganze Nacht.“, beharrte Gin und runzelte misstrauisch die Stirn. „Du könntest mich wegschicken.“, bot Rye ihm daraufhin an. „Würdest du dich denn wegschicken lassen?“ Rye schmunzelte und unterdrückte ein weiteres Lachen. „Vermutlich nicht.“, gestand er belustigt, woraufhin Gin ein Seufzen entwich. Kurz nach dem Kuss wäre Rye wirklich beinahe gegangen. Sogar von allein, ohne dass Gin ihn hätte wegschicken müssen. Doch jetzt schien sein Partner keinen Grund mehr zu haben. Die Beschämung und Angespanntheit, die bei ihm durch den Kuss ausgelöst worden waren, schienen mittlerweile verflogen zu sein. Möglicherweise hatte das intensive Gespräch auch dazu beigetragen. „Na schön.“ Gin erhob sich ruckartig von der Couch. „Dann bleib eben hier. Aber wehe du brichst dein Versprechen. Sonst werde ich so tun, als hätte das heutige Gespräch nicht stattgefunden und werde dir wieder aus dem Weg gehen.“ Er sah Rye eindringlich in die Augen, schnappte sich anschließend provokativ seine Decke von der Couch und schlug gezielt den Weg zu seinem Schlafzimmer ein. Er hatte schon lange nicht mehr in seinem Bett geschlafen, weshalb er sich fast ein bisschen darauf freute. Wäre da bloß nicht der gewisse ungebetene Gast in seiner Wohnung. „Schlaf gut.“, rief Rye ihm hinterher, als er das Wohnzimmer bereits verlassen hatte. Gin ging nicht weiter darauf ein. Er hoffte nur, dass seine Drohung Rye ausreichend motivieren würde, sich an sein Versprechen zu halten. Kapitel 21: Fall abgeschlossen? ------------------------------- Die Luft fühlte sich schwer und kalt an. Das eisige Wasser stand Gin bis zu den Knöcheln und sandte ihm stechende Schmerzen durch seine nackten Füße. Der Wind peitschte ihm die Haare ins Gesicht, wodurch es ihm schwerer fiel, sich umzusehen. Er hörte das Meer hinter sich rauschen. Die Wellen schlugen hastig und ließen es zornig wirken. Wie ferngesteuert ging Gin voran und versuchte dabei dem starken Widerstand des Windes standzuhalten. Wegen der vielen, spitzen Kieselsteine unter seinen Füßen fühlte sich jeder Schritt an, als würde er in einen Scherbenhaufen treten. Genervt strich sich Gin die Strähnen aus dem Gesicht und ließ seinen Blick erneut wandern. Weit und breit nichts außer Meer, Sand und einige daraus entstandene Dünen. Doch da entdeckte er einen seltsamen, dunklen Fleck, welcher so gar nicht in dieses Schema passte. Beim genaueren Hinsehen erkannte er, dass es sich um einen reglosen Körper handelte, der von den Wellen angespült worden war. Sofort rannte Gin los und blieb kurz vor der blassen Gestalt stehen, die größtenteils von langen, schwarzen, klatschnassen Haaren bedeckt war. „Rye!“, stieß Gin erschrocken hervor und ließ sich neben seinem Partner auf die Knie fallen. Rye sah aus wie eine Wasserleiche. Und er fühlte sich auch genau wie eine an. Starr und eiskalt. Gin rüttelte ihn an den Schultern, was Rye allerdings nicht erwachen ließ. Angespannt stützte der Silberhaare seine Hände links und rechts neben ihm ab und beugte sich mit einem prüfenden Blick zu ihm herunter. Vielleicht war Rye wirklich tot. Im Meer ertrunken. Wie er es gewollt hatte. Verzweifelt fuhr Gin das blasse Muster von bläulichen Adern unter Ryes Augen nach. Im nächsten Moment fuhr er jedoch vor Schreck zusammen, als sich die Augen weit aufrissen und zwei tiefrote Rubine zum Vorschein kamen, die ihn blutrünstig anfunkelten. … Als sich der schlafende Körper neben ihm plötzlich anspannte, öffnete Rye leicht seine Augen. Bei dem Anblick, der sich ihm daraufhin bot, schlich sich ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen. Er wollte Gins Erscheinung am liebsten immer zuerst sehen, wenn er erwachte. Obwohl sein Schlaf nicht sonderlich tief gewesen war und er sich die halbe Nacht bemüht hatte, wach zu bleiben. Letztlich ohne Erfolg. Die angenehme Wärme des Silberhaarigen und dessen ruhige, gleichmäßige Atemzüge hatten dafür gesorgt, dass er nach und nach müder geworden war. Zudem war ihm der Schlaf ganz gelegen gekommen, denn so konnte er das Versprechen einhalten, welches er Gin am Abend zuvor gegeben hatte. Er hatte ihn nicht beim Schlafen beobachtet. Und Gin hatte ihm immerhin nicht verboten, neben ihm zu schlafen. Dennoch war sich Rye sicher, dass Gin versuchen würde, ihn seine Entscheidung bereuen zu lassen. „Aber dazu wirst du mich nicht bringen.“, sprach er fest entschlossen zu Gin in Gedanken. Sogar jetzt spürte er nichts weißer als Zufriedenheit und unbeschreibliches Glück, das ihm seit gestern zu widerfahren schien. Gin war auf den Kuss eingegangen und hatte diesen selbständig, ohne zu zögern, erwidert. Allein das bedeutete Rye mehr als jede Antwort, die Gin ihm auf seine Frage hätte geben können. Allerdings verfluchte sich Rye dafür, den Kuss am Ende vermasselt zu haben. Er hatte sich so sehr auf seinen spontanen Entschluss konzentriert, dass er dabei vergessen hatte, wie miserabel er in solchen Dingen war. Körperliche Nähe zu Menschen war gefährlich und konnte tödlich für diese enden. Nie hätte er Gin so nah kommen dürfen. Nicht einmal jetzt durfte er so dicht neben ihm liegen. Eigentlich wäre es wirklich besser, schnell und heimlich zu verschwinden, solange ihm noch die Chance dazu blieb. Ein wenig Sorgen bereitete Rye die Drohung von Gin schon. Nach so vielen Bemühungen hatte er den Silberhaarigen endlich dazu gebracht, sich ihm gegenüber wenigstens ein bisschen zu öffnen. Das durfte er sich jetzt nicht wieder zu Nichte machen. Behutsam richtete sich Rye auf, um Gin nicht zu wecken. Doch dann verharrte er und betrachtete verträumt das schlafende Gesicht seines Partners, welches von ein paar silbernen Strähnen verdeckt wurde. Der Anblick war einfach zu verlockend, als das Rye seine Augen vorzeitig davon lösen könnte. Wie von selbst bewegte sich seine Hand zu Gins Gesicht und strich die Strähnen vorsichtig hinters Ohr. Dabei verzog Gin begleitet von einem leisen Stöhnen leicht das Gesicht. „Er kann so süß sein, wenn er schläft.“, dachte Rye entzückt und musste nebenher schmunzeln. „Aber auch nur dann.“, fügte er belustigt hinzu. Allerdings fand er die Seite, von der sich der Silberhaarige am Abend zuvor gezeigt hatte, zugegebenermaßen auch ziemlich süß. Die beschämte Röte auf den Wangen stand ihm gut. Es war wirklich von besonderem Reiz, wenn der sonst kaltblütige Mörder unbewusst offen zeigte, was er zu fühlen schien. Oder wenn spontane Reaktionen das feinfühlige Wesen in ihm für einen kurzen Moment enthüllten. Trotzdem versuchte Rye einen Grund für Gins plötzlich verändertes Verhalten zu finden. Gerade weil Gin bisher sehr selten Gefühle gezeigt hatte, erschien es unsinnig, dass er auf den Kuss eingegangen war. Und das mit einer Leidenschaft, die sich Rye niemals erträumt hätte. Der Gin, den er kannte, hätte ihn eher weggestoßen, angeschrien und unverzüglich rausgeworfen. „Und wenn das alles nur eine Illusion war…? Geschaffen durch dieses verdammte Gift, das mir Eclipse eingeflößt hat und nun in meinem Organismus ist? Vielleicht ist es wahr, was in dem Buch steht, und meine Erscheinung wirkt lediglich anziehend auf ihn…“ Rye spürte, wie bei diesem Gedanken Traurigkeit und bittere Enttäuschung in ihm aufkamen. Unvermittelt durchfuhr der Herzschmerz seinen Körper. Doch er musste sich zusammenreißen. „So ein Schwachsinn…“, verdrängte er den Gedanken kopfschüttelnd. Er war fest davon überzeugt, dass Gin niemals auf so etwas hereinfallen würde. Dieser begann sich auf einmal neben ihm zu regen. Als Rye einen Moment später den Blick zu dem Silberhaarigen schweifen ließ, blickte er jedoch in ein längst vor Schock und Entsetzten versteinertes Gesicht. Rye versuchte sich seine eigene Erschrockenheit nicht anmerken zu lassen und den unangenehmen Schauer, der ihn dabei durchlief, zu ignorieren. Aber noch bevor er den Mund zu einer Erklärung öffnen konnte, erfüllte ein markerschütternder Schrei das Zimmer. Gin schreckte hoch und wich dabei so weit zurück, dass er beinahe aus dem Bett gefallen wäre, wenn Rye es nicht noch im letzten Moment verhindert hätte. „Vorsicht, so viel Aufregung kurz nach dem Aufwachen ist nicht gut für dich.“, versuchte er Gin in sanfter Tonlage zu beruhigen, während dieser ihm nur mit offenem Mund anstarrte. Kurz darauf stieß der Silberhaarige ihn jedoch gewaltsam von sich weg. „Was zur Hölle soll das?! Du unverschämter Bastard!“, beschimpfte er ihn dabei lautstark, was Rye möglichst versuchte zu überhören. „Dir auch Guten Morgen…“, murmelte er seufzend. Er musste sich eingestehen, dass er sich die Suppe selbst eingebrockt hatte. Wäre er rechtzeitig abgehauen, hätte Gin es niemals gemerkt. „Den guten Morgen hast du mir soeben verdorben.“, schoss dieser bissig zurück. Kurz darauf landete ein Kissen in Ryes Gesicht, welches zuvor von Gin geschleudert worden war. „Entschuldigung.“, erwiderte Rye förmlich mit einer Unschuldsmiene, von der sich sein Gegenüber jedoch nicht täuschen ließ. „Sicher, dass es dir leid tut?“, knurrte dieser in gefährlich leiser Tonlage. Rye schwieg und knautschte nebenbei das Kissen, das auf seinem Schoß gelandet war. Es zuzugeben wäre zu peinlich. Doch lügen wollte er auch nicht. „Dein Schweigen ist so leicht zu interpretieren.“, schnaubte Gin abfällig und nahm Rye somit seine Entscheidung ab, eine der Antworten auswählen zu müssen. „Du hattest es versprochen.“, warf Gin ihm anschließend vor, während er ihm das Kissen aus den Händen riss. „Und ich habe mein Versprechen eingehalten und dich nicht beim Schlafen beobachtet.“, entgegnete Rye etwas stolz. Doch Gins misstrauische Miene zeigte deutlich, dass er ihm nicht glaubte. Deshalb fügte Rye noch hinzu: „Ich habe selbst geschlafen.“ „Gestern sagtest du noch, du schläfst nicht.“, erinnerte der Silberhaarige ihn und verengte dabei die Augen. „Es ist nicht zwingend notwendig, was aber nicht heißt, dass ich es nicht doch tun könnte.“, erklärte Rye, zweifelte jedoch inzwischen daran, Gin je überzeugen zu können. „Und deine Alpträume?“, hakte sein Partner nun nach. „Neben dir schläft es sich sehr gemütlich. Ich hatte ausnahmsweise keine.“ Rye war froh darüber, dass diese Aussage wahrheitsgemäß war. Auch wenn es ihn schon überraschte, dass er zum ersten Mal eine traumlose Nacht hatte genießen können. Und das neben den Mann, den er mehr als alles auf dieser Welt begehrte. Doch dieser Mann sah jetzt noch verärgerter als zuvor aus. „Ich glaub das hätte ich besser für mich behalten sollen.“, wurde dem Schwarzhaarigen bewusst. Allerdings zu spät. Das Gesagte ließ sich nicht mehr zurücknehmen. „Von wegen. Warum sollte es das?“, schleuderte Gin ihm verständnislos entgegen. Zum Glück schwang in seinen Worten weit weniger Wut mit, als sich zuvor auf seinem Gesicht gezeigt hatte. „Nun ja…“, zögerte Rye seine Antwort etwas hinaus, um den Abstand zwischen ihnen zu verringern. Mit heimlichen Hintergedanken ließ er seine Hände seitlich an Gins Brustkorb entlang wandern und fuhr mit verführerischer Stimme fort: „Dein Körper strahlt eine angenehme, anziehende Hitze aus…“ Er zog Gin näher zu sich heran und vergrub seine Nase in den silbernen Strähnen. „Und du riechst sehr gut…“, flüsterte Rye ihm anschließend ins Ohr. Auf seinen Lippen bildete sich ein siegessicheres Lächeln, als er spürte, wie Gin ein Schauer durchlief. „Außerdem fühle ich mich in deiner Nähe auf eine mir unbegreifliche Weise wohl…“ Während seine Hände über Gins Rücken fuhren, pressten sich die des Silberhaarigen gegen seine Brust, um ihn scheinbar von sich wegzuschieben. Doch die dazu notwendige Kraft fehlte bei weitem. „Dein Atem beruhigt und entspannt mich und lässt mich alles andere vergessen...“, kaum waren die Worte ausgesprochen, hielt Gin vor Anspannung die Luft an. „Willst du noch mehr Gründe wissen?“, hauchte Rye ihm zuletzt verlangend ins Ohr, bevor sich Gin endgültig aus der Schlinge befreite und bis zum anderen Bettende zurückwich. Das war ihm natürlich nur gelungen, weil Rye es zugelassen hatte. Erfreut konnte er erkennen, dass Gin das Blut bis in die Wangen geschossen war. Um die verräterische Röte zu verbergen, hielt er sich die Hand vor Mund und Nase. Seine verloren gegangene Fassung würde er so schnell nicht wiedererlangen. „Ziel erreicht.“ Rye hoffte, Gins Wut somit erst mal vertrieben zu haben und dass dieser das Thema von nun an auf sich beruhen lassen würde. Seine Gründe sollten vielsagend genug gewesen sein. Obwohl er eigentlich niemals vorgehabt hatte, sie auszusprechen. Weil jeder einzelne der Wahrheit entsprach. „Nein… will ich nicht…“, brachte Gin schweren Atems hervor, während er den Blick von Rye abgewandt ließ. Dessen Augen weiteten sich allerdings überrascht, als ihm die deutliche Beule in Gins Hose auffiel, die der Silberhaarige vergeblich versuchte zu verstecken, indem er die Knie an seinen Oberkörper zog und die Arme darüber verschränkte. „Er ist erregt…“ Rye bemühte sich das gierige Verlangen, welches ihm bei dieser Erkenntnis erfüllte, zu ersticken. Unbewusst leckte er sich über die Lippen, als sein Blick wieder zu Gins errötetem Gesicht huschte. Doch bevor sich sein Verstand in nichts auflösen konnte, schloss er kurz die Augen, um sich zu sammeln. Erst, als er sich sicher war, dass er bei Gins erneutem Anblick nicht die Kontrolle verlieren würde, schlug er seine Augen wieder auf und begann entschuldigend: „Tut mir leid, ich wollte nicht, dass du-“ „Halt die Klappe!“, fiel Gin ihm jedoch ins Wort. Seine Stimme klang zu Ryes Erleichterung mehr beschämt als wütend. „Das ist nichts weiter als eine normale, körperliche Reaktion.“, redete er sich raus, woraufhin Rye ein Lachen unterdrücken musste. „Aber eine Reaktion auf meine Berührungen…“ Die Antwort in seinem Kopf ließ er lieber unausgesprochen. „Okay, wie du meinst.“, erwiderte er stattdessen und räusperte sich anschließend, um zu einem anderen Thema überleiten zu können: „Der Artikel in dem Buch war zwar informativ, aber doch kürzer, als ich gedacht habe.“ „Um dich zu überführen hat‘s immerhin gereicht.“, entgegnete Gin schulterzuckend mit einem gehässigen Unterton in der Stimme. „Also ist der Fall jetzt abgeschlossen, Herr Detektiv?“ Den Scherz konnte sich Rye nicht verkneifen. Zumal der Fall niemals komplett abgeschlossen sein würde, da er immer dazu gezwungen war, Morde zu begehen. Es würde niemals ein Ende nehmen. „Nein, noch nicht.“, antwortete Gin jedoch gegen Ryes Erwartung. Er runzelte verwirrt die Stirn und fragte: „Wieso nicht?“ Das darauffolgende hämische Grinsen in Gins Gesicht konnte nichts Gutes bedeuten. Es jagte Rye ein wenig Angst ein. „Der Fall ist erst abgeschlossen, wenn du dich gestellt hast.“, offenbarte Gin, woraufhin Rye der Schock unmittelbar wie ein Blitz traf. Das konnte Gin unmöglich von ihm wollen. Warum überhaupt? Was hatte er davon, wenn die Polizei ihn verhaften würde? Wollte er ihn etwa doch loswerden? Ryes Gedanken begannen wild umher zu kreisen. „Bitte was?!“, entwich es dem Schwarzhaarigen mit erstickter Stimme. „Das geht nicht!“ Die Panik ergriff beinahe Besitz von ihm, was auch Gin zu bemerken schien. Er packte Rye ruckartig an den Schultern und sah ihm fest in die Augen. „Beruhig‘ dich. Ich meinte damit nicht die Polizei.“, stellte er in beschwichtigender Tonlage klar, als hätte er Ryes Gedanken gelesen. Dieser starrte schweigend in die schönen, stechend grünen Augen vor sich. Er ließ sich von ihnen in den Bann ziehen. So konnte nach einer Weile die Ruhe in ihm einkehren. „Sondern?“, fragte er zögernd nach. Begleitet von dem letzten Rest seiner Angst, die ihm zurief, die folgende Antwort könnte noch schlimmer als die Vorherige sein. „Den Boss.“, erwiderte Gin tonlos. Sofort wurde Rye erneut von der Angst umhüllt. Der Boss war in der Tat noch viel schlimmer als die Polizei. Was, wenn dieser ihn aus der Organisation verbannte? Wohin sollte er dann gehen? Könnte er dann trotzdem noch in Gins Nähe bleiben? Während diese Fragen in ihm aufkamen, schüttelte er hastig den Kopf. „Hör mal, er hatte mir aufgetragen der Mordserie auf den Grund zu gehen und nach Vermouth zu suchen. Du bist für beides verantwortlich. Ich werde jetzt ganz bestimmt nicht zu ihm gehen und ihm erzählen, dass du ein Vampir bist, die ganzen Morde verübt hast, und noch dazu Vermouth aus bloßer Eifersucht getötet hast. Das kannst du ihm alles schön selbst beichten.“, erklärte Gin etwas eingeschnappt und verschränkte erneut die Arme. „Und was ist, wenn er mich dann rauswirft? Ich hab drei Mitglieder der Organisation umgebracht, das wird er mir niemals verzeihen!“, wandte Rye aufgebracht ein und hoffte inständig, den Silberhaarigen umstimmen zu können. Doch dieser zog nur entgeistert die Augenbrauen nach oben und prustete. „Als ob du dir ernsthaft darüber Sorgen machst…“, meinte er belustigt. „Ich will eben einfach nicht schon wieder den Ort wechseln müssen, weil ich mich hier nicht mehr verstecken kann… Bisher konnte ich unter dem Schutz der Organisation ganz gut zurechtkommen…“ Rye senkte verzweifelt den Blick. Der Gedanke daran, fortgehen zu müssen, schmerzte. Er war es inzwischen mehr als leid. Besonders jetzt, wo er doch endlich einen Menschen gefunden hatte, den er so sehr mochte, dass er für ihn weiterexistieren wollte. Dieser Mensch musterte ihn nun mit einer überraschten Miene. „Das ist dir nur wichtig, weil du Angst hast, dass Eclipse dich findet, kann das sein?“, wollte Gin wissen. Rye nickte leicht, ohne dabei den Blick zu heben. Nach ein paar Sekunden des Schweigens legte sich plötzlich eine warme Hand über die eintätowierte Nummer auf seinen Hals, die er so sehr hasste. „Er wird dich schon nicht rauswerfen.“, sprach Gin mit einer sanften Stimme, die Rye noch nie zuvor von ihm gehört hatte. Voller Verwunderung und Erwartung, ein passendes Lächeln zu dieser Stimme auf Gins Gesicht zu erblicken, hob er den Kopf, nur um daraufhin jedoch enttäuscht zu werden. Gins Miene war vollkommen ausdruckslos. „Das weißt du doch gar nicht.“, erwiderte Rye nicht gerade überzeugt. Er schmiegte sich stärker in die Berührung an seinem Hals. „Doch, tu ich.“, widersprach Gin in strenger Tonlage. Als Rye etwas dagegen sagen wollte, fügte der Silberhaarige noch hinzu: „Vertrau mir.“ Dessen vollkommen selbstsichere, von sich überzeugte Tonlage brachte Rye dazu, Gin wirklich zu vertrauen. Doch auch wenn dieser aufgrund seiner guten Beziehung zum Boss vielleicht vorhatte, ein gutes Wort oder derartiges für ihn einzulegen, musste sich Rye letzten Endes dennoch selbst rechtfertigen. Gedanklich begann er bereits an einer soliden Ausrede für den Mord an Vermouth zu feilen. „War sie nicht so was wie der Liebling vom Boss…?“, fiel es Rye siedend heiß wieder ein. Womöglich könnte das die Sache noch problematischer machen. Als sich Gins Hand von seinem Hals entfernte, wurde Rye aus seinen Gedanken gerissen. Mit aufkeimender Enttäuschung beobachtete er, wie Gin aus dem Bett stieg und ihn wortlos dort zurückließ. „Wo willst du hin?“, fragte er, woraufhin sein Partner verwirrt den Blick über die Schulter warf. „Mir vielleicht mal was anderes anziehen gehen, damit wir los können?“, schoss er sarkastisch zurück und wandte sich wieder ab. Kurz darauf blieb er allerdings abrupt im Türrahmen stehen und drehte sich noch einmal zu Rye um. „Und verschwinde endlich aus meinem Bett!“, fuhr Gin ihn gereizt an und verließ anschließend das Schlafzimmer. Das leise, amüsierte Lachen, was Rye darauffolgend entwich, hörte er nicht mehr. Kapitel 22: Vergebung --------------------- „Kann ich dich eigentlich mal was fragen?“ Neugierig beugte sich Rye vor, um dem neben ihm herlaufenden Gin in die Augen schauen zu können. Jedoch hielt der Silberhaarige den Blick starr geradeaus. Scheinbar war er immer noch sauer auf ihn. Seit dem Verlassen von Gins Wohnung hatten die Beiden kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Obwohl Rye das Schweigen während der Fahrt hierher besonders gestört hatte, hatte er sich nicht dazu überwinden können, Gin anzusprechen. Er wollte ihm ein wenig Zeit geben sich wieder zu beruhigen, was allerdings leider bis jetzt noch nicht passiert war. Deswegen versuchte Rye nun die Stimmung zwischen ihnen mit einem Gespräch wieder aufzulockern. „Mach doch.“, erwiderte Gin kühl, während er die Pfeiltaste vom Fahrstuhl drückte, vor welchem sie stehenblieben. Die Türen öffneten sich nach wenigen Sekunden. Erst als sie eingetreten waren und die Türen sich wieder schlossen, begann Rye mit einer gewissen Vorsicht: „Also der Boss… was ist er eigentlich für dich?“ Für einen kurzen Moment tat Gin so, als hätte er die Frage nicht gehört und betätigte den Knopf zum letzten Stockwerk. Nach einem Seufzen fragte er schließlich verwirrt: „Was sollte er für mich sein?“ Rye wartete kurz mit seiner Antwort. Das Bewegen des Fahrstuhls hatte noch mehr Nervosität in ihm aufkommen lassen, welche er schon die ganze Zeit versuchte zu verdrängen. Es dauerte nur noch wenige Minuten bis zu der Höhle des Löwen. Nie hätte er geglaubt, sich mal vor einem Menschen fürchten zu müssen. „Naja, Vermouth hat mal erzählt, dass…“ Rye hielt inne, als Gins Augenpaar ihn bei dem Namen der Frau böse anfunkelte. Sofort legte er seine Worte anders aus. „Da du, soweit ich erfahren habe, keine Eltern mehr hast, dachte ich-“ „Du irrst dich.“, schnitt Gin ihm den Satz jedoch mittendrin ab. Rye verstummte und musterte seinen Partner überrascht. „Ich habe nie einen väterlichen Ersatz gebraucht, falls du darauf hinauswolltest.“, fuhr dieser mit leerem Blick fort, woraufhin Rye frustriert auf den gefliesten Boden starrte. Dabei war er sich so sicher gewesen. „Oder er will es nicht zugeben…“, kam es ihm in den Sinn. Im selben Augenblick blieb der Aufzug stehen und die Türen öffneten sich wieder. „Aber er hat dich unter seine Fittiche genommen.“, nahm er an, bevor er sich zögernd in Bewegung setzte, um Gin zu folgen. „Sozusagen.“, gab dieser knapp zu. „Hat er nie gesagt warum?“, wollte Rye daraufhin wissen. „Ich hab nie gefragt.“ Rye presste die Lippen zusammen. Diese kurzen Antworten waren alles andere als zufriedenstellend. Dabei hatte er gehofft, mehr über Gin herausfinden zu können. Doch dieser verhielt sich noch genau so unnahbar wie vom ersten Tag an. „Ich werd dich schon noch dazu bringen, mir mehr über dich zu erzählen.“, schwor sich Rye unter der Voraussetzung, dass das Gespräch mit dem Boss einigermaßen gut verlaufen würde. Vielleicht könnte er diesen dann sogar selbst fragen, was Gins Eltern betraf. Aber das war lediglich unrealistisches Wunschdenken. Plötzlich blieb der Silberhaarige vor einer breiten, weißen Doppeltür stehen. Auf beiden Seiten waren jeweils Männer in Anzügen postiert, die über ihren ernst versteinerten Gesichtsausdruck eine Sonnenbrille trugen. Sie standen so still wie Statuen und beachteten die beiden Neuankömmlinge nicht weiter. Rye schluckte, als ihm bewusst wurde, dass er tatsächlich vor der Tür stand, durch welche er eigentlich auf keinen Fall gehen wollte. Zu der Person, auf die er anfangs so neugierig gewesen war, doch welcher er nun nicht mehr gegenüber treten wollte. Er wusste einfach nicht, wie er sich erklären sollte. Wie er um Vergebung bitten sollte. Instinktiv drehte er seinen Kopf zu Gin, um diesen ansehen zu können. Jedoch durchlief ihn ein Schauer, als dessen Blick bereits erwartungsvoll auf ihm ruhte. Als würde er ihn wortlos drängen, sich seiner Furcht zu stellen. Doch Rye blieb dennoch auf der Stelle stehen und machte keinerlei Anstalten, diesen Raum vorzeitig betreten zu wollen. Schließlich entwich dem Silberhaarigen irgendwann ein Seufzen und er meinte mit einem leichten Befehlsunterton in der Stimme: „Warte hier.“ Kurz darauf ging er gezielten Schrittes zur Tür und klopfte an. Kaum einen Moment später erfolgte ein streng erhobenes „Herein“. Gin drückte die Türklinke herunter und trat anschließend zum Glück allein in den Raum, ohne sich nochmal zu Rye umzudrehen. Nachdem sich die Tür schloss, atmete der Schwarzhaarige erleichtert aus und lehnte sich an die Wand hinter sich. Von da aus ließ er seinen Blick abwechselnd zwischen den beiden postierten Männern hin und her schweifen. Prüfend analysierte er jeden Einzelnen so lange, bis ihre Haltung allmählich unruhig wurde. Als er hörte, wie zwei unregelmäßige Herzschläge sich rasend schnell erhöhten, setzte er ein zufriedenes Lächeln auf. „Es passiert selten, dass du unangekündigt kommst. Was ist los?“, wurde Gin von seinem Boss empfangen, welcher die Akten, die er bis eben gelesen hatte, beiseite legte und die Hände ineinander verschränkte. Ausnahmsweise ließ er sich sein Interesse für die Neuigkeiten tatsächlich ein wenig anmerken. Seine Miene war nicht so ausdruckslos wie sonst. Gin versuchte so schnell wie möglich die richtigen Worte zu finden, wie er Vater die Lage erklären sollte ohne, dass es sich vollkommen verrückt anhören würde. Doch das war nicht möglich. An dem Teil mit den Vampiren kam er ohnehin nicht drumherum. „Gin.“ Leicht erschrocken über die scharfe Tonlage wurde der Silberhaarige aus seinen Grübeleien gerissen, in die er offenbar zu lange versunken gewesen war. „Du hattest mir ja aufgetragen nach Vermouth zu suchen…“, versuchte er sich langsam an die Sache heranzutasten. „Und?“, hakte sein Boss ungeduldig nach. Gin wusste zu gut, dass dieser es hasste, wenn etwas nicht sofort auf den Punkt gebracht wurde. Aber gerade ging es nicht anders. Denn würde er gleich auf den Punkt kommen, war die Wahrscheinlichkeit noch höher, dass Vater ihm nicht glaubte. „Ich hab sie gefunden. Allerdings tot.“, verriet er halbwegs gelogen, da er schließlich gegen seinen Willen von Rye zu der Leiche geführt worden war. „Das dachte ich mir.“, entgegnete sein Boss trocken und legte das Kinn auf die Hände ab. Nicht einmal jetzt spiegelte sich eine Emotion in dessen Gesichtsausdruck wieder. Die eigentlich traurige Nachricht – auch, wenn es vorhersehbar gewesen war – ließ ihn vollkommen kalt. So, wie es Gin ebenso kalt gelassen hatte. „Aber du bist nicht hier, um mir nur das mitzuteilen.“, stellte sein Boss fest und verengte dabei die Augen, so dass sich Gin von ihnen durchbohrt fühlte. „Nein.“, stimmte er leise zu. „Vermouth wurde von demselben Täter umgebracht, der auch für die ganzen anderen Morde verantwortlich ist.“ Nachdem sein Gegenüber realisiert hatte, dass Gin seinem Satz nichts mehr hinzufügen würde, befahl er streng: „Jetzt hör auf mich so auf die Folter zu spannen und komm endlich zum Punkt.“ Der Silberhaarige erschauderte, nahm sich jedoch zusammen und fuhr fort: „Ich konnte herausfinden, wer dieser Täter ist. Es ist jemand aus der Organisation.“ „Sag mir den Namen.“, drängte sein Boss. Zumindest jetzt hätte Gin eine überraschte Reaktion von ihm erwartet, die allerdings nicht erfolgte. Gin wunderte sich darüber, wie schwer es ihm plötzlich fiel den Codenamen seines Partners auszusprechen. Dabei kam der schwierigste Teil erst noch. Er atmete tief durch, bevor er sich dazu überwand den Namen über die Lippen zu bringen: „Rye.“ Diesmal wartete er jedoch keine Reaktion ab. Während er den Blick senkte, fügte er schnell hinzu: „Aber da gibt es noch etwas, was du wissen solltest.“ „Das wäre?“ Erneut atmete Gin tief durch. Gleich würde er es hinter sich gebracht haben. Nur irgendwie beschlich ihn die seltsame Vermutung, dass selbst die Wahrheit über Rye rein gar nichts in Vater auslösen würde. Eben hatte es zudem den Anschein gehabt, als hätte dieser lediglich nach einer Bestätigung verlangt, dass Rye der Täter war. „Er konnte nur so viele Morde verüben, ohne Spuren zu hinterlassen, weil er kein Mensch ist…“ Gin musste einiges an Mut zusammenkratzen, um wieder aufsehen zu können und seinen Satz zu beenden: „Sondern ein Vampir.“ Stille breitete sich aus, welche dem Silberhaarigen schnell unangenehm wurde. Doch mit der folgenden Reaktion seines Bosses hatte er überhaupt nicht gerechnet: Er rümpfte angewidert die Nase. „Willst du mir nicht lieber sagen, dass ich den Verstand verloren habe?“, fragte Gin ihn ungläubig in Gedanken. Aber das geschah nicht. Sein Boss sagte kein einziges Wort. Skeptisch beobachtete Gin, wie dieser aufstand, die Hände hinter dem Rücken verschränkte und zum großen Panoramafenster am Ende des Zimmers herantrat. Eine Weile ließ er seinen Blick schweigend über die belebte Stadt schweifen, bevor er sich wieder umdrehte. „Ich wusste, dass es die richtige Entscheidung war, dich damit zu beauftragen.“ Gin legte die Stirn in Falten. Dieses ruhig ausgesprochene Lob kam unerwartet. „Du hättest mir auch einfach vorher sagen können, dass du abergläubisch bist. Dann hätte ich nicht um den heißen Brei herumreden müssen.“, scherzte er abfällig, woraufhin er wirklich glaubte, so etwas wie ein amüsiertes Lächeln in Vaters Gesicht erkennen zu können. „Ich bin nicht abergläubisch. Und ich weiß, dass du es auch nicht bist.“, erwiderte er streng. Nebenher verschwand das Lächeln so schnell aus seinem Gesicht, wie es gekommen war. „Ich hoffe, dass es dir auch gelungen ist, dieses Scheusal weit genug wegzuschicken.“ Als diese an Rye gerichtete Beleidigung Gins Ohren erreichte, durchfuhr ihn urplötzlich ein Stich und seine Augen begannen sich zu weiten. Er versuchte das einkehrende, melancholische Gefühl zu vertreiben und antwortete zögernd: „Er wartet draußen.“ Da zog sein Boss die Augenbrauen nach oben. „Was?“, entwich es ihm entsetzt. Diese offensichtliche Abneigung gegen Rye konnte sich Gin nicht erklären. Er hatte inzwischen aber begriffen, dass sein Boss diese Abneigung nicht etwa empfand, weil Rye die vielen Morde begangen hatte. Sondern weil dieser ein Vampir war. „Ich möchte, dass du ihm eine Chance gibst, sich zu erklären.“, bat Gin höflich, auch wenn er daran zweifelte, dass ihm diese Bitte erfüllt werden würde. Vater hatte ihm zuvor deutlich genug gemacht, dass er Rye nicht in seiner Nähe haben wollte. Ein paar Sekunden verstrichen, in denen der Ältere wieder zum Fenster hinaus starrte und über seine nächste Entscheidung nachzudenken schien. Auf diese wartete Gin mit wachsender Anspannung. Unbeabsichtigt stellte er sich vor, wie er Rye später erklären würde, dass dieser nicht länger ein Teil der Organisation sein konnte und so weit wie möglich aus Tokio verschwinden musste. Er sah Ryes trauriges, schmerzverzerrtes Gesicht, welches unmittelbar nach dieser schlechten Nachricht folgen würde, vor seinem inneren Auge. Er hörte die schöne Stimme des Schwarzhaarigen in seinem Kopf, die ihm angsterfüllt sagen würde, dass er nicht wusste, wie und wo er sich zukünftig vor Eclipse verstecken sollte. Innerlich fluchend biss sich Gin auf die Unterlippe. Warum fühlte er sich bei dieser Vorstellung so elend? „Schick ihn rein. Ich werde unter vier Augen mit ihm sprechen.“ Nach diesen unverhofften Worten überkam Gin umgehend Erleichterung, welche er versuchte zu verbergen. Wenn Vater Rye anhörte, würde er vielleicht seine Meinung ändern. Gin nickte und verließ anschließend zügig den Raum. Draußen lehnte er die Tür nur ran, bevor er auf Rye zuging. Dieser stand reglos an der Wand und musterte ihn mit einer Miene, die irgendwie hilflos und leicht verletzt wirkte. „Du kannst jetzt zu ihm.“, teilte Gin seinem Partner mit, welcher sich daraufhin zögerlich in Bewegung setzte. Während er an Gin vorbeiging, versprach dieser so leise wie möglich: „Ich werd hier draußen auf dich warten.“ Auch wenn das vielleicht nicht sonderlich viel half, hoffte Gin, dass es Rye wenigstens ein bisschen ermunterte. Als der Schwarzhaarige hinter der Tür verschwand und sich diese wieder schloss, lehnte sich Gin ebenso an die Wand. Ein Seufzen entwich ihm und er starrte zu Boden. „Hoffentlich geht das gut…“ Die Tatsache, dass sich Vater einer eigentlich lebensgefährlichen Situation aussetzte, wenn er mit Rye ein solch ernstes Gespräch führte, versuchte Gin bestmöglich zu verdrängen. Er vertraute einfach darauf, dass Rye nicht auf die Idee kommen würde, so weit zu gehen. Denn das würde er ihm niemals verzeihen. Rye bemühte sich, eine selbstsichere Haltung zu bewahren, als er das Büro des Bosses betrat. Es war ein großer, heller, schlicht eingerichteter Raum. Genau wie man sich das Büro seines Vorgesetzten als normaler Angestellte eben vorstellte. Die Wände waren voll gestellt mit Regalen, in denen haufenweise Bücher, Ordner und sonstiger Krimskams Platz fanden. In der rechten, hintersten Ecke befand sich ein ziemlich altmodischer Fernseher, der so gar nicht zu der weißen Designerkommode passte, auf welcher er stand. Auf dem Schreibtisch in der hinteren Mitte des Raumes herrschte ein unüberschaubares Durcheinander an Akten, Papieren und Zeitungsartikeln, sodass man den Laptop und das Telefon darauf fast übersah. Der breite Chefsessel aus braunem Leder war jedoch leer. Die Person, die darauf eigentlich sitzen sollte, stand mit verschränkten Armen vor dem Fenster und beobachtete Rye eindringlich mit einer wachsamen, harten Miene. Erstaunt musterte Rye den großen, schlanken Mann. Das Erste, was ihm dabei ins Auge stach, war der lange, leuchtend rote Schal, welchen sich der Boss über die Schultern geworfen hatte und der fast bis zum Boden hing. Das Nächste war der schwarze Mantel, dessen vertraute Form ihn an den von Gin erinnerte. Doch der Mann vor ihm trug ihn im Gegensatz zu Gin offen und mit hochgeschlagenem Kragen, wodurch die passgenau geschnittene Hose, in der ein ebenso maßgeschneidertes Hemd endete, seine schlanken Beine auf beeindruckende Weise betonte. Etwas überrascht war Rye davon, dass der Boss es scheinbar bevorzugte, zu diesem eher geschäftsmäßigen Outfit kniehohe Stiefel zu tragen. Durch diese veränderte sich der Gesamteindruck dermaßen, dass es nicht mehr modern, sondern eher altertümlich wirkte. Aber dennoch edel. Zusätzlich betont wurde dieser Eindruck von der schwarzen Weste über dem Hemd, welche er im ersten Moment nur für den Schatten des Mantels gehalten hatte. Warum der Mann zu dem Allen noch eine lilane Krawatte trug, entzog sich Ryes Verständnis. Sie gehörte zwar zweifelsfrei zu einem ordentlich getragenen Hemd dazu, doch in Kombination mit dem Rest wirkte sie doch etwas unnötig und unbequem. Das Gesicht des Bosses erinnerte ihn aus irgendeinem Grund ebenso an Gin, was vielleicht besonders an den grünen Augen lag. Allerdings besaßen die Haare des Bosses keinen glänzenden Silberton, sondern waren burgunderrot. Sie waren zudem nach hinten gekämmt, wovon jedoch einige nach vorn gefallene Strähnen das makellose Gesicht umrandeten. Aber da gab es etwas, das Rye stutzig werden ließ: Dieser Mann sah noch ziemlich jung aus. Er schätzte ihn höchstens auf Anfang 40. Doch bei einem so geringen Altersunterschied zu Gin, hätte er diesen niemals großziehen können. Oder er war in Wirklichkeit doch viel älter, als er aussah und hatte sich bisher nur ungewöhnlich gut gehalten. „Ich hab ihn mir total anders vorgestellt…“, dachte Rye missmutig. Er traute sich nicht, etwas zu sagen. Obwohl er das eigentlich müsste. Doch er fühlte sich allein durch den Blick des Mannes eingeschüchtert. So eisern und vor allem abgeneigt. „Wenn schweigen und anstarren deine Art ist, dich zu erklären, kannst du auch wieder gehen. Ich habe nicht vor, meine Zeit zu verschwenden.“ In der tiefen, strengen Stimme des Bosses lag eine gewisse Kälte, die Rye erschaudern ließ. Er musste sich zusammenreißen. Das vor ihm war immerhin nur ein Mensch. Von Menschen hatte er sich noch nie einschüchtern lassen. Ganz egal, wie viel Macht sie besaßen. „Ich…“, begann Rye, musste jedoch erneut ansetzten, da er feststellte, dass seine Tonlage zu unsicher klang. „Ich bin hier, weil ich Sie um Vergebung bitten möchte.“ Daraufhin zogen sich die Mundwinkel des Bosses spottend nach oben. „Vergebung? Mach dich nicht lächerlich. Ist das auch einer deiner Tricks?“ „Tricks…?“, hakte Rye mit leiser, verwirrter Stimme nach. „Spiel nicht den Unwissenden. Mir war von vornherein klar, dass du entweder eigene Ziele verfolgst oder Connor dich mir auf den Hals gehetzt hat. Eigentlich wollte ich nur herausfinden, was genau du im Schilde führst. Doch ich bin aus deiner Vorgehensweise bisher einfach nicht schlau geworden.“, warf ihm der Boss leicht verärgert mit einem grüblerischen Ausdruck in den Augen vor. Rye benötigte eine Weile, um die Worte zu erfassen und sich der Vorwürfe bewusst zu werden. Er runzelte nach wie vor verwirrt die Stirn. „Wer ist Connor?“ Das war die erste Frage, die ihm durch den Kopf schoss. Die Zweite sprach er laut aus: „Sir, wie kommen Sie darauf, dass ich irgendwelche Ziele verfolge?“ Die Gesichtszüge des Bosses verdüsterten sich, während er entgegnete: „Warum versetzt du die Stadt in Unruhe, bringst drei meiner Leute um und versuchst ganz offensichtlich Gin um den Finger zu wickeln?“ Anschließend ging er zu seinem Schreibtisch und stützte sich mit den Händen auf diesem ab. „Welchen Auftrag hat Connor dir gegeben?“ So, wie er es formulierte, hörte es sich tatsächlich an, als verfolgte Rye bestimmte Ziele. Aber diese gab es in Wirklichkeit nicht. Sein momentan einziges Ziel war höchstens, in der Organisation und somit weiterhin bei Gin zu bleiben. „Sir, ich… konnte nicht anders…“, redete er sich bezüglich der ersten Frage raus, bevor er die andere sicher beantwortete: „Aber ich kenne niemanden mit dem Namen Connor.“ „Du bist von Eclipse, also erzähl mir nicht, dass du ihn nicht kennst.“ Die Augen des Mannes vor ihm verengten sich verbittert. Er schien dem Schwarzhaarigen nicht zu glauben, welcher schlicht erwiderte: „Ich erinnere mich nicht.“ „Die Nummer mit dem Gedächtnisverlust wird langsam alt, mein Lieber. Das zieht bei mir nicht.“ Nicht einmal das schien der Boss zu glauben. Auch wenn es der Wahrheit entsprach. „Er hält mich für einen Spion oder so was…“, wurde ihm mit schwindender Hoffnung klar, das Gespräch noch zum Guten für ihn wenden zu können. Immerhin hatte es nicht den Anschein, als würde sich der Boss je vom Gegenteil überzeugen lassen wollen. Jedoch würde Rye so schnell nicht aufgeben. „So ist es aber, Sir. Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass ich aus Eclipse geflohen bin und nie wieder dorthin zurück will! Ich will weiterhin für Sie arbeiten!“, beharrte er mit fester Stimme und ballte dabei unbewusst die Hände zu Fäusten. Warum er die Anrede ‚Sir‘ so oft verwendete, war ihm ein Rätsel. Es war eine seltsame, fast beängstigende Angewohnheit, von welcher er nicht wusste, woher sie plötzlich kam. Als hätte er sie schon unbeschreiblich oft bei jemand anderem verwendet. Im nächsten Moment fuhr Rye vor Schreck zusammen, als der Boss die Hände begleitet von einem lautstarken Knall auf den Tisch schlug. „Hör auf, zu lügen!“, schrie er dabei. „Selbst wenn das stimmen würde, richten Kreaturen wie du nichts als Chaos an! Nenn mir einen Grund, warum ich dich noch für mich arbeiten lassen sollte!“ Rye presste die Lippen zusammen, um zu verhindern, in einer noch lauteren Tonlage zu antworten und dabei versehentlich wütend zu klingen. „Er scheint ‚Kreaturen wie mich‘ ja gut genug zu kennen, um zu wissen, dass es unzählige Gründe gibt, sie zu hassen. Aber woher? Er hat mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verbindung zu Eclipse…“, realisierte er mit aufkeimender Angst. Das musste ein dummer Zufall sein. „Ich kann Ihnen nützlich sein…“, presste er zwischen den Lippen hervor. Doch der Grund schien nicht gut genug zu sein, da der Boss ein hartes, leicht ironisches Lächeln aufsetzte. „Nützlich? Du? Mir? Wenn du einen Nutzen für jemanden erfüllen willst, kannst du dahin zurückgehen, wo du hergekommen bist.“, meinte er abfällig. Rye war kurz davor, zu einem bissigen Kommentar anzusetzen. Doch seine Stimme versagte abrupt, als er plötzlich eine hämische, fremde Männerstimme hörte, welche ihn fragte: „Du willst mir also nützlich sein?“ „Ja, Sir.“ Er erkannte mit Erschrecken, dass dies seine eigene Stimme war, die darauf antwortete. Kurz danach sah er verschwommene Umrisse dieses unbekannten Mannes bildlich vor sich. Rye glaubte, ein boshaftes Grinsen auf dessen Gesicht erkennen zu können, ehe er amüsiert sprach: „Mal sehen, vielleicht hast du großes Glück und darfst mir tatsächlich bald nützlich sein.“ Letztlich verblasste das Bild wieder und verschwand. Mit inzwischen vor Schock versteinertem Gesicht blinzelte Rye ein paar Mal benommen. Für einen Moment ging er davon aus, dass die Antwort, die er zuvor nur in seinem Kopf gehört hatte, von dem Mann vor ihm gestammt hatte. Doch dieser betrachtete ihn schweigend mit leerem Blick. „Sieh mich nicht so verdroschen an. Ich kann auch gern selbst dafür sorgen, dass du wieder dahin zurückkehrst, wo du hergekommen bist.“, sprach der Boss in einem anmaßend drohenden Tonfall, während seine Hand zum Telefonhörer wanderte. Aufgrund der Welle des Schocks, die Rye bei dieser Geste übermannte, stürmte er unkontrolliert innerhalb einer Sekunde zum Schreibtisch und packte den Boss am Handgelenk, um ihn daran zu hindern, den Hörer abzunehmen. Bevor sich Rye seiner spontanen Handlung bewusst werden konnte, wurde er bereits von den zornerfüllten Augen seines Gegenübers durchbohrt. „Bitte nicht…“, flehte Rye. Mehr konnte er nicht sagen. Er verharrte in der Position und konnte sich nicht entscheiden, ob er die Hand des Bosses lieber wieder loslassen sollte. Doch dass der Kontakt zu Eclipse für diesen scheinbar nur einen Hörergriff entfernt war, machte ihn gefährlich. Zu gefährlich, um… „Warum bringst du mich nicht um, wenn du das nicht willst?“ Rye erschauderte. Mittlerweile hatte sich im Gesicht des Bosses ein selbstgefälliges Grinsen gebildet. Er lockerte sein Griff um dessen Handgelenk und wandte den Blick zur Seite. „Wenn Sie tot wären, könnte ich nicht mehr für Sie arbeiten. Und außerdem würde Gin mir das sehr übel nehmen.“, scherzte er deprimiert. Doch entgegen seiner Erwartung erfolgte diesmal keine zynische Antwort. Plötzlich sah er im Augenwinkel, wie sich der Boss vorbeugte und die Hand hob, um ein paar seiner schwarzen, langen Strähnen hinter die Schulter zu streichen. Verdattert über diese unvorhergesehene Geste, wollte Rye den Mann wieder ansehen. Jedoch krallte sich dessen Hand um sein Kinn und drehte seinen Kopf unerbittlich wieder zur Seite. Einige Sekunden verstrichen in Stille, in welcher sich Rye nicht rührte und versuchte, das aufkommende Schamgefühl zu ersticken. Er spürte den analysierenden Blick des Bosses förmlich auf sich, welcher die eintätowierte Nummer auf seinen Hals zu fixieren schien. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ er endlich von ihm ab und Rye wich umgehend ein paar Schritte zurück. „Verstehe, ein Versuchsobjekt also...“, murmelte der Boss mehr zu sich selbst, ohne den Schwarzhaarigen dabei anzusehen. Der nachfolgende Satz war so leise, dass er für das menschliche Gehör nicht mehr zu hören gewesen wäre: „Unglaublich, dass es ihnen schon nach nur 12 Versuchen gelungen ist…“ „Verstehen Sie jetzt, warum ich geflohen bin?“, wollte Rye wissen, auch wenn er bezweifelte, dass sein Gegenüber es je verstehen würde. „Ich habe keinen Auftrag bekommen.“ „Es ist nicht möglich von dieser Insel zu fliehen.“, erwiderte der Boss trocken. „Doch. Es ist möglich, wenn sie davon ausgehen, dass ihre Versuchsobjekte“ - Rye verzog das Gesicht, als er dieses Wort benutzte - „niemals auf die Idee kommen würden, sich gegen sie zu wenden. Außerdem kann ich nicht ertrinken.“, erklärte er. „Und dann hat es dich zufällig nach Tokio getrieben, wo du dich dann zufällig in meine Organisation hast einschleusen lassen.“ Der Sarkasmus, der in dieser Tonlage lag, war deutlich hörbar. Auch hörte Rye die unsichtbaren Gänsefüßchen bei dem Wort ‚zufällig‘. Allerdings gab es da einen wichtigen Punkt, den der Boss übersah und welchen Rye nun aussprach: „Vermouth hat mich aufgelesen.“ „So etwas lässt sich auch gründlich planen.“, konterte der Boss nicht im Geringsten überzeugt. „Und du hast sie ja schon zum schweigen gebracht.“, fügte er voller Bitterkeit hinzu. „Aber das hatte andere Gründe, als Sie denken. Ich verspreche, dass keines Ihrer Mitglieder jemals wieder durch mich zu Schaden kommen wird. Nur bitte lassen Sie mich bleiben!“ Rye beschloss, einen allerletzten Versuch zu starten. Irgendwo tief verborgen im Inneren musste dieser Mann, der für Gin einer der wichtigsten Menschen auf dieser Welt zu sein schien, ein Herz haben. Und irgendwo dort musste er zu erweichen sein, wenn man sich ordentlich genug bemühte. Jedoch verzog er nur missbilligend das Gesicht, bevor er Rye gereizt anfuhr: „Fang jetzt bloß nicht an zu betteln!“ „Aber ich ertrage es nicht länger, ziellos umherzuirren… immerzu auf der Suche nach Schutz vor Eclipse, weil mir eine Erlösung dieses elendigen Daseins nicht vergönnt ist…“ Der Schwarzhaarige senkte wehmütig den Blick. Die folgende Antwort des Bosses war allerdings ruhiger ausgesprochen, als er erwartet hatte: „Ich habe nicht die Mittel, um dir Schutz vor Eclipse gewährleisten zu können. Vielleicht hatte ich das mal, als es ihnen noch nicht gelungen war, die Vampirrasse zurück ins Leben zu rufen. Durch deine Existenz wird die Menschheit erneut in ein Unheil stürzen.“ „Da haben Sie recht…“, stimmte Rye ihm zu und lächelte anschließend gequält. Er erinnerte sich an die Geschichte aus diesem Buch, in welcher die Menschen jahrhundertelang unter Todesangst leben mussten, weil die Vampire über sie herrschten. Zumindest wünschte sich Rye, dass dies lediglich eine Geschichte wäre. Der Boss schien sie auch zu kennen. Doch woher? Warum wusste er überhaupt so gut über Eclipse Bescheid? Rye traute sich nicht, ihn das zu fragen. Nach etlichen Sekunden Stille vernahm er von dem Mann ein Seufzen. „Komm her.“, befahl er kurz darauf streng. Rye sah überrascht auf, bevor er langsam die Distanz zwischen ihnen wieder verringerte und bis zum Schreibtisch herantrat. Kaum einen Augenblick später krallte sich jedoch eine Hand in sein Hemdkragen und zog ihn halb über den Tisch. Noch ehe er begriff, wie ihm geschah, blickte er in das wütend funkelnde Augenpaar des Bosses, welches sich auf einmal direkt vor ihm befand. Der Mann schwieg eine Weile, bis sich seine Augen prüfend verengten und er in harter, eiskalter Tonlage sprach: „Ich vertraue dir nicht.“ Nach diesen Worten durchlief Rye ein Schauer. Schmerz und Verzweiflung erfüllte ihn, während er dachte: „Es ist zwecklos… ich hab es wenigstens versucht…“ Doch da weiteten sich seine Augen vor Überraschen, als sein Gegenüber hinzufügte: „Aber ich werde dir eine Chance geben, mein Vertrauen zu gewinnen.“ Obwohl der Boss ihn daraufhin achtlos von sich wegstieß, fühlte Rye, wie eine große Welle Erleichterung ihn überrollte, die Schmerz und Verzweiflung umgehend fortriss. Jeder seiner Muskeln entspannte sich automatisch. Endlich schien sich das Blatt zum Guten für ihn zu wenden. „Beweise mir, dass ich mich in dir täusche.“ Rye nickte. Er würde diese Chance nutzen. Er würde alles tun, was der Boss von ihm verlangte. „Sagen Sie mir, was ich tun soll, Sir.“, forderte er entschlossen, woraufhin der Boss in seinem Schreibtischsessel Platz nahm und die Hände unter dem Kinn verschränkte. Er räusperte sich, bevor er monoton begann: „Heute Abend um 23:00 Uhr wird am Hafen im Dock 24 ein Schiff mit Drogen einlaufen. Deine Aufgabe ist es, die komplette Besatzung zu erledigen und die Ware im Alleingang zu sichern. Gin wird dich dabei beaufsichtigen, dir aber nicht helfen. Wenn dir das gelingt, werde ich mir überlegen, dich in der Organisation zu behalten.“ Rye hörte aufmerksam zu, ärgerte sich allerdings etwas beim letzten Satz. Es bestand also selbst dann noch keine Garantie, dass er bleiben durfte, wenn er sich ordentlich ins Zeug legen würde. Doch an sich klang der Auftrag ziemlich einfach. Er musste lediglich das tun, was er sogar ohne es zu wollen am besten konnte: Viele Menschen töten. An die Ware zu kommen würde danach ein Kinderspiel sein. „Die Organisation handelt auch mit Drogen?“, hakte er mit vorgetäuschtem Interesse nach. Der Boss lehnte sich gelangweilt im Sessel zurück. „Nein, eigentlich nicht. Mir geht es viel mehr um die Bande, die diese Drogen schmuggelt. Sie erlauben sich schon seit geraumer Zeit zu viel in unserem Gebiet, weshalb ich schon länger nach einer Möglichkeit gesucht habe, sie loszuwerden. Und die Drogen, die sie im Schiff transportieren, erbringen nun mal eine leicht verdiente, hohe Geldsumme.“ „Verstehe. Es ist egal, wie ich sie töte, oder?“, hakte Rye vorsichtshalber nach. „Mach es, wie du willst. Es läuft sowieso aufs Gleiche hinaus.“ Womöglich hatte der Boss Recht. Es würde alles auf ein Blutbad hinauslaufen. Irgendwann würde Rye die Kontrolle verlieren und unwillkürlich jeden töten, der ihm zu nah kam. Das Schwierige daran war nur, die Kontrolle am Ende wiederzuerlangen. Da beschlichen dem Schwarzhaarigen erste Sorgen um Gin. „Ich will nicht, dass er das mit ansehen muss… Nicht, dass ich ihn versehentlich… verletze…“ Er verwendete bewusst nicht das Wort, welches an der Stelle eigentlich besser gepasst hätte. Allein der Gedanke an dieses mögliche Szenario ließ ihn innerlich vor Schmerz beinahe zerbrechen. Wie kaltes Gestein, das vorerst nur Risse bekam, jedoch in sich zusammenfiel, sobald dieses Szenario Wirklichkeit werden würde. „Ich hoffe, dass ich dir nicht zu viel zumute?“ Die ironische Stimme des Bosses riss Rye aus seinen Gedanken. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie er betrübt den Kopf gesenkt hatte. „Nein, überhaupt nicht, Sir. Sie können sich auf mich verlassen.“, versicherte Rye seinem Gegenüber in einer selbstsicheren Tonlage, von welcher dieser sich aber nicht beeinflussen ließ. „Das wird sich zeigen.“, erwiderte er kalt. „Du kannst jetzt gehen. Aber schick Gin nochmal kurz zu mir.“ „In Ordnung.“ Nach diesen Worten kehrte Rye dem Boss den Rücken zu und ging schnellen Schrittes zur Tür. Am liebsten wäre er aus dem Raum gestürmt, da er es kaum erwarten konnte, diesen endlich zu verlassen. Als er durch die Tür trat, fühlte er sich, als würde er einen Gerichtssaal verlassen, wo sein Urteil jedoch noch nicht gesprochen worden war. Im Flur konnte er sich gerade noch beherrschen, Gin nicht in die Arme zu fallen. Er war unendlich froh darüber, dass der Silberhaarige die ganze Zeit auf ihn gewartet hatte. Ein erleichtertes Lächeln schlich sich wie von selbst bei dessen Anblick auf seine Lippen. Doch Gins Miene blieb hart und unverändert. „Er will dich nochmal kurz sprechen.“, gab der Schwarzhaarige Gin leise Bescheid. Dieser hätte Ryes Lächeln gern erwidert. Doch er nahm es nur ausdruckslos als kleine Belohnung für sein Warten hin. Schließlich waren sie hier unter Beobachtung und Gin wollte es nicht so wirken lassen, als wäre sein Verhältnis zu Rye vertrauter, als es gestattet war. Aus diesem Grund bat er seinen Partner dieses Mal nicht, hier auf ihn zu warten. Sondern ging wortlos an ihm vorbei und schloss die Tür hinter sich, als er das Büro seines Bosses zum zweiten Mal betrat. Immerhin sah Vater wieder ganz beruhigt aus. Denn nicht nur Gin war an manchen Stellen innerlich zusammengezuckt, als dessen aufgebrachte Stimme von Ryes gefolgt bis nach draußen gedröhnt hatte. Hoffentlich war das Gespräch trotz dessen wenigstens gut für Rye ausgegangen. Aber das würde er wohl gleich erfahren. „Er ist wie ein empfindliches, ängstliches Kind, das unbedingt seinen Willen bekommen will. Ich werd‘ nicht wirklich schlau aus ihm.“, murmelte sein Boss gereizt, während er sich ermüdet mit der Hand über die Stirn fuhr. Gin musste sich ein Grinsen verkneifen. So benahm sich Rye ab und zu wirklich. „Lässt du ihn bleiben?“, wollte er ohne Umschweife erfahren, doch die Gegenfrage darauf jagte ihm ein Schauer über den Rücken: „Willst du das?“ Der Blick, mit dem Vater ihn dabei musterte, gab ihm das Gefühl, das beide Antworten fatal wären. „Was ich will, spielt keine Rolle.“, wich er deswegen aus, woraufhin sein Gegenüber schmunzelte. Schließlich war das die unsichtbare Regel, die zwar nirgends geschrieben stand, aber dennoch existierte. „Ich weiß es noch nicht. Die Gefahr, die von ihm ausgeht und die er mit sich bringt, ist zu groß, als das ich dafür die Verantwortung übernehmen könnte. Doch er war einfach zu hartnäckig, weshalb ich beschloss, ihm eine Chance zu geben. Er soll einen Auftrag für mich erledigen – und du wirst ihn währenddessen im Auge behalten.“, erklärte sein Boss unbetont. „Was für ein Auftrag?“, wollte Gin wissen. Über die Chance war er gleichermaßen erleichtert wie besorgt. Er wusste, dass Rye sie nutzen würde. Jedoch befürchtete er auch, dass dieser sich dabei vielleicht übernehmen könnte, nur um Vater bestmöglich von sich zu überzeugen. Immerhin wollte er um jeden Preis in der Organisation bleiben. Wie weit er dafür gehen konnte, kam auf den Auftrag an. „Er soll die Ware eines Schiffes heute Abend, 23:00 Uhr, im Dock 24 für mich sichern und die komplette Besatzung erledigen.“ Beim letzten Teil des Satzes wurde Gin von Unsicherheit erfüllt. Zwar war ihm klar, dass Zeugen oder Feinde beseitigt werde mussten, aber dieses Gemetzel allein Rye zu überlassen… „Um was handelt es sich bei der Ware?“, fragte er nach, um sich von den entstehenden Visionen in seinem Kopf abzulenken. Doch es half nicht. Unweigerlich sah er die zugerichteten, zerstückelten Leichen wieder vor sich. Darunter bekannte Personen, denen Rye ihre Gesichter geraubt hatte, als er sie auf eine unmenschliche, brutale Weise tötete. Gin erinnerte sich, wie der Schwarzhaarige ihm gesagt hatte, dass er sich für seine grausamen Taten verabscheute. Dass er sich dafür hasste. Könnte ihm das kommende Massaker auch zu schaffen machen oder würde er am Ende keine Reue empfinden? „Drogen. Ich werde dir ein Team zur Verfügung stellen, das am Ende aufräumt und die Ware transportiert, wenn Rye sie ausfindig gemacht hat.“, informierte sein Boss ihn. Da würde es unendlich viel aufzuräumen geben. Am einfachsten wäre es wohl, gleich alles in die Luft zu jagen und es als einen technischen Defekt zu tarnen. „Verstanden.“, erwiderte er. „Und du wirst ihm nicht helfen.“, stellte sein Boss in scharfer Tonlage klar, wobei Gins Mundwinkel zuckten. „Ich denke nicht, dass er meine Hilfe benötigen wird.“, meinte er scherzhaft, auch wenn es ihn in Wirklichkeit ärgerte, Rye so unterlegen zu sein. Vermutlich wäre er dem Vampir nur ein Klotz am Bein. Jedoch schien Vater den Witz falsch zu deuten. „Wenn er es nicht schafft, den Auftrag auszuführen, wirst du ihn nicht länger ertragen müssen. Falls es ihm gelingt, kann ich dich natürlich auch entlasten und ihn jemand anderem zuweisen.“ Gins Augen weiteten sich. „Was?“, wich es ihm verdutzt über die Lippen, woraufhin sein Boss den Kopf leicht schräg legte und ihm ein bemitleidenden Blick zuwarf. „Ich könnte verstehen, wenn du ihn nicht länger als Partner haben wollen würdest. Er muss doch furchtbar anstrengend sein mit seiner eigensinnigen, stürmischen Art. Er hat seine Triebe nicht unter Kontrolle und kann seine Stärke nicht einschätzen. Nur ein einfacher Griff um das Handgelenk“ - Er hob seine rechte Hand - „könnte mit Knochenbrüchen enden. Willst du dich etwa dauerhaft einer solchen Gefahr aussetzen?“ So streng, wie Gin daraufhin von ihm fixiert wurde, erwartete er mit Sicherheit ein Nein als Antwort auf diese Frage. Unbemerkt umklammerte Gin sein Handgelenk, auf welchem die durch Rye verursachten, blauen Flecken nach wie vor zu sehen sein sollten. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich ertappt, obwohl Vater davon unmöglich wissen konnte. Allerdings hatte er recht: Rye war sehr anstrengend. Obendrein noch nervig, aufdringlich und verdammt anhänglich. Wie eine lästige Klette, die man unbedingt loswerden wollte, sich jedoch schon zu fest verhakt hatte. Gin bezweifelte, dass es etwas ändern würde, wenn Rye jemand anderem als Partner zugewiesen werden würde. Und irgendwie – wenn auch schwer einzugestehen – gefiel Gin diese Option nicht. Rye war sein idiotischer, eigensinniger, aber auch liebenswürdiger, sensibler Partner. Das sollte sich vorerst nicht ändern. „Du magst zwar im recht sein…“, begann Gin leise und setzte eine kurze Sprechpause, um seinen Mut für die folgenden Worte zusammenzunehmen: „Aber ich möchte ihn trotzdem behalten.“ Kurz darauf stieß sein Boss ein schweres Seufzen aus. „Du solltest wachsam bleiben. Diese Kreaturen sind nur darauf aus, einen in die Irre zu führen. Ehe du dich versiehst, hat er dich in seinen Bann gezogen und es gibt kein Entkommen mehr.“, warnte er ihn mit schneidender Stimme. Gin schluckte, während ihm ein unangenehmes Gefühl den Rücken herunterkroch. Seine Lippen pressten sich automatisch fest zusammen, als er sich ungewollt in seinen Gedanken in dem Kuss mit Rye wiederfand, welchen sie gestern geteilt hatten. Sein Körper spannte sich an, als er daran dachte, wie Rye heute morgen mit der Absicht, ihn zu ärgern, versucht hatte zu verführen. Gin schloss kurz die Augen und versuchte seinen Kopf von diesen unerwünschten Gedanken zu befreien. Sein Boss kannte sich anscheinend besser mit Vampiren aus, als es dem Silberhaarigen lieb war. Doch warum? Gin bekam allmählich die seltsame Vermutung, dass Vater ihm sein Leben lang etwas Wichtiges verheimlicht hatte. Etwas, das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit Eclipse zu tun hatte. „Keine Sorge.“, sprach Gin schließlich, während er sich umdrehte und seinem Boss einen ironischen Blick über die Schulter zuwarf. „Ich würde mich nie von einem empfindlichen, ängstlichen Kind in die Irre führen lassen.“ Sein Boss belächelte diese Worte, bevor er zum Abschluss befahl: „Wenn der Auftrag erledigt ist, wirst du mir Bericht erstatten und ihn danach zu mir schicken.“ „Verstanden.“, entgegnete Gin monoton. Anschließend verließ er das Büro, ohne sich nochmal umzudrehen. Es überraschte ihn nicht, dass Rye noch nicht gegangen war und wieder an derselben Stelle wie zuvor auf ihn gewartet hatte. Mürrisch verzog Gin leicht das Gesicht und ging achtlos an seinem Partner vorbei, welcher ihm wortlos folgte. Kaum waren sie außer Hör – und Sichtweite, legte Rye einen Arm um Gins Schulter und zog ihn zu sich heran. Erschrocken wandte der Silberhaarige den Blick und wollte gerade protestieren, als er in zwei entschlossen funkelnde Smaragde blickte. Ihm blieben die Worte im Hals stecken, so dass Rye ihm zuvor kommen konnte: „So so, du möchtest mich also behalten, ja?“ In dieser verführerisch gesäuselten Tonlage bekam Gins vorherige Aussage plötzlich eine ganz andere Bedeutung. „Moment mal…“, realisierte dieser jedoch, bevor er mit beschämten Entsetzen in der Stimme fragte: „Du hast das gehört?!“ Rye lächelte belustigt in sich hinein. „Jedes einzelne Wort.“, gab er anschließend zu und Gin drehte vor Scham den Kopf zur anderen Seite. „Unter anderem auch, dass du mich ein empfindliches, ängstliches Kind genannt hast.“, fügte Rye beleidigt hinzu. Durch den fester werdenden Griff um seinen Arm, erkannte Gin, dass er den Schwarzhaarigen wirklich etwas gekränkt hatte. Leid tat ihm das trotzdem nicht. „Du bist selbst schuld, wenn du lauschst. Außerdem hab ich ihn nur zitiert.“, redete er sich raus, woraufhin sich Ryes Griff wieder lockerte. „Ich weiß.“, erwiderte er verbittert. „Er hasst mich und denkt, ich arbeite immer noch für Eclipse.“ Im Augenwinkel sah Gin, wie sich Ryes Augenbrauen düster zusammenschoben. „Nimm es ihm nicht übel, er ist nur übervorsichtig.“, versuchte Gin seinen Boss zu verteidigen, auch wenn das nicht wirklich dessen unfreundliches, abschätziges Verhalten gegenüber Rye entschuldigte. Dieser schnaubte verächtlich und blieb unerwartet stehen, bevor er Gin den Weg versperrte und auch dessen anderen Arm packte. Zwar nicht so fest, dass es weh tat, jedoch wären Versuche sich loszureißen vergeblich. Zumal Gin erstarrte, als er in Ryes schmerzerfüllte Augen blickte. „Glaubst du ihm?“, verlangte der Schwarzhaarige zu wissen. Gin wusste nicht, wovon genau er sprach. Da gab es zu viele Dinge, denen er Glauben schenken könnte. Um nichts Falsches zu sagen, schüttelte er einfach stumm mit den Kopf. Obwohl er sich selbst nicht zu hundert Prozent sicher war, ob er Rye vertrauen konnte. Spätestens Vaters vorletzte Worte hatten ihn stutzig werden lassen. „Ich würde nie versuchen, dich in die Irre zu führen. Davon hab ich nichts.“, versicherte Rye ihm mit einer sanften, seidenweichen Stimme, als hätte er seine Gedanken gelesen. Es klang aufrichtig und Gin beschloss, ihm zu glauben. Kurzzeitig öffneten sich Ryes Lippen, um noch etwas zu sagen, doch es entwich kein Ton aus ihnen. Bedrückt ließ er seine Hände hinab gleiten und drehte sich weg. „Glaubst du, du bekommst das heute Abend hin?“, versuchte Gin das Thema zu wechseln und gleichzeitig mit Ryes schnellen Schritttempo mitzuhalten. Zum Glück hatten sie kurz darauf den Fahrstuhl erreicht, welchen Rye per Knopfdruck holte. „Zweifelst du etwa an mir?“ An der amüsierten Tonlage erkannte Gin, dass Ryes Frage nicht ernst gemeint war. „Nein.“, beantwortete er sie trotzdem. Die Fahrstuhltüren öffneten sich und sie stiegen ein. „Ich bin gleichermaßen erfreut wie erbost, dass du mich beaufsichtigen wirst.“, gestand Rye mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen und vergrub seine Hände nebenher in die Hosentaschen. Gin zog eine Augenbraue nach oben. „Warum?“ „Einerseits kann ich dich als Motivation benutzen, andererseits muss ich aufpassen, dass dir nichts passiert.“, erklärte Rye schlicht. Gins Miene verfinsterte sich. „Beides kannst du gleich wieder streichen.“, entgegnete er eingeschnappt, woraufhin Rye anfing zu lachen. Kapitel 23: Mission ------------------- Die Wellen des Meeres spiegelten den sternenklaren Abendhimmel und begannen allmählich schneller zu rauschen. Gin spürte die leicht feuchte Luft in seinem Gesicht. Hinter einem riesigen, halb verrosteten Container beobachte er aus sicherer Entfernung ein ganz bestimmtes Passagierschiff, welches gerade gemäß den Informationen seines Bosses ins Dock 24 des Tokioter Hafens einlief. Pünktlich um 23:00 Uhr. Allerdings war von Rye noch immer nichts zu sehen. Eigentlich würde sich Gin gewöhnlich keine großen Gedanken darüber machen, doch sein Partner hatte seit dem frühen Nachmittag nichts mehr von sich hören lassen. Das Handy hatte er zwar nicht ausgeschaltet, doch ran war er trotzdem kein einziges Mal gegangen. Gin hatte drei Mal versucht ihn anzurufen. Und zugegeben: Das waren ohne Zweifel drei Anrufe zu viel gewesen. Noch nie in seinem Leben hatte er jemandem hinterhertelefoniert. Natürlich musste Rye auch was das betraf eine Ausnahme sein. „Vielleicht hat er es sich anders überlegt…“, kam es ihm mit aufkommenden Sorgen in den Sinn. Was, wenn dieser Auftrag doch eine Nummer zu groß für Rye war und er sich nun dazu entschieden hatte, zu verschwinden? Weit weg. Ohne sich vorher zu verabschieden. Gin schüttelte energisch mit dem Kopf. „Jetzt hör auf so einen Blödsinn zu denken… dass er hin und wieder mal verschwindet kam schließlich schon öfters vor!“, wies seine innere Stimme ihn zurecht. Sich Sorgen zu machen war vollkommen überflüssig und passte obendrein überhaupt nicht zu ihm. Zudem bezweifelte er, dass Rye ihm auf längere Zeit fernbleiben konnte. Nicht nach allem was er gesagt, getan und für ihn riskiert hatte. „Guten Abend.“, hauchte ihm plötzlich eine sanfte, unverwechselbare Stimme von hinten ins Ohr, während sich zwei Hände auf seine Schultern legten. Gin biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte ein erschrecktes Stöhnen. Sein Körper zuckte dennoch zusammen, bevor er sich umdrehte und ein breites, amüsiertes Lächeln auf den Lippen von Rye erblickte. Dieses verriet Gin, dass der Kerl absichtlich völlig geräuschlos hinter ihm aufgetaucht war. „Wo warst du?!“, fuhr er ihn leise an. Das Lächeln verschwand nicht aus Ryes Gesicht. „Warum? Hast du mich etwa vermisst?“ Obwohl die Frage ironisch gemeint war - und wahrscheinlich nur zum Ausweichen diente - glaubte Gin einen kleinen Hoffnungsschimmer in Ryes Stimme zu hören. „Nein.“, erwiderte er kalt und warf seinem Gegenüber einen finsteren Blick zu. „Du kannst es ruhig zugeben. Wenn du mir sagst, dass ich jede freie Sekunde bei dir bleiben soll, richte ich das gern ein.“, neckte Rye ihn weiter, wobei Gin anfing mit den Zähnen zu knirschen und eine Hand zur Faust zu ballen. Leider würde ein Schlag ins Gesicht ihm womöglich mehr weh tun als Rye. Da schossen ihre beiden Blicke aufmerksam zu dem Passagierschiff, wo in diesem Moment die Gangway ausgefahren wurde. Oben auf dem Deck erspähten sie zwei Gestalten, die jedoch kurz darauf wieder in der Dunkelheit verschwanden. „Das Schiff ist hier lediglich zur Restauration angemeldet, weshalb du außer dieser Bande niemanden weiter antreffen solltest. Es wäre am einfachsten, wenn du alle bis auf einen erledigst. Möglichst eine Führungsperson, die dir auch sagen kann, wo die Ware versteckt ist. Ich kann dir versichern, dass derjenige es dir dann ganz von allein verraten wird. Aber du musst stets den Überblick über alles behalten. Keiner darf dir entwischen. Und pass vor allem auf, wenn du-“ „Du sollst mir doch nicht helfen.“, unterbrach Rye Gin in seinem Redeschwall. Der Silberhaarige wandte überrascht den Blick zu seinem Partner, wessen Miene sich verhärtet hatte. An der Tonlage erkannte Gin, dass es ihm wichtig zu sein schien, dass dieses Verbot nicht gebrochen wurde. Gin lächelte breit, dann meinte er: „Ach wirklich? Das muss ich wohl überhört haben.“ Rye schmunzelte über die gespielte Unwissenheit. Doch der heitere Schatten wich schnell aus seinem Gesicht, bevor sich eine leichte Besorgnis darin abzeichnete. „Schätze, ich sollte dann mal anfangen.“, murmelte er leise. Irgendwas schien ihm auf einmal zuzusetzen. Und das waren mit Sicherheit keine Zweifel an seinen eigenen Fähigkeiten. Gerade, als Gin fragen wollte, ob alles in Ordnung sei, kam Rye ihm zuvor. „Hör mir zu.“, verlangte er mit lauterer, fester Stimme, während seine Augen Gin bedrohlich fixierten. „Du wirst hier warten. Es wird nicht lange dauern.“ Der Silberhaarige runzelte verständnislos die Stirn. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, Rye auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Von hier unten würde er womöglich nicht das Geringste vom Geschehen mitbekommen, was Rye jedoch anscheinend auch damit bezwecken wollte. „Eine halbe Stunde. Wenn ich bis dahin nicht bei voller Besinnung zurück bin, verschwindest du sofort. Egal was passiert: du darfst mir auf keinen Fall nachkommen, hast du verstanden?“ Gin musterte genau, wie sich Ryes Lippen bei jeder Silbe verformten. Er sprach sehr langsam. Es klang beinahe hypnotisierend, weshalb Gin kurz davor war zu nicken und den Befehl somit wortlos hinzunehmen. Doch bevor er das tun konnte, setzte sein Verstand zum Glück wieder ein. Rye hatte ihm gar nichts zu befehlen. „Was sollte mich davon abhalten, es trotzdem zu tun?“, fragte er provozierend, doch entgegen seiner Erwartung verzog sich Ryes Gesicht zu Traurigkeit und Verzweiflung. Der Schwarzhaarige senkte den Blick und schwieg. Erst nach ein paar Sekunden sah er mit einem gequälten Lächeln wieder auf. „Bitte tu mir das nicht an.“, waren seine letzten, flehend klingenden Worte, bevor er sich wegdrehte und verschwand. Sofort ließ Gin den Blick wandern. Er hatte nicht einmal sehen können, in welche Richtung Rye verschwunden war. In der Nähe der Gangway befand er sich nicht. Nur höchst konzentriert gelang es Gin, seinen Partner wieder zu entdecken. Jedoch auf dem Gerüst eines Krans, der dicht neben dem Schiff stand und eigentlich dazu diente, die Außenseite zu renovieren. Gin blieb der Mund offen stehen. Der Kerl schaffte es immer wieder, ihn mit seinen Fähigkeiten zu überraschen. Fast zu schnell für das menschliche Auge und vollkommen geräuschlos sprintete Rye über den Ausleger, als befände sich normaler Boden unter seinen Füßen. Am Ende sprang er mühelos herunter, um die kurze Distanz zwischen Kran und Schiff zu überwinden. Mit angewinkelten Beinen und leicht ausgestreckten Armen glitt er durch die Luft wie ein Falke im Beuteflug. Dabei umgab ihn der dunkle, Sternen beleuchtete Himmel. Die flatternde Silhouette seines schwarzen, offenen Mantels ähnelte fast einem breiten Umhang. Doch besonders Ryes lange Haare, die hinter ihm herflogen, ließen das Gesamtbild wunderschön erscheinen. So schön, dass es Gin für einen kurzen Moment den Atem raubte. Doch sobald Rye auf dem Deck landete und somit nicht mehr in seinem Blickfeld war, zerbrach die Magie des Moments. „So ein Angeber…“, dachte Gin abfällig, um zu verdrängen, dass er die Aktion zuvor noch unbewusst bewundert hatte. Lautlos kam Rye mit den Füßen auf dem Deck auf. Er verharrte für eine Weile auf der Stelle und lauschte. Unter sich konnte er mehrere, etwas weiter entfernte Schritte anderer Personen vernehmen, deren Stimmen ebenso leise zu hören waren. Beides schien von Richtung des Hecks zu kommen. Ohne zu zögern rannte Rye los und benötigte gerade mal knappe drei Sekunden, um die betreffenden Personen zu erreichen, bei welchen es sich um zwei Männer handelte. Womöglich waren es dieselben, die er vorhin von unten aus schon entdeckt hatte. Aber eigentlich spielte es keine Rolle. Er sollte ohnehin ausnahmslos jeden der Besatzung töten. Ganz am Ende, wenn er die Ware gesichert haben würde, wäre niemand mehr übrig. Dann hätte er den Auftrag erfolgreich abgeschlossen und würde so vielleicht wenigstens einen kleinen Teil vom Vertrauen des Bosses gewinnen können. Ein kleiner Teil, der ausreichen musste, um in der Organisation bleiben zu dürfen. Um bei Gin bleiben zu dürfen. Er musste sich beeilen, um diesen nicht länger als eine halbe Stunde warten zu lassen. Bis dahin würde es dem Schwarzhaarigen hoffentlich gelingen, bei klarem Verstand zu bleiben. Er durfte sich seinem Verlangen nach Blut nicht einfach kampflos hingeben. Nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde durfte er auch nur daran denken. Er musste es schaffen seiner sonst unersättlichen Gier zu widerstehen. Er hatte bereits Vorkehrungen getroffen, die es ihm ermöglichen sollten die Kontrolle zu behalten. Doch wenn dies nicht ausreichte, wäre alles verloren… Die beiden Männer fuhren vor Schreck zusammen, als Rye urplötzlich vor ihnen stehenblieb und sie schweigend mit leerem Blick anstarrte. „W-Wo kommst du denn jetzt auf einmal her? Wer bist du?!“, schrie einer von ihnen völlig verwirrt, woraufhin beide ihre Pistolen auf Rye richteten. Dieser zog unbeeindruckt eine Augenbraue nach oben, bevor er gelangweilt meinte: „Das kann euch egal sein.“ Die Männer tauschten kurz verwirrte Blicke miteinander aus, jedoch ließ Rye ihnen keine Zeit zum Antworten und fügte belustigt hinzu: „Ihr seid so gut wie tot.“ Kaum hatte er den Satz beendet, trat er blitzschnell unmittelbar vor seine beiden Opfer und verdrehte ihre Arme, wodurch sie die Waffen fallen ließen. Anschließend brach er dem Einen das Genick, während er dem Anderen mit voller Wucht in den Bauch trat, sodass dieser quer über das Deck flog und zuletzt gegen das Geländer prallte, welches sich etwas einbog. Den Mann mit dem gebrochenen Genick warf Rye achtlos beiseite, um zu überprüfen, ob der andere noch am Leben war. Jedoch blieb er abrupt stehen, als er bemerkte, dass dieser keuchend Blut spuckte. Der Tritt war offensichtlich schlecht gezielt gewesen. „So ein verdammter Mist…!“, fluchte Rye gedanklich und presste die Hand vor Nase und Mund. Aber es war längst zu spät. Er konnte den metallischen Geruch des Blutes dennoch sehr intensiv wahrnehmen. Und er fing an, etwas in ihm zu wecken, was er gehofft hatte, in einen nie endenden Tiefschlaf versetzt zu haben. Rye schloss für einen Moment die Augen, um seine Triebe niederzuzwingen. „Wehr‘ dich dagegen… du kannst doch nicht schon am Anfang die Kontrolle verlieren…“, befahl er sich selbst, hielt die Luft an und ging auf den schwer atmenden Mann zu, um ihm den Rest zu geben. Er ignorierte die vor Schock geweiteten, angsterfüllten Augen, die ihn flehend ansahen und brach auch diesem Mann das Genick. Danach wich er schnell zurück, um dem verlockenden Geruch zu entkommen, der versuchte ihn zu bezirzen. Und das beinahe erfolgreich. Weit genug von den beiden Toten entfernt, nahm Rye eine wachsame Haltung ein und sah sich um. Doch er erblickte keine Menschenseele. Also schloss er die Augen und begann erneut aufmerksam zu horchen. Es dauerte nicht lang, bis Töne aus der Ferne seine Ohren erreichten. Stimmen. Gelächter. Das Klirren von Gläsern. Von woher kam es? Auf jeden Fall nicht von draußen. Wenn er Glück hatte, war ein Großteil der Bande im Inneren des Schiffs versammelt. So müsste er sie nicht alle wie Nadeln in einem Heuhaufen suchen. Zwar wäre es einfach für ihn, die Nadeln schnell zu finden, aber das hin und her würde ihn zunehmend ermüden. Es würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen, in welcher sein Verstand weiter gegen seine Triebe kämpfen musste. Rye folgte den fortwährenden Geräuschen, die ihn zu einer Tür zum Hauptdeck führten. Er öffnete diese vorsichtig und wurde daraufhin von künstlichem Licht geblendet. Er rannte die Treppe herunter, öffnete eine nächste Tür und folgte einigen schmalen Gängen, bis er auf einen breiteren gelangte, an dessen Ende sich eine Salontür befand. Dahinter verbargen sich zweifellos die Besitzer der Stimmen, die nun sogar für ein menschliches Gehör klar und deutlich zu hören waren. Mit beiden Händen stieß Rye schwungvoll die Tür auf, woraufhin jegliche Geräusche umgehend verstummten. Alle Blicke waren irritiert auf ihn gerichtet. Offensichtlich war er gerade mitten in eine Partie Karten geplatzt. Acht nobel gekleidete Personen saßen an einem runden Tisch und schienen um Geld zu spielen. Ein bisschen enttäuschen tat Rye der Anblick schon, da er gehofft hatte, es würden mehr Menschen in diesem Saal sein. Das Ganze wäre leichter, wenn er wenigstens wüsste, wie viele sich insgesamt auf dem Schiff befanden. Selbst wenn es tatsächlich jemand schaffen sollte, ihm zu entkommen, würde er das nicht einmal merken. Gin hatte ihm empfohlen, möglichst eine einzige Person am leben zu lassen. Doch wie sollte er das anstellen, wenn er nicht wusste, welche Person die Letzte sein würde? „Es wird Zeit, das Spiel zu beenden, meine Herren.“, sprach Rye hämisch und ging ohne eine Reaktion abzuwarten auf einen der Kerle los und strangulierte diesen mit seiner Krawatte. Sofort erhoben sich alle ruckartig von ihren Stühlen. Das wütende, entsetzte Geschrei der Männer rauschte an Rye vorbei. Ihre letzten Worte interessierten ihn nicht. Er lief quer über den Tisch und riss dem Typen, der gerade eine Kugel nach ihm abfeuern wollte, die Waffe aus der Hand, bevor er auch diesen erledigte. Seinen Sitznachbar beförderte er als Nächstes ins Jenseits, gefolgt von zwei anderen, die gerade davonlaufen wollten. Tatsächlich versuchte einer ihn direkt anzugreifen. So dumm und naiv. Mit Leichtigkeit wehrte Rye den banalen Angriff ab und drehte seinem Opfer den Hals um. Es war nach nur wenigen Sekunden tot. Wenn das in diesem Tempo so weiterging, wäre er schon sehr bald wieder bei Gin. Die Sehnsucht nach diesem Moment spornte Rye noch mehr an. Er fixierte die beiden letzten lebenden Männer, die versuchten aus dem Saal zu fliehen. Doch das würden sie nicht schaffen. Den Hinteren hatte Rye bereits so schnell erreicht, dass dieser nicht mal mehr noch einen Schritt setzen konnte. Ehe der Kerl sich versah, wurde er vom Schwarzhaarigen zu Boden geschleudert und schlug mit dem Kopf auf den harten Boden auf. Vergeblich versuchte sich der zittrige Körper wieder aufzurappeln. Der Mann stöhnte vor Schmerz und fasste sich unter die Nase. Als Rye ihn jedoch am Kragen hochziehen wollte, stieß er einen lauten Schrei aus und schlug panisch um sich. Einer der Schläge streifte dabei die Wange von Rye, welcher augenblicklich innehielt. Ein kurzer Blick in das Gesicht des Mannes genügte, um zu bemerken, dass dieser Nasenbluten hatte und zudem eine Platzwunde seine Stirn zierte. Doch das Blut unter der Nase war längst verwischt und demzufolge war es für Rye nicht schwer zu erraten, was da nun an seiner Wange klebte. Er ließ den Kragen des Mannes los, bevor er mechanisch mit zwei Fingern über seine Wange fuhr. Auch an ihnen blieb etwas Blut zurück. Die Welle von Verlangen, die Rye einen Moment später überrollte, betäubte seinen Verstand. Ohne sich dessen bewusst zu werden, führte er die Finger zu seinem Mund und leckte das Blut daran ab. Der unwiderstehliche Geschmack zog ihn unmittelbar in einen Bann, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Sein Körper vibrierte vor Durst. Er wollte mehr Blut schmecken. Noch viel mehr. Durch das Wärmebild vor seinen Augen sah Rye, wie seine Beute es doch tatsächlich geschafft hatte wieder aufzustehen und einen zweiten Versuch startete, aus dem Saal zu flüchten. Erfolglos. Mit Leichtigkeit gelang es Rye, den Mann erneut zu Fall zu bringen. Er stürzte sich auf ihn und rammte seine Reißzähne in dessen Hals. Als das Blut mit seinen Geschmacksknospen in Berührung kam, überrollte ihn eine weitere Welle von Verlangen. Es war eigentlich noch nicht sehr lange her, seit er seinen Durst zuletzt gestillt hatte. Dennoch war er plötzlich so durstig, als hätte er jahrelang kein Blut mehr zu sich genommen. Desto größer wurde nun die Befriedigung mit jedem weiteren Schluck, den er trank. Ein Mensch würde bei weitem nicht genügen. Aber darüber sorgte er sich nicht. Schließlich gab es hier auf dem Schiff mehr als genug Auswahl. Er musste nur schnell genug sein, um auch jeden zu erwischen. Ein Lächeln voller Vorfreude breitete sich auf seinen Lippen aus. Das war endlich eine Jagd, die sich lohnte. Bevor Rye den Raum verließ hielt er den Atem an und schloss seine leuchtend roten Augen. Er konzentrierte sich komplett auf sein Gehör um herauszufinden, wie viel Beute sich noch auf diesem Schiff befand und in welcher Richtung er sie suchen musste. Sobald er sich für sein nächstes Opfer entschieden hatte, verschwand er in einer für das menschliche Auge nicht wahrnehmbaren Geschwindigkeit. Nur das leise Klicken der Tür hinter ihm verriet, dass er den Raum bereits wieder verlassen hatte. … Mit zunehmender Unruhe lief Gin auf und ab, während er sein Smartphone zum x-ten Mal aus der Manteltasche fischte. Das Display zeigte ihm inzwischen eine Uhrzeit von 23:41 an. Die von Rye festgelegte halbe Stunde war längst rum. Laut dessen Worten sollte er nun schleunigst von hier verschwinden. Zumindest wäre dies Ryes Meinung nach das einzig Richtige, wenn man davon ausging, dass Gin dem Folge leisten würde – was er natürlich nicht tat. Er nahm lediglich Befehle vom Boss an und sonst von niemandem. Schon gar nicht von Rye, welchen er eigentlich schon die ganze Zeit hätte beaufsichtigen sollen. Zugegebenermaßen interessierte es ihn wirklich, wie sein Partner den Auftrag erledigte. Gin konnte sich nicht erklären, warum er wenigstens einmal sehen wollte, wie Rye Menschen auf seine eigene Weise tötete. Doch dieses Interesse war hochgradig gefährlich, was allein Ryes Warnung dem Silberhaarigen genug verdeutlicht hatte. Besonders die Wortwahl „wenn ich bis dahin nicht bei voller Besinnung zurück bin“. Rye hatte vermutlich Angst, ihm wehtun zu können, wenn er die Kontrolle über sich selbst verlieren würde. Vielleicht hatte er das bereits sogar. Und seine daraus resultierenden, willkürlichen Handlungen könnten fatale Folgen mit sich ziehen. „Ist es das, was Vater mit dem Auftrag bezwecken wollte? Dass Rye die Kontrolle verliert und zu dem Monster wird, für das er ihn hält? Ohne klaren Verstand ist ein Chaos so gut wie vorprogrammiert und Rye würde den Auftrag verpatzen… somit hätte er einen triftigen Grund, ihn nicht länger in der Organisation zu behalten…“ Kaum hatte Gin seinen Gedanken beendet, erschallte ein angstverzerrter Schrei vom Schiff aus, gefolgt von zwei Pistolenschüssen und einem lauten, metallischen Krachen. Sofort standen sämtliche Alarmsignale des Silberhaarigen auf Rot. Er musste schnellstens zu Rye. Irgendwie musste er das Schlimmstmögliche verhindern. Auch wenn er nicht im Geringsten wusste, wie er das anstellen sollte. Rye war einfach zu stark und zudem auch für ihn eine Bedrohung. Es spielte keine Rolle, ob Rye ihm bewusst wehtun wollte oder nicht. Ein Vampir stellte von Natur aus eine Bedrohung für einen Menschen dar. Nichts auf der Welt könnte daran etwas ändern. „Und dennoch werde ich jetzt zu ihm gehen… Weil er mein Partner ist… und Partner helfen einander…“ Gin hätte nie gedacht, sich jemals an so einen schnulzigen Satz zu orientieren, welchen Rye einst mal verwendet hatte. Aber er hatte verdammt nochmal recht gehabt. Gin ließ seinen Blick in alle Richtungen schweifen. Da er keine verdächtige Person entdeckte, ging er direkten Weges zum Schiff und betrat die Gangway. Diese gab mit jedem Schritt ein ohrenbetäubendes Knarksen von sich, welches Gin vielleicht nur lauter vorkam, weil er sich bemühte so leise wie möglich zu sein. Jedoch waren alle Schiffsinsassen höchstwahrscheinlich gerade genug mit Rye beschäftigt - oder Rye war mit ihnen beschäftigt - sodass da nicht mehr viel Aufmerksamkeit übrig blieb, die er auf sich ziehen könnte. „Egal was passiert: du darfst mir auf keinen Fall nachkommen, hast du verstanden?“ Plötzlich meldete sich die warnende Stimme des Schwarzhaarigen in Gins Kopf, als er kurz davor war das Schiff zu betreten. Er verharrte für einen Moment, entschied sich aber dafür, einfach weiterzugehen. „Auf keinen Fall.“ Gin zuckte zusammen und warf seinen Blick über die Schulter. Jetzt hatte die Stimme tatsächlich so geklungen, als stände Rye direkt hinter ihm. Doch dem war nicht so. Missmutig verzog Gin das Gesicht und versuchte seine Sorgen und Befürchtungen zu vertreiben, bevor er letztlich an Bord ging. Dabei fragte er sich, ob er diese Entscheidung vielleicht bereuen würde. Auch wenn eine Antwort darauf nichts änderte. Es war nicht von Belang. Im Inneren des Schiffes war es sehr hell, auch wenn das Licht im Gang etwas flackerte. Anfangs konnte Gin weder jemanden hören noch sehen. Doch die vermeintliche Stille trug. Auf einmal begann die Decke zu rumpeln, als würde jemand in sehr hoher Geschwindigkeit durch den darüberliegenden Gang rennen. „Oder kommt es vom Oberdeck?“ Schnell lief Gin weiter, um sich zu vergewissern. Während er die Treppe hinauf lief, glaubte er, weitere Schüsse zu hören, die wahrscheinlich Rye galten. Auch hörte er eine panische, schreiende Stimme. Aber was genau dieser jemand schrie, konnte er nicht herausfiltern. Als plötzlich etwas unter seinen Füßen platschte, blieb Gin verdutzt stehen. Er musste feststellen, dass er in eine Blutlache getreten war. Ihm fiel auf, dass von dort aus eine Blutspur durch den ganzen Treppengang verlief. Sogar an den Wänden und an der Decke klebte verschmiertes Blut. Für einen Moment war es so, als könnte Gin vor seinen Augen sehen, wie Rye sein bereits schwer verwundetes Opfer die Treppe hinauf jagte, kontrolliert von seiner unersättlichen Gier nach Blut. Wie ein unaufhaltsamer Sturm. So als wäre es das einzige Bedürfnis, das sein Körper verstand. „Also hat er wirklich…“ Sofort rannte Gin erneut los und folgte der Blutspur bis hinaus zum Oberdeck. Eine Tür gab es zu diesem nicht mehr, da sie von etwas – oder besser gesagt von jemandem – herausgerissen worden war, als es mit unmenschlicher Geschwindigkeit hindurch gestürmt war. Die Tür lag nun in mehreren Teilen und verbogen etliche Meter weiter weg. Doch daneben befand sich zudem ein von Bissen und Verletzungen entstellter, toter Körper, weshalb sich Gins Augen begannen zu weiten. Er trat bewusst nicht näher heran, sondern lief einfach an der Leiche vorbei. Es dauerte nicht lang, bis er auf die Nächste stieß. Der Kopf war beinahe vom Körper abgetrennt worden, so groß war die Fleischwunde am Hals des Opfers. Ohne weiter auf dieses zu achten, rannte Gin weiter. Zwischenzeitlich lief er an einem Schwimmbecken vorbei, worin ebenso zwei Leichen an der Oberfläche trieben und das Wasser blutrot färbten. Auf einer Seite des Beckens waren die Liegestühle allesamt umgeworfen worden und lagen nun querbeet verteilt. Von weitem konnte Gin die schnellen Schritte einer anderen Person hören, die scheinbar immer näher kamen. Während er um die nächste Ecke bog, wurde er jedoch genau von dieser Person angerempelt, als sie an ihm vorbei stürmen wollte. Überrascht und etwas erschrocken beobachtete Gin, wie der in Angst versetzte Mann zu Boden stolperte. Auf diesem kroch er dann hastig atmend und unbeholfen weiter, als wäre er auf einer Eisfläche, die jeden Moment unter ihm zusammenbrechen könnte. „E-Es ist der Teufel! Er ist aus der Hölle gestiegen, um uns alle zu vernichten!“, schrie der Mann atemlos. „D-Das muss ein Traum sein… ich will nicht sterben!!“ Als er es fast geschafft hatte, wieder aufzustehen, zog Gin seine Beretta und schoss ihm ohne zu zögern ins Bein, wodurch er erneut stürzte. Er krümmte sich zitternd zusammen und stieß jammernde Schreie aus. Gin wollte ihm gerade mitteilen, dass er nicht sterben würde, wenn er ihm später verriet, wo sich die Drogen befänden. Aber da bemerkte der Silberhaarige, dass das, wovor der Mann geflohen war, nicht sehr weit von ihm entfernt war. Gin blendete die Schreie des Mannes aus und drehte sich langsam um, nur um kurz darauf vor Schock zu erstarren. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Nur hatte ein kleiner Teil in ihm noch gehofft, Rye im normalen Zustand anzutreffen. Auch wenn ihm bei jeder weiteren Leiche immer klarer geworden war, dass es längst zu spät war. Es gab kaum Stellen an Ryes Körper, die nicht blutüberströmt waren. Besonders im Bereich des Mundes war der rote Saft ringsherum verschmiert und lief von den Mundwinkeln herab. Frisches Blut tropfte zudem von Ryes Händen, mit denen er sein Opfer festhielt, von welchem er gerade trank. Dieses war längst nicht mehr am Leben. Doch die Todesangst zeichnete sich immer noch in dem schlaffen Gesicht ab. Als Rye im nächsten Moment innehielt und seinen Blick auf Gin richtete, schoss diesem unmittelbar das Adrenalin durch den Körper. Sein Herz begann zu rasen, während er das unverwechselbare, boshafte Blitzen in Ryes leuchtend roten Augen sah. Das Verlangen nach Blut. „Rye, das reicht. Es ist vorbei.“, sprach Gin mit fester Stimme, die Rye jedoch nicht zu erreichen schien. Der Schwarzhaarige wandte sich ihm nun vollständig zu, bevor ihm sein Opfer achtlos aus den Händen glitt. Als hätte er sein Interesse an diesem verloren, da er etwas entdeckt hatte, das noch viel interessanter zu sein schien. Gin durchlief ein Schauer. Obwohl er zurückweichen wollte, blieb sein Körper vollkommen starr. Er fühlte sich wie betäubt. Von Rye. Dessen Körper hingegen bebte und zuckte, während sein Blick den Silberhaarigen weiterhin gierig fixierte. Für einen Moment überlagerte sich die Szene vor Gins Augen mit der aus seinem Traum, in welchem er mit Rye in dieser seltsamen Kirche gewesen war. Jetzt schien ein Teil von ihm darauf zu warten, dass dieser Traum Wirklichkeit wurde. Während ein anderer Teil ihn dazu alarmierte, sofort zu verschwinden. Er würde sich allerdings niemals jagen lassen, weshalb er einfach stehenblieb, als Rye einen Schritt auf ihn zukam. Doch dann geschah plötzlich etwas, womit Gin niemals gerechnet hätte: Der Schwarzhaarige verlor seinen Halt und brach kraftlos zusammen. Gin benötigte ein paar Sekunden, um zu realisieren, was soeben passiert war. Dass Rye nun reglos am Boden lag. Neben der Leiche, welcher er bis vor einer Minute noch das Blut ausgesaugt hatte. Wie all den anderen auf diesem Schiff. Es war wirklich kaum zu glauben… Endlich gelang es Gin, sich aus seiner Starre zu befreien. Wie von selbst trugen ihn seine Beine zu Rye und sackten neben ihm zusammen. Ohne es sich vollkommen bewusst zu sein, rief er mehrmals den Namen seines Partners, während er ihn auf den Rücken drehte. Er strich Rye ein paar schwarze Strähnen aus dem blutverschmierten Gesicht. Jedoch blieben dessen Augen geschlossen. Offensichtlich hatte er wirklich das Bewusstsein verloren. „Wie ist das möglich…“, ging es Gin durch den Kopf. Er war ihm ein Rätsel, was Rye außer Gefecht gesetzt haben könnte. „Vielleicht hat er sich einfach übernommen…“, überlegte er. Eine andere halbwegs logische Erklärung fand er nicht. „Hoffentlich kommt er gleich wieder zu sich…“ Gin rüttelte Rye an den Schultern. Wobei ihm plötzlich bewusst wurde, dass er gerade tatsächlich versuchte, einen Vampir zu wecken, der gerade noch mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nach seinem Blut getrachtet hatte. Und es gab keine Garantie, dass dieser Vampir es nicht wieder versuchen würde, sobald er erwachte. Allmählich ließen Gins Bemühungen nach und er verharrte in der Bewegung. Von Rye erfolgte nach wie vor nichts. Nicht einmal ein Atemzug. Schließlich besaß er kein Herz, was schlug. Man könnte genauso gut denken, er sei tot. Gins Hände verkrampften sich in Ryes Schultern. Anschließend stand er auf und ging zurück zu dem letzten Überlebenden der Drogendealer-Bande, den er wegen Rye fast vergessen hatte. Der Mann hatte sich glücklicherweise keinen Millimeter vom Fleck bewegt. Tränen der Angst flossen ihm übers Gesicht und er zitterte nach wie vor am ganzen Leib, während die Schusswunde an seinem Bein unaufhörlich blutete. Aber das alles war egal, solange er noch am Leben war und reden konnte. „Der, der dich verfolgt hat, kann dir nichts mehr tun.“, meinte Gin streng, womit er die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich lenkte, dessen Augen vor Erleichterung groß wurden. „Wenn du mir verrätst, wo eure Ware versteckt ist, überlege ich mir, dich am Leben zu lassen. Also?“, fuhr Gin monoton fort. Seine Entscheidung stand ohnehin längst fest. Der Mann hatte zu viel gesehen. Er hatte Ryes wahre Gestalt gesehen. Allein das war Grund genug, ihn zu töten. Der Mann nickte still. Aber dabei blieb es dann auch. Reden tat er nicht. „Dann sprich.“, forderte Gin ihn auf, genervt davon, dass er das überhaupt tun musste. Der Mann setzte sich mit langsamen, ungleichmäßigen Bewegungen auf und umklammerte sein verletztes Bein. Nachdem er den Kopf gesenkt hatte, verriet er leise: „Auf Deck 7… in den Wänden der Zimmer 7237 bis 7242…“ Kurz darauf nahm Gin sein Smartphone aus der Manteltasche und wählte die Nummer des Anführers von der Verstärkung, die noch immer bereit stand und auf seinen Befehl wartete. Es dauerte keine drei Sekunden, bis derjenige abnahm. „Die Drogen befinden sich auf Deck 7, in den Wänden der Zimmer 7237 bis 7242.“, wiederholte er die Worte der Geisel und fügte im Befehlston hinzu: „Fangt an.“ Nachdem die Person am anderen Ende der Leitung mit einem „Okay“ geantwortet hatte, legte Gin auf und steckte sein Handy zurück in die Tasche. Dafür holte er seine Beretta hervor und richtete sie auf den Mann vor sich. Dieser hob erschrocken den Kopf, als er das verräterische Klicken hörte. Doch Gin ließ ihm keine Zeit mehr zu reagieren und schoss ihm ohne Vorwarnung in den Kopf, woraufhin er auf dem Boden zusammenbrach. Halbwegs zufrieden eilte Gin zurück zu Rye, welcher sein Bewusstsein noch immer nicht wiedererlangt hatte. Der Silberhaarige kniete sich neben ihn und zog ihn an den Schultern zu sich auf den Schoß. Mit einem Tuch wischte Gin Rye das Blut aus dem Gesicht. Dabei bemerkte er nicht, dass er begann verträumt auf dieses herabzustarren und den Moment somit in die Länge zog. Er streifte immer langsamer mit dem Tuch über Ryes glattes, schönes Gesicht und fuhr behutsam die Konturen seiner Haut nach. Er strich ihm über die Lippen und verweilte dort einen kurzen Augenblick. Wieder stellte sich Gin gedanklich die Frage, warum Rye nicht erwachte und wie lange es bis dahin wohl noch dauern würde. Solange warten konnte er nicht mehr. Und Rye hierzulassen kam gar nicht erst in Frage. „Dann muss ich ihn wohl nach Hause bringen…“, dachte Gin und stieß ein Seufzen aus. Er schob seine Hände unter Ryes Körper und hob ihn vorsichtig hoch. Zu seinem Erstaunen war Rye leichter, als er vermutet hatte. Mit einem letzten besorgten Blick auf den schlaffen Körper in seinen Armen verließ Gin mit seinem Partner das Schiff. Der Auftrag war mehr oder weniger erfolgreich erledigt. Der Rest fiel nicht in seinen Aufgabenbereich, worüber er diesmal wirklich froh war. So konnte er Rye schneller zurück zu dessen Wohnung bringen. Kapitel 24: Totenbett --------------------- Abwechselnd ließ Gin seinen Blick zwischen der Uhr und seinem nach wie vor bewusstlosen Partner hin und her schweifen. Innerlich kämpfte er schon lange mit der Müdigkeit und würde diesen Kampf womöglich bald verlieren. Rye dabei die ganze Zeit in dessen Bett zu beobachten, machte alles nur noch schlimmer. Es waren bereits fast vier Stunden vergangen, seit Gin mit Rye in der Wohnung angekommen war. Dies unauffällig zu bewerkstelligen war gar nicht so leicht gewesen, insbesondere wegen der Blut besudelten Klamotten. Diese hatte Gin sofort nach ihrer Ankunft bei beiden gewechselt. Allerdings hatte er sich selbst welche von Rye ausleihen müssen, welcher hoffentlich nichts dagegen haben würde. Das war jedoch nur das kleinere Übel gewesen. Gin legte peinlich berührt seinen Kopf auf die Matratze, als er sich unbeabsichtigt daran erinnerte, wie er Rye in dessen schlafendem Zustand hatte entkleiden müssen. „Aber es wäre nicht gerade von Vorteil gewesen, wenn er in den Klamotten aufgewacht wäre… das Blut daran hätte ihn bloß noch ein weiteres Mal um den Verstand bringen können…“, glaubte Gin und stieß ein Seufzen aus. Auch wenn es für ihn unangenehm gewesen war, so hatte er seiner Meinung nach dennoch die richtige Entscheidung getroffen. Rye würde es ihm mit Sicherheit auch danken, sobald er erwachte. Momentan konnte Gin dessen gut gebauten Körper dank der dicken Decke nicht sehen. Rye hatte wirklich - auch wenn es dem Silberhaarigen schwer fiel, sich das einzugestehen - einen sehr attraktiven, schlanken Körperbau. Allein die wohlgeformten Muskeln und noch dazu die perfekte Beschaffenheit seiner harten, schneeweißen Haut. Doch das war von vornherein zu erwarten gewesen. Jemand, der so unerträgliche Schönheit ausstrahle, konnte unter seiner Kleidung nur so einen atemberaubenden Körper verbergen. Ungewollt überkam Gin eine leichte Hitzewelle und seine Hände verkrampften sich in Ryes Bettdecke. Obwohl der Schwarzhaarige vor ihm schlief und keiner weiter hier war, schämte er sich für seine Gedanken. Diese durften niemals, unter keinen Umständen, nach Außen gelangen. Doch eigentlich war es seine eigene Schuld, dass er so viel darüber nachdachte. Er hätte bereits vor Stunden zu seiner eigenen Wohnung zurückfahren sollen. Dort könnte er sich bereits im Tiefschlaf erholen. Er wusste selbst nicht so genau, was ihn noch hier an Ryes Bett festhielt. Irgendwie gab es zu viele Gründe. Unter anderem, dass sich Rye seither kein einziges Mal bewegt hatte. Wirklich kein einziges Mal. Nicht mal eine kleine Regung hatte Gin wahrnehmen können. Normalerweise drehte man sich zumindest beim Schlafen hin und wieder mal auf die andere Seite oder nahm unbewusst eine andere Position ein – doch dies war bei Rye auch nicht der Fall gewesen. Alle seine Muskeln waren schlaff. Wie bei einer zwei-Tage alten Leiche. Die einzige bemerkbare Veränderung war, dass die Iris von Ryes Augen wieder eine normale, grünliche Färbung angenommen hatten, als der Silberhaarige vorhin die Lider zur Überprüfung kurz nach oben geschoben hatte. Trotzdem fühlte sich Gin allmählich so, als würde er neben dem Bett eines Toten knien. Einen großen Unterschied machte es jedenfalls nicht, denn ein Toter würde genauso blass und reglos in diesem Bett liegen. Er würde sich kalt anfühlen und ebenso wenig atmen. Genau genommen könnte man Rye also auch für tot halten. Vielleicht schlief er gar nicht. Und vielleicht war er vorhin auf dem Schiff auch nicht bewusstlos geworden, sondern tot umgefallen. Eine absolute Gewissheit gab es nicht. Aber genau aus dem Grund konnte Gin nicht gehen. Er wollte sichergehen, dass Rye wieder erwachte. Erst dann würde er selbst mit ruhigem Gewissen schlafen können. Je mehr Zeit verstrich, um so belastender wurde das fremde Gefühl, welches Gin plagte. Langsam musste er feststellen, dass es sich bei diesem Gefühl um Angst handelte. Etwas, das er sonst nie verspürt hatte und womit er erst Bekanntschaft gemacht hatte, als Rye in sein Leben getreten war. Von da an hatte etwas in ihm angefangen sich zu verändern. Von Tag zu Tag. Und diese Veränderung war noch immer nicht abgeschlossen. Das bemerkte er in manchen Situationen immer wieder. Auch in der jetzigen. Doch was genau sich veränderte, wusste er nicht. Es fühlte sich alles so fremd und ungewohnt an. „Rye.“, wich es Gin irgendwann wie von allein über die Lippen. Einer seiner Hände krallte sich um Ryes Arm und rüttelte den schlaffen Körper. Das hatte er schon etliche Male versucht. Immer wieder erfolglos. Auch diesmal. „Rye!“ Seine Stimme wurde lauter. Eine Mischung aus Wut und Verzweiflung. Ohne es bewusst zu wollen, schlug er mit der Faust auf die Stelle der Decke, worunter sich Ryes Brust befand. Es nützte nichts. Verärgert darüber, vollkommen machtlos zu sein, schlug Gin seinem Partner ins Gesicht und schrie: „Jetzt wach endlich auf du verdammter Idiot!“   …   Diese Stimme. So nah und vertraut. Und doch unerreichbar. Rye fühlte sich, als wäre er in die Tiefen eines dunklen Ozeans gesunken, auf dessen Grund er von Ketten festgehalten wurde. Nur dass sich diese Ketten beim Erklingen der Stimme allmählich zu lösen begannen. Während sein Körper langsam wieder nach oben trieb, verspürte er ein undefinierbares Gefühl in der Brust. Kurz darauf auch im Gesicht. Dann hörte er die schöne Stimme erneut. Diesmal jedoch viel klarer. Die Dunkelheit, die ihn umgab, schien sich in Nichts aufzulösen. „Gin…“, sagte er in Gedanken. Obwohl er diesen Namen lieber laut ausgesprochen hätte. Aber seine Lippen bewegten sich nicht. Er öffnete leicht seine Augen und erblickte die glitzernde Wasseroberfläche. Die hellen Strahlen der Sonne blendeten ihn. Das Licht wurde stärker und plötzlich sah er das überraschte Gesicht von Gin vor seinen Augen, welches von silberglänzenden Haaren umrandet und betont wurde. Bei diesem Anblick konnte Rye nicht anders, als ein Lächeln aufzusetzen. Vielleicht gab es doch einen Platz im Himmel für ihn. Jetzt glaubte er fest daran. Denn jeder Ort mit Gin war sein persönlicher Himmel. „Na endlich, das wurde auch mal langsam Zeit!“ Rye blinzelte ein paar Mal benommen. Er fing an zu realisieren, dass er sich weder im weit entfernten Jenseits noch in einem Traum befand. Sondern offenbar in seinem Bett. Wie auch immer er dorthin gekommen war. „Also an diese Art des Aufwachens könnte ich mich gewöhnen…“, murmelte er verträumt und musterte weiterhin Gins Antlitz. Jedoch entfernte sich der Silberhaarige kurz nach seinen Worten einen Schritt vom Bett. Rye versuchte sich aufzurichten, was ihm aber nicht gelang. Irgendwie fühlte sich sein Körper so schwer wie ein Stein an, weshalb er es bei einer einfachen Kopfbewegung in Gins Richtung beließ. „Was ist passiert?“, fragte er unsicher, um in Erfahrung zu bringen, wie viel er verpasst hatte. Er wusste nicht mehr, wann genau ihm schwarz vor Augen geworden war. Gin antwortete ihm nicht sofort, sondern betrachtete ihn eine Weile mit Skepsis in den Augen. „Du bist bewusstlos geworden, weshalb ich dich nach Hause gebracht habe.“, meinte er dann schlicht. Rye bemerkte sofort, dass der Silberhaarige mit Absicht die Details wegließ. Doch darauf würde er später noch zurückkommen. „Für wie lange?“, wollte er erst mal wissen. „Ungefähr vier Stunden.“, erwiderte Gin ruhig, woraufhin sich Ryes Augen weiteten. „So lange?“, entwich es ihm erstaunt. Allerdings überraschte ihn nicht die Zeitspanne an sich, sondern etwas ganz anderes: Gins Anwesenheit. „Dann warst du also… die ganze Zeit über hier…?“ Rye konnte das nicht wirklich glauben. Schon die Vorstellung, wie Gin Stunden neben seinem Bett verbringen würde, war lächerlich. Diese Art von Sorge widersprach dem Wesen des Silberhaarigen. Auch wenn sich Rye wünschte, dass er ihm wirklich so wichtig war. Doch da senkte Gin peinlich berührt den Blick. „Ähm… ja.“, gab er schließlich zu und erfüllte Rye somit seinen Wunsch. Dieser konnte das Glück kaum fassen, welches ihm gerade zu widerfahren schien. Jedoch war er der festen Überzeugung, dass er dieses Glück nicht verdient hatte. Besonders jetzt nicht mehr, nachdem er den Auftrag in einer Katastrophe hatte enden lassen. Seine Vorkehrungen waren vollkommen umsonst gewesen. Die Beherrschung hatte er trotzdem verloren. Wie immer. Es gab ihm das Gefühl eine Marionette zu sein. Gezogen von den Trieben und Gelüsten seiner düsteren, bestialischen Seite. „Und beinahe hätte ich etwas getan, was ich mir niemals hätte verzeihen können…“ Rye durchfuhr ein Stich und sein Körper begann unter der Decke zu zittern. Noch nie war sein Hass auf sich selbst so gewaltig gewesen. Wenn er Gin etwas angetan hätte, hätte er alles daran gesetzt, doch noch eine Möglichkeit zu finden, sich selbst auszulöschen. Und wenn er Eclipse dafür auf Knien hätte anflehen müssen, ihn von seinem elendigen Dasein zu erlösen. „Passiert dir das eigentlich öfter?“ Gins Frage holte Rye nur teilweise aus seinen Gedanken. Er hatte sie kaum verstanden. „Was?“, hakte er nach. „Ob du schon öfters das Bewusstsein verloren hast.“, verdeutlichte Gin. Seine Tonlage klang etwas strenger. Doch es war Rye egal. Er starrte solange auf den Stoff des Kissens vor seinen Augen, bis ihm die Sicht etwas verschwamm. „Ja… zwei oder drei Mal. Ist aber nicht weiter schlimm…“, antwortete er abwesend. „Nicht weiter schlimm? Ich dachte für einen Moment wirklich, du seist tot!“ Für Gin schien die Sache nicht belanglos zu sein. Ein bitteres Lächeln bildete sich auf Ryes Lippen. „Vielleicht wäre das auch besser so.“, spottete er. Den Tod hatte er mit Sicherheit schon lange verdient. Die Welt wäre viel friedlicher ohne seine Existenz. Allein schon wegen der vielen Leben, die er auf dem Gewissen hatte und die in Zukunft noch unweigerlich folgen würden. „So ein Unsinn!“, widersprach Gin ihm jedoch, was Rye nicht im Geringsten nachvollziehen konnte. Ausnahmsweise wollte er sogar, dass sein Partner ihn für das, was er um ein Haar getan hätte, hasste. Er hätte es verdient. Verdient zu leiden. „Wenn er doch bloß nicht…“, begann Rye seinen Gedanken verärgert, bevor er sich doch dazu entschied, es laut auszusprechen: „Warum bist du mir gefolgt? Ich hatte dir ausdrücklich verboten, mir nachzukommen!“ Es klang etwas hysterischer als gewollt. Aber Gin konnte ruhig hören, dass er einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte. Wie konnte er nur so töricht gewesen sein? Gins Augenbrauen zogen sich entrüstet zusammen, dann versuchte er ihm den Grund zu erklären: „Die von dir angegebene Zeitspanne war vorbei gewesen… und als ich die Schüsse und Schreie gehört habe, konnte ich nicht anders… Ich weiß, dass ich dir nicht helfen durfte, aber-“ „Du hättest nichts für mich tun können!“, schnitt Rye ihm aufgebracht das Wort ab und krallte seine Hände in die Matratze. Innerlich versuchte er sich zu entscheiden, ob er eher wütend auf sich selbst oder Gin sein sollte. In der darauffolgenden Stille, in welcher allmählich die Ruhe wieder in ihm einkehrte, beschloss er, sich die alleinige Schuld zu geben. Gin hatte ihm lediglich helfen wollen. Dafür konnte er ihn nicht verurteilen. Im Gegenteil. Er sollte ihm danken. Auch dafür, dass der Silberhaarige ihn nach Hause gebracht hatte. Doch egal wie sehr er das wollte und wie glücklich er darüber war, dass er Gin nicht egal war: Er musste diesem klarmachen, dass er sich einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt hatte. Sonst würde er womöglich irgendwann erneut versuchen ihm zu helfen, ohne dabei Rücksicht auf sein eigenes Leben zu nehmen. „Mir wäre schon etwas eingefallen.“, meinte Gin. Seine Tonlage verriet, dass er davon wirklich überzeugt war. Doch Rye schüttelte nur mit dem Kopf. „Gin.“, sprach er mit fester Stimme, während er seinem Partner eindringlich in die Augen sah. „Ich wollte dich…“ Er ließ den Satz bewusst unvollständig. Gin würde auch so verstehen, was er meinte. Rye vernahm, wie dem Silberhaarigen der Atem stockte und sein Körper sich anspannte. Er biss sich unauffällig auf die Unterlippe. Kurz darauf verschränkte er die Arme und wandte den Blick ab. Rye schmunzelte über die unerwartete Reaktion, die ihn auch ein wenig verblüffte. „Na dann, entschuldige, dass ich mir Sorgen gemacht habe. Es wird nie wieder vorkommen.“ Obwohl Gin dies tonlos sagte, erkannte Rye, dass er eingeschnappt war und ihm sein undankbares Verhalten vorhielt. „Bitte versteh mich nicht falsch.“, begann der Schwarzhaarige deswegen sanft und wartete, bis Gin ihn wieder ansah. „Es bedeutet mir sehr viel, dass du mir helfen wolltest. Aber du solltest lernen, ab und zu auf mich zu hören. Zu deiner eigenen Sicherheit.“ Den letzten Satz betonte er streng, woraufhin Gin die Augen verdrehte. „Ah ja.“, kam es gleichgültig von ihm. Wahrscheinlich würde er sich sowieso nicht dran halten. Und vollständig bewusst schien er sich der Gefahr ebenso wenig zu sein. Auch wenn Rye das einige Vorteile verschaffte. Würde Gin ihn als Gefahr betrachten, wäre es deutlich schwieriger, ihm näherzukommen. Und seit ihrer ersten Begegnung wollte Rye nichts mehr als das. Mit einem Ruck versuchte er erneut, sich aufzusetzen. Diesmal zum Glück erfolgreich. Als ihm die Decke jedoch von seinem Oberkörper glitt, starrte er erschrocken an sich herab. „W-Wo sind meine Klamotten??“, stammelte er, bevor er Gin einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. Dieser zog nur entgeistert eine Augenbraue nach oben. Der Rest seiner Miene blieb ausdruckslos. „Fällt dir aber früh auf.“, meinte er. Doch jetzt, wo Rye seinen Partner nochmal genauer betrachtete, bemerkte er noch etwas anderes. Gin trug Klamotten von ihm. Und sie standen ihm ausgezeichnet. „Ich dachte, es wäre nicht gerade angenehm für dich, in den blutgetränkten Klamotten aufzuwachen. Deswegen hab ich sie zusammen mit meinen entsorgt.“, erklärte dieser. „Verstehe… das war sehr taktvoll von dir.“ Trotz der Verlegenheit setzte Rye ein Lächeln auf. „Es tut mir wirklich leid, dass ich dir solche Probleme bereite… Ich hab alles vermasselt… der Boss hat womöglich recht.“ Rye starrte betrübt auf die Decke und wartete darauf, dass Gin ihm zustimmte. Auch wenn er den Boss nicht ausstehen konnte und er diesen wegen der Verbindung zu Eclipse in gewisser Weise fürchtete, so musste er ihm in vielerlei Hinsichten recht geben. Zudem würde es Rye nicht wundern, wenn er für das Chaos was er hinterlassen hatte, dementsprechend die Quittung bekommen würde. Für einen normalen Menschen war dieser Mann definitiv zu mächtig. Und er schien genau zu wissen, wie er diese Macht einzusetzen hatte. „Du hast nichts vermasselt. Das Team, das von Anfang an bereitgestellt war, konnte die Drogen trotzdem ausfindig machen. Inzwischen sollte von dem Schiff nichts weiter als ein Wrack übrig sein. Also brauchst du dir keine Gedanken zu machen, du hast gute Vorarbeit geleistet.“ Rye wollte Gins Worte nicht wahrhaben. Es war schwer zu glauben, dass anscheinend alles in Ordnung war. Doch noch unglaubwürdiger war das Lob am Ende, welches der Schwarzhaarige als unpassend empfand. Wieso sollte es lobenswert sein, wenn er die ganze Besatzung eines Schiffs abgeschlachtet und zuletzt beinahe dem Sinn seiner Existenz das Leben ausgesaugt hatte? „Wenn du das sagst…“ Rye nahm es dennoch einfach so hin. Trotz der Umstände war ein Lob aus Gins Mund immer noch etwas sehr Seltenes, das er liebend gern annahm. Aber wahrscheinlich wollte Gin bloß, dass er sich nicht schlecht fühlte und sich keine Vorwürfe machte. Bis vor ein paar Tagen hätte sein eigentlich kaltherziger Partner darauf jedoch noch keine Rücksicht genommen. „Du hast nicht zufällig eine Vermutung, was der Grund dafür sein könnte, dass du hin und wieder das Bewusstsein verlierst?“ Gin wechselte wieder das Thema, woraufhin Rye nachdenklich die Stirn runzelte. Er hatte sich darüber noch nie wirklich Gedanken gemacht. „Meistens passiert es, wenn ich es übertreibe und zu viel Blut zu mir nehme… als wäre mein Organismus überlastet. Vielleicht ist es eine Nebenwirkung des Gifts…“, grübelte er laut vor sich hin. Das war die einzig logische Erklärung, die er fand. „Ergibt Sinn… Und da du scheinbar der Erste warst, bei dem das Gift funktioniert hat, kann es durchaus sein, dass es nicht zu 100% die gewünschte Wirkung erzielt. Das ist meistens nie der Fall. Ein Mittel braucht oft mehrere Prototypen, um es zu perfektionieren.“, erwiderte Gin, wobei er Rye ein wenig an diese Laborkittel-Träger erinnerte, die ihm dieses verdammte Teufelsgift verabreicht hatten. Rye nickte still und vertrieb die bruchstückhafte Erinnerung an dieses traumatische Ereignis sofort. „Sie brauchten ja auch 12 Versuche, um Erfolg zu haben.“, fügte er noch verbittert an, während sich seine Hand automatisch in seinen Hals krallte. Nach ein paar Sekunden Stille begann Gin jedoch: „Also, um ehrlich zu sein, bin ich…“ Er verstummte. Im Augenwinkel sah Rye, wie der Silberhaarige die Lippen zusammenpresste und beschämt zu Boden starrte. Überrascht drehte er den Kopf zu ihm und fragte: „Du bist was…?“ Er hoffte, dass sich Gin noch dazu überwand, den Satz zu beenden. Denn irgendwie bekam Rye das Gefühl, dass ihm die Worte viel bedeuten würden. Aber Gins darauffolgendes Kopfschütteln verriet ihm, dass er diese Worte wohl nicht mehr zu hören bekommen würde. „Vergiss es, ist doch nicht so wichtig.“, meinte Gin nebenher. Rye schürzte enttäuscht die Lippen. Doch bevor er seinen Partner darum bitten konnte es ihm doch zu verraten, lenkte dieser längst wieder etwas anderes ein. „Du solltest dich besser noch etwas ausruhen.“, riet er dem Schwarzhaarigen und kehrte ihm kurz darauf den Rücken zu. „Ich bin ausgeruht.“, beteuerte Rye. Als er jedoch realisierte, dass Gin offensichtlich das Zimmer verlassen wollte, versuchte er ihn aufzuhalten und fragte: „Wo willst du hin?“ Er war schon halb aus dem Bett gestiegen, als Gin sich ihm mit einer verwirrten Miene wieder zuwandte. „Hast du mal auf die Uhr geschaut? Ich möchte mich zu Hause auch noch ein paar Stunden aufs Ohr hauen.“, erwiderte der Silberhaarige, was ein melancholisches Gefühl in Rye auslöste. Er wollte nicht, dass Gin ging. „Warum ist er nicht schon gegangen, während ich noch bewusstlos gewesen war? Da hätte ich es zumindest nicht mitbekommen… aber er ist geblieben, bis ich aufgewacht bin…“ Dieses Verhalten war Rye ein Rätsel. Doch er konnte Gin diese Frage nicht stellen. Die Befürchtung, die Antwort würde nicht seinen Wünschen entsprechen, geschweige denn ehrlich sein, war zu groß. Stattdessen bat er ihn: „Bitte bleib doch.“ Allein Gins darauffolgender Gesichtsausdruck verdeutlichte genug, was er davon hielt. Ohne, dass er etwas sagen musste, erkannte Rye, dass er das Angebot ablehnen würde. Deshalb versuchte er ihn zu überzeugen: „Es ist bereits so spät, dass es sich doch gar nicht mehr lohnen würde, nach Hause zu fahren. Findest du nicht? Du kannst hier schlafen, ich überlass dir auch das Bett.“ Das, was Rye eben in Gins Gesichtsausdruck als Ablehnung gedeutet hatte, schien sich nun noch mehr zu verstärken. Hinzu kam ein warmes, verlockendes Rot, das seine Wangen färbte. „Nein, lass mal gut sein.“ Die Worte kamen demzufolge nicht überraschend. Begleitet von einem Seufzen verabschiedete sich Rye von seiner Wunschvorstellung, Gin in seinem Bett schlafen zu lassen. Sämtliche Versuche ihn zu überreden waren womöglich zwecklos. „Ach ja, bevor ich es vergesse: Du musst dem Boss morgen im Laufe des Tages noch einen Besuch abstatten.“ Obwohl Gin den Satz monoton aussprach, jagte er Rye einen Schauer über den Rücken. Alles bloß das nicht. Da würde er lieber eine Weile im Höllenfeuer schmoren. Selbst das wäre angenehmer als diesem zwielichtigen Kerl noch einmal gegenüberzutreten. „Das… kann ich nicht.“, gestand er Gin mit leiser Stimme. Doch so leicht schien er ihm nicht davonzukommen. „Warum? Jetzt sag nicht, du hast Angst vor ihm.“ Gins Tonlage war eine Mischung aus Unglauben und Belustigung. Ertappt senkte Rye den Blick und schwieg. Es war ihm nicht nur vor Gin peinlich, sondern auch vor sich selbst. Der Boss war schließlich nur ein Mensch. Theoretisch konnte dieser ihm nichts anhaben. Gäbe es da nicht die Tatsache, dass Gin ihn höchstwahrscheinlich hassen würde, sobald er dem Boss auch nur ein Haar krümmte. „Das brauchst du nicht. Ich werde ihm vorher noch Bericht erstatten und schon dafür sorgen, dass du bleiben darfst.“, versuchte Gin ihn aufzumuntern. Aber es half kein bisschen. Am liebsten hätte Rye geantwortet ‚Darum geht es nicht‘, doch er ließ es lieber sein. „Danke, vielleicht hilft es.“, hoffte er und zwang sich ein Lächeln auf, welches Gin fast erwidert hätte. Aber seine Lippen formten nach einem kurzen Zucken eine harte Linie und er beließ es lediglich bei einem Nicken. „Und ich danke dir auch dafür, dass du solange gewartet hast, bis ich aufgewacht bin.“, fügte Rye sanft in der Hoffnung hinzu, Gin das angedeutete Lächeln trotzdem entlocken zu können. Allerdings lief sein Partner vor Scham rot an, bevor er verneinend die Hände hob und sagte: „Das hab ich nur getan, weil ich mich versichern wollte, ob du tot bist oder nicht. Bild dir nichts drauf ein, klar?“ „Trotzdem danke.“ Rye ließ sich an seiner Tonlage nicht anmerken, wie unzufrieden er mit dieser Reaktion war, die ihn auch ein bisschen verletzte. Doch er hatte schon vorher damit gerechnet, dass Gin es letztlich doch abstreiten würde, dass er sich Sorgen gemacht hatte. Er würde auch nie zu seinen eigentlichen Gefühlen stehen und auf nichts eingehen, was auf diese hindeuten könnte. Wirklich ärgerlich. Es begann Rye zunehmend zu stören. Zwar schien der Silberhaarige etwas offener als früher zu sein, doch es war nicht genug. Noch lange nicht. „Keine Ursache…“, erwiderte Gin zögerlich. „Ich werd‘ dann mal gehen. Deine Klamotten gebe ich dir zurück, wenn wir uns das nächste Mal sehen.“ „Du kannst sie behalten, wenn du willst.“, bot Rye ihm an. Er brauchte die Klamotten ohnehin nicht unbedingt. Dennoch hoffte er inständig, dass dieses nächste Mal, von dem Gin sprach, schon sehr bald stattfand. Am besten gleich morgen, sobald er aus der Höhle des Löwen zurück sein würde. Und das hoffentlich mit der Erlaubnis in der Organisation bleiben zu können. „Nein, schon gut.“, lehnte der Silberhaarige das Angebot ab, während er die Tür öffnete. „Bis dann. Ruh dich noch ein paar Stunden aus.“ „Werde ich… bis dann.“, verabschiedete sich Rye, woraufhin Gin das Schlafzimmer verließ und die Tür hinter sich schloss. Rye verharrte regungslos auf seinem Bett, bis Gins Schritte verstummten und auch die Wohnungstür zufiel. „Irgendwas muss ich doch gegen seine Verschlossenheit tun können…“ Er stöhnte deprimiert, stützte die Hände auf der Matratze ab und lehnte sich nach hinten. „Ich will ihm sagen können, wie sehr ich ihn begehre… und dass er der Einzige ist, der mir etwas bedeutet… für den ich alles tun würde… Aber im Moment wüsste er wahrscheinlich nicht, wie er damit umgehen soll. Womöglich würde er mich nur wieder abweisen…“ Gedankenversunken warf er den Blick über die Schulter und starrte zum Fenster hinaus. Noch eine Abfuhr würde er mit Sicherheit nicht ertragen. Genau genommen wusste er selbst nicht, wie er sein Verlangen nach Gin begründen sollte. Er hatte bisher noch nie solche Empfindungen bei einem Menschen gespürt, weshalb er ein wenig unsicher war und sich die Frage stellte, ob er selbst überhaupt in der Lage wäre, damit umzugehen. „Aber er hat gerade auch unentschlossen gewirkt… Anders als bei unserem Kuss, den er einfach ohne zu zögern erwidert hat… Ich werd einfach nicht schlau aus ihm. Er bemüht sich stets, so wenig Gefühle wie möglich zu zeigen. So kann ich ihn nicht einschätzen…“ Verzweifelt überlegte er, wie er das am einfachsten ändern könnte. Irgendein entscheidender Schritt fehlte, um endlich an sein Ziel zu gelangen, Gin so nah wie möglich zu kommen. Auch wenn alle Prinzipien dagegen sprachen, konnte er einfach nicht anders. Er wollte Gin haben. Koste es, was es wolle. Und dieses Verlangen sollte auf Gegenseitigkeit beruhen. Während Rye gedanklich nach einer guten Idee suchte, stieg er aus dem Bett und ging zum Fenster. Draußen begann es allmählich wieder hell zu werden. Die ersten Sonnenstrahlen lugten am Horizont hervor und schlossen den Bezirk Minato in sich ein. Mitten in den bunten Lichtern der Hochhäuser leuchtete der Tokyo Tower in rot-gelb-orangenen Farben. Er war immer wieder aufs Neue ein schöner Anblick. Rye erinnerte sich gern an die Nächte zurück, in denen er dort gewesen war. Einen besseren Ausblick auf die Stadt bekam man sonst nur noch auf dem Skytree. Bei klarem Wetter konnte man sogar bis zum Fuji sehen. Nach 23:00 Uhr würde sich auf den Aussichtsplattformen auch keine Menschenseele mehr befinden. Da schlich sich ein siegessicheres Lächeln auf Ryes Lippen, als eine Idee in seinem Kopf Gestalt annahm. Kapitel 25: Wer sind Sie? ------------------------- „Ich habe es wirklich bis zur letzten Stunde hinausgezögert…“, dachte Rye beklommen, während er auf dem Weg zum Büro des Bosses war. Als er eben im Fahrstuhl einen Blick auf sein Smartphone geworfen hatte, war es kurz vor 23:00 Uhr gewesen. „Gin hat ja gesagt ‚im Laufe des Tages‘, so gesehen ist noch eine Stunde Zeit.“, versuchte er sich zu ermutigen und zuckte mit den Schultern. Er blendete alle Unsicherheiten aus und konzentrierte sich voll und ganz auf das, was nach diesem Treffen mit dem Boss noch stattfinden würde: Ein heiß ersehntes Date mit Gin. Nur das Rye der Einzige von beiden war, der wusste, dass es sich um ein Date handelte. Hätte er Gin das in seiner SMS verraten, würde dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zum Treffpunkt kommen. Zwar hatte der Silberhaarige nicht auf die SMS geantwortet, aber Rye glaubte trotzdem fest daran, dass er erscheinen würde. Falls nicht, müsste er ihm zu Hause einen Besuch abstatten und ihn abholen. So oder so: Der Tag würde mit Sicherheit ein gutes Ende nehmen - wenn Rye davon ausging, dass er das Date nicht in den Sand setzte. Er durfte sich also nicht von dem kommenden Gespräch mit dem Boss unterkriegen lassen. Zudem vertraute er darauf, dass es Gin bereits gelungen war, diesen soweit zu überzeugen, dass er bleiben durfte. „Es gibt keinen Grund zur Sorge.“, versuchte sich Rye klarzumachen, als die Tür zum Büro in sein Blickfeld geriet. Auch diesmal waren davor wieder dieselben Männer postiert. Als diese ihn bemerkten, wichen sie umgehend zurück und zogen den Kopf ein. Äußerlich ignorierte Rye die beiden, lachte aber innerlich über ihre offensichtliche Angst vor ihm. Wirklich zwei nützliche Wachen. Rye nahm eine entschlossene Haltung ein und drückte ohne anzuklopfen die Türklinke herunter, wobei er im Augenwinkel sah, wie den beiden Männern die Münder aufklappten. Kaum hatte er den Raum betreten und die Tür hinter sich geschlossen, erblickte er den Boss mit überschlagenen Beinen an seinem Schreibtisch sitzen. Er telefonierte gerade mit jemandem und verdrehte beim Anblick des Schwarzhaarigen genervt die Augen. „Ja, ich versteh schon. Am besten du kommst gleich vorbei, damit wir das vernünftig bereden können. Ich muss dringend auflegen, offensichtlich mangelt es einigen Leuten an guten Manieren.“, sagte der Boss zu seinem Gesprächspartner und verengte beim letzten Satz missmutig die Augen in Ryes Richtung. Diesem durchlief augenblicklich ein Schauer, bevor er schnell den Blick senkte. Nach ein paar Sekunden Stille vernahm Rye, wie der Boss den Hörer auflegte. Erst dann wagte er es, wieder aufzusehen. Nur um daraufhin von dem übellaunigen Blick seines Gegenübers durchbohrt zu werden. „Du kommst nicht nur ziemlich spät, sondern besitzt obendrein auch noch die Frechheit unangekündigt hereinzuplatzen. Beim nächsten Mal klopfst du gefälligst vorher an und wartest, bis ich dich hereinbitte. Und wenn ich das nicht tue, bleibst du draußen. Haben wir uns verstanden?“, wies der Boss ihn in herrischer Tonlage zurecht. „Ja, Sir. Verzeihen Sie.“, erwiderte Rye monoton und hoffte heimlich, dass es kein nächstes Mal geben würde. Der Boss stützte lächelnd den Kopf auf seiner Handfläche ab, dann meinte er belustigt: „Du scheinst dich sehr auf unser Wiedersehen gefreut zu haben.“ Rye erkannte die Ironie des Satzes und erwiderte daher: „Die Freude beruht wohl auf Gegenseitigkeit.“ „In der Tat.“ Das Lächeln des Bosses wurde breiter. „Du kannst ruhig näher kommen.“, fügte er hinzu, woraufhin Rye auffiel, dass er immer noch dicht an der Tür stand. Eigentlich würde er es auch bevorzugen dort stehenzubleiben, doch er hielt es für besser, den Worten Folge zu leisten. Er wollte den Boss nicht nochmal verärgern. „Ich bin zugegebenermaßen etwas überrascht von dir. Wie ich gehört habe, hast du den Auftrag erfolgreich ausgeführt. Gin hat dich in den höchsten Tönen gelobt.“, sprach der Boss im belanglosem Tonfall, wobei Rye jedoch an dessen abfälligem Gesichtsausdruck erkannte, dass ihm das gar nicht gefiel. „Hat er das?“, entwich es Rye erstaunt. So wirklich Glauben schenken konnte er der Aussage trotzdem nicht. Das würde nicht zu Gin passen. Nach einem Nicken erwiderte der Boss: „Er wollte einfach nicht nachgeben, so etwas kenne ich überhaupt nicht von ihm. Aber seine Einschätzung ist mir eben sehr wichtig.“ Ryes Augen wurden groß. Offenbar war das die Wahrheit. Doch sobald sich die aufkeimende Hoffnung in seinem Gesicht zeigte, wurde sie vom Boss wieder zerstört, indem er fortfuhr: „Bedauerlicherweise weiß ich nicht, inwieweit seine Einschätzung glaubwürdig ist. Wahrscheinlich hast du ihn manipuliert, damit er für dich lügt.“ „Das würde ich niemals tun!“, stritt Rye umgehend ab. Dass er dabei laut wurde, konnte er nicht verhindern. Denn diese Behauptung hatte eine ungehaltene Menge Wut in ihm ausgelöst. Jedoch konnte er dem Boss nicht sagen, dass es ihn selbst unglücklich machen würde, wenn sein Verhältnis zu Gin nur auf Manipulation seinerseits beruhen würde. Ebenso wenig konnte er ihm verraten, dass sich Gin aus eigenem Willen für ihn eingesetzt hatte. Es dauerte deshalb einen Moment, bis Rye eine passende Erklärung einfiel. „Ich habe mich auf eine ehrliche Weise bemüht, dass er mich… respektiert. Als Partner. Und so, wie ich gern in der Organisation bleiben würde, will er eben… weiterhin mit mir zusammen arbeiten… Er will, dass ich bleibe… hoffe ich.“ Vor Unsicherheit klang seine Stimme ganz leise. Obwohl Gins Unterstützung in den letzten Tagen eindeutig genug gewesen war, beschlich Rye nun das unangenehme Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben. „Mit anderen Worten: Du willst mir weiß machen, dass er dich mag?“ Der Boss zog spottend die Augenbrauen nach oben. So ausgedrückt klang es tatsächlich noch unglaubwürdiger, weshalb sich Rye nicht traute die Frage zu bejahen. Jetzt wurde ihm erst richtig bewusst, wie sehr er solche Worte wie ‚Ich mag dich‘ oder ‚Du bist mir wichtig‘ aus Gins Mund hören wollte. Bevor das nicht geschah, konnte er sich nie zu hundert Prozent sicher sein. „Sie können sich das womöglich nicht vorstellen, weil Sie mich so sehr verabscheuen.“, wich er der Frage einfach aus. „Da liegst du richtig. Ich kann es mir nicht vorstellen.“, stimmte der Boss ihm zu. Auch wenn das klar auf der Hand gelegen hatte und Rye davon nicht überrascht sein sollte, so war diese Direktheit dennoch irgendwie verletzend. „Aber das hat nicht nur etwas mit dir zu tun. Ich bin eher von Gin überrascht. Dass er jemanden mag, kommt so gut wie nie vor. Du musst dich wohl sehr bemüht haben.“ Es klang noch immer so, als würde der Boss ihm nicht glauben. Rye nickte trotzdem und erwiderte: „Das habe ich… Und ich will mich auch zukünftig bemühen. Für jeden Auftrag, den Sie mir erteilen. Ich möchte meine Fähigkeiten weiterhin für die Organisation einsetzen… wenn Sie es mir gestatten.“ Er war sich dessen bewusst, dass die förmliche Tonlage keinesfalls die Überzeugungskraft seiner Aussage unterstütze. Doch er hoffte, dass der Boss dennoch die Wahrheit in seinen Worten erkennen würde. Dieser schwieg nun und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Seine Augen wurden schmal und es spiegelte sich leichtes Misstrauen in ihnen wider. Diesen Gesichtsausdruck hatte Rye schon so oft bei Gin gesehen. „Ich bitte Sie… geben Sie mir diese eine Chance.“, fügte er noch flehend hinzu und ballte nebenher die Hände unbewusst zu Fäusten. Es war ihm egal, wie armselig er sich gerade bestimmt aufführte. Solange es half, den Boss vielleicht umzustimmen, würde er sich mit solchen Äußerungen nicht zurückhalten. „Wenn du die haben willst, musst du ein paar Bedingungen erfüllen.“, antwortete der Ältere entgegen all seinen Erwartungen. Das klang immerhin schon nach einem halben Ja. Rye spürte, wie das angenehme Gefühl eines kleinen Erfolges durch seinen Körper strömte. Die Bedingungen würden hoffentlich mit Leichtigkeit zu erfüllen sein. „Diese wären?“, wollte er wissen. Die Hände des Bosses schoben sich ineinander und er sah dem Schwarzhaarigen fest in die Augen, als er begann zu sprechen: „Erstens: Du wirst keinem meiner Leute je wieder Schaden zufügen. Zweitens: Du wirst keinen meiner Befehle missachten. Und drittens: Du wirst anfangen dich zu beherrschen. Das meine ich insofern, dass ich nichts mehr in den Nachrichten hören oder lesen will, was mit dir in Verbindung steht. Verhalte dich dementsprechend unauffällig und beseitige deine Sauereien.“ Rye schwor sich, diese von nun an für ihn geltenden Regeln unter allen Umständen einzuhalten. Die ersten beiden nahm er für selbstverständlich und es würde wahrscheinlich kein Problem sein, sie nicht zu missachten. Eine Herausforderung stellte eher die Dritte dar. Denn nach seinen Taten war er nicht immer dazu in der Lage seine Spuren zu beseitigen. Meistens kehrte sein klarer Verstand erst Stunden später wieder zurück, wo es möglicherweise schon zu spät sein könnte. Zudem konnte er keinerlei Einfluss darauf nehmen wo und wann er seinen Verstand verlieren würde. Denn oft kam das Monster in ihm ohne eine Vorwarnung zum Vorschein. Er konnte nicht voraussagen, was genau seinen Jagdinstinkt wecken würde und wie viele Reize vonnöten waren, um seine Grenze zu überschreiten. „Ich glaube du weißt sicherlich was passieren wird, wenn du dich nicht an diese Bedingungen hältst.“ In der drohenden Stimme des Bosses lag wieder diese gewisse Kälte, die Rye einen Schauer über den Rücken jagte. Natürlich wusste er es. Er wusste es nur zu gut. Der Boss hatte den Namen der Organisation wohl bewusst nicht ausgesprochen, zu welcher er ihn umgehend zurückschicken würde, sobald er auch nur eine der Regeln brach. Das durfte auf keinen Fall passieren. Rye glaubte nicht im Geringsten daran, seinem verheerenden Schicksal, welches ihn in Eclipse erwartete, noch ein zweites Mal entfliehen zu können. „Ja, Sir. Das weiß ich.“, antwortete er tonlos, sodass nichts von der Angst mitschwang, die ihn bei seinen Gedanken bedrückte. „Dann sind wir uns hoffentlich einig.“ Der Boss lehnte sich in seinem Sessel zurück, bevor er in scharfer Tonlage hinzufügte: „Eine Frage hab ich aber noch an dich.“ Rye spannte sich an. Was auch immer jetzt gleich kommen würde, war mit Sicherheit nicht leicht zu beantworten. Wenn nicht sogar unmöglich. „Du läufst immerzu davon und versuchst dich an verschiedenen Orten zu verstecken und dort in Sicherheit zu wiegen. Aber das ist vollkommen zwecklos. Jeder Mensch, den du tötest, ist wie ein Schrei von dir, der Eclipse früher oder später erreichen wird. Auf Dauer kannst du nirgendwo bleiben, wenn du so weiter machst wie bisher. Ich frage mich, wie lange du diese Endlosschleife ertragen kannst. Hast du nie daran gedacht, dich deinem Schicksal zu stellen?“ „Ich bezweifle, dass ich dazu fähig bin.“, brachte Rye mühsam heraus, während er den Blick senkte. Niemals wieder wollte er etwas mit Eclipse zu tun haben, geschweige denn sich jemandem davon stellen. „Aber ich werde nicht so weiter machen wie bisher. Ich werde mich an die Bedingungen halten. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.“, versprach er mit fester Stimme und blickte mit neuer Entschlossenheit auf. Daraufhin umspielte ein süffisantes Lächeln die Lippen des Bosses. „Na gut, ich glaube dir. Du darfst unter Vorbehalt bleiben. Sollte sich jedoch herausstellen, dass du mich in irgendeiner Weise angelogen hast und dich nicht an deine Versprechen hältst, werde ich keine Gnade zeigen. Du solltest dir immer bewusst sein, dass ich keine zweiten Chancen gebe.“, meinte er warnend. Zwar genoss Rye somit nicht das vollste Vertrauen des Bosses, jedoch fiel ihm dennoch ein Stein vom Herzen. Er hatte sein Hauptziel erreicht und alles andere war in diesem Moment erst mal nicht von weiterer Bedeutung. „Haben Sie vielen Dank.“, sagte er, während er sich verbeugte. „Dank mir lieber nicht zu früh.“, entgegnete der Boss sarkastisch. Kurz darauf machte er eine unwirsche Handbewegung, um den Schwarzhaarigen fortzuscheuchen. „Geh jetzt, ich erwarte noch jemanden.“ Rye war kurz davor, dem Folge zu leisten und drehte sich bereits von dem Älteren weg. Doch dann blieb er stehen. Er konnte diesen Raum noch nicht verlassen. Da gab es noch eine Sache, die er unbedingt in Erfahrung bringen wollte. Vorher würde er nicht gehen. „Vorher habe ich aber auch noch eine Frage an Sie.“, begann er ernst und warf seinen Blick über die Schulter, um dem Boss eindringlich in die Augen zu schauen. Dessen Miene blieb leer und er forderte ihn tonlos auf: „Stell sie.“ Rye versuchte die Unsicherheit, die ihn so plötzlich beschlich, zu ignorieren. Eigentlich handelte es sich um eine ganz normale Frage, die fast jeder normale Mensch ohne zu zögern beantworten würde. Doch irgendwie bekam er das Gefühl, dass gerade diese Person vor seinen Augen das nicht so einfach tun würde. Trotzdem beschloss Rye, es wenigstens zu versuchen und sprach die folgenden drei Worte klar und deutlich aus: „Wer sind Sie?“ Stille. Lediglich ein breites Grinsen bildete sich im Gesicht des Bosses. Ryes Miene hingegen verfinsterte sich. Er hatte genug von dieser Geheimniskrämerei. Er wollte endlich die Wahrheit über diesen Mann erfahren, welcher Eclipse zu tiefst zu hassen schien und dennoch mit ihnen in Verbindung stand. Womöglich wusste er bei weitem mehr als das, was er bisher von sich gegeben hatte. Und dieses Wissen bezog sich nicht nur auf diese mysteriöse Organisation an sich, sondern auch auf deren Hintergründe. „Ich habe seinen Vornamen noch in Erinnerung. Renya. Aber ich kann ihn nirgends einordnen…“, dachte Rye nach. „Warum sollte ich dir das verraten?“, fragte der Boss. Er klang so, als hätte er nicht vor, die Frage zu beantworten. Was zu erwarten gewesen war. Rye versuchte in Gedanken einen Grund zu finden, wie er die Antwort vielleicht doch noch erhalten könnte. Aber das war nicht all zu leicht. „Weil…“, begann er zögernd und schloss dann seinen Mund jedoch wieder, da er nicht wusste, wie er den Satz beenden sollte. „Dir fällt kein Grund ein, weil es keinen gibt. So einfach.“, redete der Boss dafür in kühler Tonlage weiter. So schnell wollte sich Rye nicht geschlagen geben. „Und wie wäre es mit einer Gegenleistung?“, äußerte er deshalb den erstbesten Gedanken, der ihm in den Sinn kam. „Eine Gegenleistung?“, hakte der Ältere daraufhin nach. Dessen Gesichtsausdruck wirkte nun wenigstens ein bisschen interessiert. „Ja… Im Gegenzug für die Antwort auf meine Frage werde ich etwas tun, was auch immer Sie von mir verlangen.“ Bei dieser Erläuterung fiel Rye jedoch mittendrin auf, dass er dieses Angebot nicht ganz durchdacht hatte. Innerlich fluchend presste er die Lippen zusammen, als der Boss streng erwiderte: „Du wirst so oder so tun, was ich von dir verlange.“ Darauf wusste Rye keine Antwort, mit welcher er kontern könnte. Er hatte sich dem Boss unterworfen und musste ihm von nun an treu ergeben sein. Das war eine unbestreitbare Tatsache, die sich nicht mehr ändern ließ. Demzufolge gab es auch nichts, womit er den Boss dazu bringen könnte, ihm seine wahre Identität zu verraten. Da unterbrach auf einmal ein Seufzen die Stille. „Warum willst du das überhaupt wissen?“ Zumindest schien der Boss dazu bereit zu sein, sich den Grund für seine gestellte Frage anzuhören, was in Rye einen kleinen Hoffnungsschimmer weckte. Er zögerte nicht lang und sagte: „Weil ich mir nicht erklären kann, warum Sie so gut über Eclipse Bescheid wissen und anscheinend auch in direktem Kontakt zu ihnen stehen. Sie haben mir bei unserem letzten Gespräch vorgeworfen, dass ich immer noch für Eclipse arbeite und mir nicht geglaubt, dass ich keinerlei Erinnerungen an meine Zeit dort verfüge. Selbst wenn das eine Lüge gewesen wäre, wissen Sie doch trotzdem viel mehr als ich über diese Organisation. Ist es nicht so?“ Rye hoffte, so ein Gespräch ins Rollen bringen zu können, worauf sich der Ältere tatsächlich einzulassen schien. Nach einem verwirrten Stirnrunzeln offenbarte dieser: „Du interpretierst das offenbar falsch. Es stimmt, dass ich sowohl den Stützpunkt, als auch ein paar Personen von Eclipse kenne. Eine davon kennt mich sogar besser als mir lieb ist. Aber ich habe sonst nicht viel mit ihnen zu tun, was ich auch gar nicht will. Sie haben mir auch keine Informationen über ihre Projekte zukommen lassen. Das, was ich über deine Art weiß, habe ich von woanders entnommen.“ Überrascht legte Rye den Kopf leicht schräg. Das kam unerwartet. Bestand da wirklich keine tiefere Verbindung? Obwohl der Kontakt zu verschiedenen Personen aus Eclipse diesen Mann schon gefährlich genug machten. Einen von diesen Kontakten kannte der Schwarzhaarige bereits. Diesen Connor, den der Boss letztens abfällig erwähnt hatte. „Ob das auch die Person ist, die ihn besser kennt als ihm lieb ist?“ Rye fragte sich, welche Rolle dieser Connor wohl spielte. Aber es interessierte ihn momentan viel mehr, woher der Boss all die anderen Informationen sonst hatte. Da fiel ihm auf Anhieb bloß das Buch ein, welches Gin ausgeliehen hatte. „Und von wo? Haben Sie etwa auch dieses Buch gelesen?“ Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, beobachtete er verwundert, wie sich die Miene des Bosses schlagartig veränderte und sich Schock darin abzeichnete. Ein seltsamer Ausdruck, der gar nicht zu dem sonst so herben Gesicht passte. „Welches Buch?“, fragte der Mann in einer gefährlich ernsten Tonlage, die Rye stutzig werden ließ. Allmählich kamen ihm Zweifel, ob sie beide wirklich an dasselbe Buch dachten. Er versuchte sich an den Titel zu erinnern. „Ein Buch über alte Volksgruppen und deren Traditionen. Gin hat es in einer Bibliothek ausgeliehen. Dort drinnen befand sich unter anderem auch ein Artikel über Eclipse.“, meinte er, während er jede noch so kleine Reaktion seines Gegenübers mit den Augen verfolgte. Dieser schien sich plötzlich wieder zu entspannen, als wären seine Befürchtungen umsonst gewesen. „Ach dieses Teil.“, entgegnete er spöttisch. „Der Artikel da drin wirkt lediglich wie eine billige Zusammenfassung aus den Schriften meines Urgroßvaters.“ „Was?“ Die Aussage warf Rye völlig aus der Bahn. Jetzt verstand er gar nichts mehr. „Das kann er nicht ernst gemeint haben… oder?“, schoss es ihm vor Verwirrung durch den Kopf. „Ihr… Urgroßvater? War er etwa ein Zeitzeuge?“, fragte er, auch wenn er das nicht im Geringsten glaubte. Dennoch nickte der Boss zu seinem Erstaunen, während er sagte: „In der Tat.“ Rye konnte sich gerade noch beherrschen, nicht energisch vor Unglauben den Kopf zu schütteln. Das konnte unmöglich stimmen. Die Zeit, in der Vampire auf Erden geweilt hatten, musste schon sehr lange zurückliegen. Frühestens bis zu den Anfängen der normalen Zeitrechnung. Um diese gewaltige Zeitspanne bis heute zu füllen, genügten vier Generationen bei weitem nicht. „Wie alt ist dieser Kerl dann bitte??“ Er hatte sich beim letzten Mal schon über das junge Aussehen des Bosses stark gewundert. Doch wenn dieser in Wirklichkeit mehrere hundert Jahre alt war, ging da etwas eindeutig nicht auf natürliche Weise vor sich… „Aber das ist doch alles schon viel zu lange er, als das Ihr Urgroßvater…“ Rye sprach nicht weiter und verfiel wieder in seine Überlegungen, während er vom Boss vielsagend angelächelt wurde. Es schien ihn zu amüsieren, wie der Schwarzhaarige nach und nach mehr anfing, von selbst zu begreifen. Rye besaß nicht genügend Wissen über Eclipse, welches er anwenden konnte, um mehrere Möglichkeiten durchzuspielen. Er konnte sich einzig und allein an den Artikel dieses seltsamen Buches klammern, welchen er gelesen hatte. Da fiel ihm jedoch eine ganz entscheidende Person ein, die damals bei der Vernichtung der Vampire eine wichtige Rolle gespielt hatte. „Kann es sein, dass ihr Urgroßvater dieser Alchemist war, der versucht hat die Vampire mit allen Mitteln zu bekämpfen und die Menschen dazu aufforderte, sich gegen sie zu wehren?“ „Sieh an, du weißt es ja schon längst.“ Der Boss klatschte sarkastisch in die Hände, was durch den Stoff der weißen Handschuhe gedämpft wurde und deshalb kaum zu hören war. „Dann ist es also wahr, dass er das Elixier des ewigen Lebens selbst bei sich angewendet hat? Lebt er etwa noch?“, entwich es Rye fassungslos. Er wusste nicht, was ihm mehr Sorgen bereiten sollte: Die Möglichkeit, dass dieser Alchemist, dem er besser nicht begegnen sollte, womöglich noch am Leben war oder die Tatsache, dass dessen Urenkel gerade leibhaftig vor ihm saß. Beides war so verrückt, dass es genauso gut auch ein Alptraum oder eine Wahnvorstellung sein könnte. Allerdings schüttelte der Boss bedauernd den Kopf. „Mein Urgroßvater, Nishizaka Karasuma, ist schon vor langer Zeit gestorben.“ Darüber war Rye gleichermaßen erleichtert wie verwirrt. „Wie…?“ „Das Elixier schenkt zwar ewiges Leben, aber es schützt nicht vor Dingen wie tödlichen Unfällen oder Krankheiten.“, erklärte der Boss tonlos, was sich Rye durch den Kopf gehen ließ. Die daraus folgende Stille nutzte der Ältere, um fortzufahren: „Leider ist das nur der Beweis dafür, dass das Elixier nicht für Menschen bestimmt ist. Man bleibt zwar für eine unendlich lange Zeit jung, doch irgendwann geht jeder Film des Lebens zu Ende, auch wenn er noch so lang sein mag. Soweit ich weiß ist mein Urgroßvater im 11. Jahrhundert der Pest zum Opfer gefallen. Und so ging das mit den Krankheiten von Generation zu Generation weiter. Wie ein Fluch, der mich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bald treffen wird.“ Er redete, als sei es ihm gleichgültig. Doch Rye war von dieser Redseligkeit sehr überrascht, auch wenn er etwas Zeit benötigte, um das Gesagte zu verarbeiten. Nichtsdestotrotz waren die Informationen für ihn interessant und vielleicht auch brauchbar. Er überlegte, ob er Gin davon erzählen sollte und stellte sich vor, wie dieser darauf reagieren würde. „Du hingegen bist gegen all das immun. Es gibt nichts in der Welt der Menschen, was dich töten könnte. Deshalb würdest du wirklich bis in alle Ewigkeit leben.“ Der Boss betrachtete ihn mit einem Funken Neid in den Augen. Als wäre ihm sein erreichtes Alter noch nicht genug. Rye hingegen verstand nicht, aus welchem banalen Grund man ewig leben wollen würde. Ab einem gewissen Zeitpunkt würde er das Leben einfach satt haben. Er konnte sein Dasein schon jetzt nicht mehr ertragen. Und vom Boss daran erinnert worden zu sein, dass es ihm nicht vergönnt war, zu sterben, frustrierte ihn nur zusätzlich. Doch plötzlich bemerkte er etwas, als er die Worte ein zweites Mal überdachte: Der Boss hatte im letzten Satz den Konjunktiv verwendet. „Ich würde? Das heißt, dem ist nicht so und ich werde irgendwann sterben?“ Rye konnte die aufkeimende Hoffnung und Freude in seiner Stimme nicht verbergen. Er fühlte sich, als gäbe es endlich einen Lichtblick in dieser trostlosen, nie endenden Hölle seiner Existenz. „Ja, das wirst du, weil du nicht vollkommen bist. Die Vampire sind vor Jahrhunderten ausgestorben, man hat ihre Existenz verdrängt und heute hält man sie für einen Mythos. Aber sie konnten nur aussterben, weil ihnen ihre Unsterblichkeit wortwörtlich ausgesaugt wurde. Daraus entstand das Elixier des ewigen Lebens, welches sich bis heute in der Gewalt meiner Familie befindet. Es ist die letzte fehlende Zutat, die Eclipse benötigt, um ihr Projekt zu vollenden.“, beantwortete der Boss seine Frage, wobei Rye nach dem ersten Satz nur noch mit halbem Ohr zuhörte. Er war einfach so unendlich glücklich darüber, dass seine Qual eines Tages ein Ende haben würde. „Weiß Eclipse, dass Sie das Elixier haben?“, fragte er, um auf den vorletzten Satz einzugehen. „Natürlich. Aber sie wissen nicht, an welchem Ort es sich befindet. Die letzten Jahre haben sie es mit sinnlosen Verhandlungen probiert, doch ich lasse mich nicht beschwatzen. Mit der Zeit wurde es wirklich nervig und sie haben leider noch immer nicht aufgegeben.“ „Versuchen sie es denn nicht mit… anderen Mitteln? Wie Erpressung oder Morddrohungen zum Beispiel?“ Rye war erstaunt über die herabwürdigende Art, wie der Boss über Eclipse sprach. Obwohl dieser der mysteriösen Organisation womöglich weitaus unterlegen zu sein schien, schwang nicht das kleinste Anzeichen von Angst oder gar Selbstzweifel in seinen Worten mit. Nach einem Schnauben erwiderte er: „Was würde ihnen das bringen? Wenn sie mich töten, werden sie nie herausfinden, wo sich das Elixier befindet. Erpressen lasse ich mich nicht. Denn die wichtigste Aufgabe in meinem Leben ist es, dafür zu sorgen, dass das Elixier niemals in die Hände von Eclipse fällt. Es gibt nichts, was von höherer Priorität ist. So war es in allen Generationen meiner Familie. Und wenn ich eines Tages nicht mehr da bin, wird Gin diese Aufgabe fortführen.“ Mit einem Schlag überkam Rye eine Welle des Schocks. „G-Gin?“, wich es ihm mit erstickter Stimme über die Lippen. Er wollte es nicht wahrhaben. „So ist es.“, bestätigte der Boss zufrieden. „Weiß er das?“, fragte Rye, obwohl er sich sicher war, dass dem nicht so sein konnte. „Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich ihn einweihen. Ich bin mir sicher, dass er es verstehen wird. Besonders jetzt, nachdem du aufgetaucht bist.“ Der letzte Satz klang voller Abscheu, woraufhin sich Ryes Miene verfinsterte. Ihm wurde klar, in was für einer Gefahr sich Gin befinden würde, sobald er den Posten des Bosses übernahm. Dann würde er ebenso in das Visier von Eclipse geraten und wahrscheinlich auch Unsterblichkeit erlangen. „Das lasse ich nicht zu.“, schwor sich Rye gedanklich, während er die Zähne zusammenbiss und sich seine Augen noch mehr verengten. Kurz darauf setzte der Boss ein selbstgefälliges Grinsen auf und meinte belustigt: „Was soll denn dieser Gesichtsausdruck? Hast du etwa Angst, dass er dann keine Zeit mehr für dich findet oder gar so über dich denken wird wie ich?“ „Nein.“, stieß Rye mit harter, tiefer Stimme hervor und ballte seine Hände zu Fäusten. Sein Körper bebte vor Zorn und er spürte ein tiefes Grollen in seiner eigenen Brust. Plötzlich nahm die Stimme des Bosses einen warnenden Ton an: „Vorsicht. Du willst doch nicht, dass ich meine Meinung über deinen Aufenthalt in meiner Organisation wieder ändere, oder?“ Ryes Gesichtszüge entspannten sich umgehend, bevor er seine Fäuste wieder lockerte. „Beruhige dich...“, befahl er sich innerlich. Gerade befand er sich auf sehr dünnem Eis und durfte dieses nicht zum Einbrechen bringen. Der Boss lächelte kurz siegessicher, doch dann schüttelte er einen Moment später verständnislos mit dem Kopf und sagte: „Du scheinst wirklich einen Narren an ihm gefressen zu haben.“ Rye wusste, wer gemeint war. Doch er schwieg. Dazu wollte er nichts sagen. Stattdessen versuchte er abzulenken: „Letztlich haben Sie mir meine Frage doch beantwortet. Sogar noch viel ausführlicher, als ich gedacht habe. Vielen Dank.“ „Ich habe dir kaum mehr verraten, als ohnehin schon in Eclipse bekannt ist. Den einzigen Nachteil, den ich daraus gezogen habe, ist meine vergeudete Zeit an dich.“ „Wie bedauerlich.“, erwiderte Rye ironisch, bevor der Boss ihn eindringlich musterte. „Sei dir sicher, dass ich mir dafür noch etwas für dich ausdenke.“ Diese angekündigte Strafe ließ Rye erschaudern. „Natürlich.“ „Und der Inhalt dieses Gespräches wird diesen Raum nicht verlassen, hast du verstanden?“, stellte der Boss in strenger Tonlage klar. Nachdem Rye darauf mit einem tonlosen „Ja, Sir.“ geantwortet hatte, verdeutlichte der Ältere: „Kein Wort zu niemandem. Auch nicht zu Gin.“ Rye hob ergeben die Hände in die Luft und versprach: „Ich schweige wie ein Grab.“ Er ließ sich nicht anmerken, dass es ihn schon etwas ärgerte Gin nicht von dem Gespräch erzählen zu dürfen. Vielleicht würde er das früher oder später doch heimlich tun. „Das will ich dir auch raten. Und jetzt verschwinde endlich.“, scheuchte der Boss ihn nun schon zum zweiten Mal fort. „Wie Sie wünschen.“ Diesmal würde sich Rye dem nicht widersetzen und sich nicht noch einmal umdrehen. Mit dem Gedanken „Nichts wie weg hier“ verließ er schnurstracks den Raum. Erleichtert, dass das Gespräch endlich vorbei war, schloss er die Tür hinter sich. Zwar hatte er viele neue, interessante Informationen erhalten, doch er bezweifelte, dass er davon in Zukunft noch mehr bekommen würde. Zudem wollte er ein drittes Gespräch mit allen verfügbaren Mitteln vermeiden oder zumindest so weit wie möglich hinauszögern. Trotz der heutigen Güte – die zudem mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Ausnahme bleiben würde – war der Boss für Rye eine unerträgliche, arrogante, furchterregende Person. Dem Schwarzhaarigen fiel es auf Dauer immer schwerer, seine Wut im Zaun zu halten. Während er den Gang entlang lief, bemerkte er plötzlich einen älteren Mann, welcher ihm entgegen kam. Rye senkte den Blick und versuchte den Fremden nicht anzusehen, als sie aneinander vorbei liefen. Dabei konnte er jedoch im Augenwinkel erkennen, dass der Fremde ihn sehr wohl unauffällig beäugte und sich dessen faltiges Gesicht vor Bestürzung verzog. Beinahe hätte Rye ihn angesprochen, aber er schwieg und ging einfach weiter. Als er glaubte den Fremden hinter sich gelassen zu haben, spürte er noch immer einen stechenden Blick in seinem Nacken, der eine Weile anhielt. Da beschloss Rye sich doch umzudrehen. Aber der alte Mann hatte seinen Blick längst abgewandt und war bereits dabei, das Büro des Bosses zu betreten. Misstrauisch verengte Rye die Augen und wartete, bis sich die Tür wieder schloss. „Ob das der Besuch war, den er erwartet hat?“, kam es ihm in den Sinn. Auf einmal interessierte es ihn brennend, was die beiden Männer wohl Wichtiges zu bereden hatten. Vor allem wollte er wissen, wer dieser Fremde war. „Sollte ich...“ Rye war drauf und dran das Gespräch zu belauschen. Nur so konnte er es herausfinden. Aber es ging nicht. Denn er realisierte plötzlich, dass ihm die Zeit allmählich knapp wurde. Er durfte auf keinen Fall zu spät zu seinem Date mit Gin kommen. „Außerdem geht es mich ja eigentlich nichts an…“, dachte er und versuchte seine letzten Bedenken, das Gespräch könnte etwas mit ihm zu tun haben, abzuschütteln. Kapitel 26: Das Gefühl von Liebe -------------------------------- [ Bitte triff mich um 23:30 Uhr vor dem Tokyo Tower. - Rye ]   Gin verengte die Augen und starrte die SMS von Rye skeptisch an, welche er bereits mittags von ihm erhalten hatte. Bis vor kurzem wusste er nicht, was er von diesem Treffen halten sollte, weshalb er auch nichts zurückgeschrieben hatte. Sogar jetzt war es für Gin nicht mal halbwegs nachvollziehbar, was Rye ausgerechnet hier von ihm wollen könnte. „Bestimmt plant er wieder irgendwas, wenn er mich extra an solch einen Ort bestellt…“, vermutete der Silberhaarige, wobei es ihm kalt den Rücken herunterlief. Rye hätte in seiner SMS wenigstens einen Hinweis zum Anlass des Treffens hinterlassen können, sodass sich Gin mental hätte darauf vorbereiten können. Doch nun verweilte er unwissend – aber dafür mit schlimmen Vorahnungen – auf einer der Bänke östlich vom zweitgrößten Bauwerk Tokios. Noch nie hatte er den Tokyo Tower aus unmittelbarer Nähe betrachtet. Vor allem nicht am Abend, wenn dieser in rot-gelblichen Farben leuchtete. Sonst hatte ihn der Turm auch nicht sonderlich interessiert. Für die meisten Menschen, die in Tokio aufgewachsen waren, gehörte er einfach zum Alltag mit dazu. Es war eben eher eine Touristenattraktion, die dafür aber allseits bewundert wurde. Dennoch bezweifelte Gin, dass der Tower für Rye eine Rolle spielte. Denn vor gut einer halben Stunde sollten auch die letzten Besucher mit dem Personal verschwunden sein. Für gewöhnlich schloss der Tower ungefähr um 23:00 Uhr. Inzwischen war es schon 32 Minuten nach und in der Umgebung ging es dementsprechend ruhiger zu. Zwar war der Verkehr von weitem noch zu hören, doch sonst liefen kaum noch Menschen an ihm vorbei. Gin lehnte sich zurück und ließ den Blick wandern. Da von Rye nach wie vor nichts zu sehen war, beschloss er, sich eine Zigarette anzuzünden. Jedoch würde er es auch bei dieser einen belassen und wieder gehen, wenn sein Partner bis dahin nicht aufgetaucht war. Ewig warten wollte er hier nicht. Kaum hatte er allerdings einen Zug von seiner Zigarette genommen, ließ er diese vor Schreck wieder fallen, als plötzlich eine sanfte, vertraute Stimme hinter ihm sprach: „Entschuldige die kleine Verspätung.“ Kurz darauf spürte Gin einen leichten Luftzug über sich. Verdutzt fasste er sich an den Kopf und musste feststellen, dass sein Hut verschwunden war. „Rye!“, beschwerte er sich, während er sich umdrehte, um die gestohlene Kopfbedeckung zurückzuholen. Doch er griff ins Leere. Hinter ihm befand sich niemand. „Ich hatte schon die Befürchtung, du kommst nicht.“, hörte er Ryes Stimme nun von der anderen Seite. Gin schenkte dem Gesagten keinerlei Beachtung. Er drehte sich erneut um und verlangte stattdessen: „Gib mir sofort meinen Hut zurück!“ Diesen bekam er jedoch wieder nicht zu fassen, da Rye blitzschnell zurückgewichen war, bevor er ihn erwischen konnte. „Den brauchst du heute nicht.“, meinte der Schwarzhaarige beschwichtigend, während er ein verspieltes Lächeln aufsetzte und den Hut auf seinem Zeigefinger drehte. „Außerdem gefällst du mir ohne viel besser.“ Gin verzog gereizt das Gesicht. Er hatte jetzt schon genug von diesem Treffen. „Mir doch egal!“, fauchte er. Warum sollte es ihn kümmern, was Rye von seinem Aussehen hielt? Zumal er nicht verstand, was dieser damit meinte, er würde den Hut heute nicht brauchen. Das war ohne Zweifel ein Anzeichen dafür, dass ihm nichts Gutes bevorstand. „Ich hätte zu Hause bleiben sollen.“, bereute er seine Entscheidung gedanklich. Aber was hatte er eigentlich anderes von Rye erwartet? Wenigstens schien dieser in bester Laune zu sein, was schon mal darauf hinwies, dass das Gespräch mit dem Boss nicht all zu schlimm ausgefallen sein konnte. Da waren die Mühe und das Betteln immerhin nicht umsonst gewesen. Dieses blamable Auftreten vor Vater würde sich Gin niemals selbst verzeihen. Das alles nur, damit Rye in der Organisation bleiben durfte. Und dieser klaute ihm obendrein zum Dank jetzt auch noch den Hut. „Was wird das hier überhaupt? Du kannst mich auch einfach anrufen, wenn du was von mir willst.“ Gin beobachtete, wie das Lächeln nach und nach aus Ryes Gesicht verschwand und sich leichtes Unbehagen darin ausbreitete. „Diesmal ging das nicht.“, brachte er in verlegener Tonlage heraus, die Gin misstrauisch werden ließ. Er wartete, bis Rye ihm von selbst endlich den Grund für dieses bizarre Treffen verraten würde. Aber das geschah nicht. Sein Partner schwieg und versuchte offenbar seinem Blick auszuweichen. „Weshalb nicht?“, bohrte Gin deshalb zielgerichtet nach. Daraufhin schienen sich Ryes Schultern anzuspannen. Dessen Gesichtsausdruck konnte Gin nur schwer deuten. Eine Mischung aus Angst und Scham. Doch Angst wovor? Als er glaubte, keine Antwort mehr zu erhalten, verformten sich Ryes Lippen plötzlich zu einem Schmunzeln. Jetzt sah der Schwarzhaarige ihn auch wieder an, sodass Gin die Entschlossenheit in dessen Augen erkennen konnte. „Nun ja… das ist… ein Date.“, verriet Rye zögernd und bei dem letzten Wort klang seine Stimme nur noch ganz leise. Obwohl Gin das Wort trotzdem verstand, begriff er den Sinn dahinter nicht. „Ein Date? Mit wem?“ Sein Blick huschte unauffällig durch die Umgebung, wobei er nach jemandem suchte, den Rye gemeint haben könnte. Doch er entdeckte niemanden. Vielleicht war die Person noch nicht hier und würde erst später kommen. „Und was soll ich dann hier?“, äußerte Gin seinen Gedanken laut, während er Rye verwirrt ansah. Dieser lachte kaum merklich und erwiderte: „Ohne dich geht das doch nicht…“ „Wieso?“, hakte Gin nach, auch wenn ihn nebenher eine böse Vorahnung beschlich. In der Nähe war keine weitere Person die in Frage käme. Zudem hatte Rye nicht sonderlich viele Bekanntschaften, falls es da überhaupt welche gab, die man an einer Hand abzählen konnte. Als Gin das realisierte, wuchs das unangenehme Gefühl in ihm. In Anbetracht von Ryes verdächtigem Verhalten und dessen Aussage, dass es ohne ihn nicht ging, konnte er nur eine einzige Möglichkeit in Betracht ziehen. Aber diese Möglichkeit verdrängte Gin bewusst. Sie war viel zu absurd und vollkommen ausgeschlossen. Niemals hätte Rye ihn hierher bestellt, um ihm mitzuteilen, dass… „Na weil… du mein Date bist.“ Gin erstarrte. Es dauerte eine Weile, bis er begriff und den Schrecken und das Entsetzen in sein Gesicht ließ. Das hatte Rye nicht wirklich gerade gesagt. Doch dessen Mund war noch immer leicht geöffnet. Der Rest seiner Miene voller Erwartung auf eine Antwort. Aber auf diese konnte er lange warten. Gin wusste nicht, was er erwidern sollte. Oder wie er generell reagieren sollte. Es war, als hätte er seine Stimme mitsamt seiner Reaktionsfähigkeit verloren. „Gin, was hast du?“ Auch wenn Rye versuchte den Schmerz nicht in sein Gesicht zu lassen, so war dieser trotzdem aus seiner Tonlage herauszuhören. Offensichtlich deutete er die fehlende Reaktion als Ablehnung. „Das fragst du noch…“, murmelte Gin, bevor seine Stimme versagte. Als er bemerkte, dass Rye ihm näherkommen wollte, setzte er schnell ein paar Schritte nach hinten. Jedoch spürte er gleich darauf die Bank an seinen Kniekehlen. „Ja, das muss ich wohl, wenn du mich anstarrst, als hätte ich vor, dich mit Haut und Haaren zu fressen.“, meinte Rye, während er unmittelbar vor Gin trat. In seiner ernsten Stimme schwang nicht mal mehr die kleinste Spur von seinem zuvor empfundenen Schmerz mit. Der Silberhaarige wandte den Blick ab, um seinem Partner nicht in die Augen schauen zu müssen. Zwar war dessen Aussage ein Scherz gewesen, doch die Vorstellung dahinter schlich sich dennoch unweigerlich in seinen Kopf und ließ ihn erschaudern. „Vielleicht hängt das eine mit dem anderen zusammen.“ Gin fiel es schwer möglichst tonlos zu antworten. Er sprach zu schnell und vor allem viel zu leise. Wie er es hasste, wenn Rye ihm in solchen Momenten zu nah war. Um wieder etwas Abstand zu gewinnen, versuchte Gin den Schwarzhaarigen von sich wegzuschieben und sich zumindest so weit zu entfernen, dass sich die Bank nicht mehr hinter ihm befand. Doch genau auf dieser fand er sich urplötzlich wieder, nachdem er zwei feste Griffe an seinen Schultern verspürt hatte. Kaum eine Sekunde später stützten sich links und rechts neben ihm am Bankrücken zwei Hände ab und Rye beugte sich zu ihm herunter. Gins Blick ging zwischen dessen beiden Armen hin und her, bevor er ihn wütend ansah. „Ein wirklich faszinierender Gedanke… aber nein, so soll dieser Abend nicht enden.“, raunte Rye amüsiert, was Gin nicht wirklich beruhigte. Womöglich gab es noch reichlich schlimmere Enden für diesen Abend. „Und wie dann?“, fragte er, doch Rye schien es ihm nicht verraten zu wollen und lächelte lediglich geheimnisvoll. „Das wirst du dann schon sehen.“, sagte er anschließend. Gins Augen wurden schmal. Nein, das wollte er ganz bestimmt nicht sehen. Warum war Rye überhaupt auf die Idee gekommen, er würde mit ihm ein Date haben wollen? So etwas Albernes taten für gewöhnlich nur Liebende miteinander. „Ach so? Ich kann mich nicht erinnern, mich auf ein Date mit dir eingelassen zu haben. Du hast mich nicht mal gefragt.“, entgegnete er bissig und zog das Wort ‚Date‘ mit Absicht abgeneigt in die Länge. Nicht, dass es etwas ändern würde, wenn Rye vorher gefragt hätte, aber so hätte Gin wenigstens vorher ablehnen können. Jetzt war es so gut wie unmöglich aus der Nummer wieder herauszukommen. Immerhin hielt Rye ihn im wahrsten Sinne des Wortes gefangen. Die Augen des Schwarzhaarigen weiteten sich verwundert und er schwieg für eine kleine Weile, in welcher er nachzudenken schien. „Okay.“, begann er dann monoton. „Willst du mit mir auf ein Date gehen?“ „Nein!“, wich es Gin umgehend über die Lippen, ohne dass er über die Antwort hatte nachdenken müssen. Doch Rye schien das nichts auszumachen. Seine Miene blieb unverändert, als hätte er nichts anderes erwartet. „Wie schade für dich, dass ich kein Nein mehr akzeptiere.“, kam es hochmütig von ihm und Gin erkannte an dem Ausdruck seiner Augen, dass er sich nicht mehr von dem Entschluss abbringen lassen würde, den er anscheinend gerade gefasst hatte. „Dann willst du mich jetzt etwa zu meinem Glück zwingen?“, fragte Gin ironisch, woraufhin Rye ein selbstgefälliges Grinsen aufsetzte. „Vielleicht.“, tat er weiterhin geheimnisvoll, doch das felsenfeste Ja hinter dieser Antwort war nicht schwer zu überhören. Gin stieß ein Seufzen aus. Zu viele Fragen und Unklarheiten schossen ihm durch den Kopf. Aber er ließ alle davon unausgesprochen. Aus welchem Grund wollte Rye ein Date mit ihm haben? Warum wollte er das mit ihm tun, was sonst nur Liebende miteinander taten? Die Vorstellung, dass Rye so für ihn empfand, brachte sein Herz zum rasen. Er vergaß fast zu atmen. Das schien auch sein Gegenüber zu bemerken, welcher begann den kleinen Moment vorsichtig für sich auszunutzen. Langsam und unauffällig ließ Rye seine linke Hand zu Gins Wange wandern, um diese zu streicheln. Die sanft-kalte Berührung ließ den Silberhaarigen jedoch wieder aufmerksam werden. Sein Blick schoss umgehend herum, als Rye ihm verführerisch ins linke Ohr flüsterte: „Komm schon. Niemand wird es erfahren.“ Gins Hände krallten sich um eine der Bankleisten unter ihm. Dieser Kerl wusste genau, wie man jemanden gezielt aus der Fassung bringen konnte. Und da ihm das bisher fast immer erfolgreich gelungen war, wollte sich Gin diesmal nicht so leicht breitschlagen lassen. Mit heimlichen Hintergedanken tat er zuerst so, als würde er sich auf das Angebot einlassen und legte seine Hand über die von Rye. Mit der anderen fuhr er über dessen Brustbein, während er vortäuschte, ihm ebenso etwas ins Ohr flüstern zu wollen. Es dauerte nicht lang, bis Rye auf den Trick hereinfiel. Mit einem Ruck stieß Gin den Schwarzhaarigen von sich weg und riss dabei dessen Hand von seiner Wange weg, sodass er endlich von dieser elendigen Bank aufstehen konnte. „Das hat damit nichts zu tun. Ich will einfach nicht, kapier es. Wir beide werden heute definitiv kein Date haben.“, meinte er mit einem scharfen Unterton in der Stimme und entfernte sich nebenher mit zügigen Schritten von Rye. Allerdings schnitt dieser ihm bereits im nächsten Moment wieder den Weg ab. „Wetten doch?“, entgegnete er provozierend. „Selbst wenn, der Tower hat sowieso längst geschlossen.“ Gin verdrehte die Augen, während er achtlos an Rye vorbeigehen wollte. „Nicht für uns.“ Auf einmal schlangen sich zwei starke Arme um Gins Körper und ehe er sich versah, hatte Rye ihn schwungvoll über seine Schulter geworfen. Als wäre er nichts weiter als ein Sack voll mit Federn, der kaum etwas wog. Ungläubig starrte Gin auf den Boden und auf seine langen Haare, welche diesen fast berührten. Er versuchte sich vergeblich wieder aus der Schlinge zu befreien. „Tickst du noch ganz richtig?! Lass mich sofort wieder runter!!“, schrie er aufgebracht, was Rye jedoch gekonnt ignorierte. Egal, wie sehr Gin zappelte oder an Ryes Klamotten zerrte – es half kein bisschen. Selbst als er dem Vampir mehrmals gegen Brust und Bauch trat, blieb dieser ganz gelassen. „Wenn du nicht so viel Aufmerksamkeit erregen willst, solltest du dich lieber beruhigen. Das hast du dir jetzt selbst zuzuschreiben. Ich hab es auf die sanfte Tour probiert, doch du hast es geschafft, auch den letzten Rest meiner Geduld zu verbrauchen.“, hörte Gin Ryes strenge, kontrollierte Stimme, die ihn dazu brachte, automatisch zu verharren. Das Blut stieg ihm allmählich in den Kopf und als er eins und eins zusammenzählte, wurde ihm angst und bange. Der Tokyo Tower war eigentlich längst geschlossen. Auf normalem Wege würde man also nicht mehr auf den Turm gelangen. Aber Rye hatte nie vorgehabt den normalen Weg zu benutzen. Er wollte… „Es wäre besser für dich, wenn du die Augen schließt.“, sagte Rye trocken und bestätigte somit indirekt Gins Befürchtung. Ihm stockte der Atem. „Nein, nein, nein! Rye, warte, bitte ni-“ Der Rest seines Satzes ging wegen der abrupten, ruckartigen Bewegung unter. Er musste schlucken und sich die Hand vor dem Mund pressen, um zu verhindern, dass ihm das Abendessen wieder hochkam. Je mehr Rye das Tempo erhöhte, desto stärker drückte sich dessen Schulter in seinen Bauch. Der Boden unter seinem Kopf verschwamm nach und nach immer mehr. Schließlich kam eine rötliche Farbe hinzu und das Ganze vermischte sich vor seinen Augen zu einem farblichen Durcheinander. Als er realisierte, dass der Höhenunterschied zum Boden immer größer wurde, rebellierte sein Magen noch stärker. Hinzu kam plötzlich eintretender Schwindel. Gin kniff die Augen zusammen und krallte seine Hände so fest er konnte in Ryes Jacke. Er versuchte vergebens seine Atmung wieder zu normalisieren und sich lediglich auf das schnelle Rauschen des Windes zu konzentrieren. Zwischenzeitlich vernahm er das ein oder andere gedämpfte Knallen des Stahlgerüstes, an welchem Rye gerade hochzuklettern schien. Der Silberhaarige betete in Gedanken immer wieder, dass Rye ihn nicht fallen lassen würde. Zum ersten Mal seit langem war ihm wirklich nach schreien zumute. Aber da es ohnehin nichts bringen würde, versuchte er es mit aller Mühe zurückzuhalten. Letztlich war er dazu gezwungen seine hilflose Lage zu akzeptieren. Und er würde Rye mit Sicherheit für diese Aktion büßen lassen, wenn sie oben angekommen waren und er das überlebt hatte. Da überkam Gin erneut eine Welle der Übelkeit, als Rye plötzlich Schwung holte und in die Höhe zu springen zu schien. Der unmittelbar darauffolgende Fall dauerte nur halb so lang an. Gin holte tief Luft. Er spürte nichts mehr. Befanden sie sich etwa wieder auf festem Boden? Er wagte es nicht seine Augen wieder zu öffnen. „Du kannst jetzt loslassen.“, teilte Rye ihm mit ruhiger Stimme mit. Die Entwarnung ließ Gin erleichtert aufatmen. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Es war vorbei. Zumindest fürs Erste. An den Rückweg dachte er bewusst noch nicht und schob es erst mal nach hinten. Zögernd öffnete Gin die Augen und erblickte daraufhin den roten Stahlboden des Tokyo Towers. Womöglich befanden sie sich auf dem Dach der obersten Aussichtsplattform. Aber so genau wollte Gin das lieber nicht wissen. Seine Hände lösten sich zitternd von Ryes Jacke. Kurz darauf wurde er von ihm vorsichtig heruntergelassen. Der Boden fühlte sich auf eine merkwürdige Weise fremd an. Seine Beine waren plötzlich so weich wie Pudding und Gin sackte geführt von Ryes Händen zusammen. „Geht es?“, erkundigte sich der Schwarzhaarige besorgt. Doch Gin hörte es kaum. Ihm war so furchtbar schwindelig. Sein Kopf dröhnte und mit jedem Pochen spürte er förmlich, wie das Blut nach und nach wieder abstieg. Er blinzelte ein paar Mal benommen, während er die Hände in seinen Haaren vergrub. „Das wird gleich wieder.“, versuchte Rye ihn zu beschwichtigen. Gin wurde noch übler. Vor Wut. „Ich bring dich um.“, schwor er mit schwacher Stimme. „Wirst du nicht.“ Rye schien es nicht ernstzunehmen und behielt seine sanfte Tonlage bei. Zugegebenermaßen war die Drohung nur leer, weil der Schwarzhaarige kein Mensch war. Ansonsten wäre Gin längst dabei ihn mit bloßen Händen zu erwürgen. Aber vorher würde er noch ein paar schmerzhafte Schläge kassieren. Wenigstens trug die Vorstellung etwas zu Gins Befriedigung bei und entlockte ihm ein leichtes Schmunzeln. „Soll ich dir aufhelfen?“, bot Rye ihm an. Und schon war der winzige Moment der Freude wieder dahin. „Fick dich.“, erwiderte Gin abweisend und hoffte, dass Rye ihn endlich in Ruhe lassen würde. Gerade hatte dieser ihn noch gegen seinen Willen auf dem zweitgrößten Turm der Stadt geschleppt und jetzt mimte er einen auf hilfsbereiten Partner. Sollte dieser blöde Blutsauger doch zur Hölle fahren. „Tut mir leid, ich konnte nicht wissen, dass du Höhenangst hast.“, entschuldigte sich Rye, woraufhin Gin entrüstet den Kopf hob und sich ihre Blicke trafen. „Höhenangst?“, wiederholte er abfällig. „Du hast mich gerade auf eine über 200 Meter hohe Aussichtsplattform getragen! Das hat rein gar nichts mit Höhenangst zu tun!“ „Du hast mir keine Wahl gelassen.“, erklärte Rye. Was für eine banale Ausrede. Gin musste sich beherrschen, nicht doch noch auf ihn einzuschlagen. Sein Vorhaben, den Schwarzhaarigen anzuschreien, verwarf er jedoch augenblicklich, als Rye sein Gesicht zu einer traurigen, gekränkten Miene verzog. Gin hasste diesen Gesichtsausdruck zu tiefst, welcher ihn jetzt wieder daran erinnerte, dass er Ryes Gefühle in Wirklichkeit gar nicht mehr verletzten wollte. Nie wieder. Doch warum wurde er sich dessen erst jetzt bewusst? Wo es bereits zu spät war? „Ich kann verstehen, dass du sauer bist, du hast allen Grund dafür… Aber kannst du auch mal versuchen mich zu verstehen? Ich weiß manchmal einfach nicht, wie ich mit dir umgehen soll… Du bist so stur und gefühlskalt. So anders als die Menschen, denen ich vor dir begegnet bin. Da war alles so leicht, doch bei dir… ist es viel komplizierter. Und dennoch will ich…“ Rye verstummte und zog die Augenbrauen zusammen. Der Schmerz in seiner Stimme war fast greifbar. Er sorgte dafür, dass jegliche Wut in Gin verflog und ihn stattdessen ein Gefühl von Schuld beschlich. Das Schlimme daran war, dass Rye recht hatte. Gin glaubte ihm. Womöglich war er sehr stur und komplizierter als so manch anderer Mensch. Aber trotzdem schien Rye noch nicht aufgegeben zu haben. Oder doch? „Mir war dieses Treffen heute sehr wichtig. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, ob es die richtige Entscheidung war. Ich war wohl zu vorschnell und hab dich überfordert. Entschuldige.“, fügte er gequält hinzu. Überfordert traf das Ganze wohl auf den Punkt. Gin beobachtete schweigend, wie sich Rye erhob und ihm den Rücken zukehrte. Kurz glaubte er, sein Partner wollte gehen und ihn allein hier zurücklassen. Doch glücklicherweise lehnte sich Rye nur an die Brüstung und starrte in die Ferne. Ein paar seiner schwarzen Strähnen flogen durch den Wind nach vorn und verdeckten teils sein betrübt wirkendes Gesicht. Gin senkte beschämt den Blick und seufzte. Irgendwie wollte er aufstehen und sich zu Rye gesellen. Dann auch wieder nicht. Sein nach wie vor bestehendes Schuldgefühl hinderte ihn daran. Zudem war ihm immer noch leicht übel und er wusste nicht, ob er nicht sofort nach dem Aufstehen wieder umkippen würde. Also entschied er sich dazu, einfach dort sitzenzubleiben. Und so breitete sich Schweigen aus. Rye schenkte dem Silberhaarigen keine Beachtung mehr und schien in Gedanken versunken zu sein. Er lehnte die ganze Zeit über regungslos wie eine Statue an der Brüstung. Den Blick dabei unentwegt nach vorn gerichtet. Einzig und allein ein paar leichte Windstöße bewegten hin und wieder einige seiner schwarzen Strähnen. Gin kam der Gedanke, dass sein Partner sich absichtlich so geknickt und ignorant verhielt, um ihm ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Falls das wirklich stimmte, hatte Rye damit jedenfalls Erfolg. Aber das durfte er auf keinen Fall mitbekommen. Gin rollte mit den die Augen und drehte sich ein wenig von dem Schwarzhaarigen weg, bevor er in seiner Manteltasche nach Feuerzeug und Zigarettenschachtel wühlte. Zum Glück wurde er fündig. Allerdings verzog er mürrisch sein Gesicht, als er feststellen musste, dass die Schachtel leer war. Das vorhin war seine letzte Zigarette gewesen, die obendrein noch wegen Rye draufgegangen war. Gin stöhnte genervt und zerdrückte die Schachtel in der Hand, bevor er sie mit dem Feuerzeug wieder in die Manteltasche steckte. Er ließ seinen Blick unauffällig zu Rye schweifen und erwischte diesen dabei, wie er ihn beobachtete und dabei amüsiert schmunzelte. Kaum einen Moment später legte er sich die Hand vor dem Mund, um ein Lachen zu unterdrücken und drehte sich anschließend wieder weg. „Jetzt reicht es…“, dachte Gin gereizt, bevor er mühselig versuchte sich wieder aufzurappeln. Er war noch etwas wackelig auf den Beinen. Aber laufen ging zum Glück wieder, auch wenn es etwas erbärmlich aussah. Er stützte sich neben Rye auf der Brüstung ab, woraufhin dieser überrascht den Blick zu ihm lenkte. Gerade, als Gin ihm die Meinung sagen wollte, kam der Schwarzhaarige ihm jedoch zuvor. „Hast du dich wieder beruhigt?“, fragte er neckend. Gin setzte zu einer bissigen Antwort an, doch verwarf diese wieder und starrte schweigend nach unten. Von hier oben sah die Stadt wirklich unendlich riesig aus. Nahezu ein Meer aus bunten Lichtern. Ein Gebäude größer als das andere, unterbrochen durch gelblich leuchtende Wege und Straßen. Und obwohl dort unten Hektik und Chaos zu herrschen schien, hörte man hier oben nichts davon. „Eine wirklich atemberaubende Aussicht, nicht wahr?“, unterbrach Ryes sanfte Stimme die Stille. Im Augenwinkel bemerkte Gin den sehnsüchtigen Ausdruck in dessen Gesicht. Er fragte sich, ob Rye wirklich nur die Aussicht gefiel oder ihn eher der Gedanke reizte, sich von hier oben in die Tiefe zu stürzen. Seine Miene sprach eher für das Letztere. Schließlich hatte er in der Vergangenheit schon des Öfteren versucht zu sterben. Er hatte gesagt, dass er jede Möglichkeit durchgegangen war. Darunter höchstwahrscheinlich auch Sprünge von hohen Gebäuden. Gin schluckte. „Du warst schon öfters hier, oder?“, erkundigte er sich. Rye sah ihn verblüfft an und fragte: „Ja, schon… Woher weißt du das?“ „Hast du dich auch von hier runter gestürzt?“ Rye legte den Kopf schräg. Seine Mundwinkel zuckten, als hätte er vor zu lächeln. Doch er tat es nicht und wandte den Blick wieder ab. „Nein.“, erwiderte er mit ernster Stimme. „Nicht von hier.“ Kurz glitt Entsetzen über Gins Gesicht. Seine Hände schlossen sich automatisch fester um die Brüstung, was Rye nicht entging. „Ich denke, das wäre etwas zu auffällig, wenn sich jemand von solch einem zentralen Ort stürzt und überlebt.“, fügte er ironisch hinzu. Gin schwieg. Er wollte nichts Falsches sagen. Er konnte nur hoffen, dass Rye es ernst gemeint hatte, dass er vorerst nicht vorhatte, zu versuchen sich das Leben zu nehmen. „Ich kann nicht genau sagen warum, aber dieser Ort hat etwas Verlockendes an sich. Man hat alles im Überblick, ohne selbst dran beteiligt zu sein. Als wäre man abgetrennt von der Welt da unten. Ich bin einfach gern hier. Und heute wollte ich eben gern mit dir hier sein.“, redete Rye verträumt weiter und lächelte anschließend zufrieden. Gin biss sich auf die Unterlippe. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Dieser Kerl machte ihn wahnsinnig mit seinen liebevollen Worten. Doch irgendwie bekam er das Gefühl, dass es noch einen anderen Grund gab, weshalb Rye ihn hier hoch gebracht hatte. Der wahre Grund für dieses Treffen. Gin holte tief Luft. Er wollte nicht nachfragen. Er konnte es nicht. Er fühlte sich nicht dazu in der Lage, das Gespräch in diese Richtung fortzuführen. Womöglich wäre es das Beste, auf ein anderes Thema einzulenken. „Verstehe…“, meinte er, um Ryes Aussage nicht komplett unerwidert zu lassen. „Wie ist eigentlich das Gespräch gelaufen?“ Irgendwie hatte er dieses total vergessen, obwohl er Rye das eigentlich gleich am Anfang hatte fragen wollen. Dieser blinzelte ihn kurz verwirrt an, danach schien er zu begreifen. „Ganz okay.“, entgegnete er seufzend. „Der Boss und ich werden einander wohl nie mögen, aber zum Glück lässt er mich bleiben. Vorausgesetzt, ich halte mich an die Regeln, die er aufgestellt hat.“ „Es ist immerhin ein kleiner Fortschritt.“, versuchte Gin ihn aufzuheitern, bevor er nachhakte: „Sonst noch etwas?“ „Nein.“, antwortete Rye kühl, während er starr geradeaus blickte. Gin runzelte misstrauisch die Stirn. Er überlegte, ob er weiter bohren sollte oder nicht. Doch Rye nahm ihm die Entscheidung ab, indem er von selbst fortfuhr: „Danke übrigens, dass du dich für mich eingesetzt hast. Ohne dich wäre das Gespräch wahrscheinlich ganz anders ausgefallen. Aber du solltest aufpassen. Er glaubt, ich manipuliere dich.“ Über die Warnung war Gin etwas überrascht, obwohl er das übervorsichtige Verhalten seines Bosses so langsam gewöhnt sein müsste. Anscheinend gab es niemanden auf dieser Welt, der dessen vollständiges, uneingeschränktes Vertrauen genoss. Oder er hasste Rye einfach so sehr, dass er ihm alles zutrauen würde und sogar vertraute Kontakte zu seinen Feinden zählen würde, wenn sie mit Rye in Verbindung standen. Manchmal konnte Vater wirklich ein empfindlicher Trotz sein. Aber darüber wollte sich Gin keine weiteren Gedanken machen. Rye durfte in der Organisation bleiben. Alles andere war erst mal nicht wichtig und konnte später noch geklärt werden. Momentan wollte er nur auf das dankbare Lächeln des Schwarzhaarigen achten, welches ein warmes Gefühl in Gin auslöste und ihm ebenso ein Lächeln entlockte. „Wer weiß, vielleicht tust du das auf eine gewisse Weise schon.“, scherzte er. Falls Rye ihn wirklich manipulierte, hätte er das mit Sicherheit bereits gemerkt. Denn es hatte andere Gründe gehabt, dass er sich für ihn eingesetzt hatte. „Außerdem scheint er großen Wert darauf zu legen, ein ehrliches Verhältnis zu mir aufzubauen. Er gibt sich solche Mühe… und ich…“ „Ich dachte du willst einfach, dass ich bei dir bleibe?“, fragte Rye plötzlich, woraufhin Gin ihn aufgelöst anstarrte. Obwohl er das so nie direkt gesagt oder gedacht hatte, fühlte er sich ertappt. Abgesehen von den ganzen Schwierigkeiten in die Rye ihn gebracht hatte, wäre sein Leben ohne ihn irgendwie leer. So eintönig und langweilig. Wie vorher. Aber das konnte er nicht zugeben. „A-Also wenn du das so ausdrückst…“, stammelte er, bis seine Stimme letztlich versagte. Er spürte, wie er erneut rot anlief. „Ist es wahr?“ Ryes Augen fixierten ihn eindringlich. Sie brannten förmlich vor Hoffnung. Gin konnte diesem Blick nicht lange standhalten und senkte beschämt den Kopf.   Im nächsten Moment kam eine Windböe auf, welche ein paar von Gins langen, silbernen Strähnen ergriff und zu Rye wehte. Dessen Augen weiteten sich fasziniert, als somit auch der süße, verführerische Geruch des Silberhaarigen zu ihm getragen wurde. Der Duft stieg in seine Nase, entflammte seine Kehle und lähmte seinen Verstand. Rye schluckte und hielt den Atem an. Sein Blick war ununterbrochen an Gins errötetes Gesicht geheftet, welches den Scham und die Unentschlossenheit seines Partners so offen widerspiegelte. Dieser Anblick ließ ihn auch das letzte bisschen seiner Beherrschung verlieren. Er hatte sich heute schon viel zu lange zurückgehalten. Jetzt war es genug. Gin würde ihm ohnehin nicht ehrlich antworten, also musste er ihn wohl oder übel zu der Antwort zwingen, die er hören wollte. Rye ließ sich voll und ganz von seinem Verlangen leiten und packte Gins Handgelenke. Noch bevor der Silberhaarige reagieren konnte, versiegelte Rye ihre Lippen miteinander. Sofort spürte er, wie sich Gin versteifte und versuchte sich den festen Handgriffen zu entreißen. Doch Rye ließ es nicht zu. So schnell wollte er nicht aufgeben. Er hielt ein paar Sekunden inne, versuchte sich zu konzentrieren und öffnete leicht seine Augen. Die vor Schock und Entsetzen geweiteten Augen seines Partners, die er daraufhin erblickte, brachten ihn jedoch zum Zögern. Warum erwiderte Gin seinen Kuss nicht? Letztes Mal hatte er sich doch auch sofort darauf eingelassen. Was war jetzt anders? War er etwa immer noch sauer oder lag es an der Atmosphäre? Nein, das konnte nicht sein. Wahrscheinlich hatte er ihn einfach überrumpelt. „Sollte ich lieber aufhören…?“, kam es ihm in den Sinn. Doch was dann? Sich entschuldigen und irgendeine billige Erklärung aus dem Ärmel schütteln? Das kam nicht in Frage. Wenigstens sorgten seine Zweifel dafür, dass sein Verlangen etwas nachließ. Er konnte sich wieder einigermaßen auf seine nächsten Handlungen konzentrieren. Aus diesem Grund beschloss er, es noch einmal langsam anzugehen. Rye erkundete und liebkoste sanft jeden Zentimeter von Gins Lippen, bevor er mit seiner Zunge leicht über diese strich. Er zog den Silberhaarigen näher zu sich und war erleichtert, dass dieser das widerstandslos zuließ. Als er glaubte, Gin würde sich allmählich entspannen, intensivierte er den Kuss ein wenig. Sein Verlangen wurde wieder stärker, während sein Körper anfing zu beben. Gins Lippen waren so weich und warm. Er spürte das Blut in ihnen prickeln. Wie sie sich leicht öffneten und sich endlich auf den Kuss einließen. Rye ignorierte das unentwegte Brennen in seiner Kehle, ließ vorsichtig Gins Handgelenke los und schlang dafür seine Arme um dessen Brust, um ihn noch enger an sich zu drücken. Dabei entwich Gin ein Keuchen, doch er unterbrach den Kuss nicht und sog stattdessen noch begieriger an Ryes Lippen. Dieser nahm kaum wahr, wie er alles um sich herum vergaß. Für eine Weile schien die Erde aufzuhören sich zu drehen und alles was Rye spürte, spüren wollte, war Gin. Seinen Duft. Seine Körperwärme. Seinen heißen Atem an seinen kalten Lippen. All das und noch viel mehr. Rye musste selbst ein Stöhnen unterdrücken. Was war das für ein unbeschreiblich schönes, berauschendes Gefühl, welches ihn gerade einhüllte? Es schien fast stärker als sein Verlangen zu sein. Aber nur fast. Er musste auf der Stelle aufhören. Er musste seine Gier nach diesem Mann niederzwingen und sich von ihm lösen. Bevor er von Gin noch mehr wollen würde, als lediglich einen intensiven Kuss. Rye stieß Gin ruckartig von sich weg und wich so weit zurück, bis er die Brüstung hinter sich spürte, welche bei seinem Aufprall ein lautes Knallen von sich gab. Kurz darauf ließ er sich benommen auf die Knie sinken. Sein Körper vibrierte. Alles drehte sich. Sein Kopf brannte und die Flammen in seiner Kehle wollten einfach nicht erlöschen. Doch auch wenn es unerträglich weh tat, kümmerte es ihn nicht weiter. Ihm war vorher bewusst gewesen, dass der Kuss wie auch beim ersten Mal, seinen Preis haben würde. Er bereute es jetzt ebenso wenig wie damals. Sein Zustand würde sich wahrscheinlich gleich bessern. Allerdings durfte sich die Situation diesmal nicht so entwickeln, wie bei ihrem ersten Kuss: Kein peinliches Schweigen, kein Unbehagen in der Luft, kein beschämtes Ausweichen der Blicke. Rye würde gewiss nicht wieder so tun, als hätte der Kuss nie stattgefunden. Er ließ seinen Blick unauffällig zu Gin schweifen, welcher ihn wie erwartet nicht ansah und zu Boden starrte. Sein Atem ging sehr hastig und sein nach wie vor errötetes Gesicht war erfüllt von vielerlei Gefühlen wie Scham, Entsetzen, aber auch Lust und Enttäuschung. Er wirkte so beklommen, als würde er sich selbst nicht mehr verstehen. Doch da war er nicht allein. Auch Rye konnte sich sein spontanes Verhalten nicht wirklich erklären. Und das war schon sehr oft in Gins Nähe der Fall gewesen. Nicht nur heute. Er würde sich nie eingestehen wollen, dass er einzig und allein so vorging, weil es einem Teil von ihm nach Gins Blut verlangte. Das war unmöglich der einzige Grund. Es gab noch einen anderen, welcher nichts mit seinem Verlangen zu tun hatte und eher mit dem unbeschreiblichen Gefühl von vorhin zusammenhing. Rye wünschte sich so sehr, dieses Gefühl benennen zu können. Es existierte schon seit seiner ersten Begegnung mit Gin und doch fühlte es sich immer noch so fremd an. Es ließ ihn beinahe verrückt werden. Begleitet von einem verzweifelten Seufzen stand Rye langsam wieder auf. Sein Körper hatte sich allmählich beruhigt und die Flammen waren endlich halbwegs erloschen. Als er ein paar Schritte in Gins Richtung setzte, schoss dessen Blick sofort zu ihm. „Tut mir leid, ich weiß, dass ich nicht sonderlich gut darin bin. Aber mit etwas Übung…“, meinte er entschuldigend, doch ließ den Satz mitten in der Luft hängen. Da sagte Gin plötzlich im schroffen Ton: „Hör auf damit…“ Rye blieb einen Meter vor ihm stehen. Seine Schultern spannten sich an und er ballte die Hände zu Fäusten. Auch wenn die Worte sich auf nichts spezifizierten, taten sie weh. Gin hatte vor, ihn abzuweisen. Wieder einmal. „Mit was?“, fragte Rye dennoch vorsichtig. Vielleicht irrte er sich und Gin meinte etwas anderes. Jedoch standen die Chancen dazu sehr gering. „Du weißt genau, was ich meine. Ich will das nicht.“, erwiderte der Silberhaarige kalt. Das. Er sprach es nicht einmal aus. Als hätten sie etwas Verbotenes getan. Rye hingegen hielt sich nicht zurück und versicherte sich: „Du willst nicht, dass ich dich küsse?“ Er vernahm, wie Gins Herz bei dem letzten Wort kurz aussetzte, nur um danach viel schneller zu schlagen. Er nickte zaghaft. Ryes Augenbrauen zogen sich zusammen. Anhand von Gins körperlichen Reaktionen begann er die Wahrheit in den Worten seines Partners anzuzweifeln. Gin konnte ihm nichts vormachen. „Das glaube ich dir nicht.“, sagte Rye mit fester Stimme. „So ist es aber!“, beharrte Gin jedoch und wollte zurückweichen. Aber bereits nach dem ersten Rückwärtsschritt fing Rye sein Handgelenk ein, um ihn daran zu hindern. „Fass mich nicht an!“, stieß der Silberhaarige daraufhin wütend hervor und wollte sich dem festen Griff wieder entreißen, was ihm auch nach mehreren Versuchen nicht gelang. Rye fühlte sich dabei zunehmend unwohler, doch er ließ es sich nicht anmerken und fragte eindringlich: „Willst du das etwa auch nicht?“ Gin hielt inne und starrte ihn mit großen Augen an. Ryes Miene verfinsterte sich, während er wartete, dass Gin seine Frage bejahen würde. Dass er vor dem, was er wirklich wollte, die Augen verschloss und ihn wieder anlog. Doch er sagte vorerst nichts dazu, weshalb Rye die Gelegenheit nutzte, um etwas hinzuzufügen: „Warum belügst du dich selbst? Denkst du, ich merke nicht, wie du mir entgegen kommst und meine Küsse erwiderst? Du willst es.“ Er ließ Gin erst gar nicht darauf reagieren, sondern packte ihn an den Oberarmen und zog ihn zu sich heran, um erneut einen Kuss zu beginnen. Er wollte es ihm zeigen. Ihm beweisen, dass dieses Verlangen auf Gegenseitigkeit beruhte. Anfangs versuchte sich Gin noch zu wehren und Rye von sich wegzudrücken, doch dieser Widerstand ließ schon nach wenigen Sekunden nach. Seine Arme wurden schlaff und als er wie erhofft begann den Kuss zu erwidern, löste sich Rye sofort von ihm, wobei dem Silberhaarigen ein Stöhnen entwich. Triumphierend beobachtete Rye, wie sich offensichtliche Enttäuschung in Gins Gesicht abzeichnete. Doch kurz darauf kam auch ein seltsamer, melancholischer Ausdruck hinzu. Als hätte er aufgegeben sich gegen die Reaktionen seines Körpers zu wehren. „Okay… du hast gewonnen…“, brachte er schweren Atems hervor, woraufhin Ryes Augenlider ungläubig flatterten. Hatte sich Gin gerade wirklich seine Niederlage eingestanden und sprach ihm nun den Sieg zu? Warum? Das passte überhaupt nicht zu dem kaltblütigen Mörder. Und gerade weil es nicht passte, wollte Rye diese Aussage nicht so einfach hinnehmen. „Hierbei gibt es doch nichts zu gewinnen. Ich möchte nur, dass du ehrlich bist. Zu mir. Aber vor allem auch dir selbst gegenüber.“, wandte er ein. Er hatte das hier nie als eine Art Wettkampf betrachtet und er verstand nicht, wieso es für Gin so etwas zu sein schien. Doch dieser musterte ihn nun mit neu aufkommender Wut, obwohl Ryes Worte eigentlich das Gegenteil erreichen sollten. „Als ob! Es geht dir doch immer nur um dich! Hör auf mit diesem verdammten Aufwand! Es ist doch eh nur mein Blut was du willst! Das ist das Einzige an mir, was dich anzieht!“, warf Gin ihm vor, woraufhin Rye eine Welle des Schocks durchfuhr. Die Worte trafen ihn wie Messer im Bauch. Nur mit dem Unterschied, dass sie ihn wirklich verletzten. Zu tiefst. Warum dachte Gin so über ihn? Wann hatte er je angedeutet, dass es ihm nur um sein Blut ging? Also vertraute Gin ihm doch nicht und er sah in ihm letztlich auch nur ein Monster? Ryes Hände begannen zu zittern. Er holte tief Luft und schrie mit erstickter Stimme: „Nein, du liegst falsch! Das ist es nicht!“ In Gins Gesicht deuteten keinerlei Anzeichen auf Überzeugung hin. „Was dann? Erklär es mir doch!“, verlangte er. Rye konnte noch nicht antworten. Er brauchte eine Weile, um den Schmerz in seinem Inneren abklingen zu lassen. Auch wenn er vermutete, dass er sowieso noch mehr Messer in Form von verletzenden Worten in den Bauch gerammt bekommen würde. Eines schmerzhafter als das andere. Er wusste sich nicht zu helfen. Er hatte Angst, dass jegliche Erklärungen Gin nicht genügen würden. Er wollte ihn nicht noch misstrauischer werden lassen als ohnehin schon. Gerade schienen alle Worte so sinnlos. Aber irgendwelche richtigen Worte musste es doch geben. Es konnten nicht alle falsch sein. Irgendwas musste er doch sagen können, um Gins Zweifel ein für alle Mal zu vertreiben. „Wie soll ich ihm bloß erklären, warum ich all das tue, wenn ich es doch selbst nicht so genau weiß…“, dachte er, während er die Ungeduld in Gins Augen erkannte. „Ich…“, begann er, um ihn nicht länger hinzuhalten. Doch er verstummte wieder. Es klang zu unsicher. Gedanklich ließ er die letzten Wochen im Schnelldurchlauf Revue passieren. Irgendetwas musste da doch sein, um sich eine passende Erklärung zurechtzulegen. Einen Hinweis darauf, wie er sein Handeln endlich verstehen konnte. Ihm schossen zu viele Bilder durch den Kopf. Zu viele Worte, die Personen zu ihm gesagt hatten und zu viele Antworten, die er darauf gegeben hatte. Doch dann nahm plötzlich eine ganz bestimmte Szene vor seinem inneren Auge Gestalt an. Er sah die blonde Frau, die er so sehr verabscheute, wie sie ihn fragte: „Du hast dich doch nicht etwa nach so kurzer Zeit schon verliebt?“ Im folgenden Moment traf es ihn wie ein Blitz. Damals hatte er nicht kapiert, was die Frau damit gemeint hatte. Doch jetzt fing alles an einen Sinn zu ergeben. Dieses fremde Gefühl, welches er nie hatte deuten können, war… Liebe. Und dann wurde es Rye klar. Er musste Gin nichts erklären. Sondern ihm etwas gestehen. Er nahm eine selbstsichere Haltung an und setzte ein zufriedenes Lächeln auf. Es fühlte sich so gut an, den wahren Grund endlich zu wissen. Zu verstehen, warum er Gin so sehr begehrte und für immer an dessen Seite bleiben wollte. „Es gibt keine Erklärung dafür... Nur ein Geständnis, das ich bereits viel zu lange vor mir herschiebe.“, sagte Rye entschlossen. Misstrauen lag in Gins Blick, jedoch ließ sich Rye davon nicht beirren und atmete tief durch, bevor er die drei Worte aussprach: „Ich liebe dich.“ Zuerst zeigte Gin keine Reaktion. Er stand wie versteinert da und musterte ihn mit schockgeweiteten Augen. Sogar den Atem hatte er für einen kurzen Moment angehalten. Dem Anschein nach konnte er die Worte nicht erfassen. „Ich frage mich, ob er sie gerade zum ersten Mal gehört hat…“ Rye konnte sich nicht vorstellen, wie jemand Gin jemals seine Liebe gestanden hatte. Selbst wenn, hatte der Silberhaarige zu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit ausnahmslos jedes Geständnis abgelehnt. Er wirkte ganz wie ein Mensch, der sich nicht lieben lassen würde. Von niemandem auf der Welt. Und genau das war es, was in Rye eine unbeschreiblich große Angst auslöste. Er biss die Zähne zusammen und versuchte zu vermeiden, dass auch nur die kleinsten Anzeichen dieser Angst nach Außen gelangten. „Du… liebst mich…“, brachte Gin auf einmal atemlos hervor. Womöglich wiederholte er die Worte für sich selbst, um sie besser auf sich wirken lassen zu können. Um es ihm vielleicht etwas leichter zu machen, verdeutlichte Rye: „Ja. Ich liebe dich, schon seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.“ Wer hätte gedacht, dass er je an so was wie Liebe auf den ersten Blick festhalten würde? Jedoch beschlich ihn das unsichere Gefühl, dass diese Liebe nur von einer Seite ausgegangen war. Gin stutzte, dann trat ein nachdenklicher Ausdruck in sein Gesicht, welchen Rye nicht deuten konnte. Es vergingen einige Sekunden in Schweigen, bis der Silberhaarige mit leerem Blick den Kopf schüttelte, was Rye noch mehr verwirrte. Lehnte Gin sein Geständnis etwa ab? Er weigerte sich, diese Geste so zu deuten und wartete auf Gins nachfolgende Worte. „Du sagtest letztens, ich sei dein Problem, seit du mich zum ersten Mal gesehen hast. Erinnerst du dich? Also ist deine Liebe zu mir ein Problem für dich?“, wollte er wissen. Rye war etwas bestürzt über diese recht eigenwillige Schlussfolgerung. Auch wenn er zugegeben selbst Schuld daran trug. Er hätte damals nicht so ausrasten dürfen und das ein oder andere lieber für sich behalten sollen. „Nein, das stimmt so nicht.“, sagte er. Als Gin den Mund öffnete, um zu widersprechen, redete er schnell weiter: „Als ich dir das gesagt habe, war mir noch nicht bewusst gewesen, dass ich dich liebe… Ich habe vieles unbedacht ausgesprochen, weil ich so wütend gewesen war. Nicht nur auf dich, sondern auch auf mich, weil ich mich selbst nicht verstanden habe. Ich habe dir vorgeworfen, dass du gefühlskalt seist… Dabei verstehe ich viele Gefühle ebenso wenig. Also ich fühle schon etwas, doch ich kann es meistens nicht einordnen.“ Rye unterbrach sich, um Gin antworten zu lassen. Doch dieser schien nicht zu wissen, was er dazu sagen sollte. Selbst seine Miene blieb ausdruckslos, sodass Rye nichts aus dieser ablesen konnte. „Es ist okay für mich, wenn du nicht genauso empfindest. Aber das ändert nichts an meinen Gefühlen. Bedaure, aber selbst wenn du es mir ausdrücklich befehlen würdest, könnte ich dir niemals fern bleiben. Du müsstest mich ertragen. Und ich weiß nicht, ob ich mich immer zurückhalten könnte. Es tut mir leid.“ Der erste Satz war natürlich gelogen. Es wäre auf keinen Fall okay. Aber er würde so tun, als wäre es das. Jedoch würde das wahrscheinlich nicht immer funktionieren. Jetzt umzuckte Gins Lippen ein leichtes Lächeln, welches in Rye einen Hoffnungsschimmer weckte. „Du formulierst das so, als bliebe mir keine andere Wahl.“, meinte er. Es klang etwas belustigt. Rye senkte beschämt den Blick, dann murmelte er: „Deswegen hab ich mich entschuldigt…“ „Es ist lächerlich sich dafür zu entschuldigen, dass man jemanden liebt. Wenn ich dich nicht ertragen könnte, hätte ich nicht versucht dafür zu sorgen, dass du bleiben darfst.“, erwiderte Gin, woraufhin Rye sofort wieder aufblickte. Zwar heiterten ihn diese Worte ein bisschen auf, doch sie vertrieben sein Schuldgefühl nicht gänzlich. „Es ist etwas anderes, wenn ein Mensch sich dir aufhalst, oder ein blutsaugendes Monster, das nicht in der Lage ist, sich zu kontrollieren. Vielleicht hast du recht, dass es mir immer nur um mich geht. Denn dich dauerhaft so einer Gefahr auszusetzen, nur weil ich dich so sehr begehre, ist womöglich das Egoistischste, was ich je tun werde.“, sagte Rye in einer verzweifelten Tonlage, bevor er die Verlegenheit in Gins Gesicht bemerkte. Obwohl er diese Reaktion nicht ganz nachvollziehen konnte, breitete sich ein wohliger Schauer in seinem Körper aus. „Es ist zwar lästig, dass du stärker bist als ich… und es stört mich, dass ich dir keine reinhauen kann, wenn du mir auf die Nerven gehst… aber deswegen halte ich dich nicht für ein Monster. Du kannst nichts für deinen Zustand.“, gab Gin zu. Während der kleinen Sprechpausen konnte Rye ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen des Silberhaarigen erkennen, bevor dessen Miene bei den letzten zwei Sätzen wieder ernst wurde. Rye überkam eine große Welle der Erleichterung. Einerseits war es schlecht, dass sich Gin der Gefahr nicht bewusst war, die von Rye ausging, aber andererseits war dieser froh, dass Gin in ihm doch kein Monster sah. „Nein, natürlich nicht. Aber ich kann auch nicht sonderlich gut damit umgehen… Ich töte Menschen und richte Chaos an, wohin ich auch gehe... Ich hasse mich. Ich hasse mich so sehr, dass ich nichts lieber will, als endlich zu sterben. Jedenfalls dachte ich so, bis ich dich getroffen hab. Von da an hab ich mich so sehr auf dich konzentriert, dass ich fast alles um mich herum vergessen habe. Ich glaube… nein, ich bin mir sicher, dass ich mit dir an meiner Seite meinen Hass auf mich selbst überwinden kann. Wenn ich dich lieben dürfte, und du mich auch lieben würdest… dann würde ich endlich wieder glücklich sein können. Es ginge mir besser und ich könnte mein Dasein ertragen…“ Rye sprach einfach aus, was ihm gerade durch den Kopf ging. Er wollte nichts mehr vor Gin verbergen. Der Silberhaarige sollte wissen, wie genau er empfand, was diese Liebe in ihm auslöste und warum es ihm so wichtig war, dass seine Gefühle erwidert werden würden. Er sollte wissen, dass er sich nach einer romantischen Beziehung sehnte. Und vor allem sollte er wissen, dass es nichts auf der Welt gab, was er lieber wollte als ihn. Auch nicht den Tod. Jedoch beobachtete Rye mit wachsender Nervosität, wie Gin die Hände in seinen Mantel krallte und die Lippen zusammenpresste. Sein Gesicht hatte wieder genau denselben entsetzten Ausdruck, als sie vorhin über die Selbstmordmethode gesprochen hatten, sich von einem hohen Gebäude zu stürzen. „Er mag es nicht, wenn ich so über meinen Tod spreche…“, wurde Rye klar. Doch Gin schien dazu nichts sagen zu wollen, sondern ging stattdessen auf den anderen Teil der Aussage ein. „Und wie glaubst du, soll diese Liebe funktionieren?“, fragte er. Die Tonlage seiner Stimme verriet jedoch, dass er bezweifelte, dass diese Liebe funktionieren würde. Doch Rye war fest dazu entschlossen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. „Ich weiß es ehrlich gesagt selbst nicht so genau. Aber wir werden es nie herausfinden, wenn wir es nicht probieren.“ Zugegebenermaßen war er selbst etwas gespannt in welche Richtung sich eine solche Beziehung entwickeln würde. Er wusste nicht, ob es gut gehen würde und er hatte Angst, es zu vermasseln. Zwei Männer, die beide nicht sonderlich viel Erfahrung in der Liebe hatten. Noch dazu nicht von derselben Spezies. Das konnte nur in einer Katastrophe enden. Und dennoch war Rye bereit dazu, alles dafür zu tun, um es eben nicht so enden zu lassen. Er würde sich gegen sämtliche Strapazen auflehnen und sich gegen alle Gesetze der Natur wehren. Es spielte keine Rolle, ob Vampire die Fressfeinde der Menschen waren. Gin sollte sein Geliebter werden. Dieser schwieg allerdings nach wie vor. „Möchtest du es probieren?“, fragte Rye, um ihm doch noch eine Antwort zu entlocken. Er verdrängte dabei bewusst, dass das Wort Nein existierte und hoffte inständig auf ein Ja. Doch er bekam weder noch als Antwort. „Also ich… ich weiß es nicht…“, brachte Gin verunsichert über die Lippen. Wenigstens lehnte er nicht sofort ab, ohne vorher darüber nachzudenken. „Du weißt es nicht?“, hakte Rye nach. Gin nickte befangen. „Ich weiß nicht, ob ich dir das geben könnte, was du willst… Ich habe noch nie jemanden… geliebt.“, erklärte er leise. Diesen Satz kannte Rye. Auch Gin sprach das letzte Wort so aus, als sein es ihm fremd. „Ich auch nicht. Du bist meine erste Liebe.“, offenbarte Rye mit fester Stimme, woraufhin Gin seine Augen kurz weitete und rot anlief. „Lass mich auch deine erste Liebe sein.“ Wie von selbst hoben sich Ryes Hände, um mit den Fingern über diese verführerische Röte der Wangen zu streichen, welche daraufhin noch intensiver wurde. „Aber was, wenn ich das nicht kann…“, sagte Gin währenddessen benommen. „Versuch es. Versuch, mich zu lieben.“, versuchte Rye ihn zu ermutigen. Doch die Unsicherheit wollte nicht aus Gins Miene verschwinden, weshalb sich Rye langsam vorbeugte und ihm einen federleichten Kuss auf die Lippen hauchte. Anschließend lächelte er Gin verständnisvoll an und fügte hinzu: „Ich weiß doch auch nicht, wie man einen Menschen richtig liebt. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir beide einen Weg finden werden. Gemeinsam.“ Gin senkte für einen kurzen Moment nachdenklich den Blick, bevor er beschämt murmelte: „Wenn du das sagst… vertraue ich dir.“ Kaum waren die Worte ausgesprochen, begann Rye vor freudiger Erregung zu strahlen. Er konnte sich gerade noch davon abhalten, Gin um den Hals zu fallen. Stattdessen ergriff er aus dem Impuls heraus die Hände des Silberhaarigen, drückte sie fest und ließ sich auf die Knie sinken. Dieser verfolgte die schnelle Bewegung mit schreckgeweiteten Augen. „Möchtest du von nun an mein Geliebter sein?“, fragte Rye aus vollem Herzen. Er wollte sich absolut sicher sein, dass Gin von heute an ihm gehören würde. Diesen Moment würde er sich für immer bis auf jedes letzte Detail einprägen. „J-Ja, meinetwegen!“, zwang sich Gin verdattert über die Lippen. „Und jetzt steh gefälligst wieder auf! Das ist doch kein Heiratsantrag!“ Er versuchte Rye an den Händen wieder hochzuziehen, welcher begann zu lachen und sich wieder aufrichtete. „Das nicht, aber es ist für mich von genau so hoher Bedeutung.“, meinte er neckend, während er seine Arme um Gins Taille legte und ihn zu sich ran zog, um seine Nase in den silbernen Strähnen zu vergraben. Rye atmete den süßen Duft seines Geliebten ein und fuhr mit seinen Lippen ganz leicht über dessen Hals, was ihm ein wohliges Seufzen entlockte. „Ich liebe dich.“, flüsterte Rye Gin ins Ohr und spürte kurz darauf, wie dieser erschauderte. Rye konnte sich nicht glücklich genug schätzen. Lange hatte er versucht Gin auf die verschiedensten Weisen näherzukommen, und nun hatte sich endlich erwiesen, dass diese Mühe nicht umsonst gewesen war. Er konnte Gin ganz für sich allein beanspruchen und ihm so viel von seiner Liebe schenken, wie er wollte. Im Moment schien alles perfekt. Und er würde alles dafür tun, dass das auch so blieb.   …           Zur selben Zeit irgendwo in Tokio, an einer Telefonzelle   Der ältere Mann lockerte seinen Kragen und atmete tief durch, als er in die schlichte Telefonzelle trat und die Tür hinter sich schloss. Ein. Aus. Ein. Aus. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, warf ein 100 Yen Stück durch den Schlitz und griff mit zitternder Hand zum Hörer. Er wählte die Nummer, die sie ihm gegeben hatten. Ein langgezogenes Tuten ertönte. Dann erfolgte ein kürzeres in regelmäßigen Abständen. Draußen tropften derweil die ersten Regentropfen an die Scheiben. Der Verkehr war zu laut. Alles ging so schnell. Viel zu schnell. Ihm blieb keine Zeit. Das Tuten hörte nicht auf. Sein Blick schoss nervös in alle Richtungen. Wurde er beobachtet? Dieses Gefühl konnte er seit Wochen nicht abschütteln. Irgendeiner von ihnen war immer da. Sie waren mächtig. Zu mächtig. Endlich nahm jemand ab. Er wartete, bis sich die Person zuerst meldete. Die Stimme klang relativ jung und autoritär. Sie kam ihm bekannt vor. Nach einem weiteren zittrigen Atemzug begann er zu berichten: „Ich bin‘s. Ich glaube, ich habe den Mann gefunden, den ihr sucht.“ Kapitel 27: Enttäuschte Gelüste ------------------------------- „Wie konnte ich mich bloß dazu überreden lassen…“ Gin ließ seinen Blick unauffällig zu Rye schweifen, welcher einen Arm um ihn gelegt hatte und ihn gerade ausnahmsweise mal nicht ansah. Doch die Freude war noch immer nicht aus seinem blassen, makellosen Gesicht verschwunden. Er schien von innen heraus überglücklich zu sein. Und so glücklich hatte Gin den Schwarzhaarigen tatsächlich noch nie gesehen. Je länger er ihn musterte, desto mehr fiel ihm auf, wie sehr ihn dieser Anblick beruhigte und auch irgendwie selbst zufrieden stellte. „Und das etwa nur, weil wir jetzt…“ Gin konnte es nicht mal in Gedanken aussprechen, weil es für ihn so unfassbar schwer zu glauben war. Das alles konnte unmöglich real gewesen sein. ‚Ich liebe dich‘ hatte Rye gesagt. Drei Mal sogar. Gin hatte diese Worte – und alles andere, was Rye auf dem Tower zu ihm gesagt hatte – noch immer nicht richtig verarbeitet. Dennoch fiel es ihm auf einmal viel leichter Ryes bisheriges Verhalten zu verstehen und seine Handlungsweisen nachzuvollziehen. Wenn Liebe der einzige Beweggrund für seine Taten gewesen war, ergab alles irgendwie einen Sinn. Liebe auf den ersten Blick. Nie hätte Gin daran gedacht, als sich ihre Blicke zum ersten Mal begegnet waren. Nie hätte er es auch nur ansatzweise in Betracht gezogen, als Rye Tag für Tag versucht hatte sich ihm zu nähern. Nicht einmal dann, als dieser ihm mehrere Male das Leben gerettet hatte. Doch nicht nur er war blind gewesen. Auch Rye hatte es selbst nie gemerkt. Und jetzt, wo er es endlich wusste, wirkte er, als sei alles so, wie es schon immer hätte sein sollen. Gin hingegen wusste noch nicht, wie er damit umgehen sollte. Denn Liebe war definitiv ein Gebiet, auf dem er sich überhaupt nicht auskannte. Zwar schien das bei Rye auch der Fall zu sein, doch er ging offensichtlich deutlich entschlossener und selbstbewusster an die Sache heran. Ein Teil von Gin beneidete ihn dafür und wünschte sich Rye ebenso bedingungslos lieben zu können. Doch ein anderer Teil war einfach nicht fähig dazu ‚Ich dich auch‘ auf die Worte ‚Ich liebe dich‘ zu antworten und zweifelte daran, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, das Geständnis anzunehmen und sich sofort auf eine Beziehung einzulassen. Denn niemand auf der Welt wusste, was das für ein Ende nehmen würde. Zudem blieb eine entscheidende Frage für Gin offen: Warum? Warum sollte er liebenswert, geschweige denn begehrenswert für Rye sein? Dafür fand Gin keine Erklärung und er traute sich auch nicht wirklich, nach einer zu suchen. Zumal ihn in diesem Moment etwas ganz anderes beschäftigte, während Rye in seiner Jackentasche nach seinem Wohnungsschlüssel kramte. „Wieso hat er unbedingt drauf bestanden, dass ich die Nacht bei ihm verbringe…?“ Nachdem es unerwartet angefangen hatte zu regnen, hatte Rye mit allen Mitteln versucht ihn dazu zu überreden. Egal wie oft Gin versucht hatte abzulehnen – es war ihm nie gelungen gegen Ryes Hartnäckigkeit zu gewinnen. „Meine Wohnung liegt viel näher ran und ich will nicht, dass du nass wirst und dich erkältest.“, hatte der Schwarzhaarige unter anderem als Grund angegeben. „Wer‘s glaubt…“, dachte Gin und rätselte weiterhin, welches Motiv sein Partner in Wirklichkeit verfolgen könnte. Vollkommen durchnässt waren sie nun trotzdem. Einige Wasserperlen tropften noch immer von Gins Haarsträhnen auf den rauen Teppichboden, wo anschließend dunkle, feuchte Flecken entstanden. Erst jetzt bemerkte Gin, wie langsam er eigentlich ging und dass sich Rye überraschenderweise seinem Schritttempo anpasste. „Ist dir noch schwindelig?“, wollte dieser nun plötzlich wissen und sah besorgt aus dem Augenwinkel zu ihm herüber. Gin schüttelte wortlos den Kopf. Zum Glück hatte Rye sie viel sanfter wieder nach unten befördert, als er zu Anfang befürchtet hatte. Zwar war ihm die Art und Weise, wie Rye ihn getragen hatte, mehr als peinlich gewesen, doch ihm war durch diese erträglichere Variante nicht mal übel geworden. „Wehe, du machst so was nochmal.“, drohte Gin tonlos, woraufhin Rye leise lachte. „Keine Sorge, werde ich nicht.“, meinte er dann. Selbst seine Stimme klang anders als sonst. So viel weicher und unbeschwerter. Einfach wunderschön. Gin schluckte. Es kam ihm vor, als sei die Tür zu Ryes Wohnung mitten aus dem Nichts aufgetaucht. Als er das Rasseln des Schlüsselbunds hörte, mit welchem Rye gerade die Tür aufschloss, hielt er den Atem an. „Warum so nervös?“, fragte Rye währenddessen beiläufig. Gin senkte ertappt den Blick. Nervös. War er wirklich nervös? Gab es denn einen Grund dazu? „Wie kommst du darauf?“, erwiderte er verwirrt. Kurz darauf öffnete sich die Tür und Gin trat mit langsamen, zögerlichen Schritten nach Rye in die Wohnung. „Der Rhythmus deiner Herzschläge sagt oft mehr als tausend Worte.“, verriet Rye mit einem Schmunzeln auf den Lippen. „Ach so…“, antwortete Gin leise. Innerlich verfluchte er sein Herz, welches ihn immer wieder verriet. Auf diese Weise konnte Rye wohl Gedanken lesen. Dieser drehte sich plötzlich zu ihm herum, nachdem er ein paar Schritte in den Flur gegangen war und fragte verwundert: „Willst du den ganzen Abend da stehen bleiben?“ Da realisierte Gin, dass er immer noch an der Tür lehnte. Er fühlte sich wie versteinert. Rye schien recht zu haben. Irgendetwas machte ihn nervös. Doch er kam nicht drauf, was genau das sein könnte. Er versuchte das seltsame Gefühl abzuschütteln und brachte seine Beine dazu, sich wieder vom Fleck zu bewegen. „Du solltest die nassen Klamotten lieber ausziehen.“, riet Rye ihm. Sofort verharrte Gin erneut, während ihm bei diesen Worten ein Schauer den Rücken herunterlief. Seine Hände wollten sich nicht bewegen, um seinen klatschnassen Mantel aufzuknöpfen. Doch nach wenigen Sekunden erblickte er auf einmal zwei bleiche Hände, die diese Aufgabe stattdessen übernahmen. Erschrocken verfolgte Gin mit geweiteten Augen, wie sich Rye mit schnellen, geschickten Bewegungen an den Knöpfen seines Mantels zu schaffen machte. „Sicher, dass dir nicht mehr schwindelig ist? Du wirkst so abwesend…“, wollte er sich nebenher versichern. Seine Stimme klang wieder besorgt. Doch Gin ignorierte die Frage und fing stattdessen Ryes kalte Hände ein, welche noch leicht feucht vom Regen waren. Der Schwarzhaarige schaute ihn überrascht an. Allmählich nahm das vermeintliche Motiv, das Rye mit der Einladung in seine Wohnung verfolgen könnte, in Gins Kopf Gestalt an. Wieso war er da nicht gleich drauf gekommen? Er war von nun an Ryes Geliebter. Rye begehrte ihn. Das hatte er nicht nur gesagt, sondern Gin auch in ihren Küssen spüren lassen. Von daher konnte es nur einen logischen Grund geben, weshalb Rye wollte, dass er die Nacht bei ihm verbrachte. „Er will…“ Geschockt über seine eigene Schlussfolgerung spürte Gin, wie urplötzlich Hitze durch seine Adern strömte. Seine Gedanken fingen an wild umher zu kreisen. „Ist es dafür nicht noch zu früh? Vielleicht irre ich mich auch… aber wenn man bedenkt, wie lange er mich bereits liebt… vielleicht ist er das Warten leid und will es deshalb jetzt schon tun…“ Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde ihm noch heißer. Noch hatte er keinen blassen Schimmer, ob seine Vermutung stimmte und ließ sich daher von Ryes smaragdgrünen Augen in einen Bann ziehen, als würde er darin die wahren Absichten seines Partners erkennen können. „Gin?“ Ryes besorgte Stimme holte Gin wieder zurück in die Realität. Sofort schoss sein Blick zu dessen Lippen, bevor er beschämt schnell woanders hinsah. „Ich kann das auch allein.“, erklärte er und ließ Ryes Hände wieder los, um sich den Mantel selbst auszuziehen. Dabei wandte er Rye bewusst den Rücken zu. „Das sah mir eben nicht so aus.“, erwiderte der Schwarzhaarige neckend, doch als sich Gin wieder leicht zu ihm umdrehte, war er nicht mehr da. Dafür war eine Tür im Flur nun weit geöffnet, hinter welcher er offensichtlich verschwunden war. Gin konnte sich noch daran erinnern, dass sich dort das Badezimmer befand. Nur das Badezimmer. Nicht etwa das Schlafzimmer, welches womöglich geeigneter wäre. Gin schüttelte den Kopf, um das Gefühl zu vertreiben, welches er sich weigerte zu benennen und hängte seinen Mantel an den Kleiderhaken. Jedoch wurde er nach kurzer Zeit erneut von Befürchtungen geplagt. „Ich weiß nicht mal, ob ich das könnte… Trotz der Tatsache, dass er ein Vampir ist, ist er immer noch ein Mann. Und ich hatte noch nie Sex mit einem Mann!“ Zugegebenermaßen hatte Gin es schon öfters in Betracht gezogen, jedoch nie eine männliche Person getroffen, die sein Interesse geweckt hatte. Er fragte sich, inwiefern es ein Problem werden könnte, dass Rye kein Mensch war – sondern eine Kreatur, die zu dem einzigen Zweck geschaffen wurde Menschen zu töten und sich von ihrem Blut zu ernähren. Allein ein Kuss schien Rye an die Grenzen seiner Kontrolle zu bringen, wie sollten sie dann noch intimere Dinge miteinander tun? Und vor allem: Wer würde die Führung übernehmen? Obwohl Gin keine Antwort auf diese Fragen fand, stellte er sich dennoch unbeabsichtigt vor, wie es wäre, solche Dinge mit Rye zu tun. Er dachte dabei zudem an Ryes eleganten, muskulösen Körper, welchen er gestern hatte bewundern können, während der Schwarzhaarige bewusstlos gewesen war. Gin wurde augenblicklich von einer erneuten Hitzewelle übermannt. Allerdings zuckte er im nächsten Moment vor Schreck zusammen, als er plötzlich Ryes Stimme hinter sich hörte. „Ich hab die Wassertemperatur etwas angepasst, damit du dich duschen kannst, wenn du das möchtest. Fühl dich ruhig wie zu Hause.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen hielt er Gin ein Handtuch für seine feuchten Haare hin. „Danke.“, erwiderte dieser, dann nahm er das Handtuch und legte es sich um die Schultern. „Und was ist mit dir?“, fragte er, als ihm wieder auffiel, dass Rye ebenso noch ganz nass war. „Ich geh sowieso gleich nochmal raus.“, meinte dieser schlicht, was Gin vollkommen verwirrte. Also waren seine Befürchtungen doch umsonst gewesen? „Wieso? Wohin?“, wollte er wissen. „Durst.“, erklärte Rye knapp mit leiser Stimme, um möglichst auf keine weiteren Details eingehen zu müssen. „Ich hab mich vorhin wohl etwas übernommen.“ „Ach so, verstehe.“ Gin erschauderte innerlich vor der unüberhörbaren Enttäuschung in seiner Tonlage. Jetzt wurde ihm erst richtig bewusst, dass ein Teil von ihm gewollt hatte, dass seine Vermutungen sich bestätigten. Umso besser, dass Rye womöglich nicht mehr zu Sex in der Lage war und zuvor seinen Blutdurst stillen musste. „Aber mach es nicht zu auffällig. Du weißt, dass du dich mehr zurückhalten musst.“, erinnerte Gin ihn warnend, woraufhin Rye ein abfälliges Schnauben entwich. „Ja, hab‘s kapiert. Keine neuen Leichen für die Polizei mehr.“, entgegnete er, als wüsste er bereits, was ihm sonst blühte. Er schien irgendwie ein Problem damit zu haben, obwohl es auf diese Weise am sichersten war. Eclipse durfte nicht auf die Mordserie in Tokio aufmerksam werden. Und auch wenn sie das vielleicht schon geworden waren, sollte sich das hoffentlich in spätestens zwei Tagen erledigt haben. Ab da durften Rye keinerlei Fehler mehr unterlaufen. Allerdings war sich Gin sehr sicher, dass es nie Ryes Absicht gewesen war, mit den Mordfällen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Schließlich brachte ihm das nichts außer unzählige Nachteile. „Halt dich bitte auch dran. Der Boss wird nicht nochmal ein Auge zudrücken.“, bat Gin. Etwas Sorgen machte er sich schon, was auch Rye zu bemerken schien, welcher ihn nun verständnisvoll anlächelte. „Ich weiß. Mach dir keine Gedanken.“, sagte er beschwichtigend, während er Gin zu sich heranzog, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Der Silberhaarige wäre beinahe zurückgewichen, wenn er sich nicht noch rechtzeitig daran erinnert hätte, dass sie nun Geliebte waren und solche Dinge nun mal dazu gehörten. Er hoffte, dass er sich möglichst bald daran gewöhnen würde. „Es wird wahrscheinlich etwas länger dauern. Du kannst dich also einfach schon schlafen legen, wenn du müde bist.“, gab Rye Bescheid, als er sich wieder von Gin gelöst hatte. Zurück blieb ein Prickeln an der Stelle, wo Ryes kalte Lippen seine Wange berührt hatten. „Und wo soll ich schlafen?“, fragte er vorsichtshalber nochmal nach, auch wenn er es schon ahnen konnte. „In meinem Bett natürlich.“ Rye sprach so, als wäre das selbstverständlich. Ob er die ganze Nacht wegbleiben würde und es deshalb keine Rolle spielte? Oder würde er sich zu Gin gesellen, sobald er zurück war? Der Silberhaarige konnte Rye diese Fragen nicht mehr stellen, da dieser bereits wie eine heftige Brise an ihm vorbeisauste und die Wohnung verließ. Letztlich war es so, als hätte der Wind die Tür hinter sich zugeschlagen. „Bis später.“, murmelte Gin augenrollend zu sich selbst. Ein Wunder, dass Rye nicht aus dem Fenster gesprungen war, um nach Draußen zu gelangen. Er überlegte kurz, ob er lieber gleich ins Bett oder vorher nochmal duschen gehen sollte. Entschied sich aber für letzteres, bevor er zielgerichtet das Badezimmer betrat.   Unter der Dusche vergaß er die Zeit beinahe völlig. Das heiße Wasser brannte auf seiner Haut und der entstehende Wasserdampf benebelte leicht seine Sinne. Ohne sich seiner Handlungen vollständig bewusst zu sein, griff er nach dem Shampoo und wusch sich die Haare. Dann starrte er eine Weile durch die vom Dampf beschlagene Glasscheibe in den fremden Raum dahinter. Ryes Bad war moderner und luxuriöser als sein eigenes. Vor allem wirkte es mindestens doppelt so groß. Neben der Dusche gab es noch eine Badewanne und zwei Waschbecken. Als er aus der Dusche trat, bemerkte er zudem, dass die schwarzen Marmorfließen warm waren. Es gab also eine Bodenheizung. Direkt in Reichweite hingen mehrere Handtücher griffbereit an einer Stange. Eines davon schnappte er sich und wickelte es sich um die Hüfte, damit er seine Haare föhnen konnte. Dabei fiel sein Blick auf eine neue Zahnbürste, sowie eine Tube Zahnpasta. „Hat Rye die für mich besorgt?“ Gin griff danach, sobald seine Haare trocken waren und starrte sie ein paar Sekunden an, bevor er erkannte, dass es sich um die gleiche handelte, die er auch benutzte. Mit gerunzelter Stirn stelle er sie zurück und suchte in den Schränken erst mal nach einer Haarbürste, um sich die Haare zu kämmen. Er genoss die Leere, die sich in seinem Kopf ausgebreitet hatte. Im Gegensatz zu den letzten Wochen dachte er gerade an nichts anderes als seine nächste Handlung. Sobald der Silberhaarige die Bürste jedoch zurücklegte und nach Zahnbürste und Zahnpasta griff, konnte er nicht umhin, als sich zu fragen, ob das nur ein Zufall war. Kurz entschlossen drehte er sich nach dem Zähneputzen um und nahm das Shampoo in der Dusche genauer in Augenschein. Es handelte sich tatsächlich um die Marke, die er selbst benutzte. „Der hat also wirklich... Andererseits sollte es mich echt nicht mehr wundern.“ Gin seufzte. Kaum kamen seine Gedanken wieder in Gang, drehten sie sich schon wieder nur noch um Rye. Wann hatte er aufgehört, ihn aus seinen Gedanken verdrängen zu wollen? Wann war alles, das nichts mit ihm zu tun hatte, so belanglos geworden? Gin fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und sah sich im Raum um. Vielleicht fand er irgendwann die Antwort auf diese Fragen, vielleicht auch nicht. Aber eins nach dem anderen. Jetzt musste er sich erst mal anziehen. Sein Blick fiel auf seine Kleidung, die er vor dem Duschen einfach über einen Wäschekorb gehangen hatte. Er konnte die jetzt wieder anziehen, doch darin zu schlafen wäre alles andere als bequem. Nackt oder in einem Handtuch kam aber auf keinen Fall in Frage. Also blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Widerstrebend ging Gin zu seiner Kleidung, doch auf dem Weg hielt er inne, da etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte. Hinter den Handtüchern hing ein Bademantel, den er bis eben noch nicht bemerkt hatte. „Soll ich wirklich...?“ Erneut sah er zu seinen Sachen, dann verzog er das Gesicht. „Den hat er vermutlich sowieso noch nie benutzt und besser als die Alternativen ist es jedenfalls.“ Nach dieser Überlegung fiel es dem Silberhaarigen deutlich leichter das Handtuch wieder aufzuhängen und sich den Bademantel überzuwerfen, welcher ihm bis zu den Knien ging. Das weiche Material fühlte sich angenehm an und bevor er das Bad verließ, überprüfte er ein letztes Mal, dass er auch wirklich gut saß und nicht versehentlich so verrutschen konnte, dass Rye mehr von ihm zu sehen bekommen könnte, als er wollte. „Ob er schon zurück ist?“ Um dieser Frage nachzugehen, beschloss Gin zuerst einen Blick in das Wohnzimmer zu werfen. Nichts außer abgeschwächte Dunkelheit und Konturen von Möbeln, die von einem rötlichen Licht beleuchtet wurden, welches von dem in der Wand eingebauten Kamin kam. Bis auf das leise Knistern der Flammen, die wild hin und her tanzten, war nichts weiter zu hören. Hier war Rye schon mal nicht. Seufzend schloss Gin die Tür hinter sich und tappte zurück in den Flur. Irgendwie wäre es ihm unangenehm den Rest der Wohnung auch noch zu überprüfen. Die Wahrscheinlichkeit war ohnehin sehr gering, dass sich Rye in der Küche befand, und das Bad kam auch nicht in Frage. Also ging Gin auf direktem Wege ins Schlafzimmer und schaltete dort das Licht ein. Abgesehen davon, dass Rye auch hier nicht zu sein schien und somit wohl tatsächlich noch nicht zurück war, stach Gin sofort das frisch bezogene, gigantische Bett ins Auge. Gestern war es definitiv noch nicht bezogen gewesen, denn Rye schlief normalerweise auch nicht dort drin. Demzufolge ergab die neue Bettwäsche keinen Sinn. Außer… „Also hat er das etwa wirklich gestern schon geplant, dass ich heute hier schlafe und es deshalb extra für mich bezogen? So ein verschlagender Schuft…“ Auch wenn die Geste scheinbar nett gemeint war, ärgerte es Gin ein wenig, dass Ryes Pläne erfolgreich aufgegangen waren. Jedoch ließ es sich nicht mehr ändern und die zunehmende Müdigkeit hinderte Gin daran, sich noch weiter darüber aufzuregen. Letztlich sah das Bett nun viel gemütlicher aus und es war schon vom gewissem Reiz, den ganzen Platz für sich allein zu haben. Zumindest so lange, bis Rye wieder zurück war. Da senkte Gin beschämt den Blick, als sich der Gedanke in seinen Kopf schlich, wie er zusammen mit dem Schwarzhaarigen in dem großen Bett schlief. Vielleicht würde sich Rye heimlich mitten in der Nacht in dieses schleichen, wenn Gin bereits schlief. Das hatte er immerhin schon mehrere Male getan und Gin bezweifelte, dass es heute anders sein würde. Eigentlich sollte ihn das abschrecken und vor allem davon abhalten in dieses Bett zu steigen und darin einzuschlafen. Aber diesmal empfand Gin nichts dergleichen. Vielmehr spürte er, wie sich ein Kribbeln in seinem Bauch ausbreitete, welches unmittelbar darauf in seinen Unterleib wanderte und dort eine Erregung hervorrief. Gin zog scharf die Luft ein und krallte seine Finger in den Stoff des Bademantels. „Genug jetzt… Ich sollte einfach schlafen gehen...“, beschloss er gedanklich und versuchte das unangenehme Problem bestmöglich zu ignorieren. Darum kümmern konnte er sich sowieso nicht, da Rye jeden Moment zurückkommen könnte. Er wollte auf keinen Fall von diesem dabei erwischt werden. Ohne noch länger zu zögern, schaltete Gin das Licht aus und stieg in das Bett. Dort warf er sich die dicke Decke über den Körper, bevor er sich in das Kissen fallen ließ. Decke und Kissen schienen beide mit Daunen gefüllt zu sein. Zudem kam Gin die Matratze noch weicher als beim letzten Mal vor. Der glatte Stoff der Seiden-Bettwäsche war vorerst etwas kühl an seiner Haut. Doch es dauerte nicht lange, bis der Stoff seine Körpertemperatur annahm und sich daraufhin kuschelig warm anfühlte. Umhüllt von dieser angenehmen, weichen Wärme war es beinahe unmöglich nicht sofort einzuschlafen. Es vergingen nur wenige Minuten, in denen Gin seinen Kopf von sämtlichen Gedanken und wirren Fantasien befreite, bevor er sich endgültig von der Müdigkeit einholen ließ.   Als Gin die Augen aufschlug, sah er zuerst nur verschwommen. Er blinzelte ein paar mal benommen, doch das Bild vor ihm klärte sich kaum. Nichts entsprach mehr dem wohligen Gefühl, welches er vor dem Einschlafen verspürt hatte. Die Wärme war verschwunden und stattdessen kroch eine eisige Kälte an den Stellen seiner Haut entlang, die nicht von Ryes Bademantel verdeckt wurden. Überhaupt lag er nicht mehr in einem gemütlichen Bett, sondern auf etwas kaltem, so hart wie Gestein. Aus der Kälte seines Körpers schloss er, dass er bereits eine Weile hier lag. Wo auch immer das war. Erneut versuchte er einen klareren Blick auf seine Umgebung zu werfen, doch es war genauso erfolglos wie zuvor. Ein Zittern ließ seinen Körper erschaudern und löste stechende Schmerzen im Rücken aus. Diese steife Liegeposition war alles andere als bequem. Doch er konnte nichts daran ändern. Seine Muskeln waren taub. Egal, wie oft er versuchte, sich zu bewegen – sein Körper blieb schlaff und gehorchte ihm nicht. War ihm ein Betäubungsmittel verabreicht worden? Erst nach mehreren Versuchen gelang es ihm, den Kopf etwas zu drehen. Dadurch kamen auch endlich deutlichere Umrisse in sein Blickfeld, anhand derer er versuchen konnte, sich etwas zu orientieren. „Wo bin ich?“ Die Worte waren kaum mehr als ein Flüstern seiner trockenen Lippen. Eine Antwort bekam er nicht. Außer ihm schien sich auch niemand in diesem Raum zu befinden. „Nein, das ist kein Raum. Es ist etwas viel Größeres. Ein Saal…“ Die gewölbte Decke befand sich mehrere dutzend Meter über ihm und wurde von Säulen gestützt. Als er den Kopf weiter drehte, konnte er sie zählen. Zehn Stück insgesamt. Fünf auf jeder Seite. In den Wänden zwischen den Säulen befanden sich bunte Mosaikfenster, welche Gin verdächtig bekannt vorkamen. „Ist das… ein Traum…?“ Ein weiteres fast tonloses Flüstern, doch es ging ihm leichter von den Lippen. Die Betäubung ließ langsam etwas nach. Aber leider noch nicht genug, dass er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Er hoffte wirklich, dass es sich um einen Traum handelte. Alles andere würde keinen Sinn ergeben. Wie sonst wäre er hierhergekommen? Wo genau befand er sich überhaupt? Was war das für ein Ort? War er wirklich allein? Gin blinzelte erneut und drehte nebenher seinen Kopf in alle möglichen Richtungen. Doch er konnte so nichts Neues mehr erkennen. Mit viel Mühe gelang es ihm, seinen Kopf leicht anzuheben. Jetzt erblickte er die Farbe Lila. Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass es die Farbe eines sehr langen Teppichs war. Daneben befanden sich mehrere Reihen von Holzbänken. Das Ende des Saals bildete eine Doppeltür. „Mit Sicherheit verschlossen.“ Je klarer Gins Blick wurde, umso mehr Details erkannte er. Überall gab es goldene Verzierungen, deren Form Gin nicht zuordnen konnte. Außerdem waren die Wände und Säulen mit Mustern und Malereien verziert. Er drehte den Kopf in die andere Richtung und erblickte ein riesiges Kreuz, das von der Decke herab zu hängen schien. Jetzt bestand kein Zweifel mehr. Gin kannte diesen Ort. Er wusste, wo er war. Seiner zentralen Position nach zu urteilen lag er auf einem Altar. Ein Altar in einer Kirche. Es war genau die gleiche Kirche aus einem seiner sich wiederholenden Träume. Oder besser gesagt: aus einem seiner Alpträume. War dies auch ein Alptraum? Oder doch die Realität? War er entführt worden? Was würde als Nächstes passieren? Ergeben ließ Gin den Kopf zurücksinken. In seinem momentanen Zustand konnte er sowieso nichts ausrichten. Er schloss die Augen und tat das Einzige, was er jetzt machen konnte: Warten. Entweder darauf, dass sein Körper das Betäubungsmittel abbaute und er sich wieder bewegen konnte, oder darauf, dass dieser Alptraum sich veränderte und sein wahres Gesicht offenbarte. „Wenigstens ist das Mittelschiff diesmal nicht von Leichen überflutet. Ich habe auch nirgends Blut gesehen.“ Das könnte sich mit jeder verstreichenden Sekunde natürlich ändern. Egal ob Realität oder Alptraum. Sobald sich seine Gedanken geordnet hatten, begann Gin die Ruhe vor dem Sturm bestmöglich zu nutzen. Wenn es sich tatsächlich um einen Traum handelte, musste er einen Sinn haben. Doch welchen? „Verdammt nochmal! Diese Liegeposition ist mehr als nur unerträglich und lenkt mich ab!“ Die Rückenschmerzen wurden stärker und Gin merkte, wie sein Körper erneut begann zu zittern. „Bilde ich mir das nur ein, oder nimmt die Kälte immer mehr zu?“ Er öffnete wieder die Augen und startete einen weiteren verzweifelten Versuch, sich zu bewegen. Doch es war zwecklos. Die Betäubung hatte seinen Körper noch voll im Griff. Seine Kehle fühlte sich so trocken an. Wie lange sollte er noch hier liegen? Warum geschah nichts? Warum kam niemand, um ihn von seinem Leid zu erlösen, oder um das zu beginnen, was auch immer sie mit ihm vorhatten? Gins Atem stockte, als er plötzlich eine eisige Berührung an seinem Oberschenkel spürte. Finger, die sanft seine Haut entlang strichen. Er hob den Kopf, um sich zu vergewissern, wem diese Finger gehörten. Aber er konnte keine Person erkennen. „Wer…“, brachte er laut hervor, bevor seine Stimme erstarb. Das Sprechen tat weh. Bestimmt hatte er sich die Berührung nur eingebildet. Auch wenn sie sich viel kälter als die Luft angefühlt hatte. Schwer atmend versuchte Gin seine aufsteigende Angst zu unterdrücken. Doch es gelang ihm nicht. Wessen Berührung war schon kälter als Stein? „Schhht.“, vernahm er unerwartet eine Stimme. Kaum merklich, wie ein leises Pfeifen des Windes. Die Hand der Person glitt durch seine silbernen Strähnen und verdeckte anschließend seine Augen. Weich und sanft, wie eine dünne Schneeschicht, die sich über seine Augen legte. „Alles wird gut.“, erklang es erneut beschwichtigend, wobei Gin ein Schauer durchlief. Nicht etwa, weil er den Worten nicht glaubte, sondern weil diese Stimme ihm mehr als nur vertraut war. Diese unverwechselbare, sanfte Stimme, die nahezu einem Violinspiel glich, hatte sich zu sehr in ihn eingebrannt und er würde sie ihrem Besitzer immer zuordnen können. „Rye…“, brachte Gin mühevoll über die Lippen. Mit kurzem Erschrecken stellte er fest, dass durch die Kombination seiner trockenen Kehle und den vielen, unbeschreiblichen Gefühlen, die der Vampir in ihm auslöste, dieses eine Wort wie eine gestöhnte Verführung klang. Doch als er wahrnahm, wie sich eine zweite Hand neben ihm abstützte, war es ihm bereits wieder egal. Vereinzelte Haarsträhnen glitten über seine nur stellenweise entblößte Haut und verrieten ihm, dass sich jemand über ihn beugte. Diese kaum bemerkbaren Berührungen kitzelten ihn und erschufen zeitgleich kribbelnde und brennende Pfade auf seinem erstarrten Körper. „Gin.“ Ryes Stimme war jetzt näher als vorher und urplötzlich verschwand die Schneeschicht von Gins Augen. Sofort wurde Gins Blick von zwei vor Begierde glitzernden Smaragden gefangen genommen, die fest auf ihn gerichtet waren. Noch ehe seine Augen mehr von Ryes faszinierend schönem Antlitz aufnehmen konnten, spürte er, wie sein Kinn umfasst wurde und ein Daumen liebkosend über seine Lippen strich. Unbewusst hielt Gin den Atem an, bis Rye den Finger durch seine Lippen ersetze. Begierig öffnete sich Gin ihm und gestatte dem daraus entstehenden Verlangen, ihn zu überwältigen. Nach und nach übernahm es die Kontrolle über jedes seiner Sinne und vernebelte seinen Verstand. Rye hielt sich genauso wenig zurück wie Gin. Wozu auch? Es war immerhin ein Traum. Irgendwo in seinem Hinterkopf überlegte Gin, wie viel Mühe und Selbstbeherrschung ein solcher Kuss dem echten Rye wohl abverlangen würde. Doch auch dieser Gedanke war jetzt nicht wichtig. Denn dieser Rye, der hier in seinem Traum war, würde tun was er wollte. Ein kurzer Gedanke und Ryes Zunge eroberte Gins Mundhöhle gleichermaßen fordernd, beherrschend und doch sanft und brachte ihn zum Stöhnen. Erstaunt registrierte Gin, wie wohl er sich dabei fühlte, sich einfach mitreißen zu lassen und die Kontrolle so komplett abzugeben. Anfänglich versuchte er noch Ryes feucht-kalte Zunge mit seiner eigenen zu umschmeicheln, doch dieser war einfach viel stärker. Als sich Gin der immer mehr fordernden Zunge endlich komplett ergab, zog sich diese jedoch aus seiner Mundhöhle zurück. Enttäuscht sah der Silberhaarige seinen Partner an, welcher ihn seinerseits mit einem hungrigen Blick musterte. Das Verlangen den Schwarzhaarigen mit seinen Armen zu umschlingen und wieder zu sich zu ziehen, war überwältigend, doch seine kribbelnden und pochenden Gliedmaßen gehorchten ihm für eine solche Aktion noch nicht genug. Also versuchte er schwer atmend mit seinen Augen sein Begehren auszudrücken. „Bleib hier! Hör nicht auf! Mach weiter!“, schrie sein ganzer Körper dem Vampir entgegen, obwohl Gin es nicht wagte, diese Worte auszusprechen. Da lächelte der Schwarzhaarige breit, als würde er diese Gedanken verstehen. Er stieg zu Gin auf den Altar und beugte sich wieder zu ihm herunter, um diesmal über seine Halsbeuge zu lecken. Gleichzeitig verschwand eine kalte Hand unter dem Bademantel und fuhr fast schon provozierend langsam über Gins Brust. Der dadurch wie zufällig zur Seite geschobene Stoff ermöglichte es dem erobernden Mund mit der begierigen Zunge einen ungestörten Weg von Gins Halsbeuge zu einem steif hervorstehenden Nippel zu finden. Dort angekommen zögerte Rye nicht, die verlockende Perle mit seiner Zunge zu umschmeicheln und ausreichend zu bewundern. Gins verlangendes Stöhnen belohnte er, indem er mit seinen Händen unter dessen Schultern fuhr und dem noch schwachen Körper half, sich ihm weiter entgegenzustrecken. Während der Schwarzhaarige begann, kraftvoll und fast schon schmerzhaft an seinem Nippel zu saugen, spürte Gin, dass die Kraft langsam wieder in seine Arme zurückzukehren schien. Obwohl es ihm nicht gelang, seine Arme direkt zu heben, brachte er genug Kraft auf, um seine Hände über Ryes Arme hinaufgleiten zu lassen. Sobald er die schwarzen Strähnen seines Partners in der Nähe des Kopfes mit zitternden Fingern ergreifen konnte, krallte er sich mit aller Kraft in sie und drückte Rye noch stärker gegen sich. Diese Art der Kontrollübernahme ließ sich Rye aber nicht lange gefallen. Er ließ von Gin ab und hob den Kopf, wodurch dessen Hände ihren Halt in den Haaren verloren und kraftlos auf dem Gestein landeten. Mit wachsender Anspannung beobachtete der Silberhaarige, wie Rye immer weiter nach hinten wich und sich zwischen seine Beine kniete. Eines davon hob er an, um elektrisierende Küsse an der empfindlichen Haut seines inneren Oberschenkels zu verteilen. Ein Schauer nach dem anderen durchbebte Gin und er wusste schon gar nicht mehr, wie ihm geschah. Er drückte seinen Kopf stärker gegen das Gestein unter sich, sodass es beinahe schmerzhaft war, doch sein Verlangen nach Rye überlagerte alle anderen Empfindungen. Ihm war nie bewusst gewesen, dass er Rye in Wirklichkeit so sehr wollte. Seine Augen schlossen sich halb, sein erhitzter Körper drängte gegen seinen Partner und seine Hände versuchten erfolglos sich in den steinernen Untergrund zu graben. Doch gerade als Gin dabei war sich in diesen Empfindungen zu verlieren, spürte er einen stechenden Schmerz. Mit weit aufgerissenen Augen und wild pochenden Herz starrte er nach unten zu Rye und auf die mehr als deutliche Bisswunde an der Innenseite seines Oberschenkels. Reflexartig spannte sich sein Körper an, um ihm zur Flucht zu verhelfen und er versuchte sein Bein mit einem erschrockenen „Nein!“ aus dem Griff des Vampirs zu ziehen. Doch Rye nutzte diese Bewegung nur zu seinem eigenen Vorteil. Im nächsten Moment befanden sich die eiskalten Hände in Gins Kniekehlen und drückten seine Beine nach vorn. Durch die neue Position wurde Gin direkt vor Augen geführt, was Ryes Berührungen in ihm ausgelöst hatten. Selbst der Biss hatte sein Verlangen weniger gemindert, als vielmehr noch weiter gesteigert. Pulsierend reckte sich seine Erregung dem Vampir entgegen und verlangte nach Aufmerksamkeit. „Warum?“ Während Rye die Beine des Silberhaarigen noch etwas weiter auseinander schob und sich erneut zu ihm herunterbeugte, um einen Kuss zu beginnen, drehten sich Gins Gedanken nur um diese eine Frage: „Warum macht er nicht weiter? Ich will mehr! Mehr als nur Küsse und…“ Der Geschmack seines eigenes Blutes übertrug sich von Ryes Mund in seinen, doch das riss ihn keinesfalls aus dem Dunst seiner Leidenschaft. Er wollte noch mehr von Rye schmecken. Noch mehr von ihm spüren. Er zog Rye am Kragen seines Hemdes fester an sich, um den Kuss zu intensivieren und rieb gleichzeitig seine Erektion gegen den rauen Stoff von Ryes Hose. Er wollte ihn mit jeder Faser seines Körpers spüren. Nichts anderes war mehr von Bedeutung. Irgendwo in seinem Hinterkopf wusste Gin noch, dass dies ein Traum war. Eine perfekte Illusion. Und, dass dadurch etwas fehlte. Doch darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Sich in dem Traum zu verlieren war trotz allem besser als alle Alternativen. Keuchend schnappte er nach Luft, als Rye seine Lippen wieder von ihm löste. Tränen liefen Gin über das Gesicht, doch er war sich ihrer nicht bewusst. Mittlerweile war so viel Energie in seinen Unterleib gewandert, dass er es kaum noch aushielt. Mit verschwommenem Blick sah Gin zu dem Schwarzhaarigen hoch und wartete. „Worauf?“ Langsam beruhigte sich seine Atmung wieder, doch irgendwie wollte er das nicht… Instinktiv presste er seine Erektion stärker gegen Ryes Bein. Nach mehrmaligem Blinzeln konnte er dann auch endlich wieder ein klares Bild erkennen, wodurch er das amüsierte Lächeln auf den Lippen seines Partners sah. Es kam Gin vor, als würde Rye nur noch stumm mit dem Ausdruck seiner Miene kommunizieren. Und an dieser konnte er ablesen, dass der Schwarzhaarige ihn bewusst noch nicht erlösen wollte. Nachdem Rye sein Bein beabsichtigt weggezogen hatte, fing er an, Knopf und Reißverschluss seiner Hose zu öffnen. Mit besorgtem Blick verfolgte Gin die betont langsamen Bewegungen und konnte nicht verhindern, dass sich ein Hauch von Angst in ihm ausbreitete. Als er jedoch sah, wie sich Ryes Männlichkeit in voller Länger aufrichtete, wurde diese Angst von Bewunderung verdrängt. Gin biss die Zähne zusammen und versuchte sich innerlich auf das Bevorstehende vorzubereiten. Er atmete tief durch, während er Rye ununterbrochen in die Augen sah, deren weicher Ausdruck ihn auf eine seltsame Weise beruhigten. Als würden sie ihm wortlos mitteilen, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe. Mit tiefen Atemzügen zwang Gin seinen angespannten Körper dazu, sich zu entspannen und sich dem Kommenden zu ergeben. Jedoch drang Rye entgegen Gins Erwartungen nicht sofort in ihn ein, sondern strich sanft seine Oberschenkel entlang, bevor er vorsichtig seinen Hintern massierte. So konnte sich der Silberhaarige an die lebendige Kälte dieser Finger gewöhnen, bis schließlich zwei kalte Finger ihren Weg zwischen seine Pobacken fanden. Spielerisch leicht wanderten die Finger von da aus weiter über seine Hoden bis zu seinem erregten Glied, welches durch die kühle Berührung zuckte. Gin atmete laut aus und schloss die Augen. Jeglicher Versuch sich den Berührungen entgegenzustrecken wurde erfolgreich unterbunden und allmählich fing er an zu glauben, dass Rye die Absicht verfolgte ihn zu foltern. Dieser umfasste auf einmal seine Hüften, um ihn zu sich heranzuziehen. Kaum einen Augenblick später riss Gin erschrocken die Augen weit auf und schnappte nach Luft, als sich Ryes harte Länge mit einem Stoß in sein enges, heißes Loch versenkte. Der Temperaturunterschied ihrer Körper sorgte dafür, dass sich alles von ihm automatisch verkrampfte und somit den Schmerz, der bis in sein tiefstes Inneres ging, noch verstärkte. Rye ließ sich dadurch aber nicht von seinem Vorhaben abbringen und schneller als der Silberhaarige für möglich hielt, drangen die Stöße immer tiefer in ihn. Tränen traten ihm in die Augen und rollten ungehindert über seine Wangen, doch der Schmerz war schnell vergessen. Immer schneller stieß der Schwarzhaarige in ihn, traf dabei wieder und wieder zielgerichtet seinen empfindlichsten Punkt und ließ ihn nichts weiter mehr als pure Lust spüren. Gins schwerer Atem wurde schneller und entwickelte sich schon bald zu einem leisen, aber wohligem Stöhnen. Plötzlich hörte Rye auf und ließ Gins Hüfte los. Entsetzt versuchte Gin in dem Gesicht seines Partners zu erkennen, warum er ihn weiterhin hinhielt. Sein verschleierter Blick erlaubte ihm jedoch keine klare Sicht. Erst als lange, schwarze Strähnen über seinen Körper strichen, erkannte Gin, dass sich Rye erneut über ihn beugte. Blinzelnd versuchte Gin sich jedes Detail von dem verschwommenen, bildschönen Gesicht über sich einzuprägen. Ryes smaragdgrüne Augen glühten förmlich vor Verlangen. Gin konnte sich selbst in ihnen sehen. Zu gern hätte er seine Hand gehoben, um Ryes Gesicht zu berühren. Doch er konnte nicht. Alle Kraft, die ihm Ryes Berührungen zunächst gegeben hatten, wurden durch dieselben wieder geraubt. Langsam begann Rye wieder in ihn zu stoßen. In einem sanften, zarten Rhythmus, der nichts von dem vorherigen, gewaltsamen Eindringen erahnen ließ. Er stützte seine Unterarme neben Gins Kopf ab und beugte sich so weit zu ihm herunter, dass ihre Wangen einander streiften. Schwärze nahm Gins gesamtes Blickfeld ein, als Ryes Haare über sein Gesicht fielen. „Ich liebe dich.“, hauchte Rye ihm lustvoll ins Ohr, leckte über die Ohrmuschel und biss anschließend leicht in diese hinein. Gin merkte es kaum. Sein Verstand hatte nach diesen drei gehauchten Worten komplett ausgesetzt. Er wollte antworten, brachte aber kein einziges Wort über seine trockenen Lippen. Er drehte seinen Kopf, um doch noch eine Antwort in Ryes Ohr flüstern zu können, als Rye ohne Vorwarnung das Tempo seiner Stöße erhöhte. Mit einem leisen Aufschrei drückte Gin seinen Kopf wieder gegen die steinerne Unterlage, die wärmer als Ryes untoter Körper wirkte. Unbewusst bot er ihm dadurch seinen Hals dar. Die Konsequenz dessen erkannte er erst, als Rye das Gesicht in seine Halsbeuge schmiegte und tief einatmete. Die Lippen, welche langsam Gins Haut erforschten, erinnerten ihn zunächst nur an die vorherigen Küsse, doch sobald er sich entspannte, bohrten sich messerscharfe, spitze Zähne tief in sein zartes Fleisch. Ein schmerzerfüllter Schrei entwich ihm und sein Körper verkrampfte sich, doch Rye blieb davon unbeeindruckt. Statt von ihm abzulassen oder die Stöße zu verringern oder zu beenden, trank er genüsslich von Gins Blut. Anfangs versuchte sich der Silberhaarige zu wehren und Rye von sich wegzudrücken. Der Schmerz hatte kurzzeitig für einen ausreichenden Adrenalinschub gesorgt. Doch diese Versuche ließen schnell nach. Nicht etwa weil er aufgab, oder die Kraft verlor. Sondern weil er sich an das Gefühl an seinem Hals gewöhnte und sein Körper die Energie an anderen Stellen besser verwenden konnte. Er hatte zwar nicht bemerkt, wie sich Rye kurzzeitig aus ihm zurückgezogen hatte, bekam es dafür aber jetzt deutlich zu spüren, als ihn ein neuer, kräftiger Stoß aus einer anderen Richtung, in neue Höhen hob. Für einen kleinen Moment verschwamm seine Sicht und er glaubte Sterne zu sehen. Er biss sich auf die Zunge, um die Welle der Lust, die ihn überrollte, nicht laut herauszuschreien. Schweiß bildete sich auf seiner Haut. Und weder die Kälte seiner Unterlage, noch die des Körpers über und in ihm, konnten die Hitze seines Körpers ausgleichen. Es war kaum zu glauben, dass er vorhin noch gefroren hatte. „Rye…“, seufzte er und krallte sich in dessen Schulterblätter. Instinktiv versuchte er sich den Stößen etwas entgegenzubewegen und seinen Hintern höher zu heben, sodass Rye noch tiefer in ihn eindringen konnte. Eine Hand rutschte bei dem Versuch sich an dem Schwarzhaarigen festzuhalten ab und drückte dessen Kopf stärker gegen seine Halsbeuge. Doch die unabsichtliche Ermutigung, weiter von ihm zu trinken, war dem Silberhaarigen egal. Nur am Rande bekam er mit, dass Ryes Schluckgeräusche zeitlich mit den Stößen synchronisiert waren. Alles, was Rye tat, schien von gieriger Hast angetrieben zu werden, während Gin durch die genau auf seine Prostata gezielten Bewegungen förmlich dahinschmolz. Die ganze Zeit über hatte Gin seine Gefühle für Rye unterdrückt. Hatte es nicht wahrhaben wollen, was Ryes Nähe in ihm auslöste und was er für ihn empfand. Doch damit war nun endgültig Schluss. Er wollte Rye alles von sich geben. Alles, was dieser von ihm begehrte. Egal ob es sein Körper, sein Blut oder seine Seele war. Er wollte sich ihm vollständig hingeben. Nur ihm gehören und nur von ihm besessen werden. Rye war der Einzige, der ihn erobert hatte. Gin spürte, wie sich seine innersten Muskeln erwartungsvoll zusammenzogen. Wie sich Ryes Zähne zusammen mit seinem Glied in ungeahnte Tiefen seines Körpers gruben. Wie sein Innerstes von Ryes Samen erfüllt wurde und sich seine eigenen Hoden zusammenzogen, um…   …   Gin spannte seine Hüfte an und drehte sich von der einen Seite zur anderen. Halb verschlafen drang ein Stöhnen über seine Lippen, ehe der Traum letzten Endes verschwamm und er in die Wirklichkeit zurückkehrte. Nur widerwillig öffnete er die Augen. Ihm war warm. Unerträglich warm. Schwer atmend fuhr er sich mit der Hand über seine schweißnasse Stirn und setzte sich langsam auf. Dabei bemerkte er jedoch mit peinlichem Entsetzen den heißen Knoten in seinem Unterleib. Er war noch immer erregt. Sogar noch mehr als vor dem Schlafengehen. Das konnte unmöglich sein. „Scheiße…“, fluchte er gedanklich und zog die Beine an seinen Oberkörper. Allerdings wurde seine Erektion dadurch nur schmerzhaft eingeklemmt, weshalb er sich schnell auf die Bettkante setzte. Da fiel ihm auch auf, dass er noch immer allein im Bett war. „Ist er etwa noch nicht zurück…?“ Gin warf einen Blick auf die Uhr, deren leuchtende Ziffern ihm 3:06 Uhr anzeigten. Mitten in der Nacht. Zwar hatte Rye gesagt, dass es etwas länger dauern würde, doch so lange? „Wenn er wirklich noch nicht da ist, könnte ich vielleicht…“ Sein Blick wanderte beschämt zu seiner Erregung, die glücklicherweise von dem Stoff des Bademantels verdeckt wurde. Dieser verdammte Traum hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Und das bestimmt wegen diesem Bett – Ryes Bett. Oder vor allem wegen diesem Bademantel – Ryes Bademantel. Den hätte er niemals anziehen dürfen. Doch trotz der offensichtlichen Ursachen des Problems verspürte er zu seiner Verwunderung kein Gefühl von Reue. Sogar eher bittere Enttäuschung, dass es nur ein Traum gewesen war. Irgendwie fühlte er sich glücklich und befriedigt. Aber nicht vollends befriedigt. Allein der Gedanke, dass aus diesem Traum vielleicht einmal Realität werden könnte… Er spürte, wie ihm das Herz bis in die Fingerspitzen schlug und seine Erregung stärker pulsierte. „Ich will es… wirklich mit ihm tun.“, wurde ihm klar und obwohl er sich für diesen Entschluss verfluchen sollte, bewies ihm die darauffolgende Reaktion seines Körpers, dass es früher oder später so weit kommen würde. Er wollte Rye. Und Rye wollte ihn. Sie waren Geliebte. Also warum versuchen, sich noch länger etwas vorzumachen? Es hatte keinen Sinn mehr dagegen anzukämpfen. Besonders jetzt nicht, wo sein Körper nahezu nach Erlösung lechzte. Er musste sich darum kümmern. Sofort. Bevor er noch den Verstand verlieren würde. Gin erhob sich vom Bett und verließ das Schlafzimmer. Auf dem Weg zum Badezimmer verharrte er jedoch mitten im Flur, als er plötzlich das Licht im Wohnzimmer bemerkte. Die Tür zu diesem war nur angelehnt, obwohl sich Gin sicher war, sie vorhin geschlossen zu haben. Dann war Rye also doch schon längst zurück. Gin spürte, wie sein Herz einen Satz machte und ihm augenblicklich das Blut bis in die Ohren schoss. Unsicher huschte sein Blick zwischen Bade- und Wohnzimmer hin und her. Beide Optionen waren mit einem Risiko verbunden. Welches allerdings höher war, konnte Gin nicht einschätzen. „Er hat doch bestimmt sowieso schon mitbekommen, dass ich wach bin…“ Von daher könnte er auch gleich zu ihm gehen. Aber in diesem Zustand… Gin schüttelte den Kopf. Keine gute Idee. Er kehrte dem Wohnzimmer den Rücken zu und bewegte sich fest entschlossen auf das Bad zu. Doch kaum hatte er die Türklinke umfasst, hielt er erneut inne. Sein innerstes Verlangen Rye zu sehen wurde immer dringlicher. Er hielt es nicht mehr aus. Es war, als wäre er an unsichtbaren Fäden befestigt, die einzig und allein von Rye ausgingen und ihn unwiderruflich zu ihm zogen. Wie von selbst trugen seine Beine ihn letztlich doch zum Wohnzimmer. Ohne zu zögern, schob er die Tür beiseite und betrat den ungewöhnlich warmen, fast stickigen Raum. Der Kamin schien immer noch zu brennen, welcher aber nicht mal ein Viertel von Gins Aufmerksamkeit erregte. Alles, was seine Augen fixierten, war Rye, welcher es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte und ein Buch in den Händen hielt. Er ließ seinen Blick erstaunt über Gin gleiten, bevor seine smaragdgrünen Augen zu glänzen begannen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Gin schluckte. Warum fühlte er sich umgehend von Ryes Erscheinung überwältigt? Dabei war die Situation doch vollkommen gewöhnlich. Abgesehen davon, dass die Uhrzeit nicht dazu passte. „Warum ist er nicht…“ Gin unterbrach seinen Gedankengang, als Rye das Buch beiseite legte und ihn ansprach. „Mein Bademantel?“, fragte er in einer amüsierten, aber auch etwas stolzen Tonlage. Gin spürte Verlegenheit in sich aufkommen, doch er versuchte diese zu ignorieren und trat stattdessen näher an das Sofa, um Rye besser sehen zu können. Drei Knöpfe seines dunkelblauen Hemdes waren geöffnet und es hing ihm halb aus der Hose. Die Beine hatte er überschlagen und seine langen Haare waren etwas zerzaust, aber zumindest trocken. „Du hast gesagt, ich soll mich wie zu Hause fühlen.“, meinte Gin schulterzuckend. Ryes Lächeln wurde breiter. „Natürlich. Ich hab auch nichts dagegen. Ich finde, dass er dir sehr gut steht.“ Während er das sagte, sah Gin wie Erregung in seinen Augen aufblitzte, die er jedoch versuchte streng unter Kontrolle zu halten. „Konntest du nicht schlafen?“ Es war deshalb nicht verwunderlich, dass er schnell das Thema wechselte. „Nein, es war etwas zu warm.“, gestand Gin, auch wenn es nicht die ganze Wahrheit war. Den Rest sollte Rye lieber nicht erfahren. Jedoch war die Chance hoch, dass er es jeden Moment bemerken würde. Man konnte nicht lange etwas vor ihm verbergen. „Ach so, verstehe.“, erwiderte Rye leicht belustigt, woran Gin erkannte, dass er es ihm nicht ganz abkaufte. „Und ich dachte, es läge daran, dass du schlecht geträumt hast.“ Ein Schauer überkam Gin. Er fühlte sich durchschaut. Doch wie konnte Rye das wissen? Gedanken lesen konnte er wohl hoffentlich nicht auch noch. „Warum sollte ich schlecht geträumt haben?“ „Du hast ziemlich unruhig geschlafen. Und gesprochen hast du auch.“, erklärte Rye schlicht. Gin spürte, wie er augenblicklich rot anlief. Im Schlaf gesprochen. Niemals. Seit wann tat er so etwas? Und warum ausgerechnet bei diesem Traum? „Ich hab dich nicht beobachtet, falls du das denkst. Aber wie du weißt, kann ich außergewöhnlich gut hören.“, fügte Rye hinzu, da ihn Gins entsetzter Gesichtsausdruck anscheinend Sorgen bereitete. Doch das beruhigte den Silberhaarigen kein bisschen. Rye hatte es gehört. Aus welcher Entfernung spielte keine Rolle. „Was hab ich denn gesagt?“ Eigentlich wollte Gin es gar nicht wissen. Aber lieber so, als sich umsonst für Dinge zu schämen, die er vielleicht doch nicht ausgesprochen hatte. Er versuchte sich den Traum zurück ins Gedächtnis zu rufen und überprüfte, wie viel er gesagt hatte. Da gab es zum Glück nicht sonderlich viel. Allerdings hatte er dafür mehr gedacht. Und Gedanken ließen sich auch schnell mal unbewusst laut aussprechen. „Meinen Namen.“ Rye betrachtete ihn mit einer zwiegespaltenen Miene. Als wäre er darüber sowohl ein bisschen erfreut, als auch bekümmert. Gin atmete innerlich erleichtert auf. Zwar war es trotzdem noch peinlich, aber im Vergleich zu seinen Befürchtungen harmlos. „Mehr nicht?“, hakte er vorsichtshalber nochmal nach, woraufhin Rye den Kopf schüttelte. „Nein, aber dafür mehrmals… und nicht nur heute. Du hast das schon öfters getan.“ Gin ließ den Kopf hängen. Schlimm genug, dass Rye ihn immer beim Schlafen beobachtet hatte. Doch dass ihm währenddessen scheinbar hin und wieder der Namen des Schwarzhaarigen über die Lippen gerutscht war, brachte das Ganze auf die Spitze. „Dir muss das nicht peinlich sein.“, hörte er Rye sagen. Gin schnaubte spöttisch. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich früher auch oft im Schlaf geredet hab. Das ist völlig normal.“, versuchte Rye ihn weiter zu beruhigen. Gin hob den Kopf wieder, erblickte jedoch dann Ryes veränderte, melancholische Miene. Das hatte er jetzt nicht damit erreichen wollen. Er biss sich auf die Unterlippe, bevor er sagte: „Ist jetzt auch egal… es lässt sich sowieso nicht mehr ändern.“ Glücklicherweise setzte Rye wieder ein Lächeln auf. Und dieses würde hoffentlich eine Weile bleiben. Gin wollte nicht, dass das, was er gerade empfand, durch niedergeschlagene Stimmung wieder vertrieben wurde. Das unangenehme Schamgefühl mal außen vor gelassen. Er versuchte es irgendwie auszublenden und ließ eine Hälfte des Bademantels etwas zur Seite rutschen, während er sich die Haare hinter die Schulter strich. So, dass es möglichst beiläufig wirkte. Dann fragte er: „Warum bist du eigentlich hier?“ Innerlich triumphierend sah er, wie Rye die beiläufige Bewegung genauestens mit den Augen verfolgte, bevor er verwundert eine Braue nach oben zog. „Wie meinst du das?“ „Naja… ich dachte nur, du würdest…“ Gin verstummte. Dieses nervige Schamgefühl schob sich schon wieder in den Vordergrund. Die Röte in seinem Gesicht würde wohl niemals abklingen. „…zu dir ins Bett kommen?“, vervollständigte Rye seinen Satz zum Glück. Allerdings in einer unsicheren Tonlage, die Gin gar nicht gefiel. Er konnte nur nicken. „Sonst stört dich das doch immer.“, meinte Rye mit Skepsis in der Stimme. So ein rücksichtsvolles, vorsichtiges Verhalten war Gin von ihm in solchen Momenten überhaupt nicht gewohnt. Er runzelte die Stirn und fragte: „Warum nimmst du darauf jetzt auf einmal Rücksicht?“ „Ich wollte dich eben nicht gleich wieder verärgern… und es damit vielleicht kaputt machen.“, murmelte Rye und versuchte Gins Blick auszuweichen. „Was kaputt machen?“, wollte der Silberhaarige wissen. „Unsere Beziehung…“ Gin fing langsam an zu verstehen. Auch wenn sich das für jemanden wie ihn, der noch nie eine Beziehung geführt hatte, etwas komisch anhörte. Wahrscheinlich würde er noch eine Weile brauchen, bis er darauf so viel wert legen konnte wie Rye. „Du machst nichts kaputt.“, versicherte er ihm, woraufhin Rye ihm wieder direkt in die Augen sah. In seinem Blick lag nun weit weniger von seiner zuvor empfundenen Unsicherheit. „Wirklich?“ „Ja.“ „Und worauf wolltest du jetzt hinaus?“, fragte Rye verwirrt. „Das macht er doch mit Absicht…“ Gin schwieg und warf seinem Partner einen resignierten Blick zu. Sonst erkannte dieser doch auch immer sofort alles. Warum jetzt nicht? Dabei sollte es doch mehr als offensichtlich sein. Geräuschlos tauchte Rye vor Gin auf, welcher erschrocken einen Schritt zurücktrat, bevor der Schwarzhaarige seine Hände nahm. „Gin. Du kannst ruhig aussprechen, was du von mir willst. Wir sind jetzt schließlich zusammen, da brauchst du dich nicht mehr zu zieren. Ich werde immer versuchen, dir jeden deiner Wünsche zu erfüllen. Insofern es möglich ist.“ Rye versuchte vergebens Blickkontakt zu Gin herzustellen, welcher stets beschämt zu Boden starrte. Jedoch dachte er nebenher über Ryes Aussage nach, die zugegebenermaßen ziemlich verlockend geklungen hatte. Er müsste sich nur kurz einen Ruck geben… „Jeden meiner Wünsche?“ Sein Blick wanderte unauffällig zu Ryes Hemdausschnitt, wo die Knöpfe einen Teil seiner Brust freigelegt hatten. Doch leider noch nicht genug. „Ja. Also, was möchtest du von mir?“, fragte Rye mit fordernder, aber weicher Stimme. Gin formulierte die Worte gedanklich schnell um, die ihm auf der Zunge lagen, um seinen eigentlichen Wunsch nicht direkt zu äußern. Denn irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Wunsch zu den unmöglichen Dingen gehörte, die Rye ihm nicht erfüllen konnte. Weil er nicht genügend Selbstkontrolle besaß. „Dass du ins Bett kommst…“, sagte Gin leise. Es machte ihn nervös, dass Rye nicht sofort eine Antwort gab. Er schien zu überlegen, während er ausdruckslos auf ihre ineinander geschlossenen Hände starrte. „In Ordnung.“, willigte er schließlich ein, was in Gin Zufriedenheit und vor allem Erleichterung auslöste. Er erwiderte Ryes mildes Lächeln, bevor er ihm zum Schlafzimmer folgte. Dort angekommen hatte der Schwarzhaarige es sich längst im Bett bequem gemacht und die Augen geschlossen, während Gin gerade erst den Raum betrat. Er blieb im Türrahmen stehen und betrachtete Rye, welcher die Beine überschlagen und die Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte. Seine Haare lagen breitgefächert um ihn herum und hingen teilweise vom Bett herab. Dieser reizvolle Anblick jagte Gin einen heißen Schauer über den Rücken. Nur ganz leise hörte er die Warnsignale in seinem Kopf, sein Vorhaben nicht in die Tat umzusetzen. So unwiderstehlich Rye auch aussah, hieß das nicht, dass keine Gefahr von ihm ausging. Ihn zu verführen wäre nicht nur ausgesprochen dumm, sondern auch lebensmüde. „Kommst du?“ Ryes fragende Stimme ließen die Warnsignale letztlich komplett verstummen. Sie glich nahezu einen Lockruf. Gin nickte und ging zögernd zum Bett. Er kam sich echt komisch vor. Normalerweise fiel es ihm nie schwer mit jemandem zu schlafen. In manchen Fällen ließ es ihn sogar völlig kalt. Doch jetzt konnte er vor Nervosität kaum gleichmäßig atmen geschweige denn sich konzentrieren. Er stieg vorsichtig auf allen Vieren ins Bett, während er wie gebannt auf Rye starrte. Warum er den Atem anhielt und versuchte, so leise wie möglich zu sein, wusste er nicht, da Rye ihn ohnehin klar und deutlich hören müsste. Dennoch öffnete dieser erst überrascht die Augen, als Gin die Hände auf seine Schultern legte und sich über ihn kniete. Die Fragen, die Rye daraufhin ins Gesicht geschrieben standen, beantwortete Gin, indem er seine Lippen auf die des Schwarzhaarigen presste. Sofort spürte er, wie der Körper unter ihm erbebte und sich anschließend anspannte. Jedoch machte Rye keine Anstalten Gin von sich wegzustoßen, sondern schien den Moment auskosten zu wollen, da es sich schließlich um den ersten Kuss handelte, den Gin von selbst begonnen hatte. Er schob seine Zunge in die feucht-kalte Mundhöhle, woraufhin Rye seine Taille umfasste und ihn enger an sich zog. Jedoch verkrampften sich seine Hände im Stoff des Bademantels, als ihre Zungen aufeinandertrafen und einander umschmeichelten. Gin vergrub eine Hand in Ryes Nacken, während die andere in den Hemdausschnitt wanderte und über Ryes harte, muskulöse Brust strich. Alles von Rye fühlte sich noch so viel mehr vollkommener an als in seinem Traum. Er wollte den Körper dieses wunderbaren Mannes am liebsten bis ins letzte Detail erkunden, weshalb er seine Hand tiefer wandern ließ, um weitere Knöpfe dieses lästigen Hemdes zu öffnen. Doch da wurde sein Handgelenk abrupt eingefangen. Keine Sekunde später erfolgte ein Druck an seiner Brust, der ihn kraftvoll zurückschob, sodass er auf Ryes Schoß landete. Ehe sich Gin versah, war der Kuss beendet und Rye setzte sich auf. Er wirkte erschöpft, doch in seinen Augen glaubte der Silberhaarige so etwas wie Empörung zu erkennen. Ein leichter rosa Hauch schlich sich auf seine Wangen, als ihm klar wurde, was für einen idiotischen Fehler er begangen hatte. Ohne dabei Rücksicht auf Rye zu nehmen. „Hast du den Verstand verloren?“, fragte dieser hastig mit leiser Stimme, während er sich an den Hals fasste, als würde er sich erwürgen wollen. Gin hätte beinahe genickt. Er hatte sich so sehr auf sein Verlangen fixiert, dass er seinen Verstand völlig verdrängt hatte. Er senkte beschämt den Blick, um nicht länger sehen zu müssen, wie sich Rye seinetwegen quälte. Weil er so selbstsüchtig gewesen war. „Tut mir leid…“, murmelte er. Von Rye erfolgte keine Reaktion. „Und gerade eben hat er sich noch Sorgen gemacht, dass er die Beziehung kaputt machen könnte…“ Ein Schuldgefühl breitete sich in ihm aus, gemischt mit der Angst Rye verärgert zu haben. Diesem entwich nun ein Seufzen. „Schwer zu glauben, wenn du immer noch erregt bist.“ Zum Glück klang es mehr belustigt als verärgert. Rye winkelte sein Knie kurz an, um zu verdeutlichen, was er meinte. Gin zog scharf die Luft ein und presste automatisch die Beine zusammen. „Du hast nicht schlecht von mir geträumt, oder?“ „Nein…“ „Das beruhigt mich.“, gab Rye lächelnd zu. „Aber wir sollten es nicht überstürzen.“ Eigentlich hatte er recht. Nur war es für Gin schwer, dies so hinzunehmen. Er wollte Rye nicht noch mehr überanstrengen, weshalb er vorsichtig von ihm runterstieg und sich an den äußersten Bettrand setzte. Auch wenn das wahrscheinlich nichts nützte und es sinnvoller wäre die Wohnung zu verlassen. Diese Übernachtung war wirklich eine miese Idee gewesen. „Warum wolltest du dann überhaupt, dass ich hier übernachte?“ Wenn Sex nicht Ryes Motiv gewesen war, fiel Gin nichts anderes mehr ein. „Warte, du dachtest, ich hab dich nur eingeladen, um mit dir zu schlafen?“, fragte Rye entsetzt. Gin zuckte mit den Schultern und erwiderte kühl: „Ist doch einleuchtend.“ „Ja, vielleicht schon, aber…“ Ryes Augenbrauen schoben sich nachdenklich zusammen. „Das wäre doch noch etwas früh… ich habe dir erst vor ein paar Stunden gestanden, dass ich dich liebe.“ „Was mich zu der Frage zurückführt, die ich dir gerade gestellt habe.“, meinte Gin schnippisch. Dass es dafür noch zu früh war, wusste er selbst. Aber er kannte es nun mal nicht anders und meistens spielte der Zeitpunkt ohnehin keine Rolle. Nicht einmal Liebe musste für einfachen Sex von Bedeutung sein. Selbstverständlich dachte Rye bestimmt anders darüber. „Das mag jetzt vielleicht bescheuert klingen aber… ich wollte irgendwie nicht, dass dieser Tag endet… und du einfach nach Hause gehst. Ich hatte Angst, du könntest es dir anders überlegen.“, gestand er und senkte den Kopf. „Warum sollte ich es mir anders überlegen?“ Zwar hatte Gin am Anfang des Abends anders darüber gedacht, doch nun wollte er zugegebenermaßen ebenso wenig, dass dieser Tag zu Ende ging. Ihm fiel kein Grund ein, warum er jetzt noch einen Rückzieher machen sollte. „Du warst so unentschlossen und ich war mir nicht sicher, ob du diese Beziehung wirklich willst. Wobei… deine Aktion gerade eben war wohl eindeutig genug.“ Bei dem letzten Satz musste Rye schmunzeln, während Gin hingegen beschämt nach unten schaute. „Es ist schon okay, ich bin glücklich. Sehr sogar. Aber ich will es erst mal langsam angehen. Das verstehst du doch bestimmt, oder?“, fragte Rye in lieblicher Tonlage. Irgendwie erleichterte es Gin, dass er ihn wirklich nicht verärgert hatte. In Zukunft wollte er ein solch selbstsüchtiges Verhalten wie eben bestmöglich vermeiden. „Ja…“ Nach kurzer Stille bemerkte Gin, wie die Matratze neben ihm einsank und ihm ein paar Haarsträhnen hinters Ohr geklemmt wurden. Es überraschte ihn, dass Rye von selbst wieder näher gekommen war. „Bis dahin solltest du so etwas lieber unterlassen… Vergiss nie, dass du gleichzeitig auch mit deinem Leben spielst. Das ist schon für einige vor dir tödlich geendet. Nur mit dem Unterschied, dass ich es mir bei dir niemals verzeihen könnte.“, warnte Rye, wobei sich ein scharfer Unterton in seine Stimme mischte. Jedoch erschauderte Gin eher von den Worten. „Also hast du es schon mit mehreren getan.“ „Schon, jedenfalls hab ich es versucht.“, verbesserte Rye ihn. Er klang nicht so, als waren die Versuche von Erfolg gekrönt gewesen. „Mit Männern auch?“, bohrte Gin. Warum ihn das interessierte, wusste er selbst nicht genau. Doch Ryes Antwort verblüffte ihn auf unerklärliche Weise. „Überwiegend.“ Als Gin schwieg und ihn lediglich fragend anschaute, fuhr er fort: „Es ist nicht so, dass ich kein Interesse an Frauen hätte… Aber ich habe irgendwann angefangen zu glauben, dass Männer vielleicht etwas… robuster für mich wären. Das hat sich natürlich als falsch erwiesen.“ An dem verlegenen Blick des Schwarzhaarigen erkannte Gin, dass er diese Idee inzwischen selbst töricht zu finden schien. „Oh…“ Mehr fiel Gin nicht ein, was er dazu sagen könnte. „Und was ist mit dir?“, wollte Rye plötzlich wissen. Gins Augen wurden groß. „Was ist mit mir?“ „Fühlst du dich eher zu Männern oder Frauen hingezogen?“, verdeutlichte Rye seine Frage. Es schien ihn wirklich zu interessieren. Aber beantworten wollte Gin es trotzdem nicht. „Das geht dich nichts an“, lag ihm auf der Zunge, doch er ließ es unausgesprochen. „Ich weiß es nicht genau.“, versuchte er stattdessen auszuweichen und fügte scherzhaft hinzu: „Schätze, ich fühl mich am meisten zu Vampiren hingezogen.“ „Dann bin ich ja ein wahrer Glückspilz, dass ich einen so masochistisch veranlagten, festen Freund für meine erste Liebe gefunden habe.“, erwiderte Rye ironisch, woraufhin Gin ihn böse anfunkelte. „Und wenn du das bleiben willst, hältst du besser die Klappe.“, meinte er bissig. Er ließ sich zurück ins Kissen fallen und drehte sich von Rye weg. „Was hat das mit Masochismus zu tun? Zumal er derjenige war, der es mit einer Beziehung probieren wollte.“ „Soll ich gehen?“, fragte Rye vorsichtig, als bereute er, was er zuvor gesagt hatte. Gin verzog gereizt das Gesicht und schloss die Augen. Eigentlich wollte er es nicht. Aber zugeben konnte er das jetzt nicht mehr. „Mach doch, was du willst.“ „Okay.“ Gin lauschte angespannt. Es blieb still. War Rye längst geräuschlos aus dem Zimmer verschwunden oder hatte er sich noch nicht vom Fleck gerührt? Da vernahm Gin doch eine Regung hinter sich. Plötzlich schlangen sich zwei Arme um seine Brust, die ihn dicht an einen harten, kalten Körper heranzogen. Ihm stockte kurz der Atem. „Wenn dir kalt ist, sag Bescheid.“, murmelte Rye an seinem Nacken, während er sich stärker an ihn schmiegte und eine seiner Hände umschloss. Gin versuchte ruhig zu atmen und sich zu entspannen, was ihm nach nur wenigen Minuten gelang, da sich die Kälte von Ryes Körper sehr angenehm anfühlte. Andersrum schien Rye höchstwahrscheinlich die Hitze zu genießen, die von Gin ausging. Der Silberhaarige war froh, dass er Rye wenigstens das geben konnte und dass dieser zudem dazu neigte, Worte meistens zu seinem Vorteil zu deuten. So war er zum Glück nicht gegangen. Lächelnd beschloss Gin, sich in einen ruhigen, angenehmen Schlaf fallen zu lassen. Kapitel 28: Frei von Schuld --------------------------- Dieses Mal schlief Gin glücklicherweise traumlos. Unerträglich warm war ihm auch nicht mehr. Im Gegenteil. Es fröstelte ihn sogar ein wenig. Zum einen lag es daran, dass er ohne Decke geschlafen hatte und zum anderen, weil er sich die ganze Zeit über in Ryes angenehm kalter Umarmung befunden hatte. Doch dem schien jetzt nicht mehr so zu sein. Keine Arme waren um ihn geschlungen. Keine Hand hielt seine eigene fest. „Ist er etwa…“ Gin öffnete schwerfällig die Augen. Irgendwie fühlte er sich schlaff. Vielleicht hatte er zu lang geschlafen. Ryes Nähe konnte er hinter sich nicht wahrnehmen. Zumindest nicht in diesem Moment. Denn einige Sekunden später schien sich doch jemand hinter ihm hin und her zu wälzen. „Nein… geh nicht fort…“ Gins Augen wurden groß. Er versuchte sich mit den Armen hochzustemmen. „Was meinst du?“, murmelte er, während er sich zu Rye umdrehte. Jedoch würde er von ihm keine Antwort erhalten, da dieser noch tief und fest zu schlafen schien. Er hatte ihm den Rücken zugewandt und lag mit gekrümmter Körperhaltung am anderen Ende des Bettes. „Er redet tatsächlich auch im Schlaf…“ Gin beobachtete, wie Rye die Hände auf dem Bettlaken zu Fäusten ballte und sein Gesicht vor Schmerz verzog. Wovon er wohl träumte? Wen hatte er gemeint? Jedenfalls schien der Traum Rye sehr zuzusetzen, weshalb Gin bereits mit dem Gedanken spielte, ihn einfach aufzuwecken. Sowohl Decke als auch Kissen schienen im Laufe der Nacht aus dem Bett gefallen zu sein. Das Laken war unter Ryes Körper ganz zerknittert und an einer Stelle sogar zerrissen. Gin ertappte sich dabei, wie er den Blick prüfend über seinen Körper schweifen ließ, um nach möglichen Verletzungen zu suchen. Aber er wurde zum Glück nicht fündig. Schmerzen hatte er immerhin auch nicht. Skeptisch sah Gin wieder zu Rye, welcher immer unruhiger wurde. Er begann zu zittern und krümmte sich immer weiter zusammen, als krochen ihm Angst und Leid über den Rücken. Gin konnte das nicht länger mit ansehen. Er hob vorsichtig die Hand, um den schlafenden Vampir zu wecken. Kaum hatte er jedoch Ryes Schulter berührt, fuhr dieser vor Schreck auf und wirbelte herum, um Gins Handgelenk zu packen. Keinen Augenblick später schaute der Silberhaarige in ein weit aufgerissenes Paar Augen, in welchem gewaltige Flammen vor Hass und Entsetzen zu lodern schienen. Gin biss die Zähne zusammen und versuchte den Schmerz in seinem Handgelenk zu ignorieren. Nur noch ein kleines bisschen fester und seine Knochen würden womöglich ein knackendes Geräusch von sich geben. Er sah Rye fest in die Augen und wartete, bis dieser vollständig begreifen würde, dass der Traum vorbei war. Allerdings dauerte das länger als erwartet. Nur sehr langsam entspannten sich Ryes Gesichtszüge wieder, bevor er seinen Griff lockerte und anschließend den Arm sinken ließ. „Schlecht geträumt?“, hakte Gin nach, als er bemerkte, wie sich Rye gedanklich eine Entschuldigung zurechtlegen wollte, schließlich aber doch nur nickend den Blick senkte. „Worum ging es denn?“, bohrte Gin weiter. Er wollte wissen, wer derjenige gewesen war, der nicht fortgehen sollte. Gab es etwa doch noch jemanden, der Rye nah stand? Vielleicht in seinem früheren Leben? „Weiß nicht.“, antwortete Rye unsicher. „Ich glaub, ich habe jemanden gesucht. Es war so dunkel…“ Der letzte Satz war nur noch ein leises Geflüster. Überrascht konnte Gin erkennen, wie Rye wütend die Augen verengte, bevor er wenige Sekunden später den Kopf schüttelte. „Hab ich dich geweckt?“, versuchte er vom Thema abzulenken. „Nein, nicht wirklich.“ Gin entwich ein Gähnen. Er hielt sich eine Hand vor dem Mund und streckte nebenbei seine steifen Glieder. Er fühlte sich, als hätte er tagelang geschlafen. Im Augenwinkel sah er, wie Rye schmunzelnd das Kinn auf der Handfläche abstützte. „Du hast übrigens das Bettlaken kaputt gemacht.“, meinte Gin beiläufig, um Ryes Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Verdutzt rückte der Schwarzhaarige ein Stück zur Seite und blickte neben sich herab. „Oh, tatsächlich…“ Er klang verlegen. Doch dann erstarrte er vor Schreck. Sein Blick huschte analysierend zu Gin, ehe er im besorgten Tonfall fragte: „Tut dir etwas weh?“ Gin konnte die eigentliche Frage, die sich dahinter verbarg, förmlich hören: „Hab ich dich verletzt?“ Er seufzte und versicherte ihm anschließend: „Nein, alles in Ordnung.“ Erleichterung zeichnete sich in Ryes Gesicht ab. Aber er schien sich dennoch Vorwürfe zu machen. „Ich hätte doch lieber auf der Couch bleiben sollen.“, meinte er, als bereute er seine Entscheidung. Gin hätte gern widersprochen, ließ es jedoch besser sein. Er wollte nicht nochmal zugeben, dass er es mochte, wenn Rye neben ihm schlief. Stattdessen erhob er sich vom Bett, allerdings begleitet von dem knurrenden Geräusch seines Magens. Beschämt blickte er über die Schulter zu Rye, welcher seinen verblüfften Gesichtsausdruck zu einem schelmischen Lächeln umwandelte. „Glatt vergessen, Menschen bekommen ja auch irgendwann Hunger.“, scherzte er herablassend. Gin verdrehte die Augen. Ein Wunder, dass Rye was Nahrungsmittel betraf nicht auch schon vorgesorgt hatte. Ohne den Schwarzhaarigen eines Blickes zu würdigen ging er um das Bett herum, um den Raum zu verlassen. An der Tür wurde er jedoch aufgehalten. „Möchtest du vielleicht etwas Bestimmtes essen? Dann besorg‘ ich es für dich.“, hörte er Ryes Stimme hinter sich. „Du musst dir keine Umstände machen.“, lehnte er ab. Schlimm genug, dass er hier geduscht und geschlafen hatte. Da musste essen nicht auch noch hinzu kommen. „Mach ich mir schon nicht. Der Uhrzeit nach wäre Mittagessen angemessener, wenn du aber lieber frühstücken willst…“ Den Rest des Satzes blendete Gin aus. Mittagessen? War es etwa wirklich schon so spät? So lange schlief er sonst nie. „Wie viel Uhr ist es?“, wollte er wissen. Rye schaute ihn verwundert an. „Eine halbe Stunde nach 12. Heute steht doch sowieso nichts Wichtiges an.“, sagte er dann, woraufhin Gin anfing zu überlegen. Da gab es tatsächlich nur eine wichtige Sache. Aber dafür musste er die Wohnung nicht unbedingt verlassen. „Also, was möchtest du nun essen?“, fragte Rye erneut. Er würde sich wie immer nicht einfach abwimmeln lassen. „Mir egal, irgendwas. Überrasch‘ mich.“ Eigentlich gab es nichts an Essen, was er überhaupt nicht ausstehen konnte. Etwas Einfaches würde reichen und er hoffte wirklich, dass Rye es auch dabei belassen würde. „Na gut.“ Rye trat vor Gin und hauchte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange. „Bin gleich wieder zurück.“ Kaum hatte er das gesagt, war er auch schon verschwunden. Nur das Öffnen und unmittelbare Schließen der Tür verriet, dass er die Wohnung verlassen hatte. Gin fasste sich an die Wange. „Ich sollte mir schnell was anderes anziehen. Er braucht bestimmt wirklich nur ein paar Minuten…“, dachte er und ging anschließend Richtung Badezimmer.   Rye zog sich im Gehen seine Jacke an und prüfte anschließend, ob er die Schuhe richtig zugebunden hatte. Er hatte es sehr eilig gehabt die Wohnung zu verlassen. Zum Glück hatte er dabei sein Portmonee nicht vergessen, welches sich in seiner Innentasche befand. Er würde diesen kurzen Ausgang bewusst im menschlichen Tempo verrichten. Das musste er. Denn er brauchte die frische, klare Luft, befreit von Gins unwiderstehlich süßlichem Geruch. Auch wenn er von diesem eigentlich nicht genug bekommen konnte, benötigte er eine kurze Auszeit. Ab einer gewissen Dauer war es einfach zu viel. Wie eine Überdosis Drogen, die er zu sich genommen hatte. Natürlich versuchte er sich stets nichts davon anmerken zu lassen, was ihm gestern Mitten in der Nacht noch nie so schwer gefallen war. Gin hätte alles von ihm anziehen können. Einfach alles, aber nicht diesen Bademantel. Er wäre um ein Haar auf ihn losgegangen. Jeder Muskel seines Körpers hatte sich automatisch angespannt und darauf vorbereitet. Er wusste immer noch nicht, wie er es geschafft hatte Gins reizvollem Anblick zu widerstehen. „Wie konnte er nur so leichtsinnig sein…“ Es ärgerte ihn, dass sich Gin der dauerhaften Gefahr, der er ausgesetzt war, offensichtlich kein bisschen bewusst war. Welcher Mensch würde je auf die Idee kommen ein Monster zu verführen? Höchstens jemand, der es liebte mit seinem Leben zu spielen und sich danach sehnte zu sterben. Doch davon abgesehen ärgerte sich Rye viel mehr über sich selbst. Er wollte Gin nichts vorenthalten, da ihm schließlich genauso sehr nach ihm verlangte. Nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Verlangen nach seinem Blut unweigerlich immer dominieren würde. Und solange das so war, würde hautenger Körperkontakt niemals funktionieren. Rye war sich sicher, dass er sich sonst gestern darauf eingelassen hätte, wenn er ein Mensch wäre. Er hätte nicht mal gezögert, es erst gar nicht in Erwägung gezogen. Gin hatte mit seiner Vermutung richtig gelegen. Wären sie beide Menschen, dann hätten sie es gestern miteinander getan. Dann wäre das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der Grund für die Einladung gewesen. Aber so war es nun mal nicht. Darum war er dazu gezwungen gewesen Gin zurückzuweisen. Das müsste er jedes Mal wieder tun. Selbst dann, wenn er in den unwiderstehlichen Genuss kam, dass Gin ihn von selbst küsste und verführte. Rye ballte unbewusst die Hände zu Fäusten. Ohne es zu wollen schlichen sich die Erinnerungen der letzten Nacht vor sein inneres Auge. Gins heißer, Schweiß überzogener Körper, wie er sich immer weiter zu ihm herunter beugte und das zarte Fleisch seiner Finger über seine Brust fuhr… „Aber schon seltsam… Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, dessen Blut so außergewöhnlich gut riecht wie seines… Ob das mit meinen Gefühlen für ihn zusammenhängt? Vielleicht nehme ich den Geruch dadurch anders wahr…“, grübelte Rye. Es gab keinen Geruch auf der Welt, der ihn so erbarmungslos einhüllte wie Gins. Kein anderer war auch nur ansatzweise vergleichbar. Auch wenn er den köstlichen Duft jetzt im Moment nicht roch, hatte er ihn dennoch sehr intensiv im Gedächtnis abgespeichert. Er fühlte sich noch immer von ihm verführt. „Ob sein Blut vielleicht auch viel besser schmecken würde als von anderen…“ Rye hielt den Atem an und blieb stehen. Er ließ den Blick über die befahrene Straße schweifen und musterte ein paar der Geschäfte auf der anderen Seite. „Daran darf ich nie wieder denken…“, wies er sich gedanklich zurecht. „Nie wieder…“ Er versuchte sich an den eigentlichen Grund für seinen Spaziergang zu erinnern. Alles weitere verdrängte er aus seinen Gedanken. „Was er wohl am liebsten isst? Vielleicht sollte ich ein paar Zutaten kaufen, dann könnte ich die Küche endlich mal benutzen… Aber ich kann nicht kochen.“ Während er überlegte, ging er weiter und sah sich nach dem ein oder anderen Imbiss-Laden um. Kochen lernen würde definitiv zu lang dauern und ihm ohnehin nichts nützen. Zudem bezweifelte Rye, dass Gin Kochkünste zu schätzen wusste. Zwischenzeitlich lief er an einigen Restaurants und einem Sushi-Shop vorbei. Nichts davon weckte wirklich sein Interesse. Davon abgesehen rochen menschliche Lebensmittel im Allgemeinen nicht sonderlich gut, sodass es ihn automatisch abstieß. Letztlich entschied er sich für einen simplen China-Imbiss und bestellte dort gebratene Nudeln mit Huhn und Gemüse. Die Schlange war sowohl vor als auch nach seiner Bestellung noch ziemlich lang, weshalb er davon ausging, dass das Essen schon schmecken würde. Richtig einschätzen konnte er das sowieso nicht. Innerhalb von 20 Minuten war Rye wieder vor seinem Wohnblock angekommen. Im Treppenhaus fing er an zu rennen, als er sich sicher war, keiner weiteren Person zu begegnen. Im Nachhinein wünschte er sich doch, etwas schneller gewesen zu sein. Obwohl er die kurzen Auszeiten benötigte, fühlte er sich jedes Mal unwohl, wenn er nicht bei Gin war.     Am späten Nachmittag, kurz nach 17:00 Uhr   Mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete Rye geräuschlos vom Türrahmen aus, wie Gin auf dem Sofa saß und Fernsehen schaute. Das ging jetzt schon mindestens vier Stunden so. Zwar hatte es Rye gefreut, dass es ihm gelungen war Gin zum Bleiben zu überreden, doch mit jeder verstreichenden Stunde ging seine Laune immer weiter in den Keller. Nicht, dass es ihm etwas ausmachte, dass Gin den Fernseher beanspruchte – er selbst verwendete ihn sowieso kaum –, viel mehr störte es ihn, dadurch ignoriert zu werden. Dabei sah sich Gin gefühlt immer dasselbe an. Er zappte lediglich zu verschiedenen Nachrichtenkanälen, deren Neuigkeiten sich meist überschnitten. Irgendetwas schien er zu suchen. Oder er wartete auf etwas. Auf ein Ereignis, wovon jeden Moment berichtet werden könnte. Was hatte das zu bedeuten? Warum weihte Gin ihn nicht endlich ein? Rye stöhnte genervt, was der Silberhaarige jedoch nicht hörte. Fast hätte er vergessen, wie sehr er es hasste, ignoriert zu werden. Egal von wem. Und auf so langer Dauer machte es ihn beinahe wahnsinnig. Vor allem, wenn Gin der Flimmerkiste mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihm. Das würde sich Rye nicht länger gefallen lassen. Er betrat das Wohnzimmer und stellte sich mit verschränkten Armen direkt vor den Fernseher. Sofort wurde er von Gin böse angefunkelt. Rye tat es ihm gleich und meinte im beleidigten Tonfall: „Das hab ich mir jetzt lang genug mit angesehen. Was soll das?“ „Du wolltest doch unbedingt, dass ich noch länger hierbleibe. Zu Hause hätte ich auch nichts anderes getan.“, erwiderte Gin schlicht und zuckte mit den Schultern. „Und wieso?“ Inzwischen war sich Rye nicht mehr sicher, ob der Silberhaarige einfach aus Langeweile fernsah oder doch etwas dahinter steckte. Und falls ja, wollte er das unverzüglich erfahren. Anstatt zu antworten bedeutete Gin ihm jedoch, sich neben ihn zu gesellen. Rye seufzte, zögerte aber nicht und befand sich in weniger als einer Sekunde bei seinem Geliebten auf dem Sofa. „Ich weiß nicht genau, wann die Nachricht eintrifft, aber der Boss meinte im Laufe des Tages…“, murmelte Gin abwesend und starrte weiterhin zum Bildschirm. Also doch. Irgendetwas würde passieren oder war vielleicht schon passiert. Aber was sollte daran so wichtig sein, dass man die Nachrichten stundenlang verfolgen musste? „Was für eine Nachricht?“, drängte Rye ihn. „Wirst du schon noch sehen.“, erwiderte Gin nichtssagend und sah ihn dabei wieder nicht an. Rye beugte sich vor, um ihm ins Gesicht schauen zu können. Lag da so etwas wie Unsicherheit in seiner Miene? Warum? „Wie du meinst…“ Rye gab es letzten Endes auf, da der Silberhaarige anscheinend ohnehin nicht vorhatte etwas preiszugeben, ehe er es nicht selbst mit eigenen Augen sehen würde. Zumindest war seine Neugier nun geweckt. Hoffentlich hatte die Nachricht nichts mit ihm zu tun. Gedanklich ließ er seinen letzten Mord Revue passieren und überprüfte, ob er vielleicht etwas übersehen oder vergessen hatte. Ihm fiel nichts ein. Die Sorge war wohl umsonst. Rye versuchte sich sowohl auf die Nachrichten, als auch auf Gin zu konzentrieren. Solange von diesem keine Reaktion erfolgte, schenkte er auch dem gerade laufenden Bericht keine weitere Beachtung. Nach einer Weile hörte er komplett auf seinen Blick immer wieder zum Bildschirm zu lenken und lehnte sich zurück, um nur noch Gin zu beobachten. Doch von ihm wurde er nach wie vor nicht beachtet. Rye zog einen Schmollmund und streckte eine Hand aus, um seinen Geliebten zu sich auf den Schoß zu ziehen. Dessen Widerstand ignorierte er wie immer dabei, sodass der Silberhaarige gezwungen war liegen zu bleiben. „Du nervst.“, maulte Gin, während er gereizt zu Rye hochschaute. Dieser belächelte den Gesichtsausdruck nur und fuhr ihm mit den Fingern sanft durch die Haare. „Und du hast mich stundenlang ignoriert.“ „Hab ich nicht. Ich will bloß den Bericht nicht verpassen. Das ist wichtig.“, beharrte Gin und drehte seinen Kopf wieder zum Fernseher, woraufhin Rye die Augen verengte und fragte: „Wichtiger als ich?“ Er erhoffte sich darauf keine ernsthafte Antwort. Trotzdem schien Gin einen kurzen Moment nachzudenken, bevor er erwiderte: „Naja, es geht in gewisser Weise um dich.“ Rye erstarrte. Nein. Niemals. Das war nicht möglich. „Ich hab doch drauf geachtet, dass ich alle Spuren beseitige!“, schrie er gedanklich. Die Panik, die von ihm Besitz ergriff und ihn ablenkte, nutzte Gin, um wieder aufzustehen. „W-Wieso? Warum hast du nichts gesagt?“ Ungewollt schlug Rye einen zu hysterischen Tonfall an. Ihm schossen noch zig weitere Fragen durch den Kopf. Wieso wusste der Boss anscheinend über den Bericht? „Er hat doch ausdrücklich gesagt, dass er in den Nachrichten nichts mehr sehen will, was mit mir in Verbindung steht… also wieso…“ Es erschloss sich ihm einfach nicht. „Was hätte es geändert?“, fragte Gin barsch, fügte dann aber mit ruhigerer Stimme hinzu: „Es gibt keinen Grund zur Sorge.“ Das hätte Rye am liebsten geglaubt. Doch es ging nicht. Er hatte scheinbar einen Fehler begangen. Und jeden Moment würde die halbe Welt davon erfahren. Darunter mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Eclipse. „Doch, den gibt es! Du hättest-“ „Pscht!“, zischte Gin und schnitt ihm somit das Wort ab. Er sah plötzlich ganz aufmerksam aus. Völlig vertieft in den gerade beginnenden Bericht. Rye schaute verwirrt zum Bildschirm und ließ die Stimme der Nachrichtensprecherin zu sich durchdringen. „….diese Meldung hat uns gerade erreicht. Wir sind zutiefst erleichtert, Ihnen mitteilen zu können, dass die Straßen Tokios von nun an wieder sicherer sind. Die Bürger können aufatmen – denn das Rätsel um die langwierige Mordserie, welche die Stadt in Angst und Schrecken versetzte, ist endlich gelöst.“ „Was zum Teufel wird hier gespielt…“ Rye blieb der Mund offen stehen. Schockiert huschte sein Blick zu Gin, welcher jedoch keine Reaktion zeigte und ihn nicht einmal ansah. Er war mehr oder weniger auf alles gefasst gewesen – aber nicht auf so etwas. Noch mehr Fragen bildeten sich in seinem Kopf und stürzten nahezu auf ihn ein. Die Mordserie. Gelöst? Wie sollte das möglich sein? Hatte die Polizei Hinweise bekommen? Etwa vom Boss? Wie konnte Gin das zulassen? Rye schlang die Arme um seine Brust und spürte, wie er vor Schock und Entsetzen zitterte. Jetzt war es aus. Die Öffentlichkeit würde von ihm erfahren und Eclipse würde ihn finden. Er musste fliehen. „Doch ohne Gin…“ Rye versuchte sich mühselig weiter auf den Bericht zu konzentrieren. Vielleicht gab es noch Hoffnung. „Nicht selten wurden die Morde mit Tierangriffen verglichen. Teilweise wusste die Polizei überhaupt nicht, nach was sie eigentlich fahnden sollten. Irreführende Hinweise und etliche furchteinflößende Theorien aus den sozialen Netzwerken erschwerten die Suche erheblich. Doch nun verkündet der leitende Ermittler Hiroyasu Okimoto, dass der verantwortliche Täter sich gestellt habe.“ Jetzt wurde Ryes Schock wieder von Verwirrung vertrieben. „Gestellt?“ Er konnte sich nicht daran erinnern, das getan zu haben. Das musste ein Irrtum sein. Oder war etwa von jemand anderem die Rede? „Sein Name ist Seiho Yonemura. Ein Mann Mitte 40 aus einfachen Verhältnissen. Ein Mensch wie jedes seiner Opfer, die er auf eine grauenhafte Weise tötete, um sie größtenteils danach zu verzehren. Die Polizei geht davon aus, dass Seiho unter einer psychischen Störung leidet, auf die sein kannibalistisches Verhalten zurückzuführen ist. Ein Motiv habe er bei seiner Vernehmung nicht angegeben, doch er leugnete keine seiner verübten Taten. Es ist demnach unausweichlich, dass ihm die Todesstrafe bevorsteht. Laut Aussage der Polizei soll er so bald wie möglich hingerichtet werden. Weitere Details zu der Mordserie sollen später auf der Homepage der Präfekturpolizei Tokio veröffentlicht werden. Heute um 22:00 Uhr wird in einem Podcast ausgiebig über die Umstände und Hintergründe der Morde diskutiert. Zu Gast sind-“ Ryes Augen wurden groß, als der Bildschirm plötzlich schwarz wurde. Er schaute irritiert zu Gin, welcher die Fernbedienung noch in der Hand hielt. „Der Rest ist nicht mehr von Bedeutung. Es hat sich erledigt.“, sagte er zufrieden und lehnte sich zurück. Rye warf ihm einen entsetzten Blick zu. Zwar hatte er noch nicht ganz verstanden, was er da gerade in den Nachrichten gehört hatte, doch eins wusste er mit Sicherheit: Nichts hatte sich erledigt. Nicht auf diese Weise. „Was habt ihr getan?“, wollte er wissen. Irgendwie verärgerte es ihn nun noch mehr, nicht eingeweiht worden zu sein. „Den Verdacht von dir abgelenkt und dich sozusagen von deiner Schuld befreit. Gern geschehen.“, erwiderte Gin ironisch. Er schien Ryes erboste Stimmung nicht nachvollziehen zu können. „Aber dieser Mann ist unschuldig!“ Rye war völlig außer sich. Er wollte nicht, dass jemand Unschuldiges für seine Morde den Kopf hinhalten musste. Und wie konnte dieser Mann bei der ganzen Sache noch mitspielen und sich hinrichten lassen? Wie konnte er es einfach in Kauf nehmen, sich von der Gesellschaft als kannibalistischer Serienmörder verachten zu lassen? „Vielleicht haben sie ihn erpresst…“, ging es ihm durch den Sinn. Inzwischen sah Gin ihn verständnislos an. „Wäre es dir lieber gewesen, wenn Eclipse wegen der Morde auf dich aufmerksam geworden wäre? Auch wenn der Plan nicht alle Fragen und Zweifel abdeckt, gilt der Fall zumindest von nun an als abgeschlossen. Umso glaubwürdiger Yonemuras Aussagen sind, desto besser für dich. So solltest du fürs Erste in Sicherheit sein.“, meinte er monoton, als sei ihm das Leben dieses Mannes völlig egal. Und natürlich war dem auch so. Rye hatte in den letzten Tagen fast vergessen, wie kaltherzig und gleichgültig Gin gegenüber anderen Menschen sein konnte. „Es hätte doch bestimmt auch eine andere Möglichkeit gegeben! Habt ihr etwas gegen ihn in der Hand oder warum hat er alles einfach so gestanden?“ „Mag vielleicht sein, aber so war es am einfachsten und vor allem am schnellsten umzusetzen. Wir haben in der Organisation schon unsere Methoden, einem Menschen ordentlich den Kopf zu waschen. Und da wir auch in der Polizei jemanden von unseren Leuten haben, ist die Chance noch geringer, dass der Plan auffliegt.“, erwiderte Gin, was Rye noch mehr entsetzte. Eine Gehirnwäsche war wirklich das Letzte. Er schwieg, da er nicht mehr musste, was er dazu sagen sollte. Etwas dagegen unternehmen konnte er ohnehin nicht mehr. Da vernahm er ein Seufzen vom Silberhaarigen. „Er muss dir nicht Leid tun.“, sagte er beschwichtigend. „Die Organisation war ihm schon länger auf den Fersen. Er ist wirklich ein Serienmörder, aber bisher wurden die Morde, die er begangen hat weder aufgeklärt, noch mit ihm in Verbindung gebracht. Aus dem Grund war es auch leichter ihn glauben zu lassen, dass er deine Morde begangen hat. Und ob er am Ende nun für seine oder deine Taten verurteilt wird, spielt keine Rolle.“ Darüber musste Rye einen kurzen Moment nachdenken. Machte es wirklich keinen Unterschied? Natürlich war es nicht vollkommen das Gleiche, doch wenn dieser Mann trotz allem ein schlechter Mensch war… „Das war notwendig, um Eclipses möglichen Verdacht zu zerstreuen. Ich wollte doch nur, dass du… hierbleiben kannst, ohne dir ständig Sorgen machen zu müssen.“, fügte Gin plötzlich unsicher hinzu und senkte den Blick. Sein melancholischer Gesichtsausdruck brachte Rye dazu, sich letztlich geschlagen zu geben. Wenn Gin das alles nur für ihn so geplant hatte, konnte er darüber einfach nicht länger verärgert sein. „Du meinst, du wolltest, dass ich bei dir bleibe?“, fragte er mit sanfter Stimme, woraufhin sein Geliebter ertappt den Blick hob. Auf seinen Wangen bildete sich eine leichte Röte, die Rye verriet, dass er richtig lag. Er lächelte zufrieden und beugte sich vor, sodass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter trennten. „Na gut, dann werde ich dir mal dankbar dafür sein, Liebster.“, flüsterte er und hauchte Gin einen Kuss auf die Lippen. Als dieser den Kuss erwidern wollte, zog er sich jedoch schnell wieder zurück. Er hatte sich immer noch nicht ganz von gestern Nacht erholt und wollte sich nicht schon wieder mitreißen lassen. Gerade war er sich nicht sicher, ob er genug Selbstkontrolle besaß. Auch wenn Gins enttäuschte Miene ihn im nächsten Moment wieder schwach werden ließ. Er rutschte zur Vorsicht noch ein bisschen weiter weg. „Ich hoffe, dir ist bewusst, was dir in Zukunft nicht mehr passieren darf. Sonst war das alles umsonst.“ Die Emotionen verschwanden aus Gins Gesicht und er schlug einen ernsteren Ton an. Rye nickte schwermütig. „Wenn es doch bloß so einfach wäre…“, dachte er. Als ob er freiwillig ein blutsaugendes Monster war. Als ob er all die Menschen aus Spaß oder Vergnügen tötete. Nein. Er würde immer dazu verdonnert sein. „Ich kann es versuchen. Aber irgendwie muss ich mich nun mal ernähren… Ich würde mich auch lieber aushungern, wenn es davon nicht schlimmer werden würde…“, meinte er verzweifelt. Im ausgehungerten Zustand könnte ihn niemand zähmen. „Das weiß ich. Aber vielleicht wäre es doch besser, sich eine Alternative zu überlegen.“, riet Gin ihm. Er klang, als hätte er bereits eine Idee. „Ich bin ganz Ohr.“ Rye war gespannt, ob es tatsächlich etwas gab, was weniger Menschenleben kostete und dass er selbst noch nicht ausprobiert hatte. „Wie wäre es, wenn du dich nur auf eine Person beschränkst. Du könntest in kleineren Mengen Blut zu dir nehmen, ohne die Person zu töten.“, schlug Gin vor. Rye legte skeptisch die Stirn in Falten. Theoretisch würde das vielleicht funktionieren, aber… „Klar, bestimmt gibt es viele Personen, die sich dafür zur Verfügung stellen würden. Willst du gleich eine Stellenanzeige im Internet veröffentlichen?“ Gin rollte mit den Augen. „Ich hab ja nicht gesagt, dass die Person das freiwillig tut.“ „Das wäre schlimmer als Folter.“ „Was du nicht sagst.“ „Vergiss es.“, lehnte Rye in strenger Tonlage ab. So etwas würde er keinen Menschen antun wollen. Da war es selbst angenehmer, sie auf der Stelle zu töten anstatt sie für die Ewigkeit als Blutspender zu benutzen. Das wäre kein lebenswertes Leben mehr. „Okay. Vielleicht gibt es doch jemanden, der es freiwillig tun würde…“, meinte Gin, während seine Stimme zum Ende hin immer leiser wurde. „Gibt es nicht.“, stellte Rye klar, sobald er Gins hintergründiges Motiv erahnte. Dieser wich nun angespannt seinem Blick aus. „Woher willst du das wissen? Ich könnte-“ „Nein!“, schrie Rye umgehend dazwischen. Er konnte sich vor Wut und Entsetzen, welche ihn plötzlich überrumpelten, kaum noch halten. „Das kommt nicht in Frage. Wenn du noch einmal daran denkst, es auch nur in Erwägung ziehst…“ Er ließ die Drohung unvollständig, als er Gins schockierten Gesichtsausdruck bemerkte. Seine Hände krallten sich in das Sofa. „Ich schlachte lieber die ganze Stadt ab, als sein Blut…“, fügte er gedanklich hinzu, während er spürte, wie sein Körper bei der Vorstellung von Gin zu trinken vibrierte. Das Monster in seinem Inneren frohlockte und würde diese Vorstellung am liebsten sofort in die Tat umsetzen. Rye hielt den Atem an und versuchte dagegen anzukämpfen. „Wie kann er das nur wollen… wie kann er wollen, dass ich ihm weh tue… Ich würde ihn töten…“, kreisten seine Gedanken wild umher. Er wollte es nicht verstehen. „Beruhige dich. Das sollte nur ein Angebot sein, da sowieso keiner weiter in Frage käme, der es freiwillig tun würde.“, spielte Gin es herunter, was Ryes Wut noch weiter hochtrieb. Seine Hände verkrampften sich und er verengte die Augen, woraufhin der Silberhaarige ergeben die Hände hob. „Hab‘s ja verstanden. Entschuldige.“, sagte er monoton. Rye versuchte sich zu beruhigen. Nur wie er das anstellen sollte, wusste er nicht wirklich. „Wie wäre es stattdessen mit Blutbeutel?“, fragte Gin nach kurzer Zeit ironisch, um die Spannung in der Luft zu lösen. Das klang so absurd, dass Rye es irgendwie schon wieder lustig fand. Seine Wut nahm etwas ab. „Woher soll ich die bekommen? Ich habe Krankenhäuser schon immer gemieden und selbst wenn nicht, kann ich da nicht einfach etwas entwenden.“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass altes, kaltes, abgepacktes Blut besser schmecken würde als Frisches, geschweige denn genauso gut. Aber darum ging es schließlich nicht. Nur würde vielleicht das Risiko bestehen, dass es ihn nicht vollkommen befriedigte und somit sein inneres Monster nicht bändigen würde. „Wirklich nicht? Du tust dich doch sonst nicht so schwer Dinge von anderen zu entwenden.“, entgegnete Gin leicht schnippisch und verschränkte die Arme, als würde ihn das stören. Rye bekam das Gefühl, dass sein Geliebter ihm versuchte etwas mitzuteilen, ohne es direkt aussprechen zu wollen. Er sah Gin nachdenklich in die Augen. „Meint er etwa-…“ Ryes Blick schoss überrascht in Richtung des Flurs als er glaubte, dort etwas vibrieren zu hören. Gin hingegen schien es nicht zu hören, schaute Rye aber dennoch verwundert an. „Ein Handy?“, kam es dem Schwarzhaarigen in den Sinn. Er sprang sofort auf, um sich zu vergewissern. Und tatsächlich, im Flur hing Gins Mantel noch an der Garderobe, in dessen Tasche sich sein Handy befand. Rye fischte dieses heraus, ohne den Anruf anzunehmen. Die Nummer auf dem Display sagte ihm nichts. Er huschte schnell zurück zu Gin und blieb vor dem Sofa stehen. „Ein Anruf für dich.“, meinte er und hielt ihm das Handy entgegen. Nachdem der Silberhaarige ein paar Mal entgeistert geblinzelt hatte, nahm er es ihm aus der Hand und bestätigte den Anruf. „Was gibt es?“, fragte er ohne Umschweife, während er sich von Rye abwandte. Dieser versuchte nun die Stimme am anderen Ende der Leitung einer Person zuzuordnen. „Hast du die Nachrichten gesehen?“, fragte die Person in autoritärer Tonlage. Diese tiefe, kalte Stimme würde Rye immer erkennen. Sie gehörte zweifellos dem Boss. Zu seinem Erschrecken. „Natürlich, es scheint alles geklappt zu haben.“, erwiderte Gin kühl. Rye blieb wie angewurzelt stehen und fragte sich, ob der Boss lediglich den Plan noch weiter besprechen wollte und nächste Vorkehrungen getroffen werden mussten. Diesmal wollte er auf jeden Fall auch eingeweiht sein. Doch da fragte der Boss plötzlich etwas, was Rye vor Schreck zusammenfahren ließ: „Ist Rye gerade in deiner Nähe?“ Er wirbelte herum und überlegte, ob es besser wäre, schnellstmöglich die Flucht zu ergreifen. Da jedoch noch die Möglichkeit bestand, dass Gin ihn in Schutz nahm und log, drehte er sich unsicher zu ihm um. Ihre Blicke trafen sich. Rye schüttelte hastig den Kopf, um Gin wortlos mitzuteilen, dass er die Frage verneinen sollte. Vom Silberhaarigen erfolgte keine Reaktion. „Ja, ist er.“, sagte er dann. „Verräter…“, dachte Rye pikiert und warf Gin einen bösen Blick zu. Dafür würde er sich später noch rächen. „Dann gib ihn mir.“ Die Forderung des Bosses ließ Ryes Befürchtung endgültig wahr werden. Für Flucht war es leider bereits zu spät und selbst wenn würde das höchstwahrscheinlich Konsequenzen haben. Doch was sollte so wichtig sein, dass der Boss es nicht einfach Gin mitteilte? Ehe Rye eine Antwort auf diese Frage finden konnte, hielt Gin ihm schon ungeduldig das Handy hin. Nur widerwillig nahm Rye es an sich, bevor er seinen Missmut herunterschluckte und im freundlichen Ton begann: „Sie wollten mich sprechen?“ „In der Tat. Wie kommt es, dass du bei ihm bist?“, wollte der Boss wissen. Dass er darüber eigentlich nicht erfreut war, erkannte Rye an seiner Stimme - wie ein Vater, der nicht wollte, dass sein Kind zu viel Zeit mit den falschen Leuten verbrachte. Dieser Vergleich brachte Rye zum schmunzeln. Natürlich würde sich der Boss niemals derartige Sorgen um Gin machen. Das Einzige, was er fühlen konnte waren womöglich Hass und Verachtung. „Es ist umgekehrt.“, erwiderte Rye lasziv, unterließ es jedoch, noch weiter auszuholen und mehr Details zu verraten. Obwohl er sich damit prima an Gin rächen könnte, würde er so ebenfalls ins Fettnäpfchen treten. „Aber das kommt Ihnen doch bestimmt gelegen, da sie meine Nummer nicht haben.“ „Die brauch und will ich auch nicht.“, meinte der Boss abweisend, worüber Rye etwas erleichtert war. Denn brauchen und wollen tat er das genauso wenig. „Sondern?“, fragte er. „Muss ich dich daran erinnern, dass du noch eine Rechnung zu begleichen hast? Nun, genau genommen, sind es jetzt sogar zwei.“ Rye runzelte die Stirn. Er hatte es nicht vergessen. Die Zeit, die er dem Boss mit seiner Fragerei gestohlen hatte. Doch das andere? Zählte etwa die vermeintlich aufgeklärte Mordserie auch dazu? „Er tut eben nichts ohne Gegenleistung…“, dachte Rye deprimiert. Da würde bestimmt noch Einiges auf ihn zukommen. „Natürlich nicht, dann ist Ihnen also was eingefallen.“ „So kann ich das nicht sagen, es ist eher so, dass das Problem zufällig entstanden ist.“, erklärte der Boss, was Rye nicht erwartet hatte. „Welches Problem?“ Gedanklich malte er sich aus, was alles passiert sein könnte. Dabei bemerkte er im Augenwinkel, wie Gin automatisch die Ohren spitzte. Rye war sich nicht sicher, ob dieser das Gespräch überhaupt mithören durfte. Der Boss schien immerhin sehr viele Geheimnisse zu haben, von denen der Silberhaarige noch nichts wissen durfte. Aus welchen Gründen auch immer. Doch Rye wollte ihm nichts vorenthalten, da er sich dabei einfach nicht wohl fühlte. „Mich hat soeben die Nachricht erreicht, dass einer meiner Geschäftspartner einen NOC in seinem Unternehmen haben soll. Wie es scheint, wird er schon länger von irgendwelchen Schnüfflern aus dem Ausland beobachtet, die ihm dicht an den Fersen hängen und alle Exporte verfolgen.“, berichtete der Boss abfällig. Ein verdeckter Ermittler von einer ausländischen Behörde. Sonst nichts weiter. Rye hatte sich Schlimmeres vorgestellt. Nichts war leichter als einen Menschen zu töten. Doch er konnte schon verstehen, warum das für die Organisation ein so großes Problem darstellte. Solche Möchtegern-Gerechtigkeitskämpfer konnten schnell für Chaos sorgen, wenn sie die falschen Informationen an die Behörde weiterleiteten. „Verstehe, und weil Sie nicht wollen, dass die Handelsbeziehungen zur Organisation ans Licht kommen, soll ich diesen NOC finden und töten, richtig?“, schlussfolgerte er. „Fast. Da ich kein Risiko eingehen möchte, werde ich gnädig sein und dich deine zwei Rechnungen in einen Auftrag begleichen lassen. Ich tue das nur ungern, doch meines Geschäftspartners werde ich mich auch entledigen müssen. Du wirst beide beseitigen.“ So, wie die Stimme des Bosses klang, bezweifelte Rye, dass er das wirklich nur ungern tat. Dann eben zwei Menschen. Immer noch keine große Herausforderung. Und dass der Schwarzhaarige damit beide Rechnungen auf einmal begleichen konnte, kam ihm nur gelegen. Jedoch fragte er sich, warum der Boss entschieden hatte, beide umbringen zu lassen. War sein Vertrauen zu seinem Geschäftspartner wirklich so gering, dass er befürchtete von diesem verraten zu werden? Wahrscheinlich schien er das Wort ‚Vertrauen‘ gar nicht zu kennen. Die Brücken, über die er ging, würde er vermutlich allesamt hinter sich abreißen. Aber lieber übervorsichtig als unvorsichtig. Manche Menschen würden alles dafür tun, um ihre eigene Haut zu retten. Selbst wenn sie dadurch selbst zum Verräter wurden. „Wie Sie wollen, Sir. Wer, wann und wo?“ „Langsam. Bedauerlicherweise weiß ich nicht, wer dieser NOC sein soll. Das musst du selbst herausfinden. Aber ich kann dir sagen, wann du die perfekte Gelegenheit dazu haben wirst. Morgen feiert das Unternehmen ihr 50-Jähriges Firmenjubiläum, wofür sie die Bar ‚Black Widow‘ im Roppongi-Viertel gemietet haben. Mein Geschäftspartner, Tezuka Naganori, wird 19:00 Uhr dort eintreffen. Ich will, dass du es unauffällig tust. Kein Massaker, verstanden?“, sprach der Boss, wobei sich bei den letzten zwei Sätzen ein drohender Unterton in seine Stimme mischte. Rye erschauderte. Das würde die ganze Sache erschweren. „Wie soll ich einen NOC ausfindig machen? Ich hab für so etwas doch kein Gespür…“, beschwerte er sich gedanklich und fuhr sich mit einer Hand durch den Haaransatz. Wieder musterte er Gin aus dem Augenwinkel heraus, welcher ihm nun einen fragenden Blick zuwarf. Da kam Rye plötzlich eine Idee, die er jedoch unausgesprochen ließ. Würde er das tun, bestand die Möglichkeit, dass der Boss etwas dagegen auszusetzen hatte. Was er nicht wusste, konnte er nicht verbieten. „Ja, Sir. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass beide Personen am Ende des morgigen Tages nicht mehr am Leben sein werden.“, versprach er und hoffte, dass es ihm gelingen würde, diese Aussage wahr werden zu lassen. Für die größte Schwierigkeit hatte er immerhin schon mehr oder weniger eine Lösung parat. „Das will ich hoffen. Und vergiss nicht, was ich gesagt habe: Kein Massaker.“ Nach diesen Worten ertönte ein monotones, gleichmäßiges Piepen. Der Boss hatte aufgelegt. Rye starrte auf das Display, bis dieses kurz darauf schwarz wurde und er selbst seinen missbilligenden Gesichtsausdruck darin sehen konnte. Er reichte Gin wortlos das Handy hin. Die warmen Finger des Silberhaarigen strichen ganz leicht über seine eigenen, als er es wieder zurücknahm. Rye bemerkte, dass Gins Augen erwartungsvoll funkelten, ihm jedoch auch einige Fragen im Gesicht standen. Lächelnd fragte er: „Lust, morgen mit mir auf eine Feier zu gehen?“ Gin schob die Augenbrauen zusammen. „Eine Feier?“ „Morgen im Roppongi-Viertel in einer Bar namens Black Widow. Der Boss will, dass ich dort zwei Personen töte.“, sagte Rye. Er hoffte, dass Gin ihn begleiten würde. Doch leider sprach dessen Gesichtsausdruck überhaupt nicht dafür. „Und was soll ich dann dort?“, fragte er verdutzt. „Mich unterstützen.“ Daraufhin schnaubte Gin spöttisch. „Das ist dein Auftrag, du wirst mich ohnehin nicht brauchen. Oder sagst du mir dann wieder, dass ich solange warten soll, bis du zurück bist?“ „Du hast recht, es ist mein Auftrag.“, stimmte Rye ihm zu und setzte sich wieder neben ihn auf das Sofa. „Aber wir sind trotz allem immer noch Partner. Ich brauche dich immer.“ Die Wahrheit in dieser Aussage unterstützte er, indem er eine von Gins Händen umschloss. Es erfolgte jedoch keine Antwort, weshalb Rye beschloss, den Silberhaarigen ein wenig zu necken: „Wer bringt mich denn sonst nach Hause, falls ich wieder bewusstlos werde?“ Nur kurz verzog Gin die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln, bevor seine Miene wieder ernst wurde und es so wirkte, als hätte er es nie lustig gefunden. „Das wird diesmal nicht nötig sein, weil du es erst gar nicht so weit kommen lassen wirst.“ Es klang wie eine Drohung, die Rye aber nicht für voll nahm. Da waren die Drohungen vom Boss mindestens hundert Mal einschüchternder. „Natürlich nicht, aber ich möchte trotzdem, dass du mich begleitest. Ich werde dir auch nicht mehr sagen, dass du warten sollst, bis ich zurück bin. Zum einen hältst du dich sowieso nicht dran und zum anderen musst du mir diesmal wirklich einen Gefallen tun.“ Rye beobachtete, wie Gin bei der ersten Hälfte des letzten Satzes kurz die Augen verdrehte, bevor er ihn doch interessiert ansah. „Der wäre?“, hakte er nach. Rye versuchte ihm die Lage so gut wie möglich zu schildern: „Es geht um einen Geschäftspartner der Organisation, welcher einen NOC in seinem Unternehmen hat. Der Boss sagte zwar, dass dieser NOC mit hoher Wahrscheinlichkeit morgen auch auf der Feier sein wird, doch ich habe keine Ahnung wer diese Person ist und wie ich sie finden soll. Je nach dem, wie viel Leute dort sind, kann es dementsprechend lange dauern… und die Chance, dass ich mich irre, ist ziemlich hoch, da ich dafür kein Gespür hab. Du aber schon, nicht wahr?“ Rye funkelte Gin vielsagend an, welcher erwiderte: „Kurz gesagt: Ich soll den NOC für dich aus der Masse herausfiltern, damit du ihn umlegen kannst?“ „Ja. Der Leiter des Unternehmens, Tezuka Naganori, sollte dagegen kein Problem sein.“ Da war sich Rye relativ sicher. Zwar hatte ihm der Boss keine Details über das Aussehen dieses Mannes gegeben – wahrscheinlich mit Absicht – doch immerhin wusste er den Namen. Und wie schwer sollte es schon sein, einen Unternehmensleiter von seinen normalen Angestellten zu unterscheiden? Meistens war solchen Leuten das viele Geld ohnehin zu Kopf gestiegen und sie verhielten sich auch dementsprechend so, als seien sie etwas Besseres. Gin schwieg eine Weile. Scheinbar dachte er über etwas nach. „Nimmst du an.“, meinte er dann. Rye schaute ihn fragend an. Offensichtlich war dem Silberhaarigen der Name des Kerls nicht unbekannt, was auch seine nächste Aussage bestätigte. „Ich kenne diesen Mann. Weißt du, wie groß sein Unternehmen ist und wie viel Machteinfluss er besitzt? Und glaubst du wirklich, dass du dich ihm so einfach nähern kannst, ohne Aufsehen zu erregen? Er wird höchstwahrscheinlich noch andere noble Herrschaften eingeladen haben, von denen er rund um die Uhr umringt sein wird. Du müsstest dich schon sehr geschickt anstellen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.“, erklärte Gin mit spöttischem Unterton. Doch er hatte recht. „Daran hab ich gar nicht gedacht.“, fiel Rye auf. Würde das wirklich so schwer sein? „Und wenn ich mich auch als eine dieser Herrschaften ausgebe?“, schlug er vor, woraufhin Gin seine Lippen zu einem breiten Lächeln verzog, als würde er jeden Moment anfangen zu lachen. „Ich gehe mal stark davon aus, dass Naganori seine Gäste kennt. Da ist die Chance höher, dass du unter den Angestellten nicht so sehr auffällst.“, meinte er mit leichter Belustigung in der Stimme. Rye schürzte beleidigt die Lippen. Irgendeine andere Möglichkeit musste es doch geben, um diesem Typen näherzukommen, ohne verdächtig zu wirken. „Und wenn ich kein Gast wäre, sondern…“ „Ich könnte kellnern.“, vollendete er seinen Gedanken laut. Das war die Idee. Als Kellner wäre es ihm problemlos möglich dem Kerl nahezukommen, ohne sonderlich viel Aufsehen zu erregen. Gins Augen weiteten sich überrascht. Aber in seiner Miene sprach sonst nichts gegen diese Idee. Rye konnte ihm ansehen, dass ihm die Vorstellung sogar etwas zu gefallen schien. „Keine schlechte Idee.“, gab er schließlich zu. Rye schmunzelte. Er kam nicht umhin, sich vorzustellen, wie Gin ebenso an seiner Seite kellnern würde. Aber dieser Wunsch würde ihm wohl verwehrt bleiben. „Also hilfst du mir?“, fragte er. „Hmm…“ Gin schob nachdenklich die Lippen vor. „Was bekomme ich dafür?“ „Seit wann stellst du Bedingungen?“, entgegnete Rye in gespielt entsetzter Tonlage. Er hielt es lediglich für einen kleinen Spaß und ging davon aus, dass der Silberhaarige ihn so oder so begleiten würde. „Er lässt mich bei solchen Dingen nicht gerne aus den Augen, sonst wäre er mir letztes Mal nicht nachgekommen, obwohl ich es ihm verboten hatte...“ Gin entwich ein leises Lachen, dann meinte er: „Seit ich dich auf Missionen begleiten muss, die eigentlich nicht für mich bestimmt sind.“ Rye zog einen Schmollmund. Sein Geliebter schien es tatsächlich ernst zu meinen. „Was willst du denn haben?“, fragte er vorsichtig. Er bemerkte, wie Gin seine Hand fester umschloss, um ihn kurz darauf zu sich heranzuziehen. Rye erstarrte, als sich Gin vorbeugte und ihm verführerisch ins Ohr flüsterte: „Dich.“ Mit einem Schlag übermannte Rye eine Welle von Verlangen, die seine Kehle in Flammen aufgehen ließ. Gins bloße Nähe strahlte auf einmal eine viel intensivere Hitze aus, sodass sich Rye automatisch von ihm angezogen fühlte. Sein Körper spannte sich an. Er wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Am liebsten hätte er gesagt „Du hast mich doch schon“, doch dass Gin es nicht so gemeint hatte, lag klar auf der Hand. Heimlich fragte er sich, woher plötzlich diese Entschlossenheit des Silberhaarigen kam. So offen zu seiner Liebe zu stehen passte gar nicht zu ihm. Doch bevor sich Rye eine andere Antwort zurechtlegen konnte, wich Gin plötzlich begleitet von einem Seufzen wieder zurück und ließ seine Hand los. Enttäuscht blickte Rye ihn an, obwohl ihm klar wurde, dass er ohnehin nicht darauf hätte eingehen können. So gern er Gin alles gegeben hätte, wonach er verlangte. „Das war nur ein Witz.“, meinte dieser nun kühl. „Oh…“ So ganz konnte Rye ihm das nicht glauben, jedoch sorgte Gins emotionsloser Gesichtsausdruck dafür, dass sich auch seine letzten Zweifel in Luft auflösten. „Ich kann versuchen, den NOC für dich ausfindig zu machen. Aber versprechen werde ich dir das nicht.“, sagte Gin tonlos. Ein Lächeln umzuckte Ryes Lippen. Ob Gin letzten Endes Erfolg haben würde, war ihm nicht so wichtig. Die Hauptsache war, dass er morgen bei ihm sein würde. „Wenn du es versuchst, reicht mir das schon.“ Er legte seine Hand auf Gins Wange, in welche sich daraufhin ein warmes Rot schlich. „Danke.“ Gin schmiegte seinen Kopf etwas stärker in die Berührung und schwieg, während sich Rye in diesem schönen, beruhigenden Anblick verlor. Nur im Hinterkopf fragte er sich, wie der morgige Abend wohl enden würde. Hoffentlich würde alles gut gehen. Kapitel 29: Hast du vergessen, wer du bist? ------------------------------------------- Rye beobachte mehr oder weniger aufmerksam den Eingang der Bar ‚Black Widow‘, welche sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Ganz in schwarz, mit leuchtend lilafarbenen Verzierungen und einem Eingangsschild, auf welchem eine Spinne abgebildet war. Zwar passend, aber geschmacklos. Das Gesamtbild erinnerte Rye an tödliches Gift. Doch er würde sich davon gewiss nicht abschrecken lassen. Dieser Unternehmensleiter war vor wenigen Minuten eingetroffen, was er jedoch nur mitbekommen hatte, weil Gin ihn darauf hingewiesen hatte. Denn die ganze Zeit über hatte Rye kaum den Blick von seinem Partner abgewandt. Obwohl Gins Anblick ihn immer überwältigte, schob er es heute ausnahmsweise auf den Anzug, welchen der Silberhaarige (leider viel zu selten) trug. Ein besonderer Anlass forderte eben auch die passende Kleidung. Was Rye dazu brachte den heimlichen Gedanken zu nähren, Gin öfters zu solchen Anlässen einzuladen. „Wirklich schade, dass ich ihn nicht zum Essen ausführen kann.“, dachte Rye frustriert, bevor Gin die Zigarette, die er bis eben geraucht hatte, ausspuckte und drauf trat. Er richtete seinen Sakko und ließ den Blick zu ihm herüber schweifen. „Schätze, wir müssen den Hintereingang nehmen. Dem Anschein nach müssen die Gäste ihre Einladung vorzeigen.“, schlug er vor. Rye war zum Glück nicht entgangen, wie ein breit gebrauter Türsteher tatsächlich die Einladungen der Gäste am Eingang kontrollierte, bevor er sie hereinließ. Natürlich könnte er den Kerl einfach bewusstlos schlagen, doch das würde in diesem belebten Viertel viel zu viel Aufmerksamkeit erregen. Es gab kaum einen Quadratmeter, auf dem sich niemand befand und selbst wenn sich mal eine kleine Lücke bildete, war sie innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde wieder geschlossen. Den größten Teil der Menschenmassen bildeten junge Leute, welche entweder vor der Bar, aus der sie geworfen wurden - oder in die sie nicht rein durften - herumlungerten, oder die von einer Bar zur nächsten zogen und das Nachtleben genossen. Nur wenige schienen für einen bestimmten Club gekommen zu sein und alle bei denen dies offensichtlich der Fall war, steuerten auf das gleiche Ziel zu: Die ‚Black Widow‘. „In Ordnung.“, stimmte Rye seufzend zu. Während er sich in Bewegung setzte, bereute er bereits, dass er Gin nicht länger bewundern durfte, wenn er diesen Auftrag beenden wollte. Der Silberhaarige ging erst ein paar Sekunden später über die Straße, wobei Rye es nicht lassen konnte, kurz prüfend zu ihm nach hinten zu schauen. Nur für den Fall, das etwas passierte. Hier trieb sich zu viel Gesindel herum, als dass er seinen Geliebten länger als ein paar Sekunden aus den Augen lassen konnte… Sobald Gin die Straße sicher überquert hatte, tat Rye so, als würde ihn die Bar nicht interessieren und ging gemächlichen Schrittes um das Gebäude herum. Dabei sorgte er unauffällig dafür, dass er wieder neben Gin laufen konnte. Je näher sie ihrem Ziel kamen, um so stärker konzentrierte sich Rye darauf, alles belanglose auszublenden. Schnell konnte er die Stimmen zweier Männer aus der allgemeinen Geräuschkulisse herausfiltern, die sich am Hintereingang der Bar zu befinden schienen. Anscheinend waren sie schlecht gelaunt und beschwerten sich bei dem jeweils anderen über den stressigen Arbeitstag. „Keine Sorge, eure Schicht ist gleich zu Ende.“, dachte Rye hämisch, bevor er stehenblieb und den Arm vor Gins Brust hob, um ihn am Weitergehen zu hindern. Der Hintereingang befand sich direkt um die nächste Ecke, sodass auch Gin die Stimmen hörte und verstand. Rye ließ den Arm wieder sinken und wandte sich seinem Geliebten zu. „Gib mir eine Minute.“, sagte er leise. „Dann kannst du nachkommen.“ Gin sah ihn einen Moment lang nur missmutig an, als würde er das nicht so hinnehmen wollen. Doch die Worte, die ihm scheinbar auf der Zunge lagen, ließ er unausgesprochen. „Im Gegenzug werde ich dich überraschen, wenn ich mit den Beiden fertig bin.“, versprach Rye und setzte anschließend ein schelmisches Lächeln auf, das den Silberhaarigen stutzig werden ließ. Seine Lippen formten eine harte Linie und ein grüblerischer Ausdruck trat in seine Augen. „Meinetwegen.“, willigte er nach ein paar Sekunden schließlich ein. Immer noch lächelnd zwinkerte Rye ihn vielsagend an und verschwand danach um die Ecke. So schnell und lautlos, dass die beiden Männer ihn gar nicht kommen sahen. Noch bevor sie die Gefahr richtig erfassen konnten, hatte Rye sie bereits mit zwei gezielten Handkantenschlägen ins Genick ausgeknockt. Triumphierend beobachtete Rye, wie die Beiden bewusstlos zu Boden sanken. Ein klein wenig stolz auf sich war er dabei schon, dass er die genaue Kraft der Schläge richtig abgeschätzt und ihnen nicht versehentlich das Genick gebrochen hatte. Vier Tote sollte es heute immerhin nicht geben. Zum Glück hatte einer der Kerle ungefähr dieselbe Statur wie er, wenn auch etwas größer gewachsen. Mit flinken Handgriffen zog Rye ihm schwarze Anzugweste, weißes Hemd und Fliege aus, bevor er sich selbst obenrum entkleidete und die Klamotten austauschte. Die Hose passte zum Glück dazu. Zuletzt band Rye seine langen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen und überprüfte noch einmal, ob alles richtig saß. Wie vermutet waren die Ärmel ein bisschen zu lang und er musste sie hochkrempeln. Jedoch fiel ihm auf, das noch irgendetwas fehlte. Etwas, das seine Tarnung perfekt vervollständigen würde. Rye ließ den Blick über die beiden Männer schweifen. Da bemerkte er es. Der Andere trug noch eine Brille. Ohne zu zögern probierte Rye sie an und versuchte durch die Gläser hindurchzuschauen. Zu seinem Erstaunen wurde seine Sehfähigkeit dadurch nicht im geringsten eingeschränkt. Er konnte noch genauso scharf sehen wie vorher. Umso besser, dann konnte er sich die Brille für den Rest des Abends ausleihen. Während Rye Daumen und Zeigefinger ans Kinn legte, fragte er sich: „Und was mach ich jetzt mit denen?“ Leicht überfordert huschte sein Blick zwischen den beiden Kellnern hin und her. Etwas, womit man sie fesseln und knebeln konnte, hatte er nicht dabei. Er konnte nicht voraussagen, wie lange die Bewusstlosigkeit anhalten würde. Wäre die Zeitspanne zu kurz und die Männer kämen wieder zu sich, könnten sie zum Problem werden. Egal, wohin er sie letztlich verfrachtete. Blieb nur, sie irgendwo einzusperren, wo keine Menschenseele nachsehen würde. Aber wo gab es solch einen Ort in so einem belebten Viertel schon. Plötzlich vernahm Rye Schritte hinter sich. Sein Körper spannte sich reflexartig an, um einen möglichen Angreifer sofort zu überwältigen. Doch als er seinen Blick über die Schulter warf, stellte er mit Erleichterung fest, dass es sich nur um Gin handelte. „Du solltest doch kurz warten.“, tadelte Rye und verschränkte die Arme. Für einen Moment wurden die Augen des Silberhaarigen groß, bevor er zu schmunzeln begann. „Die Minute ist rum.“, meinte er schulterzuckend und fügte belustigt hinzu: „Ich wollte meine Überraschung sehen.“ Rye war sich sicher, dass er jetzt erröten würde, wenn er könnte. Er drehte sich zu Gin um, damit dieser seinen neuen Look betrachten konnte. „Wie seh‘ ich aus?“, fragte Rye, als sein Partner ihn lediglich schweigend anstarrte. Er versuchte es scherzhaft klingen zu lassen, doch die Verlegenheit ließ sich dennoch aus seiner Tonlage heraushören. Gin musterte ihn weiterhin mit großen Augen. Rye glaubte, eine leichte Röte auf dessen Wangen erkennen zu können. Doch dann verhärtete sich Gins Miene wieder und er erwiderte trocken: „Die Brille steht dir nicht.“ Das daraufhin eintretende Schamgefühl traf Rye wie ein Schlag ins Gesicht. „Findest du wirklich?“, hakte er verdutzt nach, während er überlegte, die Brille doch lieber wieder abzunehmen. Jedoch lachte Gin nur leise, ohne eine klare Antwort auf die Frage zu geben. Kurz darauf warf er dem Schwarzhaarigen etwas zu. „Du solltest dich nächstes Mal besser vorbereiten.“, sagte er dabei. Rye betrachtete das Tesafilm in seinen Händen. Zum Glück hatte Gin dran gedacht. „Danke.“, erwiderte er lächelnd. Es dauerte nicht lange, die beiden Kellner ordentlich zu fesseln und sie anschließend provisorisch in einem Müllcontainer neben der Tür zu verstecken. Dort würde so schnell niemand nach ihnen suchen. Rye betrat das Gebäude zuerst, um zu überprüfen, ob die Luft rein war. Schließlich war Gin als normaler Gast hier und durfte nicht in der Personalabteilung gesehen werden. Der kleine Flur schien leer zu sein. Doch aus den angrenzenden Räumen konnte Rye verschiedene Geräusche vernehmen. Stimmen. Schritte. Das Klappen eines Schließfachs. Eiswürfel, die klirrend in ein Glas fielen. Kochendes Wasser. Das Brutzeln mehrerer Pfannen und Fritteusen. Noch vieles mehr, doch im Gang bewegte sich noch immer niemand. Rye bedeutete Gin mit einem Nicken, dass sie ohne Probleme durchgehen konnten. Vor der Küche, deren Tür weit offen stand, erhöhten sie ihr Schritttempo. Die Bestellungen wurden anscheinend alle über eine in der Wand eingebaute Durchreiche weitergegeben, sodass die Kellner nicht jedes Mal in die Küche laufen mussten. Doch hin und wieder mussten einige Köche trotzdem hin und her wandern, um beispielsweise zum Kühlraum zu gelangen. Was genau jetzt wieder der Fall war. Gerade noch so, dass Rye und Gin den Gang rechtzeitig verlassen konnten, ohne entdeckt zu werden. Draußen wurde die Musik, die bisher nur gedämpft zu hören gewesen war, sofort lauter. Wenigstens war es anständiger Jazz, jedoch nicht von einem Gerät gespielt, sondern live gesungen. Bevor sich Rye einen groben Überblick verschaffen konnte, wurde er allerdings von Gin hinter sich am Ärmel gezogen. Beide blieben stehen. Als sich Rye umdrehte, konnte er dem Silberhaarigen schon an seiner ernsten Miene ablesen, dass jeder von nun an auf sich allein gestellt war. „Wir machen es wie besprochen: Du Tezuka Naganori und ich den NOC.“, sagte Gin in autoritärer Tonlage. Rye nickte. Er war sich nicht sicher, inwieweit es ihm gelingen würde in seiner neuen Rolle aufzugehen und wusste, dass er kein geborener Schauspieler war. Jedoch würde er alles versuchen, um überzeugend zu wirken. Wie schwer sollte es schon sein den Kellner zu spielen? Da spürte Rye auf einmal die Wärme von Gins Hand an seiner eigenen, als dieser ihm unauffällig etwas gab. Ein Gerät. „Sobald ich einen Verdacht habe, werde ich es dich wissen lassen.“, meinte Gin, während er sich ein Mikrofon ans Ohr klemmte. Rye tat es ihm gleich. Aus irgendeinem Grund kam ihm die Handlung seltsam vertraut vor, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, so ein Gerät je benutzt zu haben. „In Ordnung.“ Er dachte nicht weiter darüber nach und versuchte sich ein selbstsicheres Lächeln aufzuzwingen. „Viel Glück. Wenn es ein Problem geben sollte, sag mir Bescheid.“, entgegnete Gin und deutete mit dem Zeigefinger auf das Ohr-Mikrofon. „Mach ich, danke.“ Rye beobachtete, wie Gin ihm den Rücken zudrehte und sich immer weiter von ihm entfernte, bis er letztlich unter den Gästen verschwand. Rye beschlich sofort ein unwohles Gefühl, sobald er seinen Geliebten nicht mehr sehen konnte. Doch er versuchte es abzuschütteln. Von nun an war es wichtig sich auf die Mission zu konzentrieren. Angefangen damit, dass er sich einen groben Überblick verschaffen musste. Von draußen hatte die Bar definitiv kleiner gewirkt. Der riesige Saal kam Rye mindestens doppelt so groß vor. Jedoch entsprach die Einrichtung nicht der einer herkömmlichen Bar. Es gab schon eine Theke – direkt über die Durchreiche mit der Küche verbunden – aber diese wirkte eher nebensächlich im Gegensatz zu der breiten Bühne, die zentral einen großen Teil des schwach beleuchteten Saals einnahm. Gerade spielten ziemlich viele Instrumente: Ein Schlagzeug, ein Keyboard, zwei Saxophone, ein Bass und eine Gitarre. Die Melodie des Liedes klang irgendwie gehetzt und doch gleichzeitig sehr harmonisch. Die tiefe Stimme der Sängerin war zu schnell, als dass es Rye gelang jedes Wort zu verstehen und es war zudem eine Mischung aus verschiedenen Sprachen. Ein Großteil der Gäste schien ohnehin nur das bildschöne Aussehen der Sängerin zu bewundern, anstatt auf das Lied zu achten. Die Meisten saßen an runden, fein gedeckten Tischen und unterhielten sich über alles Mögliche. Die Gespräche über gewisse abartige Neigungen und Vorlieben, in denen sich hin und wieder abfällige, perverse Kommentare über jegliche Personen mit hineinmischten, versuchte Rye bewusst auszublenden. Manchmal war es wirklich kein Segen alles im weiten Umkreis hören zu können. Diese Jubiläumsfeier hätte wohl besser in einem Bordelle stattfinden sollen. Die Gäste waren ohnehin zu 99% männlich. Rye ließ seinen Blick eine Treppe hinauf gleiten, die zu einer umlaufenden Empore führte, wo sich hinter einem Geländer noch weitere Gäste befanden. Diese machten allerdings einen ganz anderen Eindruck, als würden sie sich von den anderen abgrenzen. Unten saßen anscheinend nur die normalen Angestellten, während oben die gehobenere Schicht der Gäste saß. Rye vermutete, dass er dort mit hoher Wahrscheinlichkeit auch den Unternehmensleiter finden würde. „Hey, du da!“ Rye zuckte zusammen. Die Stimme kam von Richtung Theke. Er drehte sich um und erblickte einen breit gebauten Mann mit Bart und Glatze. „Steh da nicht wie angewurzelt rum und scher dich gefälligst an die Arbeit! Die Bestellungen wandern nicht von allein zu den Tischen!“, keifte er und schob ein rundliches Tablett mit vier alkoholischen Getränken unsanft über die Theke. „J-Jawohl, Verzeihung.“ Rye trat an die Theke heran und nahm das Tablett zögernd entgegen. „Die kommen alle zu Tisch 36.“, teilte ihm der Mann in ruhigerer Tonlage mit. Rye tat so, als würde er wissen, welcher Tisch damit gemeint war und ging mit den Getränken davon. In Wirklichkeit wusste er jedoch überhaupt nicht, wie die Tische hier nummeriert waren. Ohne es zu merken, blieb er stehen, um sich umzusehen. Einfach wahllos die Tische abklappern oder einen Mitarbeiter zu fragen würde unbeholfen wirken und zu sehr auffallen. „Stell dich nicht so an. Auf den Tischen stehen Kärtchen mit der jeweiligen Nummer.“, hörte Rye plötzlich die Stimme von Gin in seinem Ohr. „Er beobachtet mich gerade…“ , musste der Schwarzhaarige beschämt feststellen. Er atmete tief durch die Nase und versuchte Gins verlockend süßlichen Geruch aus der Menge herauszufiltern. Auf diese Weise gelang es Rye sehr schnell seinen Partner ausfindig zu machen, welcher ganz hinten im Saal mit einem Getränk in der Hand an der Wand lehnte. Als sich ihre Blicke begegneten, lächelte Gin ihn leicht an, bevor er einen Schluck von seinem Glas nahm und wieder wegschaute. Rye konnte sich ebenso ein Lächeln nicht verkneifen. Mit neuer Entschlossenheit widmete er sich wieder seiner Aufgabe zu und suchte auf jeden der Tische in seinem Umfeld die Kärtchen mit den Nummern. Alle nur von 10 bis 20, dennoch versuchte er sich möglichst jede davon einzuprägen. „Vielleicht oben…“, dachte Rye und ging kurz darauf mit schnellen Schritten die Treppe hoch. Stets darauf achtend, den Inhalt der Getränke nicht zu verschütten. Im ersten Stock waren die Nummern schon höher. „29… 31… 32… 35…“, zählte Rye gedanklich, bis er den gesuchten Tisch endlich gefunden hatte. Vier Männer. Vier gleiche Getränke. Da konnte er glücklicherweise nichts vertauschen. Kaum hatte er den Tisch erreicht, richteten sich auch schon die vier Augenpaare der Männer ungeduldig auf ihn. „Das hat aber ganz schön gedauert.“, meinte einer von ihnen gereizt. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, ich arbeite noch nicht lange hier und verliere manchmal den Überblick.“ Rye lächelte entschuldigend und teilte die Getränke nacheinander aus. „Darf es noch etwas sein?“ Die Herren schauten sich abwechselnd an und schüttelten leicht den Kopf, bis einer noch sagte: „Nein, erst mal nicht.“ Rye verbeugte sich schweigend, bevor er sich von den Herren wieder abwandte. Wenn er schon einmal hier oben war, wollte er auch die Gelegenheit nutzen und diesen Naganori finden. Dafür müsste er jedoch wissen, wie der Kerl ungefähr aussah. Und es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Rye ließ seine Hand unauffällig zu seinem Ohr wandern und betätigte einen Knopf am Mikro, um Gin im leisen Ton eine Frage zu stellen: „Du sagtest doch gestern, dass du diesen Naganori kennst. Weißt du vielleicht, wie er aussieht und könntest ihn mir beschreiben?“ Rye lauschte angespannt dem Rauschen in seinem Ohr. Gin antwortete ihm erst nach mehreren Sekunden. „Ich merke mir nur selten die Gesichter anderer Personen… Er müsste relativ alt sein. Ich glaube, seine Haare waren schwarz… sein Gesicht eher kantig und faltig. Auf die Augenfarbe hab ich nicht geachtet.“ Rye merkte dem Silberhaarigen an der nachdenklichen Tonlage und den Sprechpausen an, wie schwer es ihm fiel, sich zu erinnern. Er unterdrückte ein Seufzen und bohrte weiter: „Statur?“ „Etwas breit, aber nicht dick.“ Es klang nicht sonderlich sicher. Doch da Rye vorerst keinen anderen Anhaltspunkt hatte, musste er sich wohl oder übel an diesen paar Informationen orientieren. „Wenn er mir über den Weg läuft, würde ich mich erinnern. Aber das ist bisher noch nicht der Fall gewesen. Du findest ihn schon, der Kerl steht doch sozusagen heute im Mittelpunkt.“, fügte Gin hinzu, um ihn scheinbar zu ermutigen. „Das ist leicht gesagt…“, erwiderte Rye frustriert. Er ließ seinen Blick hin und her schweifen und suchte nach Personen, auf denen Gins grobe Beschreibung zutraf. Rye stellte schnell fest, dass in diesem Bereich fast jeder alt war. Je nach dem, wie man ‚alt‘ definierte. Älter als er selbst war der Großteil auf jeden Fall. Was die Haarfarbe betraf, fielen zumindest einige weg. Etwas breit gebaut war von den Übrigen auch nicht jeder. Die Gesichtsform konnte Rye allerdings schlecht abschätzen. Während er ein paar Runden drehte und nebenher die ein oder andere Bestellung aufnahm, um nicht verdächtig zu wirken, versuchte er jedes Gespräch, das seine Ohren erreichte, zu belauschen. Vielleicht konnte er so noch an brauchbare Infos gelangen. Aber der Inhalt der Gespräche schien in den allermeisten Fällen belanglos zu sein. Von irgendwelchen komplizierten Geschäften, von denen Rye überhaupt nichts verstand, bis hin zu diversen Problemen innerhalb der Familie war alles mit dabei. Von flachen Witzen und albernem Gelächter mal abgesehen. Zwischendurch schnappte Rye noch auf, dass es anscheinend im Hinterbereich noch eine VIP-Lounge mit extra Zimmern gab. Jedoch bezweifelte er, dass der Kerl sich dorthin zurückgezogen hatte. Als Unternehmensleiter müsste dieser eigentlich allen Gästen zur Verfügung stehen oder sich wenigstens einmal vor allen zeigen. Es war schließlich eine Jubiläumsfeier. Als Rye wieder die Treppe herunterging, schnappte er plötzlich doch einen Satz auf, der neue Hoffnung in ihm weckte: „…wollte er die Rede nicht um acht Uhr halten?“ Daraufhin entgegnete jemand anderes abfällig: „Sind doch noch zehn Minuten bis dahin. Und selbst wenn nicht, auf den sein falsches, überfreundliches Geschwafel kann ich echt verzichten.“ „Hast ja recht. Dem geht es einzig und allein nur um die Kohle. Wir kleines Volk interessieren den doch gar nicht. Hast du mitbekommen, wie viel er im letzten halben Jahr entlassen und einfach ersetzt hat? In den meisten Fällen ohne nachvollziehbare Begründung.“ Ein Lächeln umspielte Ryes Lippen. Dann würde er diesen Naganori also spätestens in zehn Minuten zu sehen bekommen. Womöglich auf der Bühne. Von da an würde er ihn problemlos im Auge behalten können. „Aber sonderlich beliebt unter seinen Angestellten scheint er nicht zu sein…“, dachte Rye auf dem Weg zurück zur Theke, um dort die Bestellungen abzugeben. Doch mitten im Gehen blieb er stehen, als die meisten Instrumente auf der Bühne plötzlich aufhörten zu spielen. Die Melodie wurde langsamer. Nur noch die Stimme der Sängerin war zu hören, deren Worte Rye nun klar und deutlich verstehen konnte:   ♪♫ „…It is a wonder for my life Please could you kiss my name? When the music's over Turn off light It was such a sweet time Could you pray for me, my friend? It's starting overtime…“ ♪♫   Gin nahm nur beiläufig wahr, wie sich die Atmosphäre des Saals durch die Musik ein wenig veränderte. Er hatte die ganze Zeit auch kaum auf das Lied geachtet, da er mit anderen Dingen beschäftigt war. Den NOC aus der großen Anzahl an Gästen herauszufiltern und gleichzeitig darauf zu achten, dass Rye keine Fehler unterliefen, erwies sich als schwieriger, als er zu Anfang angenommen hatte. Manchmal wusste er nicht, worauf er sich mehr konzentrieren sollte. Wenigstens schien Rye allmählich mit seiner Rolle klarzukommen und wirkte nicht mehr ganz so ungewandt wie vorhin. Zugegebenermaßen fiel es Gin auch nicht wirklich leicht sich der Masse anzupassen. Gefühlt jeder saß zusammen in einer kleinen Gruppe aus mindestens drei Personen. Die Wenigsten blieben lieber allein. Wer allein herumstand, wirkte automatisch so, als würde er nicht richtig dazu gehören. Jedoch hatte Gin kein wirkliches Interesse mit irgendjemanden hier ein Gespräch anzufangen. Das würde nur unnötig ablenken. Als Unbeteiligter konnte man das Geschehen viel besser beobachten und besonders auffällige Personen genauer im Auge behalten. Auffällige Personen, bei denen es sich eventuell um den gesuchten NOC handeln könnte. Gin überlegte, unter welchen Kriterien er seine Suche eingrenzen sollte. Er stellte sich gedanklich ein paar Fragen, auf die er eine Antwort finden sollte, um sich die Arbeit zu erleichtern: „Wie würde sich ein NOC auf solch einer Veranstaltung verhalten? Was würde er tun? Würde er versuchen sich anzupassen oder eher im Hintergrund bleiben?“ Wenn man es genau betrachtete, gehörte ein NOC ebenso nicht richtig dazu. Eine solche Person war stets auf der Suche nach Informationen und musste immer alles im Überblick behalten. Sie würde versuchen nicht aufzufallen. Doch musste die meiste Zeit über allein bleiben, um unbemerkt Informationen an Kollegen weiterleiten zu können. Gin fiel auf, dass er in diesem Sinne vieles mit dem NOC gemeinsam hatte. Zumindest heute. Genau jetzt in diesem Moment. Sie gehörten beide nicht dazu. Mussten beide im Hintergrund agieren, würden aber notgedrungen in den Vordergrund treten. Sie beide suchten nach etwas. Zwar nach unterschiedlichen Dingen, doch das spielte keine Rolle. Und so ließ Gin analysierend seinen Blick durch den Saal wandern, um nach Personen Ausschau zu halten, die sich genau so verhielten wie er. Das grenzte den Kreis der Verdächtigen erheblich ein. Es konnte nur hier unten sein, denn der NOC war mit Sicherheit einer von den Angestellten und von denen befand sich niemand in der oberen Etage. Auf Anhieb geriet nur eine einzige Person in Gins Blickfeld. Ein blondhaariger Mann, welcher etwas weiter entfernt neben der Toilettentür lehnte und sich gerade eine Zigarette ansteckte. Gut, dass das Rauchen in dieser Bar nicht verboten war, weshalb Gin selbst seit eben eine Zigarette rauchte. Eine relativ praktische Beschäftigung, damit es nicht ganz so aussah, als hätte man gar nichts zu tun. Außenstehende könnten durchaus davon ausgehen, dass man einfach nur höflich sein und niemanden zuqualmen wollte. Doch Gin stellte sich dennoch die alles entscheidende Frage, ob dieser Mann tatsächlich die Person war, nach welcher er suchte. Ob dieser Mann wirklich der besagte Spion im Unternehmen war. Um das herauszufinden, musste er ihn erst mal noch eine Weile beobachten und jede seiner Bewegungen studieren. Gin verengte skeptisch die Augen. Sein Gefühl sagte ihm, dass er richtig lag. Und sein Gefühl trog ihn sonst nie. Aber er wollte noch keine voreilige Entscheidung treffen. Während er den Mann weiter beobachtete, hörte er nebenbei, wie die Musik vollkommen verstummte. Die Lichter im Saal wurden auf einmal heller. Es herrschte aufmerksames Schweigen. Nur im Augenwinkel sah Gin, wie ein älterer Mann auf die Bühne trat und das Mikrofon überprüfte. Kein Zweifel, das war Tezuka Naganori. Er würde nun seine Rede halten und Rye müsste ihn dabei deutlich erkennen können. „Meine sehr geehrten Damen und Herren. Es ist mir eine eine besondere Ehre und Freude, hier vor ihnen zu stehen und anlässlich des 50. Jubiläums unseres Unternehmens zu Ihnen zu sprechen. Fünfzig Jahre Arbeitsleben sind eine lange Zeit und alleine für sich betrachtet schon beachtlich genug, entsprechend gewürdigt zu werden. Ich bin beeindruckt von der Schnelligkeit, der hohen Qualität und Präzision Ihrer Arbeit. Fünf Jahrzehnte voller Geschichte liegen hinter uns, in der unser Unternehmen unendlich viel erreicht hat. Wir erinnern uns…“ Gin verdrehte die Augen und versuchte das Gerede auszublenden. Er fixierte seinen Blick wieder auf den blondhaarigen Mann, welcher jetzt so tat, als würde er zuhören. Nebenbei schien er jedoch mit flinken Fingerbewegungen etwas auf seinem Smartphone einzutippen. Bemerkenswert, wie er teilweise blind schreiben konnte und nur sehr selten auf den Bildschirm schauen musste. Das zog er die ganze Rede über so durch, als sei er ein Computer. Anderen, die darauf nicht bewusst achteten, wäre es nicht wirklich aufgefallen. Zum Ende der Rede bewegte sich der Mann endlich vom Fleck und schien sich unters Volk mischen zu wollen. Als Naganori die Bühne verließ, erhoben sich auch einige Angestellte von ihren Plätzen, um mit ihm das Gespräch zu suchen. Es wurde dementsprechend wieder lauter im Saal. Mitten im Getümmel konnte Gin dann auch Rye wieder entdecken, welcher versuchte durch eine Lücke in der Masse zu Naganori hindurch zu spähen. Allerdings wurde er nicht sofort fündig und achtete dabei weniger auf seine Umgebung. Erst, als er ein paar Schritte rückwärts ging, fiel Gin auf, dass sich Rye unbewusst dem vermeintlichen Spion näherte. Da dieser jedoch gerade in eine andere Richtung schaute, stießen beide kaum einen Moment später zusammen. Gin schüttelte seufzend den Kopf, während sich der blonde Mann leicht erschrocken umdrehte und sich Rye schließlich bei ihm entschuldigte. Danach ging er schnell weiter und eigentlich wäre es damit auch erledigt gewesen. Doch da tat der Mann plötzlich etwas völlig Unerwartetes: Er starrte Rye hinterher. Mit einem vor Schock und Entsetzen versteinertem Gesichtsausdruck. Als hätte er einen Geist gesehen. Aber Rye schien es längst nicht mehr zu bemerken. „Was sollte das jetzt…?“ Gin runzelte verwirrt die Stirn. Der Kerl hatte doch überhaupt nichts mit Rye zu tun. „Oder doch…?“ Gin musste erfahren, was es mit dem schlagartig veränderten Verhalten des Mannes auf sich hatte und ob er Rye vielleicht doch schon einmal irgendwo begegnet war. Gin versuchte sich vorerst von dem Gedanken loszureißen, dass der Mann von Eclipse sein könnte. Wenn dem so wäre, hätte er bestimmt anders reagiert. „Und was sollte ein Mitglied von Eclipse auf solch einer Veranstaltung wollen? Das ergibt keinen Sinn…“, dachte Gin, während er sah, wie der Mann auf einmal einen Anruf tätigte und sich das Handy ans Ohr hielt. „Wenn ich was herausfinden will, wäre nun die perfekte Gelegenheit…“ Gin ging mit gezielten Schritten los und richtete seinen Blick nicht direkt auf den Mann, sondern schaute leicht an ihm vorbei. Umso näher er ihm kam, desto mehr verlangsamte er sein Schritttempo. Erst, als er ein paar Meter entfernt an ihm vorbeiging, konnte er ein paar Worte erhaschen. Allerdings auf Englisch. „Yes, I'm sure, it was him! He's alive!“, zischte der Mann atemlos ins Handy und schirmte dabei seinen Mund mit der Hand ab. Doch er klang weder verärgert noch entsetzt. Eher fassungslos und… erleichtert. „Was hat das zu bedeuten? Wer ist er? Rye schien ihn doch offensichtlich nicht zu kennen… oder er erinnert sich nicht…“ Die Fragen schossen Gin wirr durch den Kopf und er fand auf keine Einzige eine Antwort. Doch unabhängig davon, war seine Vermutung nun mehr oder weniger bestätigt. Dieser Mann war eindeutig der Spion. Offensichtlich von irgendeiner Behörde aus dem Ausland. Da er Englisch sprach, tippte Gin auf MI6 oder CIA. Dem Akzent nach aber wohl eher Amerikaner. Noch ein Punkt, der Gin verwirrte. Falls der Kerl wirklich Amerikaner oder Engländer war, standen die Chancen noch geringer, dass er etwas mit Rye zu tun hatte. Denn Rye sah überhaupt nicht so aus, als hätte er englische oder amerikanische Wurzeln. Doch eins nach dem anderen. Zuerst musste Gin seinem Partner mitteilen, dass er den Spion soeben ausfindig gemacht hatte. Das Verhältnis der beiden konnte auch später noch geklärt werden. „Wo ist er überhaupt…“, ging es Gin durch den Kopf, bevor er seinen Blick in sämtliche Richtungen warf, in der Hoffnung Rye irgendwo zu entdecken. Gin hielt gleichzeitig nach diesem Naganori Ausschau, da es sehr wahrscheinlich war, dass sich Rye in der Näher von diesem aufhielt. Doch als der Silberhaarige den Unternehmensleiter erblickte, klappte ihm der Mund auf. Rye befand sich nicht nur in der Nähe von Naganori, sondern führte auf sehr geringer Distanz ein scheinbar intensives Gespräch mit diesem. Gin zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Das war schnell gegangen. Er hatte vermutet, dass Rye nicht so leicht an den Kerl herankommen würde. Hoffentlich würde er auch genauso schnell zur Tat schreiten und es zu Ende bringen. Jedoch wurde Gin stutzig, als sich so etwas wie Neugierde und Interesse in Naganoris Gesichtsausdruck schlich. Zwar schwieg er, doch seine Lippen verformten sich zu einem leichten Lächeln. Daraufhin beugte sich Rye vor, um ihn etwas ins Ohr zu flüstern. Gin durchlief ein Schauer, als er dabei das verführerische Glitzern in Ryes Augen bemerkte. „Flirtet er etwa mit dem alten Sack?!“, schoss es ihm entsetzt durch den Kopf. Ihm stockte für einen kurzen Moment der Atem. „Wieso macht er es ausgerechnet auf diese Weise…“ Gin wandte den Blick von den beiden ab, da ihm sonst das Abendessen wieder hochgekommen wäre. Doch abgesehen von der Übelkeit, verspürte er noch ein weiteres Gefühl, welches er nicht benennen konnte. Beinahe hätte Gin es als Wut gedeutet, jedoch fühlte er sich zu miserabel, um wütend zu sein. Er wollte sich erst gar nicht in Gedanken ausmalen, wie weit Rye bei seinem Versuch, den Kerl zu verführen gehen würde. Allein die bloße Vorstellung, wie dieser alte Mann die makellose, glatte Haut von Rye mit seinen rauen, faltigen Drecksfingern berühren würde… Gin ballte die Hände zu Fäusten. Inzwischen glaubte er, dass er doch wütend war. Besaß Rye denn überhaupt kein Selbstwertgefühl? Wie konnte er so einfach jemand anderem seinen Körper anbieten? Energisch schüttelte Gin den Kopf. „Ich interpretiere da zu viel rein. Er bringt den Kerl bestimmt vorher um…“, hoffte er. Doch gab es dafür eine Garantie? Er ließ seinen Blick vorsichtig wieder in Ryes Richtung schweifen, nur um kurz darauf zu erstarren. Die beiden waren verschwunden. Gin sah sich hastig mit geweiteten Augen im Saal um. Fehlanzeige. Da fiel ihm auch auf, dass der Spion ebenso nicht mehr da war. „Er ist ihnen doch nicht etwa gefolgt…“, befürchtete der Silberhaarige. Egal, ob dem so war oder nicht: Das konnte in beiden Fällen ein schlimmes Ende nehmen. Vielleicht würde Rye rechtzeitig reagieren und beide umbringen, doch davon konnte Gin nicht ausgehen. Er atmete tief durch und versuchte einen klaren Kopf zu bewahren. Es gab nur drei Orte, wo Rye mit dem Unternehmensleiter hingegangen sein konnte: die Toilette, die zweite Etage oder die angrenzende VIP-Lounge. Letzteres war das Einzige, was in diesem Moment Sinn ergab und in Frage kam. Auf der Toilette gab es zu viele Zeugen, ebenso wie auf der zweiten Etage zwischen den Gästen. Doch in der Lounge gab es Bereiche, wo man ungestört war. Ungestört genug, um einen Mord zu begehen, der nicht sofort auffliegen würde.   …   Rye wartete an der Tür, bis Naganori das Zimmer betreten hatte. Dann ging er selbst hinein und verriegelte sie lautlos hinter sich. Er setzte ein breites Lächeln auf, als sich der Mann mit skeptischer Miene zu ihm umdrehte. Ein paar Sekunden starrten beide sich an, ohne etwas zu sagen. Dennoch konnte Rye plötzlich eine Stimme hören. Es war Gin, welcher versuchte ihn über das Ohr-Mikrofon zu warnen: „Rye! Ich weiß jetzt, wer der NOC ist. Wo auch immer du gerade bist, erledige es schnell und achte auf deine Umgebung. Der Typ scheint euch gefolgt zu sein.“ Rye unterdrückte ein breites Grinsen. „Soll mir nur recht sein…“, dachte er hämisch. Dann brauchte er den NOC nicht mehr selbst suchen und konnte ihn gleich mit erledigen. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Doch zuerst musste er sich um den Unternehmensleiter kümmern, welcher ihn nach wie vor anstarrte. Rye legte den Kopf leicht schräg und fragte mit gespielt verwunderter Tonlage: „Was soll denn dieser Gesichtsausdruck? Vertrauen Sie mir etwa doch nicht?“ Er entfernte sich von der Tür und ging mit langsamen Schritten auf Naganori zu, welcher nun lächelte und die Hände in die Taschen seiner Hose vergrub. „Das nicht, ich bin nur überrascht, dass Renya einen seiner Untergebenen geschickt hat. Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass er meine Einladung annimmt.“, erwiderte er gelassen. „Nun, mein Boss ist kein Mensch, der gern in die Öffentlichkeit tritt. Und er geht erst recht nicht auf Veranstaltungen, bei denen irgendwelche Schnüffler die Sicherheit der Organisation gefährden könnten.“ Rye versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm es ihm war ‚mein‘ Boss zu sagen, denn bisher hatte er es noch nie so formuliert. Doch der provozierende Unterton schien seinen Gegenüber zu reizen, da dieser seine Mundwinkel etwas nach unten zog und die Augen verengte. „Woher weiß er von dem Spion?“, wollte er wissen. Rye dachte sich keine ehrliche Antwort auf diese Frage aus und entgegnete einfach das, was ihm gerade in den Sinn kam: „Wir haben eben sehr vertrauliche Quellen. Aber ich sehe keinen Grund, Ihnen zu verraten, um welche Quellen es sich handelt. Schließlich hielten Sie es auch nicht für notwendig, uns von dem Spion in Ihrem Unternehmen zu erzählen.“ Der Grund klang relativ plausibel. Zudem schien Naganori es ihm abzukaufen, da seine Mundwinkel sich noch weiter verzogen und die Falten auf seiner Stirn tiefer wurden. Jedoch schwieg er, weshalb Rye noch etwas hinzufügte, was ihm vorhin aufgefallen war: „Schon amüsant, Sie haben im letzten halben Jahr sehr viele Ihrer Angestellten entlassen und ausgetauscht, jedoch nie den Richtigen erwischt. Auf diese Weise wird man einen Spion jedenfalls nicht los. Ihnen ist schon bewusst, dass Sie jegliches Vertrauen Ihrer Geschäftspartner aufs Spiel setzen, wenn sich diese Information noch weiter verbreitet?“ Als der Boss ihm gestern den Auftrag gegeben hatte, hatte Rye erst gedacht, dass Naganori selbst nichts von dem NOC in seinem Unternehmen wusste. Doch das schien nicht der Fall zu sein. Weshalb sollte er sonst so viele Angestellte ohne Grund entlassen haben? Wahrscheinlich war der Kerl ein sehr selbstsüchtiger Mensch, der nichts anderes als Geld im Kopf hatte. Denn von diesem würde er immerhin nicht mehr so viel bekommen, wenn seine Geschäftspartner wegen des Spions keine Waren mehr handeln wollten. „Ich wüsste nicht, was dich das anzugehen hat.“, lautete Naganoris trockene Antwort, während Rye überlegte, ob er das Gespräch einfach an der Stelle beenden sollte. Theoretisch könnte er den Kerl auch jetzt sofort töten, um Zeit zu sparen. Aber das wollte er noch nicht. Er wollte ihn in die Enge treiben. Um den Spion brauchte sich Rye eigentlich keine Gedanken machen, da er die Tür verriegelt hatte. Außerdem würde er ihn so oder so vorher kommen hören. „Hmm… wenn die Behörden von den illegalen Exporten Wind bekommen, betrifft mich das schon. Ich arbeite immerhin für einen Ihrer Partner. Aber mal davon abgesehen, würde es nicht nur mich betreffen, sondern unweigerlich jeden Ihrer Geschäftspartner. Trotzdem versuchen Sie alles, um die Sache zu vertuschen und den Schein zu wahren, da Sie womöglich die Existenz Ihres Unternehmens nicht gefährden wollen. Deshalb haben Sie auch die Jubiläumsfeier stattfinden lassen, obwohl damit ein großes Risiko verbunden ist. Wenn Sie nicht bald etwas dagegen tun, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit sämtliche Namen und Gesichter Ihrer Geschäftspartner an die Behörden weitergeleitet.“, äußerte Rye seine Schlussfolgerung, um seinem Gegenüber ein wenig Angst zu machen. Eigentlich interessierten ihn die Gäste auf dieser Veranstaltung nicht und darum war es ihm auch völlig egal, was dieser NOC alles an die Behörde, für die er arbeitete, weiterleitete. Schon bald würde er sowieso ein toter Mann sein und dann spielte es keine Rolle mehr. „Dann befindet sich der Spion also unter den Gästen.“, sagte Naganori. „Selbstverständlich.“ Da trat auf einmal Wut in das Gesicht seines Gegenübers und er begann zu schreien: „Dann verrat‘ mir gefälligst, wer dieser Mistkerl ist! Du hast vorhin gesagt, du weißt es! Also hör auf um den heißen Brei herumzureden!“ Rye hätte beinahe gelacht. Noch wusste er es nicht. Aber das könnte sich jeden Moment ändern. Spätestens dann, wenn er wieder zu Gin stoßen würde. „Ach… hab ich das wirklich gesagt?“ Er spielte absichtlich den Unwissenden, was Naganori noch mehr aufzuregen schien. „Ja, das hast du! Ich bin nicht umsonst mit dir mitgekommen!“, schrie er mit wutentbrannter Stimme, wovon sich Rye nicht beeinflussen ließ. Er blieb ruhig und antwortete monoton: „Nein, natürlich sind Sie das nicht.“ „Sie sind mitgekommen, um zu sterben.“, fügte er gedanklich hinzu. „Dann spuck endlich den Namen dieses Spions aus!“, verlangte Naganori und trat dabei direkt vor Rye, welcher sich über das aufgebrachte Verhalten des Mannes köstlich amüsierte. „Tut mir leid, den weiß ich leider nicht.“ „Was?!“ Naganori trat völlig entrüstet zwei Schritte zurück. „Ich habe gelogen.“, gestand Rye lächelnd. „Und Sie haben mir so leicht geglaubt.“ Zugegebenermaßen hatte er am Anfang selbst nicht gedacht, dass er mit seiner Idee, die ihm spontan während der Rede gekommen war, Erfolg haben würde. Doch da hatte er sich geirrt. Es war zu leicht gewesen. Ein paar aufreizende Posituren und die richtige Tonlage hatten den Kerl schnell dazu gebracht, alles andere um sich herum zu vergessen und ihm jedes Wort zu glauben. „W-Wozu? Was willst du dann von mir?!“, stammelte Naganori verwirrt. Rye seufzte. Den Satz hatte er schon zu oft von zu vielen Menschen gehört, die alle längst nicht mehr am Leben waren. Und das erinnerte ihn mal wieder daran, was er für ein abscheuliches Monster war, das selbst den Tod verdient hatte. Auch wenn er heute lediglich den Willen einer anderen Person erfüllte. „Ich will eigentlich gar nichts von Ihnen… Aber mein Boss will Ihren Tod. Da kann man wohl nichts machen.“, meinte er bedauernd und zuckte mit den Schultern. Jetzt standen sowohl Angst als auch Schock in Naganoris Gesicht geschrieben. Er presste die Lippen zusammen, ballte seine Hände zu Fäusten und nahm eine angespannte Haltung ein. Als Rye mechanisch einen Schritt nach vorn setzte, versuchte Naganori ihn umgehend von sich wegzustoßen und holte zu einem Schlag aus. Der Schwarzhaarige wehrte den banalen Angriff mit Leichtigkeit ab und krallte seine Hand in den Hals des alten Mannes. Rye drückte den Hals so fest zusammen, dass Naganori schon nach wenigen Sekunden begann keuchend zu husten. Dessen Hände versuchten vergeblich den Griff von seinem Hals zu lösen. Doch seine Kraft ließ immer weiter nach. Rye achtete schon gar nicht mehr auf sein Opfer und verharrte in seiner Tätigkeit, als wäre er eingefroren. Doch nicht nur sein Körper, auch sein Verstand und all seine Emotionen waren in diesem Moment wie eingefroren. Er nahm kaum noch wahr, was er gerade tat. Dass er gerade dabei war, jemanden zu töten. Bis auf einmal ein Geräusch das Eis in tausende Splitter zerbrechen ließ. Schritte. Von außerhalb des Zimmers. Rye hielt inne. Er lockerte seinen Griff wieder und wandte den Blick zur Tür. „Wer ist das…? Etwa dieser Spion?“ Rye konzentrierte sich noch mehr auf die Schritte, dann stutzte er. Nein, ein Spion würde nicht deutlich hörbar angerannt kommen. Oder war es vielleicht Gin? Doch wieso kontaktierte er ihn dann nicht? Ehe Rye eine Frage auf diese Antwort finden konnte, hörte er, wie die Schritte direkt vor der Tür verstummten. Jemand drückte die Klinke herunter und rüttelte anschließend an der Tür. Wer auch immer das war, würde sich wahrscheinlich gleich mit Gewalt Zutritt verschaffen wollen. Dachte Rye zumindest. Denn kurz nach einem klickenden Geräusch wurde plötzlich die Tür aufgerissen und ein Mann stürmte vollkommen fassungslos in den Raum. Rye war wie gelähmt. Er wollte den Mann angreifen, doch tat es nicht. Er konnte ihn nur mit vor Schreck geweiteten Augen anstarren. Der Mann war offensichtlich Ausländer. Er war völlig außer Atem und starrte ihn ebenso an, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Irgendwas stimmte nicht mit ihm. Doch was das war, wusste Rye nicht. Er fuhr zusammen, als der Mann ihn plötzlich anschrie: „What the hell are you doing?! What's gotten into you?!“ Rye schluckte. Die Worte drangen tief zu ihm durch und erschütterten ihn aus unerklärlichen Gründen. Dieser Mann klang nicht wie jemand, der soeben Zeuge eines versuchten Mordes geworden war. Sondern wie jemand, der einen alten Freund zur Vernunft bringen wollte. Zudem fiel Rye erst jetzt auf, dass er die englische Sprache problemlos verstehen konnte. „Warum…“ Vermouth hatte ihm schon des öfteren englische Sätze entgegengeschleudert, doch damals hatte er nie sonderlich drauf geachtet und es einfach so hingenommen. Ohne es zu merken ließ er den Unternehmensleiter los, welcher sofort zu Boden sank und nach Luft schnappte. Dass er kurz darauf mühselig aufstand und aus dem Zimmer rannte, registrierte Rye nicht mehr. Sein Blick war ununterbrochen auf den blonden Mann gerichtet, welcher ebenso nicht auf Naganori achtete und ihn entkommen ließ. „Hast du vergessen, wer du bist?!“, schrie der Mann mit entsetzter Stimme, woraufhin Rye erneut zusammenzuckte. Die Worte trafen ihn gleichermaßen wie die vorherigen. Weil sie wahr waren. Er hatte vergessen, wer er mal gewesen war. Er erinnerte sich nicht mehr an sein früheres Leben. An Zeiten, wo er noch gelebt hatte. Aber diese Zeiten interessierten ihn nicht mehr. Er wollte es nicht wissen. „Nein.“, log er. „Ich will wissen, wer du bist.“ Daraufhin schaute ihn der Mann verwirrt an. Als schien er nicht zu wissen, was Rye damit meinte. „Was redest du da? Du weißt doch, wer ich bin!“, behauptete er. Ryes Miene verfinsterte sich leicht. Allmählich fing er an zu begreifen. Doch das wollte er nicht. Er wollte es nicht wissen. Offenbar kannte er diesen Mann. Sein früheres Ich hatte ihn gekannt. Doch dieses war schon lange tot. Es würde nie wieder zurückkommen. Dieser Mann verwechselte ihn. Sie konnten sich nicht kennen. Nicht mehr. Rye wurde aus seiner Gedankenspirale gerissen, als der Mann plötzlich weiter auf ihn einredete: „Warum hast du dich nicht gemeldet? Wir dachten alle, du seist gestorben! Ich habe Ja-“ „Shut up!!“, fiel Rye ihm schreiend ins Wort. Der Kerl sollte damit aufhören. Er sollte aufhören, ihn mit Dingen zu konfrontieren, die er nicht wissen wollte. Diese Dinge bereiteten ihm höllische Kopfschmerzen. Rye fuhr sich zitternd mit der Hand über die Stirn. „Sag, bist du dieser NOC?“, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen, ohne dem Mann in die Augen zu schauen. Dieser gab ihm erst nach einer Weile eine zögerliche Antwort: „Wie meinst-“ „Ob du der NOC in Tezuka Naganoris Unternehmen bist!“, unterbrach Rye ihn, sobald er bemerkte, dass er keine klare Antwort erhalten würde. „Ja, aber das spielt doch jetzt gar keine Rolle. Was ist denn los mit dir?“ In die Stimme des Mannes mischte sich jetzt ein misstrauischer Unterton. Rye sah ihm mit einem gequälten Lächeln wieder in die Augen. Er hatte recht, es spielte wirklich keine Rolle mehr. Denn er würde ihn gleich ins Jenseits befördern. So, wie der Boss es ihm aufgetragen hatte. „Gut.“, erwiderte Rye nun im ruhigeren Ton, während er an dem Mann vorbei ging, ohne seinen Blick von ihm zu lösen. Dessen blau-grüne Augen widerspiegelten in diesem Moment so viele Gefühle, die Rye nicht verstand. Nicht verstehen wollte. Misstrauen, Verwirrung, aber auch Vertrautheit und Sorge. Doch all das war ihm gleichgültig. „Mehr muss ich nicht wissen.“, fuhr der Schwarzhaarige fort, als er an der Tür angekommen war und diese wieder schloss. Er nahm seine Brille ab und setzte anschließend ein perfides Grinsen auf. Endlich schien sich der Mann seiner Lage bewusst zu werden. Die Angst zeichnete sich in seinem Gesicht ab, ließ sein Herz schneller schlagen und kroch ihm über Leib und Seele. Er wich vorsichtig ein paar Schritte zurück. „You are…“, begann er in leiser, argwöhnischer Tonlage. Doch er ließ den Satz in der Luft hängen, weshalb Rye ihn stattdessen beendete: „I am not the man you are looking for.“ Das waren die letzten Worte, die den Mann erreichten. Kaum einen Augenblick später ging Rye auf ihn los und schleuderte ihn gegen die Wand, welche von dem Aufprall mehrere Risse bekam. Noch bevor der Mann realisieren konnte, wie ihm geschah, hatte Rye ihn bereits gegen die Wand gedrückt und seine Hand in dessen Haare gekrallt. Er zog den Kopf des Mannes so weit nach hinten, bis ihm ein knackendes Geräusch verriet, dass das Genick gebrochen war. Danach ließ er den toten Körper zu Boden fallen, beachtete diesen aber nicht weiter. Rye starrte wie benommen auf die Risse an der Wand. Es war seltsam. Der Tod dieses Mannes löste nicht das in ihm aus, was er zuvor noch geglaubt hatte. Er fühlte nicht das, was er normalerweise fühlte, nachdem er einen Menschen das Leben genommen hatte. Es war schlimmer. Viel schlimmer. Als Rye den Blick sinken ließ, übermannte ihn ein Gefühl von Verrat. Seine Fingernägel drückten sich so stark in seine Handflächen, dass seine Hände anfingen zu zittern. „Nein… das kann unmöglich sein…“, dachte er kopfschüttelnd und versuchte das Gefühl zu vertreiben. Er hatte niemanden verraten. Dieser Mann war lediglich ein Fremder für ihn gewesen. Ein Fremder, den er töten musste, weil der Boss es ihm aufgetragen hatte. „Ob die Organisation Nachforschungen über seine Identität anstellen wird?“, fragte er sich mit aufkommender Angst. „Wenn ich früher wirklich etwas mit ihm zu tun gehabt habe und sie herausfinden, wer er ist und welcher Behörde er angehört, dann bedeutet das…“ Noch ehe Rye seinen Gedanken beendet hatte, beugte er sich zu der Leiche des Mannes herunter, um seine Taschen zu durchsuchen. Er musste alles vernichten, was auf die Identität des Mannes zurückführen könnte. Er wollte nicht wissen, wer dieser Mann war. Keiner durfte es wissen. Jegliche Hinweise auf sein früheres Leben waren nichts weiter als falsche Hoffnungen und wertlose Szenarien, die ihm zeigen würden, was er alles verloren hatte und nie wieder bekommen würde. Was brachte es, diesem Leben nachzutrauern? Warum sollte er sich ständig an Menschen erinnern müssen, die er sowieso niemals wiedersehen konnte? Alles, was zählte, war sein jetziges Dasein, welches er Eclipse zu verdanken hatte. Sie hatten ein Monster aus ihm gemacht. Rye versuchte sich wieder zu konzentrieren. Der Kerl schien zum Glück keine Papiere oder einen Ausweis dabei zu haben. Er fand nur die Einladung für die Veranstaltung, eine halbleere Zigarettenschachtel, eine Pistole in der Innentasche und zuletzt ein Handy. In dem schwarzen Bildschirm konnte Rye sein hasserfülltes Gesicht deutlich erkennen. Wie es kurz darauf Risse bekam, als er das Smartphone in seiner Hand zerdrückte. Begleitet von knackenden Geräuschen landeten wenige, kleine Glassplitter auf dem Boden. Rye beschloss fürs Erste, das Handy in seiner Jackentasche zu verstecken. Entsorgen könnte er es später immer noch. Jetzt gab es erst mal eine wichtigere Angelegenheit zu erledigen. „Hoffentlich hat es dieser Kerl nicht schon geschafft Hilfe zu holen… Verdammt! Warum musste ich mich auch ablenken lassen?“, fluchte er in Gedanken über sich selbst, bevor er zur Tür rannte und sie aufriss. Jedoch blieb er daraufhin überrascht auf der Stelle stehen. „Gin…“, entwich es ihm, als er seinen Partner vor sich erblickte, welcher ihn ebenso überrascht musterte. Rye überkam augenblicklich eine Welle der Erleichterung. Gins Anblick genügte, um ihn Wut und Schmerz vergessen zu lassen, die ihn bis eben noch beherrscht hatten. Nun wusste er wieder, weshalb sein verkommendes Dasein nicht vollkommen sinnlos war. „Was ist passiert?“, fragte Gin in strenger Tonlage, während er über Ryes Schulter hinweg zu dem toten Spion schaute. Der Schwarzhaarige versuchte ihm die Sicht zu versperren und gestand reumütig: „Naganori ist mir entkommen…“ Er bereitete sich innerlich darauf vor, dass Gin nun sauer werden und ihm Vorwürfe machen würde. Schließlich hatte er versagt. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Polizei hier anrücken würde, welche mit Sicherheit schon von Naganori kontaktiert worden war. Doch Gin verzog keine Miene, als wäre ihm das völlig egal. Hatte er gerade etwa nicht richtig zugehört? Oder wollte er es nicht wahrhaben? „Ich weiß.“, meinte er tonlos. „Deshalb ist er mir eben auch in die Arme gelaufen.“ „Oh…“ Ryes Augen wurden groß. Also schien doch alles nochmal gut gegangen zu sein. Zum Glück hatte er Gin darum gebeten mitzukommen. Sonst hätte die Situation jetzt wahrscheinlich ganz anders ausgesehen. „Ich war mal so frei und hab das für dich erledigt.“ Der Silberhaarige fasste ihm kameradschaftlich auf die Schulter, nur um ihn kurz darauf beiseite zu schieben, damit er das Zimmer betreten konnte. „Aber kein Wort zum Boss, klar?“ „Natürlich nicht. Danke… es tut mir wirklich leid. Ich hatte die Tür verriegelt. Keine Ahnung, wie er so schnell reingekommen ist…“, versuchte er sein Versagen irgendwie zu erklären und beobachtete mit wachsender Unsicherheit, wie Gin näher auf die Leiche zuging, um sie genauer zu betrachten. Das durfte er nicht. „Du dachtest nicht im Ernst, dass eine verriegelte Tür den Typen lange hinhalten würde? Das sind Billigschlösser. Um die zu knacken, reicht meistens schon eine simple Plastikkarte. Dazu muss man kein Profi sein.“, erklärte Gin spöttisch, woraufhin Rye beschämt den Blick senkte. Doch er ließ sich nicht lange beirren und trat schnell neben Gin, welcher den Blick nachdenklich über den toten Körper des Mannes schweifen ließ. „Den hatte ich im Verdacht…“, murmelte er. „Er war es auch.“, bestätigte Rye. „Er hat… sich mir zu erkennen gegeben.“ „Warum hätte er das tun sollen?“, hakte Gin ungläubig nach, während er anfing die Taschen des Mannes zu überprüfen. Nervosität beschlich Rye, als er erkannte, dass sein Partner nach etwas Bestimmten suchte. Etwas, das mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr da war… Zudem fiel ihm auch keine passende Antwort auf Gins Frage ein, ohne dass er sich damit verraten würde. Also schwieg er einfach. Erst als Gin ihn ungeduldig aus dem Augenwinkel heraus musterte, zwang er sich doch noch eine Antwort über die Lippen: „Ich hab ihn gefragt.“ Gins Augen verengten sich misstrauisch, jedoch ging er nicht weiter darauf ein und fragte stattdessen etwas anderes: „Ich bin mir sicher, dass er ein Handy dabei hatte. Wo ist es?“ Rye zuckte krampfhaft mit den Schultern und erwiderte: „Ich hab keins gefunden.“ „Ah, verstehe.“ Gins Stimme klang ironisch. Er erhob sich wieder und streckte ihm eine Hand entgegen. „Und jetzt gib es her.“ „Ich hab es nicht.“, beharrte Rye und versuchte sich die Lüge nicht in seinem Gesichtsausdruck anmerken zu lassen. Doch Gin durchschaute ihn dennoch. „Du lügst.“, meinte er in gefährlich ernster Tonlage, wobei Rye erschauderte. „Warum glaubst du das?“ Noch gab er sich allerdings nicht geschlagen. Auch wenn es völlig zwecklos war weiterhin den Unwissenden zu spielen. Das funktionierte ohnehin nicht – und schon gar nicht bei Gin. „Ich habe diesen Agenten keine Sekunde aus den Augen gelassen, und als er mit dir zusammengestoßen ist, hat er sehr… schockiert reagiert. Danach hat er ein Telefonat geführt. Ich weiß zwar nicht mit wem er gesprochen hat, aber es ging höchstwahrscheinlich um dich. Er kannte dich. Und das weißt du auch, sonst wäre das Handy noch da. Wenn nicht du es genommen hast, wer dann? Der Mann hatte mit keinen weiteren Personen Kontakt.“, erklärte der Silberhaarige, während Rye bei jedem Wort schlechter wurde. Wieso musste es so weit kommen? Gin durfte das alles nicht wissen. Die Organisation würde Nachforschungen anstellen. Sie würden herausfinden, in welcher Beziehung Rye zu diesem Spion stand. Sie würden seine Vergangenheit durchforschen. Alles über sein früheres Leben herausfinden. Nichts davon durfte passieren. Niemals. „Na schön, du hast recht. Ich hab das Handy genommen.“, gab er gereizt zu und als Gin zu einer Antwort ansetzte, fügte er noch hinzu: „Und zerstört.“ Gin starrte ihn eine Weile nur fassungslos an, bevor er fragte: „Warum hast du das getan?“ „Ich kann mich nicht daran erinnern, diesem Mann je begegnet zu sein. Er hat behauptet, mich zu kennen. Aber selbst wenn das wahr ist, will ich es nicht wissen. Ich will rein gar nichts über meine Vergangenheit wissen. Darum hab ich es getan.“ Rye musste sich bemühen einen ruhigen Tonfall beizubehalten, was ihm zum Ende hin jedoch nicht mehr gelang. Er wollte das Thema einfach beenden und nie wieder darauf zurückkommen. Aber er sah seinem Geliebten an, dass er so schnell nicht locker lassen würde. „Und wieso nicht? Interessiert es dich denn überhaupt nicht, wer du wirklich bist? Willst du deine Erinnerungen nicht zurück haben? Du könntest-“ „Nein, will ich nicht.“, schnitt Rye ihm das Wort ab. Seine Erinnerungen sollten dem Schwarzhaarigen für immer fern bleiben. Er wusste ganz genau, wie miserabel er sich jedes Mal wieder fühlte, sobald auch nur kleine Fragmente seiner Erinnerungen in seinem Kopf aufblitzten. Fast immer, wenn er die Augen schloss und einschlief, war es so, als würde er die Hauptrolle in einem Psychothriller spielen. Es war immer dasselbe Muster: Jäger oder Gejagter, Freunde oder Feinde, Wahrheit oder Lüge, Vertrauen oder Verrat. Er konnte sich nie entscheiden. Die verschwommenen Gesichter der Traumgestalten stellten ihn immer wieder auf die Probe. Aber meistens vergaß er seine Träume nach dem Aufwachen sofort wieder. Er verdrängte sie. Doch er vergaß nie die Gefühle, die in ihm zurückblieben. Rye hatte sich in den letzten Monaten oft gefragt, ob es von Vorteil wäre, seine verlorenen Erinnerungen wiederzuerlangen und ob er sich wirklich an seine Zeit in Eclipse erinnern wollte. Er hatte die Frage immer mit Nein beantwortet. Das würde sich womöglich auch niemals ändern. Jedoch konnte er nicht leugnen, dass es eine einzige Sache gab, die er schon gern wissen wollte. Nämlich die Sünde, die er in seinem Leben begangen hatte, dass er zur Strafe in Eclipse gelandet war. „Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll… aber ich hab so ein ungutes Gefühl, dass du… mein früheres Ich abgrundtief gehasst hättest.“, meinte er leise, als er Gins verständnislosen Gesichtsausdruck bemerkte. Doch dieser veränderte sich auch nach dieser Aussage nicht. Rye konnte schon ungefähr erahnen, woher das ungute Gefühl kam, welches ihn plagte. Welche Verbindung sollte er schon zu einem ausländischen Spion gehabt haben? Da gab es nicht sonderlich viele Möglichkeiten. Und eine davon bereitete ihm besonders viel Sorgen. „So ein Schwachsinn, was hat das mit mir zu tun? Es ist dein Leben!“, entgegnete Gin entrüstet, woraufhin Rye die Mundwinkel zu einem traurigen Lächeln verzog. Das war nicht ganz richtig. Er schüttelte langsam den Kopf. „Es war mein Leben.“, verbesserte er seinen Geliebten. Dazu schien diesem auf Anhieb keine Antwort mehr einzufallen, weshalb sich nach kurzer Zeit Stille ausbreitete. Rye versuchte Gins Gedanken an dem Ausdruck seiner Augen abzulesen. Da war zum einen noch immer nur diese Verständnislosigkeit und zum anderen das starke Verlangen mehr herauszufinden. Rye stieß ein Seufzen aus. „Bitte… vergiss es einfach.“, sagte er mit deutlich hörbarer Verzweiflung in der Stimme, mit welcher er Gin mitteilen wollte, wie wichtig es ihm war, die Sache einfach unter den Tisch zu kehren. Aber der Silberhaarige schien das nicht akzeptieren zu wollen. „Ich glaube nicht, dass ich das kann.“, meinte er. Rye biss sich auf die Unterlippe. „Dann tu wenigstens so.“ Es störte ihn, dass Gin so viel Wert darauf legte, etwas über seine Vergangenheit zu erfahren. Warum konnte er nicht verstehen, dass es egal war? „Warum willst du nicht begreifen, dass alles egal ist, solange ich dich habe? Ich will nur dich. Nur du machst mich glücklich. Ich brauch nichts anderes.“, sagte Rye in Gedanken zu seinem Geliebten. Zu gern hätte er die Worte ausgesprochen. Doch das traute er sich nicht. Denn er war sich ziemlich sicher, dass Gin noch nicht in der Lage war es nachvollziehen zu können. Und dennoch würde Rye ihn immer als den Sinn seiner Existenz betrachten. Als seine erste und einzige Liebe. Da Gin nichts mehr erwiderte, hoffte Rye, dass das Thema nun endlich beendet war. Er atmete innerlich auf und griff nach dem Handgelenk des Silberhaarigen. „Wir sollten von hier verschwinden, bevor noch jemand kommt…“, schlug er vor. Durch den kleinen Konflikt hatten sie die Zeit komplett vergessen, was Gin jetzt auch zu bemerken schien. „Ja, du hast recht.“, stimmte er Rye zu und verließ anschließend gemeinsam mit ihm das Zimmer. Kapitel 30: Ein Anfang ---------------------- Als Rye und Gin die Bar ‚Black Widow‘ hinter sich zurückließen, dämmerte es schon. Es war fast 22:00 Uhr, doch die Straßen schienen noch voller als vorhin zu sein. Gin ging wortlos im Schnellschritt voran, weshalb Rye darauf achten musste, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er ahnte, dass der Silberhaarige wohl gerade ein bisschen verärgert war und ihn deswegen ignorierte. Rye fühlte sich dabei so unwohl, dass er sich nicht mal mehr traute, Gin anzusprechen. Er wollte nicht abgewiesen werden. Doch er wollte ebenso wenig, dass der Abend mit solch einer negativen Stimmung endete. Die Mission an sich hatte er zwar mit Gins Hilfe erfolgreich beendet, doch das Resultat war trotzdem ein Reinfall. Irgendwas musste er dagegen unternehmen. „Vielleicht sollte ich mich erst mal entschuldigen… aber dann beschwöre ich das Thema bloß erneut herauf…“, überlegte Rye und senkte betrübt den Blick. „Wohin will er? Etwa nach Hause? Will er überhaupt, dass ich ihn bis dahin begleite…?“ Seine aufkommenden Zweifel brachten ihn fast dazu, einfach stehenzubleiben. Aber er konnte nicht. Gin war wie ein Magnet, der ihn unweigerlich hinter sich her zog. Zwei Gegensätze, die einander anzogen, jedoch nie aufeinandertreffen würden. Sich nie berühren dürften. Zu gern hätte Rye wenigstens Gins Hand gehalten. Obwohl seine innersten Bedürfnisse bereits nach mehr verlangten. „Eine Frage.“ Rye hob überrascht den Blick, als sich Gin zu ihm umdrehte. Dessen Miene war ausdruckslos und deutete auf nichts hin, worauf sich die Frage beziehen könnte. „Ja?“ Rye ließ sich nicht anmerken, dass bereits wieder erste Befürchtungen in ihm aufkamen, die Frage könnte etwas mit dem Spion oder seiner Vergangenheit zu tun haben. Gin formte seine Lippen zu einer geraden Linie und wandte sich wieder von ihm ab, als würde er Scham empfinden. Nur für was? Rye erhöhte sein Schritttempo, bis er direkt neben Gin lief, um einen kurzen Blick in sein Gesicht erhaschen zu können. Eine leichte Röte hatte sich auf seinen Wangen gebildet, welche sämtliche von Ryes Befürchtungen umgehend über Bord warf. Jetzt war er eher neugierig auf den Inhalt der Frage, die Gin erst nach weiteren verstreichenden Sekunden stellte: „Wie hast du Naganori eigentlich dazu gebracht, dir zu folgen?“ Damit hatte Rye nicht gerechnet. Kurz klappte ihm der Mund auf, bevor er seine Hand davor hielt und ein leises Lachen unterdrücken musste. Es wunderte ihn, dass Gin ausgerechnet das wissen wollte. Mit Sicherheit gab es einen bestimmten Grund dafür, welcher den Schwarzhaarigen brennend interessierte. „Was denkst du denn?“, antwortete er mit einer Gegenfrage, um seinen Partner aus der Reserve zu locken. Und es schien zu funktionieren, da sich die Röte in Gins Gesicht sofort verstärkte. „Nichts… Ich kann es mir nicht erklären, deswegen frag ich doch.“, meinte er allerdings in Widerspruch zu dieser verführerischen Röte. „Das ist jetzt aber gelogen.“ „Ist es nicht.“ „Bitte verrate mir, was du denkst.“, drängte Rye. Er würde nicht locker lassen, bis Gin es ihm endlich gesagt hatte. Doch dieser beharrte weiterhin: „Ich hab doch gesagt nichts!“ Beide blieben unter einer Fußgängerbrücke stehen. Rye musterte den Silberhaarigen eindringlich, bevor er dessen gereizte Miene mit einem selbstgefälligen Lächeln erwiderte und anschließend erklärte: „Wenn das wirklich so wäre, würdest du nicht fragen. Du sagst zwar, dass du es dir nicht erklären kannst. Aber wer sich Dinge nicht erklären kann, stellt auch automatisch Vermutungen an. Also?“ Gespannt wartete Rye auf eine Antwort, die aber nicht erfolgte. Gin sah ihn bloß schweigend an, schien sich aber ertappt zu fühlen. „Komm schon. Bitte.“, drängte Rye weiter. Wenn nötig musste er sich irgendwas anderes einfallen lassen, um Gin die Antwort zu entlocken. Doch dieser war nun scheinbar doch bereit, es ihm zu verraten. „Okay, wenn du unbedingt drauf bestehst.“, meinte er genervt und verdrehte dabei die Augen. „Hast du ihn verführt?“ Kaum hatte Gin die Frage ausgesprochen, entwich Rye ein Lachen. Er hielt sich erneut die Hand vor dem Mund, was aber nicht viel nützte. Er glaubte, nebenbei erkennen zu können, wie die Röte in Gins Gesicht noch intensiver wurde. Doch sonst entsprach dessen Ausdruck den einer unbewegten Maske. „Also nicht.“, erwiderte er tonlos. Rye überkam das Bedürfnis, den Silberhaarigen ein wenig zu necken, weshalb er in provozierender Tonlage fragte: „Wer weiß, was wenn doch?“ Obwohl das bloß ein Scherz sein sollte, interessierte ihn die Antwort darauf schon etwas. Vorausgesetzt, Gin würde ehrlich antworten und zu seinen Gefühlen stehen. Aber das tat er natürlich nicht. „Das… wäre widerlich.“, sagte er nur. „Genau. Und deswegen kränkt es mich sehr, dass du das von mir dachtest.“ Rye schlug einen gespielt beleidigten Tonfall an und verschränkte die Arme. „Es sah eben so aus…“, erklärte Gin, während er den Kopf zur Seite drehte. Der Schwarzhaarige musste schmunzeln. „Du hast mich echt pausenlos beobachtet, oder?“ „Nicht ganz.“, gab Gin zu. Selbstverständlich hatte er sich mehr auf den NOC konzentriert. Jedoch kam Rye nicht umhin, sich zu fragen, wie es wohl gewesen wäre, wenn er ihn ohne einen Vorwand mitgenommen hätte. Er hätte zu gern Gins Reaktion gesehen oder würde gern erfahren, was dieser in dem Moment gefühlt hatte. „Wenn er es für eine Verführung gehalten hat, kann es sein, dass er dann vielleicht sogar eifersüchtig gewesen ist?“, dachte Rye mit wachsender Hoffnung. Auf einmal wollte er unbedingt wissen, ob er damit richtig lag. Doch da Gin solche Gefühle wie Eifersucht nie direkt zugeben würde, musste er ihn dazu bringen, es zumindest indirekt zuzugeben. „Du brauchst dir da wirklich keine Gedanken zu machen. Seit ich dich kenne, will ich niemand anderen mehr. Von daher würde ich so etwas nie in Erwägung ziehen.“, machte er deshalb einen Anfang und hoffte, dass Gin darauf eingehen würde. Für den Hauch einer Sekunde glitt so etwas wie Schock über dessen Gesicht. Gleichzeitig konnte Rye hören, wie das Herz des Silberhaarigen einen Sprung machte und kurz darauf schneller schlug. „Ach so…“, meinte er leise. Innerlich lächelte Rye triumphierend. Genau die Art von Reaktion hatte er bezwecken wollen. Doch vollständig zufrieden war er noch nicht. Die passenden Worte fehlten. Rye ging langsam auf Gin zu, woraufhin er von ihm misstrauisch beäugt wurde. Dies ignorierte der Schwarzhaarige jedoch und kam seinem Geliebten so nah, bis er dessen Körperwärme wahrnehmen konnte. Schließlich umfasste er Gins Hand und fragte mit verführerischer Stimme: „Beruhigt dich das?“ Er verschränkte ihre Finger ineinander und genoss das Gefühl der Wärme, die von Gins Körper zu ihm durchdrang. Am liebsten hätte er sich noch enger an ihn geschmiegt. Doch zuerst wollte er eine Antwort. Ein Wort würde ihm schon genügen, was er aber nicht bekam. Dafür schenkte Gin ihm einen verlegenen Gesichtsausdruck, welchem Rye nicht lange widerstehen konnte. Er trat automatisch einen Schritt nach vorn und drückte Gin gegen die Wand, sodass diesem vor Schreck das Blut durch die Adern schoss. „Sag schon.“, verlangte Rye in sanfter Tonlage. Es war, als würde die Welt für einen Moment komplett still stehen. Er konnte nichts anderes mehr sehen als die klare Tiefe in Gins Augen und die verlockende Röte auf dessen Wangen. Nichts anderes mehr hören als Gins schnellen Herzschlag. Und nichts anderes mehr spüren als die Hitze, die von Gins Körper ausging und ihn vollständig einhüllte. Rye musste sich bemühen, seine Sinne beisammen zu halten. Sein Wunsch, einmal die Worte ‚Ich liebe dich‘ von Gin zu hören, war gerade so unbeschreiblich groß, dass er ausnahmslos alles dafür tun würde. Doch für Worte schien sein Geliebter im Augenblick nicht in der Lage zu sein. Er konnte nur nicken, worüber Rye lächeln musste. „So süß…“, dachte er, während er fasziniert mit seiner freien Hand über Gins gerötete Wange strich. Das allgegenwärtige Brennen in seiner Kehle verstärkte sich zusammen mit seinem Verlangen, welches er bei Gins anziehendem Anblick empfand. Diesmal versuchte er erst gar nicht, dagegen anzukämpfen, sondern ließ sich von seinen Gefühlen überwältigen. Er wäre ohnehin zu schwach gewesen, um diesem Mann widerstehen zu können. Dafür begehrte er ihn einfach zu sehr. Ohne es bewusst wahrzunehmen, überwand Rye die letzte Distanz zwischen ihren Gesichtern, indem er seine Lippen auf die von Gin legte. Er versuchte, es langsam anzugehen und nicht zu viel von ihnen zu kosten, denn er wollte nicht sofort wieder die Beherrschung verlieren und den Kuss frühzeitig beenden müssen. Für ihn gab es nichts Schöneres als Gins weiche, warme Lippen auf seinen eigenen zu spüren. Am liebsten würde er sie ohne zu zögern komplett erobern. Er würde Gin gern so leidenschaftlich küssen, dass es ihm den Verstand raubte. Doch das war unmöglich. Eher würde er Gin etwas anderes rauben und ihn dann verlieren. Solange Rye dies im Hinterkopf behielt, konnte er sich einigermaßen konzentrieren. Jedoch bemerkte er nach kurzer Zeit etwas, was ihn aus den Dunst der Leidenschaft riss: Gin erwiderte den Kuss nicht. Seine Körperhaltung war ganz angespannt. Verdutzt löste sich Rye von ihm und realisierte erst dann, dass Gin die ganze Zeit versucht hatte, ihn von sich wegzudrücken. „Was ist los?“, fragte er mit deutlich hörbarer Enttäuschung in der Stimme. Doch Gin antwortete ihm nicht. Stattdessen schoss sein Blick unmittelbar nach dem Kuss zur Seite in die Menschenmenge. Die Augen weit aufgerissen vor Schock und Entsetzen, analysierte er jeden Einzelnen der Fußgänger. „Gin…?“ Allmählich begann sich Rye Sorgen zu machen. War irgendwas passiert, was ihm anscheinend entgangen war? Der Silberhaarige reagierte erst nach mehreren Sekunden. Er verengte die Augen, bevor er den Blick zurück zu Rye lenkte, welcher ihn fragend ansah. „Bitte mach so etwas nicht in der Öffentlichkeit.“, bat Gin tonlos, was Rye völlig aus der Bahn warf. Das war alles? Deswegen die abweisende Reaktion gerade eben? „Hast du irgendwas Seltsames gesehen?“, hakte er vorsichtshalber nach. Gin zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen, dann schüttelte er den Kopf. „Glaub nicht. Es lag wohl einfach daran, dass ich solche Dinge nicht gern in der Öffentlichkeit tue und mich daher beobachtet gefühlt hab.“, spielte Gin es herunter, wobei er zum Ende des Satzes etwas gereizt klang. Rye versuchte die Erklärung so hinzunehmen, da sie an sich schon nachvollziehbar war. Auch wenn er das Gefühl nicht loswurde, dass irgendetwas nicht stimmte. Oder er verwechselte es mit dem melancholischen Gefühl, von Gin abgewiesen worden zu sein. Als ob ein kurzer Kuss in der Öffentlichkeit so verheerend war. Warum sich jemand dadurch hätte gestört fühlen sollen, entzog sich Ryes Verständnis. Damit würde sein Geliebter ihm nicht so einfach davonkommen. „Na schön, dann machen wir eben was anderes.“, schlug er vor. Gin, welcher bereits wieder ein paar Schritte vorangegangen war, drehte sich nun verwirrt zu ihm um. „Wie jetzt?“ „Der Abend hat doch gerade erst angefangen. Roppongi gilt nicht umsonst als eines der beliebtesten Vergnügungsviertel in Tokio. Gibt es nichts, was du gern unternehmen würdest?“ Rye fielen, während er sprach, schon einige Orte ein, an denen man sich abends die Zeit vertreiben konnte. Da war es gar nicht so einfach, sich zu entscheiden. Vor wenigen Monaten war er selbst oft hierher gekommen und hatte den ein oder anderen Club besucht. An diese Nächte erinnerte er sich allerdings kaum. Er wusste nur noch, dass er am nächsten Morgen in den meisten Fällen neben einer Leiche aufgewacht war. „Eigentlich nicht.“, antwortete Gin, womit er Rye aus seinen Gedanken riss. Das war wohl zu erwarten gewesen. Der Silberhaarige machte eher den Eindruck, als würde er nichts lieber wollen als schnellstmöglich nach Hause zu gehen. „Mach einen Vorschlag oder wir gehen dorthin, wo ich will.“, forderte Rye. So langsam nahm eine Idee in seinem Kopf Gestalt an, die ihm so sehr gefiel, dass er fast wollte, dass Gin wirklich keinen Vorschlag machte. „Werde ich das bereuen?“, fragte dieser skeptisch. Jedoch schien er nebenher über das Angebot nachzudenken, was Rye ermutigte. „Vielleicht. Willst du es herausfinden?“ Er warf Gin einen herausfordernden Blick zu. Scheinbar war es ihm tatsächlich gelungen, dessen Interesse zu wecken, da neben der Skepsis in seinem Gesicht auch eine Spur von Neugier zu erkennen war. „Hmm… Es ist aber nicht der Mori Tower, oder?“ Gins Stimme klang nun wieder ernster. Rye erkannte die eigentliche Befürchtung hinter dieser Frage, weshalb er anfing zu lachen. Nochmal würde er Gin mit Sicherheit nicht auf irgendeinen Turm schleppen. Zumindest die Lektion hatte er gelernt. „Nein.“, versicherte er seinem Geliebten. Dieser schwieg dann für einen Moment, um erneut nachzudenken. Rye versuchte sich in der Zeit keine all zu großen Hoffnungen zu machen. Denn Gin war für solche Dinge eigentlich nicht zu haben und wegen ihrem Date auf dem Tokyo Tower würde es Rye nicht wundern, wenn der Silberhaarige vorsichtiger geworden war, was Verabredungen und gemeinsame Aktivitäten betraf. „Dann meinetwegen.“, lautete allerdings dessen Antwort. Rye blinzelte ungläubig. „Er will wirklich…“ Ein strahlendes Lächeln bildete sich wie von selbst auf seinen Lippen, welches offenbar sofort wieder Gins Misstrauen weckte. „Ich glaub, ich werde es doch bereuen.“, kommentierte er es. Rye verzog den Mund und musste ein Lachen unterdrücken. Obwohl Gin womöglich recht haben könnte. Er könnte es bereuen. Mehr als das. Der Schwarzhaarige wusste, dass das, was er geplant hatte, eigentlich keine gute Idee war. Es war vielleicht sogar lebensgefährlich. Aber das hing ganz von ihm ab. Keinesfalls von Gin. Er wäre ihm nur schutzlos ausgeliefert. „Ach was. Vertrau mir.“, sagte Rye mit gekünstelter Unbeschwertheit. Ein schlechter Scherz, denn er vertraute sich nicht einmal selbst. Sein Vorhaben würde er lediglich aus reiner Selbstsucht in die Tat umsetzen. Mal wieder, weil er nicht genug bekommen konnte, der Kuss ihm nicht ausgereicht hatte. Er hasste sich dafür. Nie konnte er sein Verlangen zügeln. Immer war er zu schwach. Jedes Mal wieder wurde er von dem Monster in seinem Inneren verspottet. „Heute nicht.“, schwor er sich, während er auf Gin zuging und dessen Hand einfing. „Es wird alles gut gehen. Ich werde die Kontrolle nicht verlieren. Für ihn…“ Auch das stimmte nicht. Er tat es mehr für sich selbst. Vorgestern hatte er Gin noch zurückgewiesen und gesagt, er wolle nichts überstürzen. Zwar würde er das auch nicht, jedoch kam er sich dennoch erbärmlich vor. Warum konnte nicht einfach alles normal sein? Leicht, unbeschwert, ohne Probleme und ohne Angst vor Verlust. Er würde alles dafür tun, um kein Monster mehr sein zu müssen. Alles, nur um Gin in voller Leidenschaft lieben zu können. Sowohl geistig als auch körperlich. Er wollte ihn berühren, ohne sich ständig zurückhalten zu müssen. Doch er würde nie wieder ein Mensch sein. Also musste er sich diesen Wunsch auf anderem Wege erfüllen. Auch wenn es so gut wie unmöglich schien, wollte er es wenigstens versuchen und es langsam angehen. Heute war ein Anfang. Er würde Gin nicht versehentlich umbringen, ihn nicht einmal verletzen. Gin war anders als all die anderen Menschen, mit denen Rye zuvor die Nächte verbracht hatte. Allein schon, weil er ihn liebte.   Während beide weitergingen, bemerkte Gin mit aufkeimender Unsicherheit, wie sich Ryes Miene zu verdüstern schien. Tief in seinen Augen lag wiederum feste Entschlossenheit. Diese Mischung wirkte zusammen mit Ryes veränderter, angespannter Körperhaltung leicht furchteinflößend. Gin verstand nicht, was der Grund für dieses so plötzlich ausgewechselte Verhalten sein könnte. Aber danach fragen wollte er nicht. Vielleicht hatte es auch etwas mit dem Ort zu tun, zu dem sie gleich gehen würden. Wenn dem so war, deutete das jedoch auf nichts Gutes hin. „Was hab ich anderes erwartet…“ Eigentlich hieß es, dass man in den meisten Fällen aus seinen Fehlern lernt. Aber bei Rye funktionierte das nicht. Gin würde sich vermutlich immer wieder auf ihn einlassen. Egal, wie sehr er es am Ende bereute. Denn er wollte ihn nicht unglücklich sehen, auch wenn Rye es gerade anscheinend trotzdem war. Gin stieß ein Seufzen aus, was sein Partner allerdings nicht hörte. Um diesen aus seinen Gedanken zu holen, fragte er: „Gibst du mir wenigstens einen Tipp?“ Sofort lenkte Rye den Blick zu ihm. Sein Gesichtsausdruck war wieder normal, wirkte jedoch für einen kurzen Moment überrascht. „Nun ja…“ Rye lächelte geheimnisvoll. „Ich dachte, weil du es in der Öffentlichkeit nicht willst, gehen wir dorthin, wo wir allein sind.“ Gin schluckte. Ein Schauer überkam ihn. Nicht etwa aus Angst, sondern wegen der unmittelbar eintretenden Nervosität. Hatte es Rye so sehr gestört, dass er den Kuss beenden musste? Warum gingen sie dann nicht einfach nach Hause? Was hatte er vor? „Ich versteh nicht…“, murmelte Gin, hoffte aber auf keine Erklärung. Vorgestern Nacht hatte Rye noch gesagt, dass er es langsam angehen will. Woher kam jetzt also auf einmal dieser Wandel und wozu machte er sich die Umstände? „Schon okay, das wirst du gleich.“, sagte Rye im beschwichtigenden Ton, was Gins Herz aber nur noch schneller schlagen ließ. Bisher hatte er kaum auf die Umgebung geachtet, doch nun begann er sich unauffällig nach Orten umzusehen, die Rye als Ziel ausgewählt haben könnte. Lange darauf konzentrieren konnte er sich nicht, da sein Blick schon nach kurzer Zeit wieder zu Rye wanderte und dessen Gestalt analysierte. Die Vorstellung, dass diese Lippen, dieser atemberaubende Körper, gleich womöglich vollkommen ihm gehören würden, ließ Gin beinahe die Fassung verlieren. Er dachte unweigerlich an seinen Traum, welcher ihn daran erinnerte, wie sehr er tief im Inneren nach Rye verlangte. Dieses Verlangen ließ ihn eine Nervosität fast gänzlich vergessen. Zumindest für einen kurzen Augenblick. Denn als Rye urplötzlich stehenblieb und seine Hand losließ, folgte Gin seinem Blick und erblickte daraufhin ein riesiges, luxuriöses Hotel. Ein Love Hotel. Ihm lief es eiskalt den Rücken herunter. „Nein.“, entwich es ihm entgeistert und er trat automatisch ein paar Schritte zurück, bis Rye einen Arm um seine Hüfte schlang. „Du spinnst doch!“ „Ich hab dir die Wahl gelassen.“, entgegnete Rye lediglich und zuckte mit den Schultern. Gin presste die Lippen zusammen. Zwar stimmte das schon, doch wie hätte er zu dem Zeitpunkt ahnen sollen, dass Rye in ein verdammtes Love Hotel gehen wollte? Da würde ihn definitiv niemand rein bekommen. „Hab dich nicht so, ich zahl auch alles.“, versuchte Rye den Silberhaarigen umzustimmen und schob ihn weiter bis zur Eingangstür, wobei Gin anfing mit den Füßen abzubremsen. Am liebsten würde er sie am Boden festnageln. Glücklicherweise waren sie noch immer in der Öffentlichkeit, sodass Rye ihn nicht einfach gewaltsam hinein befördern konnte. „Darum geht‘s doch gar nicht!“, zischte Gin. „Was dann?“ Endlich blieb Rye stehen und nahm seinen Arm von Gins Hüfte weg. Dafür musterte er ihn mit großen Augen, als wüsste er nicht, wo das Problem lag. Gin versuchte, Ryes Blick auszuweichen, während er sich eine Antwort überlegte. Er wollte ihm nicht ins Gesicht sagen, dass er es nicht tun wollte. Das wäre nicht die Wahrheit. Aber der Ort… „Ich verstehe schon.“ Verdutzt sah Gin Rye wieder an, welcher sein Gesicht auf einmal zu einer niedergeschlagenen Miene verzogen hatte. „Das vorhin war nur eine Ausrede, oder? Es ist okay, wenn du es wirklich nicht willst. Ich kann es dir nicht verübeln… Tut mir leid, es war dumm von mir zu glauben, wir beide könnten…“, fuhr er mit leiser, trauriger Stimme fort und ließ den letzten Satz unbeendet. Gin spürte, wie sich nach und nach ein unwohles Gefühl in ihm ausbreitete. „Das… stimmt doch gar nicht.“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Von wegen Ausrede. Natürlich wollte er ihn. Mehr als alles andere. „Nicht? Dann willst du also doch?“, fragte Rye hoffnungsvoll. Gin schwieg eine Weile. Es fiel ihm noch immer nicht leicht, es so einfach zuzugeben. „Ja schon, aber-“ Noch bevor er den Satz beenden konnte, griff Rye bereits nach seinem Handgelenk. Die niedergeschlagene Stimmung seines Partners war plötzlich wie weggeblasen. „Dann sollte es keinen Grund geben, noch länger draußen zu warten.“, säuselte Rye und zog Gin hinter sich her, welcher ihn nur fassungslos anstarrte. „Das war eben bloß geschauspielert…“, realisierte er. Jedoch zu spät. Sie hatten das Hotel längst betreten. „Mistkerl, noch einmal fall‘ ich darauf nicht rein.“, schwor er sich und betrachtete Rye dabei missmutig. Dieser ließ im nächsten Moment seine Hand los, bevor er sich zu ihm umdrehte und sagte: „Warte kurz hier.“ Gin antwortete nichts darauf und verschränkte die Arme, als sich Rye zur Rezeption begab, hinter welcher sich eine junge Frau befand. Ihre Augen wurden groß und größer vor Neugierde, umso näher Rye ihr kam. Gin schüttelte unmerklich den Kopf und ließ stattdessen den Blick etwas wandern. Vor der Rezeption war es zum Glück leer. Er konnte nur aus dem Hinterbereich der Lobby ein paar gedämpfte Stimmen wahrnehmen. Somit war die Chance schon mal geringer, einem bekannten Gesicht zu begegnen. Aber ihm war die ganze Situation dennoch unangenehm. Er achtete bewusst nicht darauf, was Rye und die Hotelangestellte miteinander besprachen. Das Einzige, was er zwischenzeitlich bemerkte, war, dass die Frau einmal skeptisch ihren Blick in seine Richtung schweifen ließ. Da fiel Gin ein, dass es heutzutage tatsächlich noch wenige Love Hotels gab, in denen keine männlichen Pärchen übernachten durften. Oder es gab auch noch die Möglichkeit, dass kein Zimmer mehr frei war. Eins davon musste es wohl sein, da Rye gerade so wirkte, als würde er die Frau von irgendetwas überzeugen wollen. Gin richtete seinen Blick zur Eingangstür. Theoretisch könnte er einfach raus rennen. Doch Rye würde ihn wahrscheinlich in null Komma nichts einholen. Zudem würde das bloß feige aussehen. Er wollte eigentlich nicht davonlaufen. Nicht vor dem, was gleich kommen würde. Zwar war es ihm noch immer ein Rätsel, warum es Rye auf einmal nichts mehr auszumachen schien, dass sie miteinander schliefen, doch er würde ihn nicht aufhalten und es genießen. Da tippte ihm plötzlich jemand auf die Schulter. Gin wandte den Blick und erblickte Rye mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht, während er einen Schlüsselbund hochhielt. Gin versuchte sich ebenso ein Lächeln aufzuzwingen, was ihm aber nicht ganz gelang. „Hast du sie bestochen?“, fragte er scherzhaft. „So ähnlich.“, erwiderte Rye. Währenddessen gingen beide durch einen blau gemusterten Türvorhang, hinter welchem sich das Treppenhaus befand. „Und wie viel kostet es?“, bohrte Gin weiter. Der Größe und der Einrichtung nach zu urteilen konnten sich wohl nur die wenigsten eine Übernachtung leisten. Doch Rye machte nicht den Eindruck, als würde ihm das etwas ausmachen. „10400 Yen, für eine Person. Ich zahle morgen früh.“, meinte er. Das war tatsächlich teurer als erwartet. Gin wusste nicht, was er davon halten sollte, dass Rye seinetwegen so viel Geld ausgab. Obendrein für etwas, was man auch in den eigenen vier Wänden tun konnte. Die Beiden mussten nicht sonderlich viel Treppen steigen, da ihr Zimmer gleich im zweiten Stock lag. Es hatte die Zimmernummer 204, wie Gin feststellte, als sie davor stehenblieben und Rye die Tür aufschloss. Was von außen eher schlicht wirkte, war von drinnen umso überwältigender. Hinter den Wänden schien es einen elektrischen Mechanismus zu geben, da von ihnen ein bläuliches Licht ausging, das den Raum schwach erhellte. Der Teppich hingegen war tiefschwarz und die Decke glich nahezu einem Sternenhimmel. In der Mitte des Raumes befand sich ein rundes Bett, gegenüber von diesem ein breiter Flachbildfernseher und daneben ein langes, schwarzes Sofa aus Leder. In dem Glastisch davor spiegelte sich die Decke, sodass Gin ihn fast übersehen hätte. Er blieb mitten im Raum stehen und blickte zu Rye, welcher gerade die Tür hinter sich verschlossen hatte und nun auf ihn zukam. „Gefällt es dir?“, wollte er wissen. Er klang unsicher. Scheinbar war es ihm wichtig, dass auch wirklich alles zu Gins Zufriedenheit war. „Ein bisschen extravagant… aber es ist trotzdem schön. Für die eine Nacht sollte es gehen.“, antwortete dieser, woraufhin Rye schmunzelnd an ihm vorbeiging und die Tür zum Badezimmer öffnete. „Sieh dir das an.“, sagte er dann. Gin warf einen Blick in das Bad und das Erste, was er sah, war ein Whirlpool mit weißer LED-Umrandungsbeleuchtung. Ringsherum verteilt waren dutzende Rosen und auf einer Ablage standen zwei Gläser und eine Weinflasche. Gin durchbebte ein Schauer, als er sich unbewusst vorstellte, wie es wäre, zusammen mit Rye in diesem Whirlpool zu baden. Das Gefühl von Ryes kalten Berührungen in Kontrast zu der Wärme des Wassers. Es gab kaum etwas Vergleichbares, wonach sich sein Körper in diesem Moment mehr sehnte. Seinen Empfindungen nachgehend zögerte Gin nicht lange und trat an Rye heran. Er legte seine Hände auf dessen Brust, um kurz darauf einen Kuss zu beginnen. Dass Rye darauf noch nicht ganz vorbereitet war, bemerkte er an der bestürzten Reaktion, die sofort erfolgte. Zwar stieß der Schwarzhaarige ihn nicht von sich weg, doch dessen Hände wanderten zu seinen Oberarmen und verkrampften sich in den Stoff seines Sakkos. Ryes Körper spannte sich an und er ging so weit zurück, bis er an den Türrahmen stieß. Aber das alles brachte Gin nicht dazu, sich von den weichen, schneekalten Lippen zu lösen, welche er gerade nur zu gern erobern wollte. Dazu brauchte er jedoch auch die Zustimmung von Rye, die er erst nach einer Weile zögernd erhielt. Kaum hatten sich die Lippen seines Geliebten leicht geöffnet, schob Gin seine Zunge durch diese hindurch und begann daraufhin Ryes feucht-kalte Mundhöhle zu erkunden. Während er dabei nach dessen Zunge suchte und sie umschmeichelte, sobald er fündig wurde, nahm er am Rande die zittrigen Atemzüge von Rye unter seinen Händen wahr. Dennoch ging dieser immer mehr auf den Kuss ein und mit der Zeit gelang es ihm sogar Gins Zunge in dessen eigene Mundhöhle zurückzudrängen. Der Silberhaarige versuchte erst gar nicht dagegen anzukommen und beschloss die Kontrolle an Rye abzugeben. Sich von ihm erobern zu lassen fühlte sich ohnehin weitaus berauschender an. Gin stöhnte in den Kuss hinein und seine Finger fingen wie von selbst an Ryes Anzugweste aufzuknöpfen. Doch da rissen ihn ein grausiges Geräusch und Ryes darauffolgende, schlagartig veränderte Haltung aus seiner Trance. Noch ehe Gin das Geräusch zuordnen konnte, blickte er bereits in ein vor Entsetzen geweitetes, grünes Augenpaar. Rye schob ihn vorsichtig von sich weg und ließ seine Hände langsam sinken, wobei Gin erst da bemerkte, dass ein Ärmel seines Sakkos gerissen war. „Entschuldige… das… wollt ich nicht…“, murmelte Rye beschämt. „Ist nicht so schlimm, dann kauf ich mir halt demnächst einen neuen Anzug.“, wollte Gin es herunterspielen, was bei seinem Partner jedoch nichts zu bewirken schien. „Nein, das werde ich machen.“, beharrte er, und Gin konnte deutlich an seiner Stimme hören, wie sehr er sich für dieses eigentlich unbedeutende Missgeschick verfluchte. Aus diesem Grund hatte Gin auch nicht vor weiter darüber zu diskutieren. Zudem bereitete Ryes Gesichtsausdruck ihm etwas Sorgen. Da war zum einen diese Wut, die zweifellos ihm selbst galt und zum anderen Erleichterung, dass es nur der Stoff des Sakkos gewesen war. Für Rye war es anscheinend viel mehr als nur ein unbedeutendes Missgeschick. Doch Gin würde sich davon den Abend ganz bestimmt nicht ruinieren lassen. Ohne Worte zog er sich das Sakko aus und warf es achtlos in die Ecke, womit er nun wieder Ryes vollständige Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Lächelnd sah Gin ihm tief in die Augen, während er mit betont langsamen Bewegungen die Krawatte von seinem Hals löste. Rye verfolgte diese Bewegungen genaustens mit den Augen und Gin erkannte das Verlangen, welches sich allmählich in ihnen widerspiegelte. Trotzdem blieb sein Geliebter reglos wie eine Statue. Er schien sogar den Atem angehalten zu haben. Unsicher stoppte Gin sein Vorhaben sich seines Hemdes ebenso zu entledigen und wartete auf irgendeine Reaktion von Rye, die aber erst nach etlichen Sekunden Stille erfolgte. „Wenn du willst, lasse ich dir den Vortritt.“ Ryes Blick wanderte zum Whirlpool, woraufhin Gin den Schwarzhaarigen verwirrt anschaute. Das war ein Scherz, oder? „Ich wollte eigentlich, dass du mir Gesellschaft leistest.“, sagte Gin, wobei er von seiner festen, entschlossenen Tonlage selbst ein wenig überrascht war. Rye zog die Mundwinkel zu einem traurigen Lächeln leicht nach oben, welches verriet, dass er das ebenso gewollt hatte. Eigentlich. „Lieber nicht.“, lehnte er wie erwartet ab. Gin unterdrückte ein Seufzen und verkniff sich seinen Kommentar. Stattdessen nahm er sich ein paar Sekunden Zeit, um sich kurz in Rye hineinzuversetzen. Ab und zu musste er das wohl tun, um sich daran zu erinnern, dass er Verständnis für dessen Übervorsichtigkeit haben sollte. Schließlich tat Rye das aus Liebe, weil er ihn nicht verletzen wollte. Dennoch konnte Gin noch immer nicht verstehen, weshalb sie dann die Nacht hier verbrachten. Gerade, als er Rye genau das fragen wollte, kam dieser ihm aber zuvor. „Lass dir Zeit. Ich werde draußen auf dich warten und mich derweil ein wenig… beruhigen.“, sagte er mit sanfter, unsicherer Stimme, welche trotz allem noch einen Funken Hoffnung in Gin erweckte. „In Ordnung.“, stimmte er deshalb zu und sah Rye hinterher, wie dieser wortlos das Bad verließ und die Tür hinter sich schloss. „Das kann ja was werden…“, dachte Gin frustriert. Er hatte das Gefühl, dass dieser Abend noch um einiges komplizierter werden würde. Ob Rye ihn vielleicht wirklich am Ende versehentlich umbringen würde? Diese Frage stand wohl in den Sternen. Aber die Antwort darauf brauchte Gin nicht. Denn er vertraute Rye. Auch wenn das womöglich nicht die richtige Entscheidung war. Er erinnerte sich daran, wie Vater ihm ständig eingetrichtert hatte, er solle sich niemals verlieben. Liebe macht blind. Man vergisst klar zu denken, begeht Fehler und letzten Endes ist alles, was bleibt nur Schmerz und Kummer. Solche Dinge hatte Vater immer wieder gesagt. „Schätze, das hab ich jetzt davon, weil ich nicht auf ihn gehört hab.“ Gin lächelte ironisch. Er hatte nie geliebt, nie jemanden gewollt, geschweige denn sich überhaupt für jemanden wirklich interessiert. Bis zu dem Tag, an dem er Rye begegnet war. Und dieser war ausgerechnet ein Vampir. Ein Wesen, welches eigentlich nicht in dieser Welt existieren durfte. Gin fuhr fort sich zu entkleiden und stieg anschließend in den Whirlpool. Er schaltete per Knopfdruck auf der Fernbedienung die Düsen an, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Das Wasser war so angenehm warm, dass er am liebsten für einen Moment alles vergessen und über nichts mehr nachdenken wollte. Doch das war nicht möglich, da sich Rye wie immer in seine Gedanken schlich. Seit Monaten dachte Gin schon an nichts anderes mehr und selbst jetzt war es noch nicht genug. Ihn quälten einfach zu viele Sorgen und Fragen. Abgesehen von der bevorstehenden Nacht war da auch noch die Sache von vorhin mit dem ausländischen Spion, welcher scheinbar irgendeine Verbindung zu Ryes Vergangenheit gehabt hatte. Wovon dieser aber nichts wissen wollte. „Wer auch immer dieser Mann war, er hat Rye für tot gehalten… und jemandem mitgeteilt, dass er lebt…“ Gin bezweifelte, dass es sich lediglich um einen alten Freund oder Bekannten gehandelt haben könnte. Doch er war sich nicht sicher, ob es gut wäre, den Alternativen weiter auf den Grund zu gehen. Insbesondere wegen des Satzes, den Rye noch zu ihm gesagt hatte. Dass er dessen früheres Ich abgrundtief gehasst hätte. Aus welchem Grund? Welche Sorte von Mensch würde er abgrundtief hassen? Er konnte sich nicht vorstellen Rye in irgendeiner Weise als Mensch zu hassen. Wenn Rye ein Mensch wäre, wäre alles viel leichter. „Aber mal angenommen, Eclipse gäbe es gar nicht und Rye wäre wirklich noch ein Mensch… wären wir uns dann überhaupt begegnet? Falls ja, würde ich zu gern wissen, wie das abgelaufen wäre…“ Am meisten interessierte es Gin jedoch, ob er sich dann auch wieder in Rye verliebt hätte. Oder umgekehrt. „Es macht keinen Sinn noch weiter darüber nachzudenken… diese Welt gibt es nicht.“ Der Silberhaarige stieß ein Seufzen aus. Wahrscheinlich wäre Rye vom Charakter her ganz anders gewesen. Sogar sein Name wäre ein anderer. Sein echter Name, welchen Gin hoffentlich irgendwann mal herausfinden würde. Dafür müsste er möglicherweise nur weitere Nachforschungen über diesen Spion anstellen lassen. Doch wenn Rye davon Wind bekommen würde… „Eigentlich keine gute Idee… aber ich sollte vielleicht nochmal mit ihm darüber reden…“ Obwohl er sich schon denken konnte, wie das Gespräch womöglich ausgehen würde. Rye würde keinesfalls zulassen, dass er mehr über ihn herausfand. „Irgendwann muss er sich aber erinnern. Er kann seiner Vergangenheit nicht ewig den Rücken zukehren…“ Auch wenn das in mancher Hinsicht vielleicht die leichtere Variante wäre, jedoch nicht die Lösung aller Probleme.   …   „Was mache ich bloß…“, dachte Rye, während er auf dem Bett saß und seine Hände neben sich in die Bettdecke krallte. „Ich… kann das nicht… ich tu ihm nur weh… ich hab immer allen weh getan… jeden getötet…“ Verzweifelt versuchte er den letzten Rest seiner Entschlossenheit zusammenzukratzen, von welcher er bis vor dem Kuss noch unendlich viel gehabt hatte. Wenn er bei solchen Liebkosungen schon unbewusst nachsichtig wurde, wie sollte er dann noch weiter gehen? Rye senkte den Blick und starrte auf seine Hände. Hart, kalt und unmenschlich. Die Hände eines Monsters. Sie hatten schon zu viel zerstört und Leid angerichtet. Damit durfte er Gin nicht berühren. „Aber er will es… und ich… will es auch…“ Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Wäre er doch bloß nicht so selbstsüchtig. Das war wohl etwas, was er niemals ändern konnte. Nicht bei Gin. Die Strafe dafür ereilte Rye immer wieder aufs Neue. Auch jetzt spürte er den trockenen Schmerz in seiner Kehle. Diesen lästigen, rauen, kratzigen Durst. Gins Duft beherrschte ihn vollkommen. Wie ein Zwang, dem sich Rye niemals widersetzen konnte. Er hatte beschlossen heute nur Luft zu holen, wenn es zum Sprechen notwendig war. Vielleicht würde es so wenigstens ein bisschen leichter sein. Jedoch genügten allein schon Gins Anblick oder hemmungslose Vorstellungen und Fantasien mit dem Silberhaarigen, um ihn beinahe die Kontrolle verlieren zu lassen. Gleich würde es so weit sein. Sobald Gin aus dem Badezimmer trat. Rye konnte bereits hören, wie die Düsen verstummten und das Wasser anschließend im Whirlpool laut plätscherte, weil sein Geliebter diesen verließ. Nur noch ein paar Minuten. „Oder Sekunden, wenn er seine Kleidung… nicht mehr anzieht.“ Rye schluckte. Jede Faser seines Körpers spannte sich an. Er hatte Gin noch nie vollkommen entkleidet gesehen und war sich bis jetzt nicht richtig bewusst gewesen, dass sich das heute noch ändern würde. Gleich würde er zum ersten Mal die Gelegenheit bekommen Gins Körper zu bewundern. Das Brennen in seiner Kehle verstärkte sich. Rye versuchte es zu ignorieren. Er musste sich zusammenreißen. Sonst könnte das womöglich die letzte Nacht sein, die er gemeinsam mit Gin verbrachte. Dieser öffnete im nächsten Moment die Badezimmertür. Ryes Hände krallten sich automatisch wieder in die Decke. Als wäre er so in der Lage sich zurückzuhalten, wenn der atemberaubende Anblick ihn in der nächsten Sekunde überwältigen würde. Die Zeitspanne kam Rye jedoch bedeutend länger vor, in der sein Geliebter endlich hinter der Tür vortrat und schweigend stehenblieb. Rye spürte augenblicklich, wie eine Welle der Lust ihn übermannte. Diesen eleganten, muskulösen Körper würde er am liebsten sofort für sich beanspruchen. Nur ein Handtuch, welches sich Gin um die Hüften geworfen hatte, verdeckte noch seine intimste Stelle. Es fiel Rye schwer seinen Blick wieder von dieser Stelle zu lösen und stattdessen in Gins Gesicht zu schauen, welches vielerlei Gefühle wie Unsicherheit, Scham, aber auch Verlangen widerspiegelte. Er schien sehr nervös zu sein. Wie ein Mädchen, das gleich ihr erstes Mal haben würde. Rye hielt diesen Gedanken für absurd, weil Gin mit Sicherheit schon öfters Sex gehabt hatte. „Ob er da auch immer so nervös gewesen ist? Bestimmt nicht…“, überlegte Rye für einen kurzen Moment, bevor er allmählich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Alles in seinem Kopf war nur noch auf Eines fixiert: Gin. Ihn dort an der Tür so stehen zu sehen, noch dazu fast nackt, brachte Rye dazu, nicht länger tatenlos herumsitzen zu wollen. Er erhob sich vom Bett und ging mit langsamen Schritten auf seinen Geliebten zu. „Du liebst es, mich zu überwältigen, oder?“, fragte er diesen ironisch und achtete bei jedem Schritt darauf nicht die Beherrschung zu verlieren. Es war ein seltsames, anziehendes Gefühl, welches sich verstärkte, umso näher er Gin kam. Eigentlich fühlte sich Rye schon seit ihrer ersten Begegnung zu dem Silberhaarigen hingezogen, doch diesmal war es anders. Dieses Gefühl war weitaus mächtiger und löste eine besitzergreifende Gier in ihm aus. Er wollte Gins entblößten Körper berühren. Er wollte mit seinen Fingern an dessen warmer, weicher Haut entlang fahren. Unbewusst war er bereits dabei, diese Wünsche in Taten umzusetzen und seine Hände wanderten automatisch zu Gins Taille, um ihn an sich zu ziehen… Doch Rye hielt inne, als Gin ihm plötzlich antwortete. „Ich dachte nur, es wäre unsinnig, die Klamotten wieder anzuziehen, wenn du…“ Seine Stimme klang verlegen, weshalb sich ein leichtes Lächeln auf Ryes Lippen schlich. „… wenn ich sie dir eh wieder ausziehe?“, vervollständigte er den Satz, woraufhin ein Nicken von Gin erfolgte. Sein Herz schlug schnell und das Blut raste ihm förmlich durch die Adern. Wieder musste sich Rye dran erinnern nicht zu tief einzuatmen. Wie lange er sich wohl noch daran halten könnte? Er wollte es nicht herausfinden. Denn allein sein Seh- und Hörsinn nagten an seiner Selbstkontrolle, welche ohnehin fast zusammenzubrechen drohte. „Du spielst mit deinem Leben…“, kam es ihm wie von selbst über die Lippen. Eine Warnung von dem letzten Rest seines rational denkenden Teils, der Gin zuschrie, dass er lieber davonrennen sollte. Natürlich würde Rye dies weder aussprechen, noch würde Gin auf ihn hören, falls er es doch täte. „Du bringst mich dazu.“, erwiderte der Silberhaarige im verführerischen Ton, wobei er die Arme um Ryes Hals schlang und ihm so nah kam, dass sich ihre Lippen beinahe berührten. Rye bemühte sich, die Hände gesenkt zu lassen und reglos zu verharren. Er konnte nicht verhindern, dass die Begierde, die in Gins Augen lag, ihn in einen Bann zog. Zu nah. Viel zu nah. Die Wärme, die von Gins Körper ausging, überfiel ihn. Sein Geliebter schien dieses Gefühl der Anziehung auch zu verspüren. Nur hatte es bei ihm wenigstens eine Grenze. Denn es war menschlich. Rye war kurz davor in Gedanken zu versinken. Doch dann bemerkte er, wie Gin ungefragt einen Kuss begann. Sobald dessen Lippen auf seine eigenen trafen, durchbebte ihn ein Schauer der Lust, welcher ihn aus seiner starren, reglosen Haltung befreite. Rye schlang die Arme ebenso um Gins Körper und vergrub seine Hände in den silbernen Strähnen. Jedoch erkannte er nach wenigen Sekunden, dass Gin den Kuss nur als Ablenkung benutze, um ihn nebenher von seiner Kleidung entledigen zu können. Sofort löste sich Rye von seinem Geliebten und wich drei Schritte zurück. Dabei fiel ihm auf, dass seine Anzugweste ihm über die Schultern geschoben worden war und die Fliege nur noch lose um seinen Hals hing. Innerlich seufzend ließ er die Weste von seinen Armen gleiten und mitsamt der Fliege zu Boden fallen. Das Hemd würde er sich aber noch nicht ausziehen, da er nicht wusste, was genau der direkte Kontakt zu Gins Haut in ihm auslösen könnte und ob er in der Lage wäre sich zu kontrollieren. Als er Gin allerdings wieder direkt ansah, musste er feststellen, dass sein urplötzliches Beenden des Kusses diesen scheinbar verunsichert hatte und er ihn nun mit einem argwöhnischen Blick musterte. Rye lächelte entschuldigend und streckte dem Silberhaarigen seine Hand entgegen. „Komm her.“, bat er mit sanfter Stimme, woraufhin sich Gin zögernd von der Stelle rührte und Ryes Hand nahm. Dieser führte ihn zum Bett und legte dort angekommen seine Hände auf Gins Schultern, um ihn vorsichtig auf die Matratze zu drücken. Doch als sich Rye über ihn beugte, hatte sich Gins Gesichtsausdruck noch immer nicht verändert. Um auch die letzten Zweifel seines Geliebten zu vertreiben, beschloss er, erneut einen Kuss zu beginnen. Aber kurz bevor er Gins Lippen erreicht hatte, wurde er von zwei Händen zurückgeschoben. „Warte.“, meinte Gin, während er sich wieder aufrichtete. „Eine Frage noch.“ Rye legte verwundert den Kopf schräg. „Ja?“ Gins Augen verengten sich. Er starrte nachdenklich zur Seite und begann anschließend: „Vorgestern sagtest du noch, du willst es langsam angehen… warum hast du es dir jetzt anders überlegt? Ich merk doch, wie du dich eh nur quälst…“ Der melancholische Unterton im letzten Satz weckte in Rye ein unbehagliches Gefühl. Zwar lag Gin damit richtig, dass dieser Abend Rye einiges an Selbstkontrolle abverlangen würde, doch er sollte sich deswegen keinesfalls schlecht fühlen. „Ich will es ja langsam angehen… gerade damit ich mich nicht mehr quälen muss. Ich glaube, dass es mir mit der Zeit leichter fallen wird, wenn ich mich dran gewöhne.“, erklärte Rye, obwohl er sich damit selbst nicht so ganz sicher war. Er konnte nur hoffen, dass es stimmte. Jedoch kannte er Gin nun schon fast zwei Monate und er hatte sich noch nicht einmal richtig an dessen unwiderstehlichen Geruch gewöhnt, geschweige denn an der körperlichen Nähe zu ihm. Vielleicht war es doch unmöglich. Rye konnte Gin an seinem skeptischen Blick ansehen, dass er sich darüber auch nicht sicher zu sein schien. „Es tut mir leid. Ich weiß, dass das sehr selbstsüchtig und rücksichtslos von mir ist und ich dein Leben aufs Spiel setze… aber ich würde dich gern richtig lieben können, nicht nur mit Worten und romantischen Gesten… Ich will mehr… von dir…“ Während Rye sprach, wurde ihm klar, dass dieser Grund sein Vorhaben nicht rechtfertigte. Egal, wie sehr er Gin liebte, er durfte niemals dessen Leben riskieren. Und schon gar nicht, um seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Das war falsch. So falsch, dass er es verdient hätte, von Gin dafür gehasst zu werden. „Hör auf dich ständig für Dinge zu entschuldigen, für die du überhaupt nichts kannst.“, wies dieser ihn jedoch im strengen Tonfall zurecht, sodass Rye ihn überrascht ansah. Natürlich konnte er was dafür. Es war seine Schuld, dass er sich nicht im Griff hatte. Er war das Monster. „Aber-“ „Du wolltest es probieren!“, fiel Gin ihm aufgebracht ins Wort. Für Rye klang es wie ein Vorwurf. Er spürte augenblicklich, wie ihn ein Stich durchfuhr und sich der darauffolgende Schmerz in seinem erstarrten, leblosen Herz ausbreitete. Seine Lippen bebten stumm. Er traute sich nicht, etwas zu sagen. Gin schwieg ebenso für ein paar Sekunden und senkte den Blick. Als er schließlich nach einem Seufzen fortfuhr, war seine Stimme viel leiser: „Und ich hab mich von dir überzeugen lassen.“ Ryes Hand krallte sich automatisch in seine Brust. Als könnte er so sein Herz zusammenhalten, wenn es gleich in tausend Scherben brechen würde. Doch das geschah nicht. Der innere Schmerz verflog, sobald Gin den Blick wieder hob und er ein Lächeln hervorzauberte. Ein schönes, warmes Lächeln, welches sich Rye schon so oft von ihm gewünscht hatte. „Wir wussten beide, dass es nicht einfach wird. Aber du hast gesagt, dass wir einen Weg finden werden. Gemeinsam. Du musst dir also nicht ständig Vorwürfe machen und dich für alles entschuldigen. Ich würde mein Leben nicht aufs Spiel setzen, wenn ich dir nicht vertrauen würde.“, sprach Gin in einer sanften, fast fremden Tonlage, die Rye bisher viel zu selten von ihm gehört hatte. Dennoch stellten die Worte den Schwarzhaarigen nicht zufrieden, weil er sie nicht verdient hatte. Vertrauen. Genau da lag das Problem. „Wie kann er mir vertrauen, wenn ich mir nicht einmal selbst vertraue…?“ Diese unausgesprochene Frage beantwortete Gin, indem er auf einmal Ryes Gesicht in beide Hände nahm, dessen Augen sich unmittelbar darauf weiteten. „Du wirst mich nicht umbringen, weil du mich liebst. Verstanden?“, stellte Gin mit veränderter, fester Stimme klar, während er Ryes Gesicht näher zu sich heran zog. Dieser wusste längst nicht mehr, wie ihm geschah. Er konnte seinen Geliebten nur verträumt anstarren und die Wärme genießen, welche sein Gesicht fast vollständig umhüllte und seine Sorgen in den Hintergrund schob. Zumindest für diesen Moment. „Ja…“, hauchte Rye, bevor er eine von Gins Händen zu seinem Mund führte und sie küsste. „Ich liebe dich…“ Womöglich liebte er Gin viel zu sehr. Und das würde er solange, bis er diese Welt vielleicht irgendwann mal verließ. Doch war seine Liebe zu ihm auch stark genug, um das Monster in seinem Inneren zu besiegen? Während Rye nach einer Antwort auf diese Frage suchte, richtete er sein Augenpaar wieder zu Gins Gesicht, dessen Wangen inzwischen eine leichte Röte zierte. Er warf ihm ein kurzes Lächeln zu und nahm dann die warmen Hände von seinem Gesicht weg. „Aber du darfst mir trotzdem nicht blind vertrauen. Auch jetzt nicht. Ich habe zwar gesagt, dass ich es langsam angehen will, was aber nicht bedeutet, dass nicht doch etwas schief gehen kann.“, warnte Rye und sah Gin dabei eindringlich in die Augen. Er würde die Warnung hoffentlich ernst nehmen. Alles andere wäre ein Fehler. Gin nickte einmal, wenn auch verspätet. Er schwieg eine Weile und schien über irgendwas nachzudenken. „An was denkst du?“, wollte Rye wissen, da ihm die Stille zu lang andauerte und es ihn wirklich interessierte. „Ich habe mich nur gefragt, ob ich es dir vielleicht irgendwie leichter machen kann.“, verriet Gin, womit er sich wahrscheinlich eher auf den heutigen Abend bezog. Rye warf ihm einen überraschten Blick zu, setzte dann aber ein Lächeln auf, um ihm zu zeigen, dass er den guten Willen zu schätzen wusste. Gin konnte es ihm tatsächlich ein wenig leichter machen. Ob das am Ende jedoch auch funktionieren würde, war eine andere Sache. Das Hauptproblem konnte ohnehin nicht beseitigt werden: Alles an Gin wirkte anziehend auf ihn. Sein Aussehen, sein Geruch, seine Stimme. Rye fühlte sich dabei erst recht wie ein Raubtier, welches seiner Beute nicht widerstehen konnte. Er musste dieses Gefühl unbedingt loswerden. „Ja, das kannst du.“ Fast hätte er vergessen Gin eine Antwort zu geben. „Und wie?“ Rye fing an zu überlegen. Sich die Lage bildlich vorzustellen. Wie sie gemeinsam Sex haben würden. Hierbei war die entscheidende Frage, wie weit sie überhaupt gehen könnten, oder besser gesagt: Wo war die Grenze? Und wo sollte er sie ziehen, damit Gin nichts geschah? Zudem wusste Rye nicht, in welcher Position er sich wohler fühlen würde und welche für Gin weniger gefährlich wäre. „Wenn ich ihn einfach machen lasse, bin ich auf nichts vorbereitet und könnte falsch reagieren…“ Auf diese Weise war es schon mal nicht möglich. Denn früher oder später würde er sich Gins Berührungen und seinen Gefühlen für ihn einfach nur hingeben und somit aufhören klar zu denken. Doch es war wichtig, dass er sich die ganze Zeit über konzentrierte. Alles, was seine Konzentration stören könnte, war eine Gefahr. Also blieb nur, dass er die Oberhand behielt. „Folge einfach meinen Anweisungen und tu nichts aus dem Impuls heraus.“, sagte er, woraufhin Gin den Kopf verwirrt zur Seite legte. Aber er wirkte zum Glück nicht so, als hätte er etwas dagegen. Bestimmt fragte er sich nur, was genau das für Anweisungen sein könnten. „In Ordnung.“, erwiderte er. In seiner Stimme schwang nichts von dieser Verwirrtheit mit, sondern eher Verständnis und ein Hauch Nervosität. Rye betrachtete die Antwort als eine Art Erlaubnis, beginnen zu dürfen, Gins Körper zu erkunden. Er versuchte sämtliche Vorbehalte auszublenden und nur an seine Liebe zu Gin zu denken. Er wollte nicht länger zögern und sich endlich holen, wonach er sich schon so lange sehnte. Gin gehörte ihm. Nur er durfte ihn berühren. Rye beugte sich vor und strich vorsichtig mit einer Hand über Gins warme Brust. An der Stelle seines Herzens, wo die Wärme am stärksten pulsierte, verharrte der Schwarzhaarige einen Moment. Er würde nie zulassen, dass dieses Herz jemals aufhören würde zu schlagen. Besonders nicht seinetwegen. Ryes Hände fuhren weiter über Gins Haut, bis sie schließlich die Wangen des Silberhaarigen umfassten und ihn zu einem Kuss heranzogen. Diesmal hielt sich Rye nicht zurück und eroberte Gins Lippen auf eine leidenschaftliche Weise, die seinen Geliebten verlangend stöhnen ließ. Als Rye jedoch registrierte, wie dieser langsam die Hände hob, mit dem Vorhaben ihn enger an sich zu drücken, löste er sich wieder. „Beweg dich nicht.“, flüsterte er an Gins Lippen, während er sie mit dem Daumen nachzeichnete. Er spürte, wie das Blut in ihnen prickelte, als verlangten sie nach mehr Zuneigung. „Gar nicht…?“, wollte sich Gin leise versichern, die Augen dabei verführerisch glitzernd, sodass sie Rye unmittelbar in einen Bann zogen, von welchem er sich am liebsten nie wieder befreien wollte. „Nur, wenn ich es sage.“, gab er zurück. Er wollte sich keinesfalls aus dem Konzept bringen lassen. Alles musste heute von ihm ausgehen und in eine Richtung gelenkt werden, in der Gins Leben nicht in Gefahr war. Ohne länger zu zögern, fing Rye erneut Gins Lippen ein und drang anschließend mit seiner Zunge in die feucht-heiße Mundhöhle ein, um sie bis ins kleinste Detail auszukundschaften. Feuer und Eis schienen miteinander zu verschmelzen, als ihre Zungen aufeinandertrafen und sich umschmeichelten. Rye spürte, wie sein ganzer Körper anfing zu beben und sich automatisch stärker an Gin presste. Doch egal, wie sehr er den Kuss intensivierte, es genügte ihm einfach nicht. Er wollte mehr von Gin spüren. Mehr von dieser unbeschreiblich schönen Wärme. Innerlich stand er bereits in Flammen. Sie waren so hoch, dass es schmerzte. Aber das kümmerte ihn nicht weiter. Noch konnte er den brennenden Schmerz ertragen und ihn mit seiner Liebe zu Gin lindern. Wenn er nur daran dachte, brauchte er sich keine ernsten Sorgen zu machen. Im nächsten Moment war Gin es, welcher den Kuss beenden musste, da ihm scheinbar die Luft knapp geworden war. Zurück blieb ein hauchdünner Speichelfaden, der ihre Zungen noch solange miteinander verband, bis Rye den Abstand zwischen ihnen vorsichtshalber etwas vergrößerte. Auch er benötigte eine kurze Pause, um sich wieder zu sammeln. Währenddessen lauschte er Gins schwerem Atem und beobachtete mit wachsendem Verlangen, wie sich die Brust des Silberhaarigen dabei hastig hob und senkte. Rye konnte sich kaum noch zurückhalten, Gin auf das Bett zu drücken und dessen steif hervorstehende Nippel zu liebkosen. Aber das durfte er nicht. Das Risiko war zu groß. Seine Beherrschung würde dafür nicht ausreichen. Rye lenkte seinen Blick schnell zu Gins Gesicht, um auf andere Gedanken zu kommen. Jedoch erschauderte er, sobald er sein Antlitz in den funkelnden Augen seines Geliebten sehen konnte. Dieses blasse Gesicht und der versessene, hungrige Ausdruck darin sorgten dafür, dass er sich beinahe vor sich selbst fürchtete. So wollte er nicht sein. Er wollte Gin nicht wie ein gefundenes Fressen betrachten. „Ganz ruhig…“, ermahnte Rye sich selbst in Gedanken und schloss die Augen, um sich wieder zu beruhigen. „Ich muss nicht so sein… Ich kann mich zusammenreißen…“ Mit langsamen Handbewegungen fing er nebenbei an, sich das Hemd aufzuknöpfen. Obwohl er seinen Körper nicht zum ersten Mal einem Menschen präsentierte, beschlich ihn dennoch ein unwohles Gefühl. Er selbst fand sich in Wahrheit einfach nur abstoßend und es war ihm ein Rätsel, warum irgendein Mensch auf dieser Welt sich so sehr zu ihm hingezogen fühlen konnte. Er wusste sehr wohl, wie er auf Menschen wirkte, doch wahrhaben wollte er das nicht. Zu oft hatte er schon von anderen Komplimente über sein Aussehen bekommen, die oftmals billig waren und einander ähnelten. Besonders die Worte „Du bist hübsch“ konnte er inzwischen nicht mehr hören. Fast alle Menschen, die dies zu ihm gesagt hatten, verfolgten in Wirklichkeit ganz andere Absichten, welche sie im Nachhinein natürlich bitter bereut hatten. Aber da waren sie nicht die Einzigen. Auch Rye hatte es immer wieder bereut, sich auf die Angebote dieser Menschen eingelassen zu haben. Für ihn war es lediglich ein Zeitvertreib gewesen, um die Leere in seinem Inneren irgendwie zu füllen. Es hatte nie funktioniert, teils sogar das Gegenteil bewirkt und sein Hass auf sich selbst war mit jedem Leben, das er nahm, nur weiter ins Unermessliche gewachsen. Aber das alles war nicht mehr von Bedeutung. Rye schlug die Augen auf und ließ sein Hemd von den Schultern gleiten. Ein Lächeln erschien wie von allein auf seinen Lippen, als er seinem Geliebten in die Augen blickte. Nur Gin bedeutete ihm etwas. Er bedeutete ihm einfach alles. Gin war der einzige Mensch, bei welchem er sich sicher sein konnte, dass er keine hintergründigen Motive und Absichten verfolgte. Die Gefühle, die sich gerade in seiner erwartungsvollen Miene widerspiegelten, waren ohne Zweifel absolut ehrlich. Als sich Rye sicher war, wieder einigermaßen klar denken zu können, kam er Gin langsam wieder näher. Dabei entging ihm nicht, wie sich die Pupillen des Silberhaarigen erweiterten, da er scheinbar seinen Körper bewunderte. Wie benommen hob Gin eine Hand, welche Rye jedoch sofort einfing, um seinen Geliebten zu einer Umarmung heranzuziehen. Er schmiegte sich fest an ihn, sodass sich die Hitze von Gins Haut in seine eigene brannte. Rye bemerkte, wie Gin den Atem anhielt und sein Herz dafür umso schneller schlug. Dennoch hatte der Schwarzhaarige nicht vor sich so schnell von ihm zu lösen. Diese überwältigende Hitze war einfach zu angenehm und ließ ihn die unerträgliche Kälte in seinem Inneren vergessen. Er verlor sich ganz in dem Pulsieren, welches von Gins angespanntem Körper ausging. Das Blut raste ihm durch die Adern. Rye musste aufpassen, sich nicht zu sehr darauf zu konzentrieren. Während die Sekunden verstrichen, erwiderte Gin die Umarmung nur zögernd und legte seine Hände leicht auf Ryes Rücken. Er wirkte etwas unsicher, weshalb Rye ihm eine Erklärung geben wollte. „Dein Körper ist so warm… Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sich das für mich anfühlt…“, murmelte er verträumt. Nicht einmal er konnte dieses Gefühl beschreiben. Es war, als würde er in Gins Armen dahinschmelzen. Er fühlte sich wunschlos glücklich und wollte in diesem Moment nichts anderes mehr. „Naja, da es sich für mich wie das Gegenteil anfühlt, schon ungefähr.“, antwortete Gin im ironisch leisen Tonfall, woraufhin Rye dachte, dass es doch besser wäre sich zurückzuziehen. Er hatte gar nicht daran gedacht, wie sich Gin jetzt womöglich fühlen musste, wenn eine eisige Kälte seinen Körper fast vollständig einhüllte. „Also ist es dir unangenehm.“, sagte Rye trocken. Und das war noch untertrieben. Bestimmt fühlte es sich weitaus schlimmer an. Er wollte das Gin nicht länger antun und beschloss sich von ihm zu lösen. Doch kaum hatte er das getan, schnellte sein Geliebter vor, um ihn wieder fest an sich zu drücken. Rye schnappte überrascht nach Luft, als ihn völlig unerwartet erneut eine Hitzewelle überrollte, die seine Sinne fast betäubte. Hinzu kam, dass ihm Gins süßlicher Duft augenblicklich in die Nase stieg und ein Feuer in seiner Kehle entflammte. „Nein, so meinte ich das nicht… Mir macht die Kälte nichts aus, wirklich nicht.“, gestand Gin. Seine Hände verkrampften sich in Ryes schwarze Strähnen, woran dieser erkannte, dass die Antwort ehrlich gemeint war. Aber trotz der Erleichterung, die Rye daraufhin verspürte, konnte er nichts mehr dazu sagen. Er musste sich zur Besinnung rufen und versuchen gegen seine Gier nach Blut anzukämpfen. Gins Duft durfte ihn nicht vollkommen beherrschen. Rye schluckte. „Was hab ich dir gerade eben gesagt? Nichts aus dem Impuls heraus…“, sagte er mit leiser, heiserer Stimme. Er presste den Kiefer fest zusammen. Zum Glück schien Gin sofort zu verstehen, da er wieder auf Abstand ging, was allerdings bei weitem nicht ausreichte. Doch Rye war so wenigstens nicht mehr der Hitze von Gins Körper ausgesetzt und es war etwas leichter der Versuchung zu widerstehen. „Tut mir leid. Aber das wollte ich nicht einfach so im Raum stehen lassen.“, erklärte Gin. Er betrachtete Rye mit einer gewissen Wachsamkeit in den Augen, schien dabei jedoch auch Scham zu empfinden. „Und du sagst das auch wirklich nicht nur, damit ich mich besser fühle?“, hakte der Schwarzhaarige nach, um sich Gewissheit zu verschaffen. Aber auch, weil er sich mit Worten ablenken wollte. Zumindest noch für eine kleine Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte. Gin zog empört die Augenbrauen nach oben. „Natürlich nicht!“, beharrte er, bevor er kurz stockte und im leiseren Tonfall fortfuhr: „Es ist angenehm für mich, sehr sogar… Bitte mach weiter…“ Die letzten drei Worte klangen nahezu flehend, was Rye noch mehr um den Verstand brachte. Er wusste, dass es zu gefährlich wäre, jetzt weiterzumachen, doch es fiel ihm unendlich schwer zu widerstehen und Gins Bitte nicht nachzugehen. All seine Sinne waren nur noch auf Gin fixiert und er fühlte sich magisch zu ihm hingezogen. Aber diese vermeintliche Magie war nichts weiter als ein Trugbild, das in Wahrheit sein Verlangen nach Gins Blut verschleierte. „Wie du willst.“, hörte er seine Stimme sagen. Kurz darauf legten sich seine Hände wie von selbst um Gins Taille und er kam seinen Geliebten wieder so nah, dass ihre Lippen fast aufeinander trafen. Gins warmer Atem strich heiß über seine kühlen Lippen und in der nächsten Sekunde fand sich Rye längst in einem innigen Kuss mit seinem Geliebten wieder, ohne sich daran erinnern zu können, den Entschluss dazu gefasst zu haben. Seine Hände wanderten nebenbei tiefer und zogen Gin das Handtuch beinahe gewaltsam von den Hüften. Der Silberhaarige zuckte kurz zusammen, bevor er seine Finger in Ryes Schultern vergrub und sich weiter von dessen Zunge in seiner Mundhöhle erobern ließ. Als Rye die festen Pobacken seines Geliebten umfasste, strömte ein Kribbeln durch seine Hände, welches sein Verlangen noch mehr verstärkte. Er zog Gin automatisch auf seinen Schoß und drückte seine Nase in dessen Halsbeuge. Er nahm einen tiefen Atemzug und spürte augenblicklich, wie der süße Duft von Gins Blut ihn verführte und seine Sinne benebelte, als befände er sich im Rausch. Doch jetzt hatte er scheinbar Gins Misstrauen geweckt, da dessen Körper sich plötzlich anspannte. „Rye du…“, setzte er an, doch der Rest des Satzes ging in einem lustvollen Stöhnen unter, als Rye begann die warme Haut von Gins Hals zu küssen. Der letzte Funken seines Verstandes sorgte zumindest noch dafür, dass er seinen Kiefer fest geschlossen hielt und so seine Zunge, welche bereits mit voller Kraft gegen seine Zähne drückte, nicht nach außen gelangen konnte. Rye wollte auf keinen Fall zulassen, dass das Monster in ihm gewann. Es durfte Gins Blut niemals bekommen. Auch wenn dieses für ihn eine viel größere Anziehungskraft besaß als das jedes anderen Menschen. Er war sich sicher, dass es nirgendwo auf der Welt solch ein Blut gab, welches ihn mehr befriedigen würde. Aber den Grund dafür würde Rye wohl niemals herausfinden. Im folgenden Moment nutzte er die Gelegenheit, um Gin von sich wegzustoßen. Das war genug. Seine Grenze war fast überschritten. Noch mehr und er würde die Beherrschung komplett verlieren und ihm das Blut aussaugen. Bis zum allerletzten Tropfen. Rye versuchte nicht daran zu denken. Es sich nicht vorzustellen, wie Gin vielleicht schmeckte… Sein ganzer Körper fing an zu vibrieren. Alles in ihm brannte. Er krümmte sich zusammen, hielt den Atem an und starrte nach unten. Da raschelte auf einmal die Bettdecke und die Matratze sank weiter nach unten. „Was hast du?“, fragte Gin unsicher, während der Schwarzhaarige vernahm, wie er besorgt die Hand nach ihm ausstreckte, um… „Bleib weg!“, schrie Rye und wich sofort bis zum Ende des Zimmers zurück. Von der Wand aus beobachtete er, wie sich Gins Augen kurz vor Schock weiteten, bevor sich seine Miene verhärtete und er seine Hand sinken ließ. Erst jetzt realisierte Rye, wie falsch und abweisend er reagiert hatte, sodass er Gin womöglich verletzt hatte. Er bereute es zutiefst. „Tut mir leid… ich hab‘s ruiniert…“, meinte er in verzweifelter Tonlage und ballte die Hände hinter seinem Rücken zu Fäusten. Obwohl das Ende dieses gemeinsamen Abends vorhersehbar gewesen war, verfluchte er sich dennoch für seine Unfähigkeit, nicht ein einziges Mal die Kontrolle bewahren zu können. Sich mit Gin dieses Zimmer zu nehmen war zweifellos ein Fehler gewesen. Er hätte ihn niemals dazu überreden sollen. Es wäre das Beste gewesen, wenn er ihn einfach nach Hause hätte gehen lassen. „Und schon wieder entschuldigst du dich.“, erwiderte Gin seufzend und verdrehte dabei die Augen. Rye presste die Lippen zusammen und wandte den Blick ab. „Ja aber, es ist nur… ich… ich versteh es einfach nicht…“, stammelte er. „Was verstehst du nicht?“, wollte Gin wissen. Rye schwieg. Er wusste nicht, ob es angebracht wäre, seinem Geliebten davon zu erzählen. Dann würde dieser ihn vielleicht wirklich hassen und für ein krankes, selbstsüchtiges Monster halten. Ryes Angst davor war so groß, dass sie ihn beinahe verschlang. Jedoch sah er im Augenwinkel die Ungeduld in Gins Blick, weshalb er sich doch zu einer Antwort zwang: „Dein Blut…“ Schließlich verstummte er wieder. Wie sollte er das erklären, ohne es so klingen zu lassen, als würde er nur danach trachten? „Was ist damit?“, drängte Gin. Warum bestand er unbedingt auf eine Erklärung? Rye kniff kurz die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.“, gab er zu, bevor er Gin zögernd wieder anschaute, welcher gerade zu überlegen schien. „Du willst mein Blut trinken?“, fragte er nach einer Weile verwirrt mit gehobener Augenbraue, woraufhin Rye schmunzeln musste. So direkt klang es schon komisch. Allerdings wäre es ihm trotzdem unangenehm die Frage einfach zu bejahen. Auch wenn es stimmte, wollte er es eigentlich nicht zugeben. Doch ihm blieb keine andere Wahl. „Offensichtlich… aber das meine ich nicht.“, sagte er. Zumindest nicht ganz. Denn das eine hing schon mit dem anderen zusammen. „Sondern?“ „Es ist viel mehr der Grund, warum ich es will. Der Geruch deines Blutes ist so anders als der von allen anderen Menschen, denen ich vor der begegnet bin. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich das Blut von jemand anderem je so sehr angezogen hat wie deins… Es macht mich verrückt…“ Es auszusprechen kostete Rye sehr viel Überwindungskraft. Nie hätte er gedacht, dass er Gin jemals ins Gesicht sagen würde, wie sein Blut auf ihn wirkte. Zwar wäre es gegen seine Natur, wenn er nicht nach Gins Blut verlangen würde, doch dass sich dieses von allen anderen unterschied, schien den Silberhaarigen aufs Neue zu überraschen. Seine Augen weiteten sich. „Inwiefern…?“ Er verstand es wohl ebenso wenig. Rye suchte nach einem passenden Vergleich, was ihm wegen der wachsenden Nervosität nicht sonderlich leicht fiel. Er dachte daran, wie er sich fühlte, immer, wenn er Gins Duft einatmete. Wie er sich dabei verhielt und dass er sich niemals von ihm fernhalten könnte, egal, wie sehr er es versuchen würde. Als wäre er süchtig nach ihm. „Wie gesagt, ich kann es nicht erklären. Das ist so, als hätte ich bereits eine große Anzahl an Drogen probiert… aber diese wären allesamt nicht zu vergleichen mit deinem Blut. Und dabei habe ich es noch nicht einmal probiert. Es ist nur der Geruch, der schon ausreicht, um mir Sinne und Verstand zu rauben.“, erzählte Rye, während er hoffte, dass es Gin nicht zu sehr abschrecken würde. Doch dieser reagierte anders als erwartet und lächelte in sich hinein, ohne Rye dabei anzusehen. „Vielleicht riechst du das ganze Nikotin und den Alkohol.“, scherzte der Silberhaarige daraufhin, was auch Rye ein leises Lachen entlockte. Zugleich erstaunte es ihn auch ein wenig, dass Gin seine Erklärung nicht ganz so ernst genommen hatte. „Nein. Glaub mir, ich habe viele Menschen vor dir getroffen, die weitaus mehr Zigaretten geraucht und Alkohol getrunken haben. Außerdem riecht beides anders.“, erwiderte Rye. Zugegebenermaßen fand er, dass Zigaretten und Alkohol ziemlich widerlich rochen. Zwar verminderte das nicht seinen Blutdurst und auch das Blut selbst schmeckte dadurch nicht schlechter, aber separat war beides ungenießbar. Und obwohl Gin sowohl Alkohol als auch viele Zigaretten konsumierte, wurde sein eigenes Aroma dadurch nicht überdeckt. „Wenn es das nicht ist, wie rieche ich dann für dich?“, fragte Gin in neugieriger Tonlage, nachdem er Rye eine Weile nachdenklich betrachtet hatte. Der Schwarzhaarige konnte darauf nicht sofort antworten. „Wie das Schönste, was es auf dieser Welt gibt…“, war das erste, was ihm spontan einfiel. Aussprechen tat er das natürlich nicht. Stattdessen suchte er nach passenderen Worten. „Schwer zu beschreiben… Es ist nicht der typische, metallische Geruch wie bei anderen Menschen… Du riechst viel süßlicher, ähnlich wie Vanille… und das so intensiv, dass es aus der Masse heraussticht.“ Rye war sich sicher, dass er Gins Duft unter Millionen von Menschen herausfiltern könnte, auch wenn er mehrere Meilen entfernt wäre. Jedoch war das eigentlich nicht wirklich von Vorteil. „Sein Glück, dass es nicht noch mehr von meiner Sorte gibt. Wer weiß, ob andere Vampire seinen Geruch genauso intensiv wahrnehmen würden wie ich… Aber ich glaube, es liegt ohnehin nur an mir…“ Zumindest hoffte er, dass er der Einzige von seiner Sorte war. Denn falls dem nicht so war und er tatsächlich eines Tages auf einen anderen Vampir von Eclipse treffen würde, wüsste er nicht, was er dagegen unternehmen sollte. Es würde ihm wahrscheinlich nur die Wahl zwischen Kampf oder Flucht bleiben. „Vanille? Das hab ich jetzt nicht erwartet.“ Gin legte die Stirn in Falten. Aber seine Stimme klang so, als würde es ihn belustigen. „Eigentlich habe ich sogar noch untertrieben. Ich wüsste zu gern, ob das bloß an meiner Wahrnehmung liegt, weil meine Gefühle für dich so stark sind… oder ob es einen anderen Grund dafür gibt.“, entgegnete Rye. Doch selbst wenn es mit seinen Gefühlen zusammenhing, würde das nicht seine Fragen beantworten. Warum sollte die Wahrnehmung eines Blutgeruchs etwas mit persönlichen Gefühlen zu tun haben? „Vielleicht stimmt etwas nicht mit mir.“ Ryes Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er diesen Satz von Gin hörte, welcher gerade nachdenklich den Blick senkte und die Augenbrauen zusammenzog. Er schien das wirklich ernst zu meinen. „N-Nein!“, entwich es Rye, vielleicht ein wenig zu hysterisch, doch er wollte auf keinen Fall, dass Gin seinetwegen so etwas dachte. „Mit dir ist alles in Ordnung. Wenn hier etwas mit wem nicht stimmt, dann ja wohl mit mir.“ Irgendwie fühlte sich Rye jetzt schuldig. Er hoffte inständig, dass Gin ihm das glauben würde. Gern hätte er sich wieder neben seinen Geliebten gesetzt, dessen Schulter gestreichelt und ihm ein paar liebevolle Worte ins Ohr geflüstert. Doch so sehr Rye das auch wollte, hielt er es dennoch für besser, weiterhin an der Wand zu verharren. „Sei nicht immer so abwertend zu dir selbst… Nur wegen eines Geruchs, ändern kann man daran wohl sowieso nichts.“, erwiderte Gin zu Ryes Überraschung, während er die Hände hinter sich auf die Matratze stützte und seinen Kopf leicht nach hinten lehnte. „Und hast du jetzt eigentlich vor, bis morgen früh da stehenzubleiben?“, fügte er sarkastisch hinzu. Am liebsten hätte Rye das auch wirklich getan, wenn es nicht so eine unerträgliche Folter für ihn wäre. Gin nur die ganze Nacht über anzusehen, würde er nicht lange durchhalten. Schon jetzt war er längst dabei, sich unbewusst wieder in dessen atemberaubender Erscheinung zu verlieren und seinen Körper zu bewundern. Besonders die wohlgeformten Muskeln seiner Brust und seine Männlichkeit… Rye tat einen zittrigen Atemzug. „Ich bezweifle, dass ich das schaffe.“, gestand er mit rauer Stimme. Innerlich ermahnte er sich jedoch, sich nicht erneut hinreißen zu lassen. Diesmal würde es definitiv fatal enden. Seine Beherrschung war so gut wie aufgebraucht und der Durst wurde auch immer schlimmer. Er fühlte sich, als stünde er auf einem brennenden Scheiterhaufen. Dieses schmerzende, kratzige Gefühl im Hals ließ ihn beinahe wahnsinnig werden und es fiel ihm zunehmend schwerer, sich nichts davon anmerken zu lassen. „Dann komm her.“, sagte Gin in einer Tonlage, die sich für Rye vermutlich verführerischer anhörte, als sie es in Wirklichkeit war. Jede Faser seines Körpers gehorchte fast automatisch. Doch er zwang sich erfolgreich dazu sich nicht von der Stelle zu rühren. Begleitet von einem Kopfschütteln erwiderte er: „Kann nicht… Entschuldige…“ Allmählich fiel ihm sogar das Sprechen schwer. Das Bild vor seinen Augen begann zu flackern und er glaubte zwischen dem Wärmebild Gins enttäuschten Gesichtsausdruck erkennen zu können. Aber dann sah er plötzlich nur noch rot. Rye kniff sofort die Augen zu und krallte seine Hand in den Hals. „Bitte nicht… nicht jetzt…“, flehte er gedanklich, während er versuchte, gegen das Monster in seinem Inneren anzukämpfen, welches gleich unweigerlich Besitz von ihm ergreifen würde. Doch er war zu schwach. Wie immer. Als er die Augen wieder aufschlug, war das Wärmebild noch da. Nur für den Hauch einer Sekunde war es ihm möglich zu sehen, wie sich Entsetzen auf Gins Miene abzeichnete. Wahrscheinlich hatte er bemerkt, wie sehr sich Rye quälte. Oder er fürchtete sich vor dem verräterischen, glühenden Rot in dessen Augen, welches seine Iris inzwischen verfärbt haben sollte. „Du solltest wohl lieber gehen…“ Auch wenn Rye Gins Stimme nicht mehr klar hören konnte, schien sie viel ruhiger zu klingen, lediglich wie ein Ratschlag. „Tut mir wirklich leid… Ich brauch nicht lange, versprochen.“, zwang sich Rye über die Lippen. Es konnte ihm gar nicht leid genug tun. Er wollte diesen ruinierten Abend irgendwie wieder gut machen. Aber wie? „Ist schon okay, du musst nicht wiederkommen.“, antwortete Gin. Warum? Sagte er das etwa aus Reue oder wollte er einfach nicht, dass Rye wieder zurückkam, weil er angewidert war? Oder sogar Angst um sein Leben hatte? Nein. Das entsprach nicht Gins Wesen. „Ich will aber.“ Irgendwie fühlte sich Rye auch etwas dazu gezwungen zurückzukommen. Wenn er das nicht täte, würde er sich noch eine sehr lange Zeit dafür schlecht fühlen. Schließlich war das alles seine eigene Schuld. Er hatte Gin zu diesen Abend gezwungen und ihn gegen seinen Willen hierher geschleppt. Da wollte er ihn keinesfalls auch noch allein hier zurücklassen. Zudem bezweifelte Rye, dass es ihm gelingen würde, sich für den Rest der Nacht von Gin fernzuhalten. Inzwischen war er dessen Nähe schon so sehr gewöhnt, dass er es kaum noch ein paar Minuten ohne ihn aushielt. „Bis später.“, fügte er hinzu und entfernte sich von der Wand, um über das Fenster nach draußen zu gelangen. Als er dieses jedoch erreicht hatte, hörte er Gin hinter sich rufen: „Warte!“ Vorsichtig drehte sich Rye zu ihm um, wobei ihm plötzlich irgendetwas zugeworfen wurde. In seinen Händen fühlte es sich wie der Stoff seines Hemdes an. „Zieh dir wenigstens was an, wenn du rausgehst.“, tadelte Gin, bevor sich Rye das Kleidungsstück schnell überwarf. Er versuchte seinem Geliebten ein Lächeln zuzuwerfen, was in seiner jetzigen Gestalt womöglich einfach nur furchterregend aussah. Ohne ein weiteres Wort riss der Schwarzhaarige in weniger als einer halben Sekunde das Fenster auf und verschwand noch im selben Augenblick durch dieses nach draußen. Die frische Luft, die ihn sogleich umfing, war nahezu eine Befreiung. Aber sie linderte nicht den brennenden Schmerz in seiner Kehle. Rye befürchtete schon fast, dass er mit einem Menschen seinen Durst heute nicht stillen könnte. Er brauchte mehr Blut. So viel, dass es ihm fürs Erste nicht mehr in den Sinn kommen würde, auch nur einen einzigen Tropfen von Gins Blut kosten zu wollen. Aber die Zahl der Opfer, die dieses Verlangen ausgleichen sollten, durfte trotzdem nicht so hoch sein. Es war schon eine Herausforderung eine Leiche zu entsorgen, bei mehreren wäre Rye höchstwahrscheinlich überfordert. Das Risiko, das jemand die blutleeren, toten Körper seiner Opfer fand, durfte er auf keinen Fall eingehen. Zudem würde es weniger Zeit in Anspruch nehmen und er wäre schneller wieder bei Gin. Rye sehnte sich bereits so sehr danach, wieder neben ihn schlafen zu können. Dicht an seinem angenehm warmen Körper. Für dieses unbeschreiblich schöne Gefühl nahm Rye sogar die Alpträume in Kauf, welche ihn wie immer heimsuchen würden, sobald er eingeschlafen war. Kapitel 31: Kaninchen --------------------- Weit weg von Rye und Gins gemeinsamem Leben herrschte am frühen Morgen auf einer unbekannten Insel während des Frühstücks eine angespannte Stille zwischen zwei Personen…   Mit einer ausdruckslosen Miene stocherte Toichi in seinem Essen herum und stieß ein Seufzen aus. Auch heute war der Tisch mit zahlreichen Speisen gedeckt, was früher eigentlich nie der Fall gewesen war. Vor ein paar Wochen hatte Vater das so angeordnet, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass die große Auswahl seinen Appetit ein wenig anregen würde. In letzter Zeit aß der Silberhaarige kaum noch etwas. Genau genommen seit dem Tag, als es der Nummer 12 gelungen war von der Insel und somit auch aus Eclipse zu fliehen. Shuichi hatte alles mit sich genommen und das Einzige, was Toichi geblieben war, war die unendlich tiefe Leere in seinem Herzen, welche ihn von Tag zu Tag immer mehr zu verschlingen drohte. Er wollte und konnte den Schwarzhaarigen einfach nicht vergessen. Dafür liebte er ihn zu sehr. Überhaupt war Shuichi es gewesen, der ihn beigebracht hatte, wie es sich anfühlte, jemanden wirklich zu lieben. Jede Sekunde dachte Toichi an ihn. An sein warmes Lächeln. Seinen atemberaubend schönen Augen. An jeden Kuss, den sie geteilt hatten und an jede Nacht, die sie miteinander verbracht hatten. Selbst an den Ärger, den Shuichi ihm hin und wieder eingebrockt hatte, erinnerte sich Toichi ständig zurück. Und worüber er damals noch tagelang verärgert gewesen war, setzte er heute ein Lächeln auf, während ihm dabei fast die Tränen kamen. Er würde alles dafür tun, um seinen Geliebten wiederzubekommen. Es gab noch so viel, wofür er sich entschuldigen musste. Für das, was er ihn angetan hatte und für all die Geheimnisse, die er vor ihm bewahrt hatte… „Verzeih mir bitte…“, flehte Toichi gedanklich. Und obwohl er sich von ganzem Herzen wünschte, dass Shuichi ihn anhören und seine Entschuldigung annehmen würde, standen die Chancen dazu mehr als gering. Zum einen, weil sie sich vielleicht nie mehr wiedersehen würden und zum anderen, weil seine Taten schlichtweg unverzeihlich waren. „Meinetwegen ist er fast gestorben… Ich hab seine Freunde getötet…“ Zitternd legte er die Gabel auf dem Tellerrand ab. Obwohl sein Magen leer war, spürte er, wie ihn die Übelkeit bei diesem Gedanken übermannte. Er hätte dieses verdammte Gift niemals entwickeln dürfen. Über die Hälfte seines Lebens hatte er mit Forschungen verbracht. Alles nur für Vaters verblendete Zukunftsvision, die trotz allem allmählich drohte wahr zu werden. Vampire, welche die Menschheit versklaven und über sie herrschen würden. Als Kind hatte man ihm oft erzählt, wie grausam und egoistisch die Menschen seien und dass es das einzig Richtige wäre, sie ihrer Machtstellung auf der Welt und ihres Platzes am Ende der Nahrungskette zu berauben. Fast 30 Jahre hatte Toichi all dem Glauben geschenkt, was ihm damals unerbittlich eingetrichtert worden war. Doch seine Ansichten hatten sich von dem Tag an mehr und mehr geändert, als er Shuichi zum ersten Mal begegnet war. Inzwischen war er sich sicher, dass es am besten wäre, sämtliche Forschungen einzustellen und alle Dokumente bezüglich des Gifts APTK zu vernichten. Aber das würde Vater natürlich niemals zulassen, welcher ihn gerade vom anderen Tischende aus mit einer Mischung aus Skepsis und Besorgnis im Gesicht beobachtete. Toichi tat so, als würde er dies nicht bemerken und hielt den Blick weiterhin gesenkt. Der Tag, an dem sich Shuichi in einen Vampir verwandelt hatte, war für die allermeisten Leute hier sowohl ein großes Erfolgserlebnis als auch ein Desaster gewesen. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, den immensen Schaden, den Shuichi hinterlassen hatte, vollständig zu beseitigen. Angefangen bei den Reparaturen und dem Wiederaufbau des Labors, von welchem nichts weiter als ein Trümmerhaufen übrig geblieben war. Bis heute konnte sich Toichi nicht erklären, warum Shuichi ihn damals nicht wie all die anderen Labormitglieder getötet und ihn stattdessen mitten in der Verwüstung zurückgelassen hatte. Immer, wenn er sich die Szene zurück ins Gedächtnis rief, überlief ihn ein eiskalter Schauer. Wie er damals verletzt und völlig hilflos am Boden gelegen hatte, während Shuichis blutrote Augen ihn mit ihrem Blick nahezu durchbohrt hatten. Warum war er von dem neu geborenen Vampir verschont worden? Dabei hatte er den Tod von allen am meisten verdient gehabt… Shuichi schien in diesem Moment nicht Herr seiner Sinne gewesen zu sein, und dennoch hatte er so enttäuscht und verbittert auf ihn herab gesehen, als hätte er all seine bis dahin getroffenen Entscheidungen, die ihre Beziehung zueinander betrafen, zutiefst bereut. Nach diesem Tag hatte Toichi mehr als zwei Monate lang nichts mehr von Shuichi gehört. Erst als eine überaus verdächtige Mordserie in Tokio begonnen hatte, entstanden die ersten Vermutungen über Shuichis Verbleib und es wurde in der Folge eine Suchaktion in die Wege geleitet, die zwar noch immer andauerte, jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit bald enden würde. Es blieb nur offen mit welchem Ergebnis. „Du solltest wirklich wieder mehr essen. Sonst fällst du mir irgendwann noch vom Fleisch.“, hörte er plötzlich Vaters strenge Stimme. „Hmh.“ Toichi sah ihn nicht an. Denn er wusste, dass diese von Kälte erfüllten Augen ihn unweigerlich einschüchtern würden. So war es immer. „Und unsere guten Köche treibst du auch noch in die Verzweiflung.“ Ein Hauch Belustigung mischte sich in Vaters Stimme. Toichi zuckte mit den Schultern. „Du hast ihnen aufgetragen jeden Tag ein ganzes Menü herzurichten.“, erwiderte er tonlos und lehnte sich anschließend in seinem Stuhl zurück. „Weil ich möchte, dass du endlich wieder vernünftig isst.“ Es klang fast wie ein Befehl, weshalb Toichi innerlich erschauderte. Er ließ es sich jedoch nicht anmerken und antwortete in ruhigem Ton: „Ich hab nun mal keinen Appetit.“ „Und woran liegt das?“ Toichi schwieg. Er traute sich nicht den Grund zu verraten. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob Vater ihm vielleicht seinen Wunsch erfüllen würde, wenn er ihn darum bat. Ob er ihm Shuichi überlassen könnte, sobald dieser hierher zurückgebracht werden würde. „Nein… das ist absurd. Wahrscheinlich würde er nachfragen und ich müsste ihm alles erzählen…“, befürchtete Toichi, während nach und nach die Angst in ihm aufkam. Niemals durfte Vater von seiner Beziehung zu Shuichi erfahren. Das würde unwiderruflich in einem Skandal enden. Schließlich war es ihm von Anfang an nicht erlaubt gewesen einen engen Kontakt zu den Mitgliedern mit Nummern aufzubauen. Er hatte gewusst, dass Shuichis Schicksal vorbestimmt gewesen war und er früher oder später als Versuchsobjekt geendet wäre. Während ihrer gemeinsamen Zeit hatte Toichi stets versucht nicht daran zu denken. Erfolglos. Spätestens als der entscheidende Tag immer näher rückte, war es ihm nicht länger gelungen, seine unbesorgte Fassade aufrecht zu erhalten, was Shuichi ihm womöglich auch angemerkt hatte. Aber dieser hatte ihn nie direkt darauf angesprochen, sondern dem Silberhaarigen nur in Rätseln gesprochenen Worten mitgeteilt, dass er ihm nichts vormachen konnte. In manchen Momenten war es Toichi sogar so vorgekommen, als hätte Shuichi ihn regelrecht dazu aufgefordert endlich mit der Wahrheit rauszurücken. Doch er hatte nie den Mut dazu gehabt… „Oh, jetzt verstehe ich.“ Erschrocken hob Toichi den Blick und sah, wie sich Vater ebenso im Stuhl zurücklehnte und die Hände ineinander verschränkte. „Mein Junge ist niedergeschlagen… was machen wir da bloß…“, fuhr er bedauernd fort, bevor sich ein breites Lächeln in seinem Gesicht bildete, welches verriet, dass ihn das eher amüsierte. Toichi ballte seine Hände unter dem Tisch zu Fäusten und verengte die Augen. „Weiß er etwa…“ Toichis Gedankengang wurde von einem abrupten Klopfen an der Tür unterbrochen. Sofort schienen Vaters Augen vor freudiger Erregung aufzublitzen und er wandte den Blick in Richtung Tür. Erwartete er etwa so früh schon Besuch? Oder handelte es sich vielleicht um eine Nachricht von der Suchtruppe? Falls dem so war, hoffte Toichi auf gute Nachrichten. Zumindest für ihn. „Herein!“, rief Vater, woraufhin sich die Tür öffnete. Gespannt beobachtete Toichi, wie einer von Vaters Untergebenen den Saal betrat und mit gleichmäßigen Schritten auf sie zukam, ohne dabei eine Miene zu verziehen. So war es Toichi nicht möglich, sich innerlich schon auf eine gute oder schlechte Nachricht einzustellen. „Guten Morgen, Sir.“, sprach der Mann, während er sich in Vaters Richtung verbeugte. „Doktor Kurosawa.“ Er verbeugte sich ein zweites Mal, was Toichi mit einem stillen Nicken erwiderte. „Nun, ich höre? Was hast du zu berichten? Ich hoffe doch, dass du gekommen bist, um uns den Morgen etwas zu versüßen.“ Vater klang unbekümmert, als rechnete er nur mit guten Neuigkeiten. Toichi wusste nicht, ob er sich Sorgen machen musste. Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte? Auf Anhieb fiel ihm nur Shuichis Tod ein. Doch er bezweifelte, dass sie so weit gehen würden. Wie auch? Menschen waren nicht dazu in der Lage einen Vampir zu töten und noch war Shuichi der einzige seiner Art. Je nach dem, wie Vaters nächste Befehle lauteten, könnte sich das sehr bald ändern. Denn er würde alles daran setzen Shuichi um jeden Preis wieder zurückzubringen. Egal ob tot oder lebendig. Schließlich hatte dieser Eclipse verraten und besaß Informationen, die auf keinen Fall an die Außenwelt gelangen durften. Das größere Problem war jedoch eher die Gefahr, die von ihm selbst ausging. Wie hatte er es geschafft über vier Monate unentdeckt zu bleiben, ohne eine Massenpanik in der Welt auszulösen? „Bestimmt ist er die ganze Zeit auf sich allein gestellt gewesen… Ich will mir nicht vorstellen, was er alles durchmachen musste…“, dachte Toichi. „Allerdings… wenn die letzten Infos von unserem Informanten der Wahrheit entsprechen, dann war er wohl doch nicht so allein.“ Eigentlich würde ihn das beruhigen. Aber es störte ihn, dass Shuichi wohl ausgerechnet zu der Seite des Feindes übergelaufen war. Nur ein dummer Zufall? „Gewiss doch. Unser Informant hat uns ein interessantes Foto zukommen lassen. Ich habe mir erlaubt, es für Sie auszudrucken.“, begann der Mann zu berichten und reichte Vater anschließend ein Bild hin. Toichi versuchte währenddessen einen kurzen Blick auf dieses zu erhaschen, jedoch gelang es ihm nicht. In Gedanken rätselte er bereits, was auf dem Foto abgebildet sein könnte. Etwa Shuichi? Und wenn ja, an welchem Ort war er zum Zeitpunkt der Aufnahme gewesen und was hatte er getan? „Wie es aussieht, hat die Nummer 12 tatsächlich in Renya Karasumas Organisation Fuß gefasst. Sie decken seine verübten Morde und haben ihm auch eine neue Identität gegeben. Deswegen haben wir ihn nicht so leicht finden können.“, erzählte der Mann weiter. Toichi achtete gleichzeitig auf Vaters Gesichtsausdruck, dessen Augen das Foto streng fixierten. „Dieser Mann…“, begann er nachdenklich, woraufhin sein Untergebener die unvollständige Frage beantwortete: „Er ist… Renyas Vermächtnis.“ Jetzt war Toichi vollkommen verwirrt. Was für ein Mann? Von wem sprachen sie? Wer sollte Renya Karasumas Vermächtnis sein? Hatte dieser etwa bereits einen Nachfolger gefunden? All diese Fragen ließ Toichi unausgesprochen, obwohl er am liebsten auf jede Einzelne sofort eine Antwort wissen wollte. „Ich weiß.“ Auf einmal umspielte ein amüsiertes Lächeln Vaters Lippen. Doch kurz darauf wanderte sein Blick zu Toichi und sein Lächeln wurde breiter. Der Silberhaarige glaubte beinahe, dass Vater ihn gerade mit neuem Interesse in den Augen musterte. Aber wieso? „Perfekt, dann haben wir wohl die Schwachstelle von 12 gefunden. Aber warum muss ausgerechnet er es sein… Ich hege eigentlich nicht die Absicht, mich auf diese Weise mit Renya anzulegen. Doch er scheint es nicht anders zu wollen.“ Mit jedem von Vaters Worten wurde Toichis Interesse an diesem vermeintlich fremden Mann größer. „Inwiefern sollte er Shuichis Schwachstelle sein?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass Shuichi überhaupt irgendwelche Schwachstellen besaß. Jedenfalls waren ihm früher nie welche aufgefallen, was vielleicht auch daran liegen könnte, dass der Schwarzhaarige es stets vermieden hatte vor anderen Schwäche zu zeigen. „Sir, wie wäre es, wenn wir zuerst versuchen mit ihm zu verhandeln? Vielleicht wird er-“, wollte Vaters Untergebener einen Vorschlag äußern, wurde allerdings lachend von ihm unterbrochen. „Verhandeln? Mit diesem sturen Bock?“, fragte er ungläubig. „Kommt gar nicht in Frage. Ich hab jahrelang meine Zeit verschwendet, jetzt ist es genug.“ Daran erinnerte sich Toichi nur zu gut. Bis vor ein paar Jahren war Vater regelmäßig nach Tokio gereist, um mit Renya Karasuma zu verhandeln. Immer ohne Erfolg. Seitdem durchspielte er täglich andere Möglichkeiten, um an die letzte Zutat für die Fertigstellung des APTK zu kommen. Doch niemand außer Renya Karasuma wusste, wo sich das Elixier des ewigen Lebens befand. Und das würde sich wahrscheinlich auch erst mal nicht ändern. Momentan war es Toichi ohnehin egal. Er wollte dieses Gift nicht fertigstellen, um unsterbliche Vampire erschaffen zu können. Shuichi würde das mit Sicherheit auch nicht wollen… „Was schlagen Sie dann vor?“, riss die Stimme des Untergebenen Toichi aus seinen Grübeleien. Während er auf Vaters Antwort wartete, schlug sein Herz nach und nach höher. Wenn er die Alternativen durchdachte, würde er sich doch am ehesten für eine Verhandlung mit Renya Karasuma entscheiden. Er verstand sowieso nicht, welchen Nutzen Shuichi für diesen haben sollte. Verabscheute er Vampire nicht eigentlich genauso sehr, wie seine Vorfahren es taten? „Es wäre am einfachsten 12 eine Falle zu stellen… bleibt nur die Frage, wer ihn hierher zurückbringen wird…“, erwiderte Vater nachdenklich, bevor er sich an den Silberhaarigen wandte: „Toichi, wie weit bist du mit der Fehlerkorrektur des APTK?“ „Noch nicht ganz fertig. Aber ich kann dir versichern, dass bei der Einnahme keine Menschen mehr sterben werden.“ Darauf hatte sich Toichi in den letzten Wochen am meisten konzentriert. Früher war es ihm egal gewesen, ob die Versuchsobjekte an dem Gift starben oder nicht. Doch inzwischen würde er keinen weiteren Tod eines unschuldigen Menschen mehr ertragen können. Denn einige unter den Nummern hatten Shuichi sehr viel bedeutet, insbesondere 11 und 13 schienen wie Geschwister für ihn gewesen zu sein. Doch 11 war bereits vor einem Jahr gestorben und wenn Shuichi nicht überlebt hätte, wäre 13 die Nächste gewesen. Für sie war es noch nicht zu spät. „Das genügt ja fürs Erste. Uns bleibt sowieso keine andere Wahl, als das Mittel schon einzusetzen. 12 hat übernatürliche Fähigkeiten, mit denen es kein Mensch aufnehmen kann. Daher benötigen wir gleichstarke Gegner für ihn.“, meinte Vater zufrieden und überschlug nebenher die Beine. „Wollen Sie das Mittel weiterhin an den Nummern anwenden?“, erkundigte sich sein Untergebener, woraufhin Vater zu Toichis Überraschung den Kopf schüttelte. „Nein. Ich verschwende keine Testobjekte. Wir wissen außerdem nicht, in welchem Verhältnis sie zu 12 stehen. Wer weiß, ob sie dazu imstande wären, ihn zu fangen. Dieses Risiko gehe ich nicht ein. Wir werden ein paar unserer besten Leute losschicken.“, erklärte er, wobei er beim letzten Satz ein wenig stolz klang. Toichi hingegen hatte keinen blassen Schimmer, welche Leute damit gemeint waren. In seinen Augen gab es viele, die für die Mission geeignet wären. Obwohl er sich auch fragte, ob es denn wirklich Vampire geben könnte, die stark genug für Shuichi wären. Selbst als dieser noch ein Mensch gewesen war, hatten es nur die Wenigsten hier mit ihm aufnehmen können. „Aber wenn sie in der Überzahl wären… dann hätte er wahrscheinlich keine Chance und sie würden ihn vielleicht…“ Toichi wagte es nicht diesen Gedanken zu Ende zu führen. Mittlerweile schlug ihm das Herz bis in die Fingerspitzen. Er musste irgendwie verhindern, dass sie Shuichi etwas antun würden. Aber wie? Was sollte er sagen? Würde er mit Worten jetzt überhaupt etwas bewirken können? „Ich werde es erst herausfinden können, wenn ich es probiere…“ „Wie Sie meinen, Sir.“, antwortete der Untergebene tonlos. Toichi starrte unsicher auf seine noch immer zusammengeballten Fäuste, bevor er den Blick auf Vater richtete und sich dazu überwand ihm eine Frage zu stellen. „A-Also, Vater…“ Er verstummte sofort, als dieser ihn eindringlich in die Augen sah. „Ja?“, hakte er nach. Toichi konnte erst nach ein paar Sekunden fortfahren. Sein Mut hatte ihn bereits so schnell wieder verlassen, wie er gekommen war. „Du wirst 12 nicht töten lassen, oder…?“, brachte er mühsam über die Lippen. Er wollte sich erst vergewissern, bevor er seine eigentliche Bitte äußern würde. „Verräter wie er müssen bestraft werden. Ob ich ihn allerdings mit dem Tod bestrafe, überlege ich mir noch.“, entgegnete Vater, wobei Toichi versuchte den hämischen Unterton in dessen Stimme zu ignorieren. In Gedanken wog er ab, ob er das Risiko eingehen und seine Frage stellen sollte oder ob es besser wäre das Gespräch an dieser Stelle zu beenden und einfach stillschweigend zu nicken. Wie viel hatte er noch zu verlieren? Shuichi war fort. Alles andere spielte nun ohnehin keine Rolle mehr. Er wollte nichts mehr als endlich wieder bei ihm sein zu können. Egal, welchen Preis er dafür zahlen musste. „Könntest du ihn nicht vielleicht… mir überlassen? Bitte…“, sprach er seine Frage mit leiser Stimme aus. Noch nie war ihm etwas so schwer über die Lippen gekommen. Er spürte förmlich, wie die Angst und Nervosität ihn in weniger als einer Sekunde vollständig einhüllten. Es gab genau drei Antwortmöglichkeiten. Ein Nein als Antwort wäre zwar sehr schmerzhaft, aber er wäre gezwungen es zu akzeptieren. Ein Ja war wiederum sehr unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen und er wäre Vater womöglich zum ersten Mal in seinem Leben für etwas sehr dankbar. Doch die dritte Möglichkeit… „Warum?“ Vater zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Natürlich musste er es hinterfragen. Davor hatte Toichi am meisten Angst gehabt, da er den Grund niemals aussprechen könnte. Er war noch nicht bereit dazu Vater die Wahrheit über seine Beziehung mit Shuichi zu sagen – und das würde er wahrscheinlich auch nie sein, weil keiner diese Beziehung je akzeptieren würde. „Damit du weiter mit ihm Spaß haben kannst?“ Im nächsten Augenblick war Toichis Körper starr vor Schock, während sich seine Augen weiteten. Er nahm nicht wahr, wie er den Atem anhielt, spürte jedoch dafür jeden einzelnen Herzschlag, der ihn durchbebte. Das hatte er sich nur eingebildet, oder? Das konnte Vater gerade nicht wirklich gefragt haben. Vollkommen ausgeschlossen… „Woher sollte er das wissen…“, ging es Toichi durch den Kopf, woraufhin ein schadenfrohes Lächeln auf Vaters Lippen zum Vorschein kam. „Überrascht dich das etwa? Dachtest du, ich weiß nicht, was ihr hinter meinem Rücken getrieben habt?“, offenbarte er in einer Tonlage, die Toichi glauben ließ, dass er schon lange auf diesen Moment gewartet hatte. Der Silberhaarige schwieg. Er war sich sicher, dass jede Antwort fatal wäre. Doch es kamen plötzlich so viele Fragen in ihm auf, die er sich einfach nicht erklären konnte… „Wieso hast du…“, begann er schließlich leise, bevor seine Stimme ganz versagte. Allerdings schien Vater die Frage dennoch erahnen zu können und ging deshalb auf diese ein. „Wieso ich das erduldet habe? Ganz einfach. Ich wusste, dass eure kleine Romanze früher oder später ganz von allein in einer Tragödie enden wird.“, meinte er amüsiert. Da übermannte Toichi die Wut. Das ging eindeutig zu weit. „Sie wird nicht enden!“, schrie er. Auf keinen Fall würde er das zulassen, solange es ihm noch möglich war Einfluss darauf zu nehmen. Egal wie. Shuichi gehörte ihm. Sie waren füreinander bestimmt. Er würde alles tun, damit Shuichi ihm verzeihen würde. „Ist sie das nicht schon?“, hakte Vater nach. Ein Wunder, dass er noch immer ruhig blieb und nicht zurückschrie. Bisher hatte Toichi jeden gegenüber ihm zu laut gewählten Tonfall unweigerlich bereut. „Nein.“, erwiderte er fest entschlossen. „Ich… liebe 12 immer noch… und er…“ „Du bist nicht nur zu sensibel, sondern auch noch naiv. Das wird dir immer zum Verhängnis werden.“, unterbrach Vater ihn streng. Kurz fragte sich Toichi, ob dieser damit recht hatte, doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, hielt Vater auf einmal das Foto hoch, welches mittlerweile zwischen seinen Fingern klemmte, sodass der Silberhaarige nur die weiße Rückseite sehen konnte. „Hast du wirklich geglaubt, dass er dich liebt? Er hat deine Stellung ausgenutzt, nichts weiter.“, meinte Vater spöttisch. Es war zu erwarten, dass er Shuichi so etwas zutraute. Schließlich hatte er von Anfang an nicht viel von ihm gehalten. „Nein, das ist nicht wahr!“ Dafür würde Toichi seine beiden Hände ins Feuer legen. Shuichi hätte ihn niemals benutzt. So ein heimtückischer Mensch war er nicht. Auch wenn er ständig für Chaos gesorgt und sich kaum an die Regeln gehalten hatte, so war er dennoch wenigstens immer ehrlich zu ihm gewesen. Nie wäre Toichi auf die Idee gekommen, dass Shuichi stets irgendein hintergründiges Motiv verfolgt hatte und ihre Liebe dadurch nicht echt gewesen war. „Fast drei Jahre… besonders die letzten Monate… das kann nicht einfach alles nur gespielt gewesen sein… das wäre mir aufgefallen. Und dass mein Vater der derzeitige Anführer unserer Organisation ist, hat ihm doch noch nie einen Vorteil gebracht, im Gegenteil… wieso hätte er dann meine Stellung ausnutzen sollen?“ Egal, wie Toichi es drehte und wendete – er fand keine plausible Erklärung. Weitersuchen konnte er jedoch nicht, da plötzlich etwas vor ihm auf dem Tisch landete. Vater hatte ihm das Bild zugeworfen. Noch immer zeigte ihm dieses nur die Rückseite. Als würde das Schicksal nicht wollen, dass er die Fotografie zu Gesicht bekam. „Sieh selbst. Er hat dich bereits erfolgreich ersetzt.“, hörte er Vater sagen, während seine Hand zu dem Foto wanderte, um es umzudrehen. Doch er verharrte für einen kurzen Moment, als er sich Vaters Worten bewusst wurde und er dessen breites Grinsen bemerkte. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob er das Foto wirklich sehen wollte. Ersetzt? Wie? Durch wen? Toichi starrte auf seine Finger, welche allmählich zu zittern begannen. Ihm war klar, dass er es mit hoher Wahrscheinlichkeit bereuen würde dieses Bild umzudrehen und er sich danach wünschen würde es niemals getan zu haben. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Zudem war seine Neugierde größer als die Angst, die ihn beschlich. Toichi atmete einmal tief durch, bevor er das Foto in die Hand nahm und es umdrehte. Doch im nächsten Augenblick stürzte alles mit einem Schlag auf ihn ein. Seine Welt, gefüllt von Erinnerungen an Shuichi und von Hoffnungen diesen sehr bald wiederzusehen, schien nach und nach Risse zu bekommen und zerbrach letzten Endes wie eine Glaskugel in Millionen kleiner Scherben. Der Silberhaarige wollte es nicht realisieren. Er wollte nicht realisieren, was dieses Foto ihm offenbarte. Zu viele Gefühle überrumpelten ihn, sodass er kaum noch ein klaren Gedanken fassen konnte und es ihm nicht gelang das Bild vor seinen Augen zu verarbeiten. Es gab genau zwei Dinge, die ihn bis aufs Tiefste schockierten. Jedoch wusste er nicht, über welches dieser beiden Dinge er mehr schockiert sein sollte: Shuichi, wie er offensichtlich mit einem anderen Mann zusammen war und sich mit diesem gerade in einem leidenschaftlichen Kuss befand oder dass dieser Mann fast genauso aussah wie er. Toichi verengte die Augen. Abgesehen davon, dass der Kerl keine Brille trug und seine Haare deutlich länger waren, ähnelten sie einander wie Zwillinge. „Das… kann unmöglich sein…“ Toichi hoffte, dass er sich irrte und die Perspektive des Fotos ihm lediglich einen Streich spielte. Vielleicht wurde es bearbeitet oder der Mann sah in Wirklichkeit doch ganz anders aus. Es konnte niemanden geben, der ihm so sehr ähnelte. Zwar hatte Toichi schon einmal gehört, dass jeder Mensch statistisch gesehen mindestens sieben Doppelgänger besaß - was bei einer Weltbevölkerung von 7,3 Milliarden durchaus der Fall sein könnte - doch die Wahrscheinlichkeit diese Doppelgänger auch zu treffen war mehr als gering. Zumal es kein Zufall sein konnte, dass Shuichi ausgerechnet mit so jemandem eine Liebschaft angefangen hatte. Doch was steckte dann dahinter? Toichi fiel es schwer dieser Frage auf den Grund zu gehen. Seine Finger krallten sich fester in das Bild und er murmelte hasserfüllt: „Wer ist dieser Kerl…“ Er würde ihm am liebsten sofort den Hals umdrehen. Wie konnte er es wagen sich von Shuichi küssen zu lassen? Noch nie hatte Toichi so schnell solch eine Wut auf eine vermeintlich unbekannte Person empfunden. Doch mit dieser Wut vermischten sich auch der Herzschmerz und das Gefühl betrogen worden zu sein. Warum tat Shuichi das? Wollte er es ihm auf diese Weise etwa heimzahlen? „Ich werde es dir nicht sagen.“, antwortete Vater auf einmal, wobei Toichi ihn überrascht ansah. „Wenn du Geheimnisse vor mir hast, werde ich es dir gleich tun. Du solltest dir in Zukunft wirklich gründlich überlegen, ob du mich noch einmal hintergehst. Du weißt, ich kann auch anders. Ganz anders. Ich lasse mich nicht von dir verarschen, Toichi.“ „Ja, Vater…“ Dem Silberhaarigen lief ein Schauer über den Rücken, doch er vergaß die Drohung ausnahmsweise schnell wieder, da seine Gedanken nur noch um das Foto kreisten, auf welches er längst wieder starrte. „Dann sind wir uns ja einig.“, meinte Vater zufrieden, woraufhin sein Untergebener ihn nach kurzer Stille wieder ansprach: „Ähm… Sir, was passiert jetzt eigentlich mit unserem Informanten? Sollen wir ihn kontaktieren und einen nächsten Befehl geben?“ „Nein. Ich habe alle Informationen, die ich brauche. Er soll unverzüglich beseitigt werden.“, befahl Vater, was zu erwarten gewesen war. Toichi hörte nur noch mit halbem Ohr zu, jedoch konnte er an Vaters Tonlage erkennen, dass dieser scheinbar bereits einen Plan im Hinterkopf hatte. „Sind Sie sich sicher?“, hakte der Untergebene nach. „Ja, sein Tod kann uns von Nutzen sein. Außerdem weiß er von unserer Existenz. Allein das ist Grund genug, ihn zu töten.“ „Und seine Familie?“ „Die auch. Ich will, dass alle beseitigt werden. Jedoch auf eine ganz bestimmte Weise.“, entgegnete Vater in übel gesinnter Tonlage, die Toichi selbst in seiner Abwesenheit noch erschaudern ließ. Aber diese Methoden waren ihm nicht neu. Es war schon immer so gewesen, dass Mitwisser zum Schweigen gebracht werden mussten, da die Existenz von Eclipse niemals an die Außenwelt gelangen durfte. Eigentlich würde sich Toichi fragen, inwiefern der Tod des Informanten noch nützlich sein könnte und welches Ziel Vater damit verfolgte, doch er hatte gerade andere Sorgen, welche ihn mehr quälten. Er hielt es für besser, irgendwo in Ruhe über das Foto und das, was darauf zu sehen war, nachzudenken. Fortan würde er ohnehin deshalb nachts kein Auge mehr zu bekommen, da er auf so viele Fragen einfach keine Antwort wusste. Am meisten interessierte ihn tatsächlich die Identität von Shuichis neuem Liebhaber. „Renyas Vermächtnis… Vater scheint ihn zu kennen… aber wieso hat er vorher nie etwas gesagt?“, ging es Toichi durch den Kopf, während er sich von seinem Stuhl erhob und ohne ein Wort in Richtung Tür ging. Dabei spürte er ununterbrochen Vaters misstrauischen Blick im Nacken, welchen er versuchte bestmöglich zu ignorieren, bis er den Saal endgültig verlassen hatte. Hinter der Tür atmete Toichi tief durch und ließ das Foto vorerst in die Tasche seines Kittels gleiten. Morgen früh würde er definitiv allein frühstücken und auch sonst versuchen sämtliche Begegnungen mit Vater in den nächsten Tagen zu vermeiden. Seine Nerven waren allmählich am Ende. „Ich kann sowieso erst mal nichts ausrichten… aber hoffentlich bald…“ Ohne auf seine Umgebung zu achten, ging er durch den großen Gebäudekomplex und blendete auf seinem Weg alle Personen aus, die irgendwas von ihm wollten. Er würde sich später um die Vorbereitungen kümmern. Jetzt brauchte er erst mal Ruhe und ein wenig frische Luft. Es gab hier nur einen Ort, an dem er beides finden würde. Der Hintergarten war nur im Besitz seiner Familie, weshalb nur Vater und er ihn betreten durften. Da allerdings sowohl er als auch Vater in letzter Zeit zu beschäftigt waren, um sich dort aufzuhalten, kümmerten sich lediglich ab und zu ein paar Gärtner um die ganzen Gewächse. Doch obwohl der Zutritt allen anderen verboten war, hatte er einmal Shuichi dorthin mitgenommen. Während er sich daran zurückerinnerte, kam es ihm plötzlich so vor, als sei es erst gestern gewesen. Die Tage waren langsam kälter geworden und Shuichi hatte sich gerade erst von einer schweren Erkältung erholt gehabt. Toichi hatte ihn zuvor auf seinem Zimmer besucht, um sich nach seinem gesundheitlichen Zustand zu erkundigen…   9 Monate zuvor   „Und, Herr Doktor, wie lautet Ihre Diagnose?“, fragte Shuichi scherzhaft, während er den Blick über die Schulter warf. Toichi nahm das Stethoskop ab und hängte es sich wieder lose um den Hals, bevor er begann: „Scheint fast alles wieder in Ordnung zu sein. Dein Rachen ist noch etwas entzündet, aber die Symptome werden wahrscheinlich in ein paar Tagen weg sein. Nimmst du die Tabletten, die ich dir gegeben hab?“ „Ja, das fragst du mich jetzt bestimmt schon zum dritten Mal.“ Shuichi zog sich nebenbei das Hemd wieder an und schmunzelte, als schien ihn die aus seiner Sicht leichte Überfürsorge zu amüsieren. „Weil ich das Gefühl habe, dass du mich anlügst.“, entgegnete Toichi in gespielt erboster Tonlage, womit er glaubte richtig zu liegen. Zwar war es ihm nicht egal, aber wenn Shuichi die Tabletten wirklich nicht nahm, konnte er das nicht ändern. Es war schließlich immer noch dessen eigene Entscheidung. Kurz weiteten sich die Augen des Schwarzhaarigen überrascht, doch dann lächelte er breit und gestand: „Naja, kann sein, dass ich nicht jeden Tag eine genommen hab… Aber wie du siehst, geht es mir trotzdem besser. Du musst dir nicht so viele Sorgen machen.“ „Tu ich schon nicht. Ich kümmere mich eben nur gern um dich.“ Das war ehrlich gemeint. Am liebsten würde Toichi nichts anderes mehr tun. So könnte er immer in Shuichis Nähe sein und ihn auf die unterschiedlichsten Weisen verwöhnen. „Das kannst du doch auch, wenn ich nicht krank bin.“, meinte Shuichi mit verführerischer Stimme, die Toichi verriet, dass sie scheinbar an dasselbe gedacht hatten. Nur wollte sein Geliebter es nicht nur bei Worten belassen, da er sich mit noch halb geöffnetem Hemd zu ihm umdrehte und anschließend langsam die Arme um seinen Hals schlang. Toichi blieb augenblicklich der Atem stehen. Womöglich würde er sich nie an Shuichis bildschönen Anblick gewöhnen. Besonders nicht an dessen Augen, welche so grün funkeln konnten wie zwei Smaragde, von denen es auf der ganzen Welt keine schöneren gab. Noch nie hatte ein Mensch solche starken Gefühle in ihm ausgelöst und er war sich sicher, dass niemand außer Shuichi dazu in der Lage wäre. Dieser war ihm inzwischen so nah gekommen, dass ihre Lippen einander fast berührten. Gern hätte Toichi auch den letzten Abstand zwischen ihnen verringert, wenn Shuichis Augen ihn nicht bereits in einen Bann gezogen hätten. Er konnte nichts anderes tun als zu warten, bis sein Geliebter den Kuss beginnen würde. Doch das passierte nicht. Plötzlich drehte sich Shuichi ruckartig zur Seite, bevor er in seine Armbeuge nieste. „Gesundheit.“, sagte der Silberhaarige, während Shuichi schniefte und sich mit der Hand über die Stirn fuhr. Seine Kopfschmerzen schienen sich nun wieder verstärkt zu haben. „Danke… besser wir lassen das noch.“, erwiderte er verlegen mit leiser Stimme. Doch das wollte Toichi nicht. Jetzt war er schon zu sehr auf einen Kuss eingestellt, als das er es einfach dabei belassen könnte. Wie von selbst umfasste seine Hand Shuichis Kinn und zog ihn zu sich heran, sodass ihre Lippen aufeinandertrafen. Ein Prickeln schoss durch seinen Körper, welches ihn dazu brachte, Shuichi spüren zu lassen, wie viele Küsse er ihm von den letzten Tagen noch schuldete. Es waren unendlich viele und selbst wenn diese Schuld beglichen wäre, würde Toichi noch immer nicht genug von diesen weichen, feuchten Lippen haben, die nur ihm allein gehörten. Shuichi begann den Kuss erst zu erwidern, nachdem sich seine anfängliche Anspannung gelöst hatte. Er war in solchen Dingen immer sehr leidenschaftlich und das manchmal so sehr, dass Toichi sich fühlte, als würde er in seinem Verlangen nach diesem Mann ertrinken. Er wusste schon lange nicht mehr, wie viele Sterne er durch ihn schon gesehen und in welche Höhen der Schwarzhaarige ihn schon getrieben hatte. Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen. Es spielte ohnehin keine Rolle. Toichi genoss viel lieber die Momente und hoffte jedes Mal, dass sie nie enden würden. Doch leider musste wohl alles irgendwann ein Ende nehmen. So wie jetzt, als sich Shuichi schwer atmend von ihm löste. „Du willst dich scheinbar wirklich noch anstecken.“, stellte er fest. Und dass er das nur ungern zuließ, konnte Toichi an seiner Tonlage hören. „Ist mir egal.“, antwortete er unbekümmert, bevor er Shuichi erneut zu sich heran zog. Er vergrub seinen Kopf in dessen Halsbeuge und ließ dort den ein oder anderen Kuss zurück. An manchen Stellen verweilte er länger und sog etwas kräftiger an der warmen Haut, was dem Schwarzhaarigen ein leises, wohliges Seufzen entlockte. Im jetzigen Moment bemerkte Toichi erst vollständig, wie sehr er die Nähe seines Geliebten vermisst hatte. Shuichi war in den letzten Tagen zu erschöpft gewesen und hatte viel geschlafen, was er ihm auch nie vorenthalten würde. Er war froh, dass es ihm heute wieder einigermaßen besser ging. Hoffentlich würde das auch so bleiben. Nach einer Weile bemerkte er, wie Shuichi begann ihm sanft über den Haaransatz zu streicheln. Toichi schmiegte sich stärker an ihn und sie verweilten ein paar Sekunden in Stille. Irgendwann sagte Shuichi: „Du solltest dich hier lieber nicht zu lange aufhalten. Deine Kollegen wissen, dass du hier bist, nicht wahr?“ Und schon war der schöne Moment vorüber und die Realität zurückgekehrt. Toichi seufzte und rückte wieder etwas zur Seite. Dabei blieb sein Blick an der eintätowierten Nummer an Shuichis Hals hängen, die ihn ebenso daran erinnerte, dass er nicht so lange hier bleiben durfte. Eigentlich trug Shuichi die Ziffer schon seit seiner Ankunft, doch sie stach dem Silberhaarigen jedes Mal aufs Neue ins Auge und ließ ein unwohles Gefühl in ihm aufkommen. Schließlich diente sie nicht nur als Namensersatz, sondern auch als Nummerierung für die Versuchsobjekte. Toichi lenkte den Blick schnell woanders hin, um sich wieder auf das eigentliche Gespräch konzentrieren zu können. „Schon, aber es gehört unter anderem zu meinen Aufgaben jeden der Kranken zu versorgen und dafür nehme ich mir auch die Zeit, die ich brauche.“, entgegnete er. Es klang zwar wie ein schlechter Vorwand, aber er würde sich trotzdem von niemandem von seiner Arbeit abbringen lassen. Sollten die im Labor doch denken, was sie wollten. Die Meisten wussten ohnehin schon, dass er zu Shuichi ein eher freundschaftliches Verhältnis pflegte. Ob jeder auch damit einverstanden war, interessierte Toichi nicht. Solange Vater oder einer von seinen engsten Vertrauten keinen Verdacht schöpfte, war ihre Beziehung noch nicht in Gefahr. „Wenn du meinst.“ Shuichi lehnte sich zurück auf das Bett und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Nach einer Weile fügte er hinzu: „Aber schon komisch… Ich war in meinem Leben bisher nie krank gewesen… zumindest nicht so schlimm…“ Toichi lächelte leicht. Ein wenig beneidete er Menschen, die ein starkes Immunsystem besaßen. Er selbst war schon immer etwas anfälliger für Krankheiten gewesen. „Meistens erwischt es die, die sonst nie krank werden, mindestens einmal im Leben richtig.“, erklärte er, um Shuichi leicht zu necken, welcher daraufhin erwiderte: „Vielleicht. Aber meine Lebensweise hat sich auch stark verändert, seit ich hier bin. Angefangen mit dem Mangel an frischer Luft…“ Toichi schwieg und beobachtete Shuichi mit Bedauern. Er wusste zu gut, wie sehr der Schwarzhaarige es in Wirklichkeit hier hasste und wie unzufrieden ihn der strenge Alltag machte. Nicht selten hatte er diesen Ort mit einem Gefängnis verglichen, wobei Toichi ihm heimlich in Gedanken immer zugestimmt hatte. Aber aus einem Gefängnis war es nun mal unmöglich zu entkommen. Den Nummern war es überhaupt nicht gestattet einen Fuß nach draußen zu setzen. Das Sonnenlicht sahen sie höchstens von ihren Fenstern aus und dementsprechend waren die, die schon seit mehreren Jahren hier lebten, sehr blass und litten unter Vitamin-D-Mangel. Allerdings kannten die Meisten es im Gegensatz zu Shuichi nicht anders. Er war tatsächlich so etwas wie ein Sonderfall. Allein schon aus dem Grund, weil er eine vorherige Nummer ersetzt hatte, was sonst noch nie vorgekommen war. Vater meinte damals, dass er lediglich eine Lücke in der Reihenfolge vermeiden wollte. Ob da jedoch noch mehr dahintergesteckt hatte, hatte Toichi nie hinterfragt. Auch wenn er glaubte, dass es ein Fehler gewesen war, Shuichi hierher zu bringen. Er passte einfach nicht ins Bild der anderen Nummern, da er noch zu viel von der Außenwelt wusste. Daraus resultierte auch sein Verhalten, welches schon oft zum Problem geworden war. Nicht immer war es Toichi gelungen, ihn dann vor seinen Strafen zu bewahren, welche stets unweigerlich darauf gefolgt waren… Da vernahm er plötzlich ein Seufzen von Shuichi. „Alles hier ist so eintönig. Ich vermisse die Natur. Die Welt da draußen…“, fing er an sich zu beschweren, während er nach oben starrte. Toichi erkannte an seiner wehmütigen Miene, dass er mit den Gedanken womöglich sehr weit weg war. An Orten, die der Silberhaarige auch gern einmal sehen würde. Gemeinsam mit Shuichi, welcher ihm mit jeder verstreichenden Sekunde mehr leid tat. Er wollte irgendwas tun, damit sich sein Geliebter wieder ein wenig besser fühlte. Nur was? Die Freiheit konnte er ihm schließlich nicht schenken. „Aber vielleicht etwas Ähnliches…“ Allmählich bekam er doch eine Idee. Hoffentlich würde sie Shuichi gefallen. „Du möchtest also unbedingt raus?“, versicherte sich Toichi, wobei der Blick des Schwarzhaarigen sofort zu ihm schoss. Er richtete sich auf und antwortete mit vor Erwartung glühenden Augen: „Ja, Toichi, will ich.“ Toichi musste lächeln. Immer, wenn Shuichis Lippen seinen Namen formten und diesen mit einer samtweichen Stimme aussprachen, bereitete ihm das ein warmes Gefühl. „In Ordnung. Ich kann dir die Welt, die du dir wünschst, leider nicht geben…“, begann Toichi scherzhaft, bevor er verkündete: „Aber ich weiß etwas anderes.“ Shuichi legte neugierig den Kopf schräg. „Was denn?“ „Komm mit, dann zeig ich es dir.“, erwiderte Toichi und erhob sich nebenher vom Bett. Kurz beobachtete er, wie Shuichi dort schweigend verharrte, während er verdutzt die Augenbrauen zusammenschob. Er schien es wohl nicht ganz zu verstehen, da er ebenso wusste, dass es ihm eigentlich nicht gestattet war rauszugehen. „Du wirst es schon nicht bereuen.“, versuchte Toichi ihn zu überreden. Und es funktionierte zum Glück. Shuichi fing an sich die restlichen Knöpfe seines Hemdes zuzuknöpfen und stand anschließend auf. „Jetzt bin ich aber gespannt.“, sagte er dabei tonlos. „Besser du ziehst dir eine Jacke über, es ist ziemlich frisch draußen.“, riet Toichi ihm, woraufhin er sich seine schwarze Strickjacke schnappte, die über das Kopfende des Bettes hing, und sie anzog. Zwar war sie relativ dünn, doch für jetzt sollte es reichen. Nachdem Shuichi auch seine Schuhe angezogen hatte, verließen beide das Zimmer. Toichi ließ seinen Blick durch den Flur wandern, um zu überprüfen, ob jemand dort war. Glücklicherweise waren sie allein. Nur von weitem hörte er eine Tür klappen, jedoch kehrte danach wieder Stille ein. Dem Anschein nach bestand im Moment nicht die Gefahr, dass jemand sie gemeinsam sehen könnte. Toichi griff nach Shuichis Handgelenk und führte ihn zügig und möglichst leise durch die Flure. Hier im Wohnbereich der Nummern war es noch relativ unbelebt, was sich im Hauptgebäude gleich ändern würde. Doch das war kein Problem, da sie auch den „geheimen“ Weg nehmen konnten, um dieses erfolgreich zu umgehen. Shuichi kannte ihn gut, da er ihn fast jeden Abend benutzte, um zum Silberhaarigen aufs Zimmer zu gelangen. Dieses Mal brauchten sie bloß bis zum Erdgeschoss gehen und mussten nicht bis hoch in den fünften Stock. Während beide unbeirrt weitergingen, fragte sich Toichi erneut, ob Shuichi den Ort mögen würde. Er selbst verband mit dem Ort sowohl gute als auch schmerzhafte Erinnerungen. Schmerzhaft besonders aus dem Grund, weil er immer dort gewesen war, als er noch eine unbeschwerte Kindheit geführt hatte. Aber diese Zeit war sehr schnell vorbei gewesen. In den folgenden Jahren hatte Toichi zunehmend das Gefühl bekommen, dass sich der Garten nach und nach seinem grauen, eintönigen Leben angepasst hatte. Er wirkte mittlerweile nahezu wie ausgestorben. Ob er vielleicht wieder neu erblühen würde, wenn Shuichi ihn betrat? „So, wie er es auch geschafft hat, wieder Farbe in mein Leben zu bringen…“ Toichi wollte sich keine Welt vorstellen, in der Shuichi nicht mehr an seiner Seite war. Er wollte sein früheres Leben nicht zurück. Doch das würde unweigerlich passieren, wenn er nicht bald etwas dagegen tat… „Toichi?“, hörte er plötzlich Shuichis Stimme neben sich. Er schaute ihn aufgelöst an und schwieg, weshalb der Schwarzhaarige nach einer Weile nachfragte: „Willst du sie nicht aufmachen?“ Toichis Augen wurden groß. „Was?“ „Die Tür.“, erwiderte Shuichi, während er mit dem Zeigefinger auf die alte, große Doppeltür hinwies, vor welcher sie mittlerweile standen. „Oh…“ Toichi war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass er seine Umgebung wieder mal vollständig ausgeblendet hatte. „Ja, natürlich, tut mir leid.“ Er ging zu dem kleinen Kasten, welcher sich neben der Tür befand und mit einem Zahlenschloss versehen war. Ein wenig war er von sich selbst überrascht, dass er die Kombination nach so langer Zeit nicht vergessen hatte. Er drehte an den kleinen Rädchen, woraufhin sich der Kasten öffnete, sodass er den Schlüssel aus diesem herausnehmen konnte. „Woran hast du gedacht?“, wollte Shuichi wissen, als der Silberhaarige die Tür aufschloss. Er schüttelte langsam den Kopf und antwortete: „Nicht so wichtig.“ Die Tür ließ sich etwas schwer öffnen und erzeugte nebenbei ein knarrendes Geräusch. Toichi hielt sie für Shuichi auf und wartete, bis dieser an ihm vorbeigegangen war. Er ließ die Tür hinter sich zufallen und blieb auf dem steinernen Gehweg stehen, um den Blick schweifen zu lassen. Es sah alles genau so verwuchert und leblos aus, wie er es in Erinnerung behalten hatte, als er zuletzt hier gewesen war. Viele Bäume und Sträucher waren fast kahl, was aber auch an der Jahreszeit lag. Eine Windböe wirbelte das Laub am Boden auf und trug es quer durch den Garten. Einige braune Blätter landeten in dem großen Springbrunnen, welcher zu Toichis Überraschen noch angestellt war und ein gleichmäßiges, plätscherndes Geräusch von sich gab. Doch auch wenn das Geräusch des Wassers beruhigend wirkte, so war der Anblick des Brunnens weniger schön, da das Gestein an vielen Stellen bereits brüchig war. Ebenso wie bei der hohen Mauer aus Backsteinen, welche den Garten in sich einschloss. Zudem gab es nach all den Jahren überwiegend nur noch Unkraut und von den verschiedenen Blumen, die einst hier wuchsen und der Umgebung ihre Farbe geschenkt hatten, war nichts mehr zu sehen. Sogar die kleinen Ackerflächen waren inzwischen zugewachsen. Insgesamt eigentlich kein Bild, welches positive Gefühle oder gar Freude in jemandem erwecken würde. Toichi senkte reumütig den Kopf. Wie hatte er nur denken können, dass dieser Ort Shuichi vielleicht aufmuntern würde? Bestimmt fühlte er sich jetzt noch schlechter als vorher. „Scheint so, als sei schon lange niemand mehr hier gewesen.“, kommentierte der Schwarzhaarige den verwahrlosten Zustand des Gartens. Toichi verzog die Mundwinkel zu einem ironischen Lächeln. „Es findet leider niemand wirklich die Zeit dazu, sich richtig um alles hier zu kümmern.“, meinte er, während er weiterhin auf den Boden starrte. „Auch ich nicht.“ „Eigentlich schade, es könnte sonst so schön hier sein.“ Shuichis Stimme schien auf einmal weiter weg zu sein. In ihr lag sowohl Bedauern als auch Begeisterung, als hätte er bereits eine genaue Vorstellung, wie der Garten früher ausgesehen hatte, als dieser noch ordentlich gepflegt worden war. „Tut mir leid.“, kam es Toichi wie von selbst über die Lippen. Doch Shuichi erwiderte nichts darauf. Es kehrte Stille ein und das Einzige, was der Silberhaarige von Weitem hören konnte, war das Rauschen des Meeres und ein paar Blätter, die hin und wieder vom Wind bewegt wurden. Irgendwann entschied er sich dazu, den Blick wieder zu heben. Da entdeckte er Shuichi, wie dieser mit dem Rücken zu ihm gewandt an dem Brunnen stand. Die Hände hatte er auf dem Gestein abgestützt, während er scheinbar nach unten auf die Wasseroberfläche schaute. Toichi ging mit lautlosen Schritten auf ihn zu und blieb schweigend hinter ihm stehen. Irgendwie traute er sich nicht, die Stille zu unterbrechen. Zu gern wüsste er, woran Shuichi gerade dachte und aus welchem Grund er sein Spiegelbild im Wasser so verträumt beobachtete, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Im nächsten Moment, als die Wolkendecke begann ein paar Sonnenstrahlen hindurch zu lassen, hob Shuichi plötzlich den Kopf und schloss die Augen. Das Licht der Sonne verlieh seinem Gesicht wieder etwas Farbe und es wirkte fast so, als würde seine Haut anfangen zu glitzern. Ein Lächeln bildete sich auf Shuichis Lippen, welches Toichis Herz sofort erwärmte. Er war froh, dass er es anscheinend doch geschafft hatte, seinen Geliebten wenigstens ein bisschen glücklich zu machen. „Danke, ich hatte schon fast vergessen, wie sich das anfühlt.“, meinte Shuichi mit sanfter Stimme, bevor er Toichi wieder ansah. „Schon gut, ich wünschte nur, ich könnte dir mehr bieten.“, antwortete dieser bedrückt. Er würde Shuichi gern alles geben, um ihn vollends glücklich zu machen, und verfluchte sich innerlich dafür, dass er dazu wahrscheinlich niemals in der Lage sein würde. Doch der Schwarzhaarige schien das anders zu sehen. „Das könntest du.“, sagte er. Toichi wusste, worauf er hinauswollte. Sie hatten schon oft darüber gesprochen. Oder genauer gesagt: Shuichi hatte ihn schon oft überreden wollen, gemeinsam von hier fortzugehen. Ein Traum, der wohl niemals Wirklichkeit werden würde. „Du weißt, dass das nicht geht.“, erinnerte Toichi ihn. Wenn es so einfach wäre, hätte er es mit Sicherheit schon lange getan. „Doch, du musst es nur wollen.“, widersprach Shuichi jedoch in ernster Tonlage, woraufhin der Silberhaarige ein verzweifeltes Lächeln aufsetzte. Der Wille war definitiv nicht das Problem, und das sollte sein Geliebter auch wissen. „Ich will nichts mehr, als für immer mit dir zusammen zu sein.“, sprach Toichi deshalb aus vollem Herzen. Doch das änderte nichts an Shuichis melancholischem Gesichtsausdruck. „Das können wir doch auch. Aber warum nicht woanders?“, fragte er. Womöglich schien er es einfach nicht verstehen zu wollen, was Toichi ihm aber auch nicht verübelte. Ein wenig war er auch froh darüber, dass Shuichi scheinbar die Hoffnung, eines Tages von hier verschwinden zu können, noch nicht aufgegeben hatte und er deshalb so hartnäckig blieb. Toichi wollte diese Hoffnung keinesfalls zerstören, weshalb er einfach schwieg. Doch der Schwarzhaarige sah ihn weiterhin so an, als würde er noch eine Antwort erwarten, die aber nie erfolgte. Dennoch schien er nicht locker lassen zu wollen und fügte noch ein paar Fragen hinzu: „Sei ehrlich, was hält dich an diesen Ort? Weißt du überhaupt, was dir alles entgeht?“ „Das weiß ich, aber ich kann es nicht ändern. Ich bin auf meinen Vater angewiesen und habe hier Pflichten, die ich nun mal erfüllen muss. Er würde mich nicht gehen lassen.“ Um ehrlich zu sein wollte Toichi gar nicht daran denken, was das für Folgen mit sich bringen würde, wenn er von hier verschwand. Wahrscheinlich würde man ihn schnell finden und wieder zurückbringen. Er wäre nicht gut darin sich irgendwo vor der Organisation zu verstecken, zumindest nicht auf längere Zeit. Zudem gab es hier niemanden, der kompetent genug wäre, um ihn zu ersetzen. Die erfolgreiche Entwicklung des Gifts APTK lag zum größten Teil in seinen eigenen Händen. Wenn er nicht mehr wäre, könnte das Projekt höchstwahrscheinlich niemals fertiggestellt werden, was vielleicht auch besser so wäre. Aber er durfte sich nicht weigern. Sein unentbehrliches Wissen war das Einzige, was ihn ausmachte. „Hierbei geht es doch nicht um Pflichten, sondern um das, was du wirklich willst. Du willst mir nicht erzählen, dass du gern hier lebst. Wie hast du es überhaupt so lange hier ausgehalten?“, versuchte Shuichi ihn weiter zu überzeugen. Toichi musste schmunzeln, als er die vielen Jahre, die er auf dieser Insel verbracht hatte, in seinem Kopf Revue passieren ließ. Tatsächlich hatte er sich die Frage noch nie selbst gestellt. Zwar war das Leben hier oft nicht leicht gewesen und an manchen Tagen sogar nahezu unerträglich, doch letztlich hatte sich die Uhr trotzdem immer weiter gedreht und jede schlimme Zeit war einmal zu Ende gegangen. Plötzlich kamen ihm die Jahre gar nicht mehr so lang vor und er bekam das Bedürfnis, Shuichi davon zu erzählen. Er bedeutete diesem mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen, um sich die Beine nebenbei ein bisschen zu vertreten. „Es ist nicht so schlimm, wenn man es gewohnt ist. Die Insel ist zwar nicht sonderlich groß, aber ich hab mich nie wirklich eingeengt gefühlt. Nur einsam… und das eigentlich immer. Selbst dann, als ich für ein paar Jahre zum Studieren nach Japan gereist bin.“, begann er. An die relativ kurze Zeit in Japan erinnerte er sich gern ab und zu zurück, da es trotz der Einsamkeit und dem Stress eine andere Erfahrung im Leben gewesen war. Für ihn war das damals so etwas wie eine völlig neue, aber auch fremde Welt gewesen, welche all seine bisherigen Vorstellungen übertroffen hatte. „Du… hast in Japan studiert?“, hakte Shuichi nach. Es schien ihn zu überraschen. „Ja. Medizin, ein paar Naturwissenschaften und eine kurze Zeit auch Psychologie.“, erwiderte Toichi ein wenig stolz, obwohl ihm nicht jeder Studiengang Freude bereitet hatte. „Das ist viel…“ Shuichi zog erstaunt die Augenbrauen nach oben. An seiner Stimme konnte Toichi erkennen, dass er auch Mitleid zu empfinden schien. Doch das benötigte der Silberhaarige längst nicht mehr. Er zuckte mit den Schultern und fragte sich gedanklich, was dieses angeeignete Wissen im Endeffekt nun wert war. Als Kind hatte er nie darüber nachgedacht, doch mit zunehmender Zeit war ihm immer mehr klar geworden, dass Vater sowohl seine Erziehung als auch seine Beschulung bewusst darauf ausgerichtet hatte, dass er eines Tages die Forschung des Gifts leiten würde. Als wäre das von Geburt an seine einzige Aufgabe, die er im Leben erfüllen musste. Wenn Toichi es so betrachtete, kam ihm sein Leben in gewisser Hinsicht schon wertlos vor. „Dementsprechend kannst du dir ausrechnen, wie viel Freizeit mir noch geblieben ist. Ich hatte ohnehin keine Freunde, mit denen ich etwas hätte unternehmen können. Und selbst wenn, stand ich die ganzen Jahre über unter strenger Beobachtung. Mein Vater hätte es niemals geduldet, dass ich meine Zeit mit irgendwelchen Freizeitaktivitäten verschwende.“, fuhr er nach einer Weile fort. Diesmal erwiderte Shuichi nichts darauf. Das Mitleid in seinem Blick wollte nicht verschwinden. Toichi konnte ihm ansehen, dass er sich unter solch einem Leben scheinbar nichts vorstellen konnte und er das Gesagte folglich nur schwer verarbeiten konnte. Toichi lächelte Shuichi verständnisvoll an. Er hoffte, dass es seinem Geliebten anders ergangen war und er nicht so eine strenge Erziehung hatte genießen müssen. „Wie ist es eigentlich mit dir? Was hast du früher gemacht?“, wollte Toichi wissen. So viel von sich selbst zu erzählen hatte ihn mal wieder neugierig auf Shuichis Vergangenheit gemacht. Doch dieser drehte sich umgehend von ihm weg. „Ach… nichts besonderes. Du kannst dir doch denken, dass ich nichts hatte. Sonst wäre ich schließlich nicht hier.“, erwiderte er mit einer Unbeschwertheit in der Stimme, die den Silberhaarigen stutzig werden ließ. Natürlich war das nichts Neues für ihn. Bei den Mitgliedern mit Nummern handelte es sich schließlich immer um Obdachlose oder Waisenkinder. Grob gesagt um Menschen, die keine Angehörigen mehr besaßen und demzufolge niemand vermissen würde, wenn sie spurlos verschwanden. Aber die Organisation hatte sie nie entführt, sondern mit Vorwänden und falschen Versprechungen überredet von selbst mitzukommen. In den meisten Fällen funktionierte diese eigentlich fadenscheinige Methode. Menschen, die sich kaum Nahrung leisten konnten und nicht mal ein Dach über dem Kopf hatten, waren oft so sehr in Verzweiflung versunken, dass sie einem alles glauben würden, nur um ihrem Elend zu entkommen. Doch aus irgendeinem Grund konnte sich Toichi das bei Shuichi bis heute nicht richtig vorstellen. Zum einen machte der Schwarzhaarige manchmal den Eindruck, als würde er sehr wohl noch eine Familie haben, welche er insgeheim vermisste. Zum anderen war er in vielen Dingen sehr belesen und begabt. Nicht wie jemand, der keine Talente oder Fähigkeiten besaß, um sie irgendwo bei einer Arbeitsstelle anbieten zu können und sich deshalb nicht mehr zu helfen wusste. „Ja, schon… aber ich meine davor.“ Toichi versuchte wieder zum Gespräch zurückzufinden und seinem Geliebten doch noch etwas zu entlocken. Aber dabei würde er wohl keinen Erfolg haben, da Shuichi nie viel über sich und seine Vergangenheit erzählte. Wenn es darum ging, war er immer sehr verschlossen. „Also meine Kindheit?“, fragte er. „Ja.“ „Darüber gibt es nicht viel zu sagen.“ „Ach komm schon.“, drängte Toichi ihn. Kurz darauf drehte sich Shuichi mit den Händen auf dem Rücken um und warf ihm ein freches Lächeln zu. „Vielleicht ein anderes Mal.“, lehnte er ab, bevor er wieder herumwirbelte, sodass seine langen Haare im weiten Bogen in der Luft flogen. Da schien plötzlich etwas in sein Blickfeld zu geraten, was sein Interesse weckte. „Oh, was haben wir denn hier…“, sagte er zu sich selbst und erst als Shuichi ein paar Schritte weiterging, konnte Toichi erkennen, worauf sich sein Interesse bezogen hatte. „War das deine?“ Shuichi blieb neben einer alten, rostigen Schaukel stehen und betrachtete sie, als würde er sich fragen, warum sie dort stand. Zugegebenermaßen fragte sich Toichi dasselbe. Er hatte fast vergessen, dass die Schaukel existierte. „Ähm… ja…“, gab er verlegen zu. Irgendwie war ihm das jetzt peinlich. Und dass Shuichi ihn daraufhin amüsiert angrinste, machte es nicht besser. „Darf ich?“, bat er jedoch unerwartet um Erlaubnis, sich auf die Schaukel setzen zu können. Ein Lächeln umzuckte Toichis Lippen und er antwortete: „Gern. Aber sei vorsichtig, die ist schon sehr alt und vielleicht auch nicht mehr so stabil, wie sie es früher mal war…“ Ein wenig befürchtete er schon, dass das alte Teil zusammenbrach, sobald sich Shuichi hinsetzen würde. Doch das geschah zum Glück nicht. Er stieß sich leicht mit den Beinen ab, wobei die Schaukel anfing zu quietschen. „Soll ich dich jetzt anschubsen?“, fragte Toichi scherzhaft, als er hinter seinen Geliebten trat. „Lass mal.“, kam es von diesem, woraufhin beide lachten. Der Silberhaarige spielte mit dem Gedanken, es dennoch zu tun. Jedoch verharrte Shuichi im nächsten Moment und schaute starr geradeaus. Gerade, als Toichi ihn fragen wollte, was los war, sprach er in neugieriger Tonlage: „Ist das da vorn etwa ein Kaninchenkäfig?“ Ehe Toichi seinem Blick folgen konnte, war er bereits aufgestanden, um näher ran zu gehen. Der Silberhaarige ging ihm wortlos nach, bevor beide anschließend vor dem Käfig stehenblieben. Shuichi beugte sich herunter und warf einen Blick hinein. „Und wo ist das Kaninchen?“, wollte er wissen, als er nichts als leblose Leere vorfand. Toichi schwieg. War das nicht offensichtlich? „Tot.“, brachte er nach ein paar Sekunden Stille hervor. In der tiefen, ernsten Tonlage, wie er es aussprach, schien es Shuichi einen Schauer über den Rücken zu jagen. „Schon sehr lange.“, fügte Toichi im milderen Ton hinzu. Er hatte seinem Geliebten keine Angst machen wollen, doch er sprach nicht gern über dieses Thema, welches er seit seiner Kindheit bewusst verdrängt hatte. Jetzt kamen ihm die Erinnerungen wieder hoch und die Übelkeit übermannte ihn. „Du hast nie erwähnt, dass du mal ein Haustier gehabt hast.“, meinte Shuichi ruhig, um anscheinend die Stimmung wieder etwas zu lockern. Aber er erreichte das Gegenteil. Toichi bemerkte nicht, wie sich seine Miene verfinsterte. Er senkte den Blick und überlegte, ob er etwas darauf erwidern sollte. Eigentlich wollte er nicht. Ihm wurde noch übler, was Shuichi nun auch zu sehen schien. „Was hast du?“, hakte er unsicher nach, während Toichi eine zögerliche Berührung an seiner Hand verspürte. Doch er ignorierte beides und ging an dem Schwarzhaarigen vorbei, um sich ebenso vor dem leeren Käfig zu hocken. Stille breitete sich aus, welche sich Shuichi scheinbar nicht mehr traute zu unterbrechen. Toichi hätte sich gern für sein abweisendes Verhalten entschuldigt, aber er brachte kein Wort über die Lippen und versank in Gedanken. Irgendwann glaubte er, dass es vielleicht doch besser wäre, über das Thema zu reden… „Willst du die Geschichte dazu hören?“, fragte er, nachdem er tief durchgeatmet hatte. „Wenn du sie erzählen willst.“ Shuichi klang immer noch unsicher. Eigentlich wollte Toichi sie nicht erzählen. Jedoch bekam er das Gefühl, dass ihm die Erinnerungen erneut ewig verfolgen würden, wenn er sie sich nicht von der Seele redete. Zudem hatte er schon genug Geheimnisse vor Shuichi. Ein weiteres musste nicht dazu kommen, wenn es nicht unbedingt notwendig war. „Es ist schon über 20 Jahre her. Ich glaube, ich hatte es zu meinem achten Geburtstag bekommen. Ein weißes Angorakaninchen mit sehr dickem, weichem Fell.“ Toichi lächelte wehmütig, als das Bild vor seinem inneren Auge erschien. Es war so klar und deutlich und zeigte ihm ein kleines, unschuldiges Wesen, welches kein so grauenhaftes Schicksal verdient hatte. „Demzufolge gab ich es den Namen Schneeball. Ich hatte es vom ersten Moment an ins Herz geschlossen… Damals wollte ich unbedingt ein Haustier haben, aber mein Vater hat sich lange nicht überreden lassen, da er der festen Überzeugung war, dass ich mich nicht gut genug darum kümmern würde. Generell hat er sich nie wirklich für meine Wünsche interessiert, und das mit dem Haustier war für ihn auch nur eine Phase gewesen, die wohl jedes Kind mal hat. Aber er hat sich geirrt… Denn es hatte einen ganz bestimmten Grund, warum ich ein Haustier wollte.“ „Du warst einsam…“, entnahm Shuichi aus ihren vorherigem Gespräch. Seine Stimme war noch nie so leise und von Vorsicht erfüllt gewesen. „Ja. Auf der Insel gab es keine Kinder in meinem Alter und die meisten Erwachsenen waren entweder zu beschäftigt oder nicht sonderlich nett, sodass ich mich nicht mal traute, sie anzusprechen. Darum war ich mit meinen Gedanken immer allein gewesen und konnte mich niemandem anvertrauen. Irgendwie kam es mir wie ein nie endender Teufelskreis vor… Denn wer viel allein ist, macht sich automatisch auch viele Gedanken. Es fehlte die Ablenkung oder jemand, der sich einfach mal die Zeit nimmt und zuhört. Ich fühlte mich von allen Seiten unverstanden, selbst in meinem Vater sah ich eine Zeit lang nichts weiter als einen Fremden. Aber das ließ ich mir nie anmerken…“ Zum Ende bemerkte Toichi, dass seine Worte allmählich zu sehr abschweiften. Irgendwann hatte er angefangen nur noch seine Gedanken laut auszusprechen, welche noch viel düsterer geworden wären, wenn er nicht verstummt wäre. Ihm fiel auf, dass sich Shuichi inzwischen neben ihn gehockt hatte, während er die ganze Zeit aufmerksam zuhörte. Warum waren sie sich erst so spät begegnet? Wo war er damals gewesen, als er ihn mehr als alles auf der Welt gebraucht hatte? Toichi ließ eine Hand unter seine Brille gleiten, um sich die Tränen, die ihm in den Augen standen, wegzuwischen. Dann beschloss er, weiterzuerzählen. „Wie auch immer, ich fing an mich besser zu fühlen, nachdem ich Schneeball bekommen hatte. Gegen der Erwartung meines Vaters habe ich mich sehr gut um das Kaninchen gekümmert und es fast nie aus den Augen gelassen. Zum ersten Mal glaubte ich zu wissen, wie sich so etwas wie Freundschaft anfühlt. Vielleicht mag das albern klingen… aber Haustiere sind wohl wirklich manchmal viel bessere Zuhörer als Menschen. Auch wenn sie nicht antworten, hat man trotzdem das Gefühl, dass sie einen verstehen. Außerdem fand ich so auch die Ablenkung, nach der ich mich lange gesehnt hatte. Ich hab oft hier im Garten mit ihm gespielt. Im Sommer eigentlich jeden Tag. Im Winter ist mir dafür umso mehr aufgefallen, wie schön weich und warm sein Fell war… wenn es mir schlecht ging, hab ich ihn in den Arm genommen. Meistens habe ich meinen Kummer dadurch schnell wieder vergessen und hatte nicht mehr so sehr das Gefühl, dass mir irgendwas fehlt.“ Er setzte eine Sprechpause und ließ den eintretenden Herzschmerz über sich ergehen. Damals hatte er geglaubt, ewig so weiterleben zu können. Aber das Glück, endlich einen Freund gefunden zu haben, währte gerade mal zwei Jahre. Dann erlosch es unmittelbar an einem einzigen Tag, als wäre es nie da gewesen. Die Schuld daran trug nur eine einzige Person. „Allerdings hätte ich mir von Anfang an denken können, dass Vater mir niemals ohne Hintergedanken eine Freude machen würde.“, sagte er verbittert und verengte die Augen. Er war sich sicher, dass er als Kind eigentlich nie jemanden wirklich gehasst hatte. Doch an diesem Tag hatte er es gelernt Hass zu empfinden. Hass auf seinen eigenen Vater, welchem er bis heute nicht verziehen hatte. „Es war am Weihnachtstag. Da war Schneeball am Morgen aus seinem Gehege verschwunden. Vater hatte versucht mich zu beruhigen und mir erklärt, dass ein Tierarzt gekommen wäre, um Schneeball auf irgendwelche Krankheiten zu untersuchen… Ich hab ihm zuerst geglaubt, wurde aber misstrauisch, als die Untersuchung am Abend anscheinend immer noch nicht beendet war.“ Toichi holte tief Luft, während er spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Den Rest konnte er nicht mehr direkt aussprechen. „Du kannst dir sicherlich denken, was es an diesem Tag zum Abendessen gab.“, formulierte er das Ende deshalb ein wenig um, sodass Shuichi es auch so erahnen konnte. Dessen Augen begannen sich zu weiten. „Hast du…?“ Er beendete die Frage wohl bewusst nicht. Toichi nickte langsam. „Ich hab es nicht gemerkt. Vater hat es mir erst erzählt, als es schon zu spät war… danach musste ich mich übergeben…“, erwiderte er mit leiser Stimme. Allein der bloße Gedanke sorgte beinahe dafür, dass er das gleich wieder tun würde. Er schluckte und wartete auf Shuichis Reaktion. Scheinbar suchte er gerade nach Worten. „Das… tut mir wirklich leid… Ich kann mir vorstellen, wie furchtbar das für dich gewesen sein muss.“, meinte er schließlich. Nur wieso entschuldigte er sich? Die Schuld lag nicht bei ihm. Er war ein so liebevoller, warmherziger, mitfühlender Mensch… anders als… „Das war es. Ich fühlte mich, als hätte ich meinen einzigen Freund verraten. Ich wollte es nicht wahrhaben. Das war das erste Mal, dass ich meinen Vater für etwas gehasst habe. Ich habe tagelang nicht mehr mit ihm gesprochen.“ Zugegebenermaßen hatte er die Tage kein einziges Wort mehr über die Lippen gebracht. Erst, als er den Mut dazu gefasst hatte, Vater nach dem Grund für seine Entscheidung zu fragen. Doch er hatte nichts weiter als eine billige Ausrede erhalten. Ihre Beziehung zueinander hatte sich wegen dieses für ihn traumatischen Ereignisses bis heute nicht vollständig erholt. „Du hast so einen furchtbaren Menschen als Vater nicht verdient.“, hörte er Shuichi plötzlich sagen, woraufhin Toichis Blick überrascht zu ihm schoss. Eine Weile schauten sie sich schweigend an und der Silberhaarige erkannte dabei an den Ausdruck von Shuichis Augen, wie ernst er das gemeint hatte. Aus irgendeinem Grund beruhigten Toichi diese Worte. Sie waren wahr. Jedoch würde es hier außer Shuichi wohl niemand wagen, sie auszusprechen. „Man kann sich die Familie leider nicht aussuchen.“ Toichi zwang sich ein Lächeln auf. Wie schön wäre es, wenn das gehen würde. „Das stimmt. Die einen haben mehr Glück als die anderen. Doch selbst denen, die dieses Glück eine Zeit lang genießen, kann irgendwann ein unvorhergesehenes Ereignis widerfahren, das alles mit einem Schlag zerstört, was mal gewesen war…“ Shuichis Stimme war auf einmal von Schmerz erfüllt. In seinem Blick konnte Toichi hingegen nichts als Leere erkennen. Redete er etwa von seiner Familie? Wenn ja, was war mit ihnen passiert? Der Silberhaarige wusste nicht, ob es richtig wäre, diese Fragen zu stellen. Auch wenn es fast nie vorkam, dass Shuichi sich ihm öffnete, entschied er sich dagegen und wartete, bis sein Geliebter von selbst fortfahren würde. „Weißt du, im Grunde unterscheiden die anderen und ich uns nicht sonderlich von diesem Kaninchen. Diese Insel ist unser Käfig und wir sind allen höher gestellten Mitgliedern schutzlos ausgeliefert. Ich glaube, dass uns eines Tages ebenso ein schlimmes Schicksal ereilen wird…“, redete er gedankenversunken vor sich hin, den Blick dabei ununterbrochen an den Kaninchenkäfig geheftet. Toichi durchfuhr augenblicklich eine Schockwelle. Nie hätte er jetzt damit gerechnet, dass Shuichi das Gespräch in diese Richtung lenken würde. Dessen Worte bewiesen wieder einmal, dass er Bescheid wusste, oder es zumindest ahnte. Wie sonst würde er auf solche Ideen kommen? Doch so sehr Toichi es auch wollte, er durfte nichts über das geheime Projekt der Organisation preisgeben. Und selbst wenn Shuichi davon wusste und ihn irgendwann damit konfrontieren würde, wäre er dazu gezwungen, alles zu leugnen. Es brach ihm das Herz. Doch es war seine Pflicht, den Schein zu wahren. „Vergleichst du dich gerade ernsthaft mit einem Kaninchen?“, erwiderte er deshalb lachend, um die Spannung in der Luft zu lösen. Shuichis darauffolgender, entgeisterter Gesichtsausdruck überraschte ihn nicht. Eine Falte bildete sich zwischen dessen Augenbrauen und seine Lippen formten eine gerade Linie. Er antwortete erst, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. „Ja… das war wohl wirklich etwas albern.“, gab er zu und lachte anschließend leicht. Jedoch erkannte Toichi schnell, dass dieses Lachen nicht echt war. Er befürchtete, dass er soeben einen weiteren Teil von Shuichis Vertrauen verloren hatte. Irgendwas musste er dagegen tun. Er wollte nicht, dass sich sein Geliebter vielleicht bald unsicher in seiner Nähe fühlte und ihm gar nicht mehr vertraute. Dieses Vertrauen hing ohnehin schon am seidenen Faden, genau wie ihre Liebe zueinander. Eines Tages würden beide Fäden endgültig reißen. Von seiner Trauer überwältigt, griff Toichi nach Shuichis Händen und zog ihn zu sich in die Arme. Da diese Geste unerwartet für den Schwarzhaarigen kam, spannte sich sein Körper kurzzeitig an, was Toichi versuchte zu ignorieren. Er ließ seine Hände langsam über Shuichis Rücken wandern und drückte ihn anschließend fester an sich. Am liebsten wollte er ihn nie wieder loslassen. Ihn niemals verlieren. Doch er wäre zu schwach, um den Mann zu beschützen, den er über alles liebte… „Aber selbst wenn es so wäre, wie du sagst, dann wärst du nur mein Kaninchen und ich würde immer gut auf dich aufpassen, hörst du? Ich würde nie zulassen, dass dir etwas passiert. Also mach dir keine Sorgen.“ Er hoffte, Shuichi mit diesen Worten ein wenig beruhigen zu können. Doch dieser tat nur einen zittrigen Atemzug, während er den Kopf zur Seite drehte, um sein Gesicht vor ihm zu verbergen. Toichi wusste, dass seine Worte einen wahren Kern besaßen, aber dieser bestand keinesfalls darin, Shuichi um jeden Preis zu beschützen und auf ihn aufzupassen. Das war lediglich ein unerfüllbarer Wunsch, den der Silberhaarige hatte. Sondern Shuichi war in der Tat sein Kaninchen. Sein Versuchskaninchen, das schon bald einen seiner Experimente zum Opfer fallen würde. „Ich liebe dich.“, sprach er aus tiefstem Herzen. Er würde Shuichi immer lieben. Bis in den Tod. „Ich dich auch…“, erwiderte sein Geliebter. Es war nur ein leises Flüstern. So leise, dass Toichi die Gefühle, die in den Worten mitschwangen, nicht deuten konnte. Sie verharrten noch eine ganze Weile in dieser Position. Als die Anspannung in Shuichi irgendwann nachließ, strich Toichi ihm sanft über den Rücken. Der Wind fing an stärker zu werden und brachte eine kalte Luftmasse mit sich, die dafür sorgte, dass ihr Aufenthalt draußen nicht mehr länger andauerte. Und so verließen beide den Hintergarten und kehrten nie mehr dorthin zurück.   …   Bis heute.   Toichi saß schweigend auf der Schaukel und senkte den Blick. In seinen Händen hielt er das Foto, welches ihm nach wie vor seinen verschwundenen Geliebten zeigte. Mit einem fremden Mann, der ihm auf unerklärliche Weise bis aufs Haar glich. Je länger Toichi das Foto betrachtete, umso mehr zeichnete sich in seiner Miene etwas von der unermesslichen Verachtung ab, die er für diesen Mann empfand. „Denkst du etwa, dass du meinen Platz an seiner Seite einnehmen kannst, nur weil du mir ähnlich siehst? Du wirst schon bald sehen, was du davon hast.“, sprach er hasserfüllt in Gedanken, bevor er das Foto wieder wegsteckte und den Kopf nach hinten lehnte. In dem milden, hellblauen Himmel war heute keine einzige Wolke zu sehen. Die Sonne fühlte sich warm im Gesicht an. Für einen kurzen Moment war es für Toichi so, als würde Shuichi noch immer hier sein und mit ihm gemeinsam das friedliche Wetter genießen. Wie gern würde der Silberhaarige ihn jetzt lächeln sehen. Dann wäre er wieder von all seinen Sorgen befreit und die Qualen dieser Welt würden sich für immer in Nichts auflösen. „Wir werden uns bestimmt irgendwann wiedersehen. Ich hoffe, dass ich bis dahin einen Weg gefunden habe, wie du mir verzeihen kannst…“, dachte Toichi. Von jetzt an würde er seine eigenen Pläne verfolgen. Er schwor sich, dass er nie wieder etwas tun würde, was in irgendeiner Weise Shuichis Leben gefährden könnte. Und wenn er sich dafür gegen alles und jeden in Eclipse stellen müsste… Kapitel 32: Ein wahrer Egoist ----------------------------- 3 Tage später   Liebe. Schmerz. Trauer. Angst. All das und noch viel mehr fühlte Rye, als er nach und nach aus seinem Schlaf erwachte. Dieser Traum war anders als seine vorherigen gewesen. Seltsamer. Er wollte ihn noch nicht sofort wieder verdrängen. Doch die Szenen in seinem Kopf verblassten viel zu schnell und er konnte keinen Zusammenhang mehr erkennen. Schließlich wurde ihm bewusst, dass es egal war. Er konnte den Traum wie immer einfach vergessen, weil alles, was darin vorgekommen war, schon lange keine Bedeutung mehr hatte. Dennoch ließ sich das unwohle, fast unerträgliche Gefühl nicht vertreiben. Ihm war so kalt. Die Kälte fraß ihn nahezu von Innen auf, zusammen mit der Dunkelheit, die ihn umhüllte. Er konnte die Augen nicht länger geschlossen halten. Blinzelnd versuchte er sich an die Helligkeit des Raumes zu gewöhnen, bevor er die schlichten Farben seines Schlafzimmers erkannte. Alles war in Ordnung. Keine Kälte. Keine Dunkelheit. Er war nicht allein. Es gab keinen Grund sich von diesen Gefühlen länger quälen zu lassen. Der Traum war vorbei. Auch wenn ein paar Fragmente noch immer nicht verschwunden waren. Um sich abzulenken, fixierte Rye seine Sinne auf die unmittelbare Umgebung. Das erste, was er hörte, war ein warmer, gleichmäßiger Herzschlag, welcher sofort beruhigend auf ihn wirkte. Instinktiv drehte er sich um und erblickte folglich den einzigen Menschen, für den es sich lohnte jeden Morgen aufzuwachen. Verträumt schaute er in das stechend grüne Augenpaar seines Geliebten, welches ihn ebenso musterte. Gin saß neben ihm auf der Bettkante und sagte kein Wort. Rye glaubte, so etwas wie Besorgnis in seinem Gesicht zu erkennen. „Guten Morgen.“, sprach er nach einer Weile mit fester Stimme. Rye schenkte ihm ein Lächeln und erwiderte leise: „Guten Morgen, Liebster.“ „Warum ist er schon wach? Hab ich ihn geweckt?“, ging es ihm durch den Kopf, während er sich aufsetzte. Gins Gesichtsausdruck bereitete ihm allmählich Sorgen. War irgendwas passiert, als er geschlafen hatte? Oder hatte er selbst etwas getan? Die Chancen dafür waren leider sehr hoch. Im Schlaf war er unberechenbar, da er währenddessen seine Handlungen nicht kontrollieren konnte. Genau aus diesem Grund war es eigentlich ein Fehler sich mit Gin ein Bett zu teilen. Doch er konnte nicht anders… „Hast du wieder schlecht geträumt?“, fragte der Silberhaarige plötzlich und traf somit direkt ins Schwarze. Rye konnte sich schon denken, woran dieser das gemerkt hatte. „Ja, aber das ist doch nichts Neues. Du musst dir darüber keine Gedanken machen.“, spielte er es herunter. Gin sollte endlich aufhören sich für sein Wohlergehen zu interessieren. Das interessierte schließlich niemanden, nicht einmal Rye selbst. „Entschuldige, falls du meinetwegen aufgewacht bist.“, fügte dieser noch hinzu, um die sich ausbreitende Stille zu unterbrechen. Es war ihm unangenehm, dass er Gin womöglich jedes Mal wieder aus dem Schlaf riss. Nur wegen dieser verdammten Alpträume, die ihn wohl nie in Ruhe lassen würden, bis er sich ihnen nicht gestellt hatte. Aber das wollte er nicht. Genauso wenig, wie er es nicht wollte, die Nacht ohne seinen Geliebten zu verbringen, welcher ihn nun verständnislos anstarrte und den Schlaf dringender benötigte als er selbst. „Nein, schon gut.“ Ein leichtes Lächeln umzuckte Gins Mundwinkel, bevor er offenbarte: „Dir beim Reden zuzuhören ist ohnehin viel interessanter.“ Es schien ihn sowohl zu amüsieren, als auch in Sorge zu versetzen. Rye wollte eigentlich nicht wissen, worüber er im Schlaf gesprochen hatte. Jedoch konnte er es nicht ertragen, dass sich Gin seinetwegen sorgte, auch wenn ihm das gleichzeitig viel bedeutete. Denn die Zeit, wo er dem Silberhaarigen noch egal gewesen war, war noch um einiges unerträglicher gewesen, wenn auch sicherer für sie beide. Rye entwich ein Seufzen, während er versuchte sich aufzusetzen. Er strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und fragte im ironischen Tonfall: „Und, weißt du deswegen jetzt mehr über mich?“ „Leider nicht.“, gab Gin zu. Er senkte nachdenklich den Blick. „Das Meiste hab ich nicht verstanden. Aber du hast sehr unglücklich geklungen. Du sagtest, dass du die Natur vermisst und weit weg willst…“ Rye sah ihm an, dass er damit kaum etwas anfangen konnte. Zugegebenermaßen konnte er damit selbst nichts anfangen. Er wusste nicht einmal, von welchem Ort er weit weg hätte gehen wollen. Vielleicht handelte es sich um einen Ort, der was mit Eclipse zu tun hatte? Plötzlich drängten sich ein paar der Traumfragmente erneut in seine Gedanken. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte das Gesicht einer Person vor seinem inneren Auge auf… „Gin…?“ Rye war sich nicht sicher. Doch wer sollte es sonst sein? Kurz darauf hallten ein paar der Worte, welche die Person zu ihm gesagt hatte, in seinem Kopf wider. Aber er konnte nach wie vor keinen Zusammenhang erkennen. „Kann sein… Ich weiß nicht… Ich glaube, du warst auch da.“, antwortete er abwesend, woraufhin Gin verdutzt die Stirn in Falten legte. „Ich?“, hakte er ungläubig nach. Rye nickte zögerlich. „Du hast irgendwas von Kaninchen gelabert…“ So ausgesprochen machte es tatsächlich noch weniger Sinn, weshalb es ihn nicht überraschte, dass Gin ein Lachen unterdrücken musste. Aber irgendeine Bedeutung musste der Traum haben. Und die Person, die darin vorgekommen war… „Das klingt nicht wirklich nach mir.“ Gin versuchte ernst zu bleiben, doch es gelang ihm nicht die Belustigung in seiner Stimme zu verbergen. Rye hingegen ignorierte die Antwort und verengte missbilligend die Augen, als er begann tiefer in die verbliebenen Fragmente seines Traums einzutauchen. Ein Teil von ihm wollte wissen, ob diese Person wirklich Gin gewesen war. Doch der andere Teil schrie ihm zu, dass es das Beste wäre, nicht weiter darüber nachzudenken. Doch diesmal fiel es ihm schwer, sich für einen Teil zu entscheiden. Eine Welle unzähliger Gefühle übermannte ihn und vermischten sich zu einem widerstreitenden Durcheinander, welches ihm stechende Schmerzen durch seinen Körper sandte. Auf einmal war ihm nach Weinen zumute, doch zugleich verspürte er den Drang, jemanden auf der Stelle in Stücke reißen zu wollen. „Vergiss es einfach…“, ermahnte er sich in Gedanken. Er musste sich sofort von dem Traum losreißen. Das war das einzig Richtige. Er schüttelte den Kopf und vertrieb alle Fragmente restlos aus seinem Gedächtnis. Nie wieder würde er zulassen, dass die Erinnerungen ihn überrumpelten. „Mach dir nichts draus, Träume ergeben meistens sowieso keinen Sinn.“, sprach er seinen letzten Gedanken aus und hoffte, dass Gin es dabei belassen würde. Dessen Miene nach zu urteilen schien er weiter nachbohren zu wollen, schwieg jedoch trotz allem und warf ihm lediglich einen verwirrten Blick zu. Rye würde es gern selbst verstehen. Die unzähligen Gefühle, die ihn innerlich plagten, wollten einfach nicht verschwinden. Er fühlte sich hin und her gerissen, und je länger er Gin in die Augen schaute, umso mehr kam es ihm vor, als würden ihn all diese Gefühle einholen und Besitz von ihm ergreifen. „Ich hoffe, du konntest trotz allem besser schlafen als ich.“ Vielleicht würden Worte ihn ein wenig ablenken. Allmählich konnte er nicht mehr unterscheiden, ob es noch der Traum war, der dieses Chaos an Gefühlen in ihm auslöste oder ob es an Gin lag. „Einigermaßen.“, erwiderte dieser wortkarg. „Wenn du wieder allein schlafen willst, sag es ruhig…“ Rye senkte betrübt den Blick. So genau wusste er gar nicht, warum sie seit fast einer Woche jede Nacht nebeneinander schliefen. Er hatte nie um Erlaubnis gefragt. Und Gin hatte ihn nie weggeschickt. „Und was tust du dann?“, wollte er wissen. Rye zuckte mit den Schultern. „Ich werd die Zeit schon irgendwie rum kriegen...“ Bevor er Gin begegnet war, hatte das eigentlich nicht sonderlich gut funktioniert. Jede Nacht war eine endlose Qual gewesen. Ein Kampf gegen das Monster in seinem Inneren, welchen er immer wieder verloren hatte. Dennoch wären schlaflose Nächte erträglicher, als ohne Gin zu schlafen. Im Augenwinkel konnte Rye sehen, wie sich Gin scheinbar eine Antwort überlegte. Er machte nicht den Eindruck, als würde ihm der Vorschlag gefallen, was den Schwarzhaarigen überraschte. „Es macht mir aber nichts aus.“, sagte er schließlich. Rye durchströmte eine Welle der Erleichterung. „Sicher…?“, hakte er vorsichtig nach. „Ja.“ Unbändige Liebe breitete sich in Rye aus und vertrieb alle Sorgen und Ängste. Dieses Wort machte ihn glücklicher, als alles andere es je könnte. „Vielleicht hält er es ebenso nicht lange ohne mich aus…“ , hoffte er in Gedanken. Ob Gin ihm das jemals so offen sagen würde? Rye wollte es zu gern von ihm hören. „Gut, ich halte es nämlich keine Sekunde ohne dich aus.“, gestand er mit dem Ziel, dass sein Geliebter es auch zugeben würde. Aber dessen Augen weiteten sich nur und Rye konnte erkennen, wie sich eine leichte Röte in Gins Wangen schlich und er anschließend den Blick abwandte. Der Schwarzhaarige schmunzelte über diese beschämte Reaktion. Offenbar hatte er Gin in Verlegenheit gebracht und aus unerklärlichen Gründen beschlich ihn das Bedürfnis ihn weiter zu necken. So sehr er sich Worte von Gin wünschte, musste er sich eingestehen, dass solche verlockenden Reaktionen auch einen gewissen Reiz hatten. Möglichst geräuschlos rutschte Rye näher an seinen Geliebten heran und griff vorsichtig nach dessen Hand. Kaum hatten seine kalten Finger die warme Haut berührt, zuckte Gin zusammen und sein Blick schoss unmittelbar zurück zu Rye, welcher sich davon jedoch nicht aus dem Konzept bringen ließ. Er führte Gins Hand zu seinem Mund und platzierte an verschiedenen Stellen ein paar federleichte Küsse, während er dem Silberhaarigen dabei fest in die Augen schaute. Innerlich triumphierend nahm er dabei wahr, wie sich Gins Puls unter seinen Lippen erhöhte und die Röte in seinen Wangen noch intensiver wurde. Ohne zu zögern zog Rye ihn an sich, um einen richtigen Kuss zu beginnen. Er schlang seine Arme um Gins Körper und fuhr mit seinen Händen durch die seidenweichen, silbernen Strähnen. Woher diese plötzliche Sehnsucht kam, die sich mit seinem Verlangen vermischte und ihm das Gefühl gab, als sei er ewig von Gin getrennt gewesen, wusste er nicht. Immer stärker presste er seine Lippen gegen die des Silberhaarigen und öffnete seinen Mund, um an ihnen zu saugen und sie mit seiner Zunge zu liebkosen. Von Gin erklang nur ein leises, wohliges Stöhnen, während er sich dem Kuss voll und ganz hinzugeben schien. Es beruhigte Rye ein wenig, dass er inzwischen geübt darin war, seine Selbstbeherrschung zumindest bei einem Kuss aufrecht erhalten zu können. Jedoch bedeutete das nicht, dass er nachlässig werden durfte. Eine falsche Bewegung und der einzige Sinn seiner Existenz wäre für immer fort. Doch auch wenn er diesen Gedanken stets im Hinterkopf behielt, brachten ihn die Gefühle, die gerade in ihm tobten, dazu, weniger auf Gins Sicherheit zu achten. Rye konnte nur noch an seine Liebe zu ihm denken. Alles andere spielte plötzlich überhaupt keine Rolle mehr. Am Rande registrierte er, wie Gin leicht benebelt nach Luft schnappte, nachdem er sich von ihm gelöst hatte. „Ich liebe dich…“, hauchte Rye und schmiegte anschließend seinen Kopf in Gins Halsbeuge. „So sehr…“ Er war sich sicher, dass es niemanden auf der Welt gab, der Gin noch mehr lieben konnte als er es tat. Am liebsten würde er die drei Worte immer wieder sagen, jedoch bezweifelte er, dass er sie je ein einziges Mal von Gin zurück bekommen würde. Was müsste er alles dafür tun, um ihn dazu zu bringen? Rye atmete tief ein und versuchte das Feuer zu ignorieren, welches daraufhin in seiner Kehle ausbrach. Gins Duft war einfach so schmerzhaft verlockend, dass Rye es beinahe als masochistisch bezeichnen würde, dass er sich selbst auf diese Weise quälte. Er presste seine Lippen auf die zarte, warme Haut, sodass er spüren konnte, wie Gin das Blut prickelnd durch die Adern schoss. Dessen Atem schien sich ebenso zu beschleunigen, doch da Rye keinen Widerstand oder ähnliches wahrnehmen konnte, machte er einfach weiter. Er ließ eine seiner Hände von Gins Rücken nach vorn wandern und schob leicht dessen Pullover nach oben, um mit seinen Fingern über die wohlgeformten Bauchmuskeln streichen zu können. Dass Gin so leise aufgestanden und zurückgekehrt war, dass er es nicht bemerkt hatte, machte Rye deutlich, wie tief er in seinem Albtraum gefangen gewesen sein musste. „Er hat einfach an der Bettkante gesessen und über mich gewacht, bis ich den Alptraum verlassen und zu ihm zurückkehren konnte…“ Bei diesem Gedanken erwärmte sich Ryes totes Herz. Auch wenn Gin das wahrscheinlich nur getan hatte, um ihm beim Reden zuhören zu können. In gewisser Weise war dem Schwarzhaarigen das schon peinlich, allerdings hatte er seinen Geliebten selbst schon etliche Male beim Schlafen beobachtet, weshalb er niemals etwas dagegen sagen würde. Es war privat. Doch vor Gin würde er selbst sein tiefstes Geheimnis offenbaren, wenn dieser dafür bei ihm blieb. Im nächsten Moment wurde Rye aus dem Dunst der Leidenschaft gerissen, als Gin plötzlich seine Hand einfing und ihn kurz darauf von sich weg schob. „Was ist los…?“ Rye starrte ihn verwirrt mit großen Augen an. Gins Wangen waren immer noch leicht gerötet, doch in seinem Gesichtsausdruck konnte der Schwarzhaarige keinen Hinweis auf den Grund der unerwarteten Zurückweisung finden. „Hab ich was falsch gemacht?“, fragte er sich im Stillen. Aber natürlich. Der Fehler musste bei ihm liegen. So war es immer. „Vielleicht mochte er es nicht…“ Im Bruchteil einer Sekunde schossen diese Gedanken durch seinen Kopf, doch ihm blieb nichts weiter übrig als darauf zu warten, dass Gin ihm mitteilte, was genau nicht gepasst hatte. „Entschuldige, aber es ist früh am Morgen… und du bringst ohnehin nicht zu Ende, was du anfängst… das macht mich so langsam fertig.“, erklärte sein Geliebter nach einer Weile leise. „Wie meinst du das?“, wollte Rye wissen. Er verstand nicht von welchem Ende die Rede war. Auf einmal bekam er die Befürchtung, dass sich sein Geliebter mit dieser Aussage vielleicht auf ihre gemeinsame Nacht vor drei Tagen bezog. „Egal… vergiss es.“, entgegnete Gin jedoch seufzend. Scheinbar wollte er das Thema damit beenden. Noch bevor Rye etwas sagen konnte, erhob sich der Silberhaarige bereits vom Bett und wandte sich von ihm ab. Sofort schnellte Rye vor und schaffte es noch Gins Handgelenk zu ergreifen, um ihn aufzuhalten. „Nein.“, meinte er streng, während er seinen Geliebten zurück aufs Bett zog. Beide starrten sich einen Moment lang schweigend an, wobei Rye glaubte, einen Funken Verbitterung in dem Ausdruck von Gins Augen erkennen zu können. Oder er bildete sich das nur ein, weil ihm inzwischen zu viele Sorgen im Kopf herumschwirrten. Leider wusste er nicht, ob Gin mit seiner Aussage wirklich auf die Nacht im Hotel hinausgewollt hatte oder etwas anderes meinte. Doch es gab einen einfachen Weg, das schnell herauszufinden. „Du bist noch sauer, oder? Wegen dem Hotel.“, beschloss er direkt zu fragen. Schon seit dieser Nacht plagte ihn ein unwohles Gefühl, welches er nicht loswurde. Er hatte sich das nicht anmerken lassen, da er sowieso nicht mehr darüber reden wollte. Zwar war er in jener Nacht nach seiner Jagd zu Gin zurückgekehrt und sie hatten das Hotel am nächsten Morgen gemeinsam verlassen, jedoch machte er sich seitdem Vorwürfe für die mehr oder weniger ruinierte Nacht. Er könnte es verstehen, wenn Gin deshalb sauer auf ihn oder zumindest enttäuscht war. Denn auch wenn dieser seine Gefühle noch nie mit Worten ausgedrückt hatte, so wusste Rye, wie sehr sein Geliebter körperlich nach ihm verlangte. Etwas nicht zu bekommen, was man unbedingt haben wollte, konnte einen wirklich irgendwann fertig machen… „Nein. Das war ich nie. Und das weißt du.“, antwortete Gin tonlos. Irgendwie konnte Rye ihm das nicht glauben. Sein Verhalten wies definitiv darauf hin, das ihn etwas störte und unzufrieden machte. Wenn es nicht wegen dem Hotel war, dann hatte es einen anderen Grund. Jedoch würde Rye kein anderer einfallen. „Das klang aber eben anders…“, wandte er ein. „Weil du immer nur das hörst, was du hören willst.“ Rye stockte der Atem. Mit solch einer Antwort hatte er nicht gerechnet. Die plötzliche Kälte in Gins Tonlage sorgte dafür, dass ihm ein Schauer über den Rücken kroch. Es verletzte ihn zutiefst. Die vorherige Wärme und Sicherheit waren komplett zerstört. Könnte es stimmen? Machte er sich vielleicht zu viele Sorgen und interpretierte deshalb vieles falsch, um diese Sorgen rechtfertigen zu können? Rye wusste es nicht. Fürs Erste beschloss er, den Vorwurf abzustreiten, auch wenn ihm dabei überhaupt nicht wohl war. „Das tue ich nicht.“ „Doch. Du versetzt dich nie in meine Lage. Was das alles in mir auslöst ist dir nicht wichtig, solange du deinen eigenen Prinzipien treu bleiben kannst.“, warf Gin ihm vor, woraufhin den Schwarzhaarigen ein weiterer Schock durchfuhr. Warum glaubte er das? Wie konnte er glauben, dass er ihm in irgendeiner Weise nicht wichtig war? Ohne lange über seine Antwort nachzudenken, platzte es ungehalten aus Rye heraus: „Das stimmt nicht! Du bist mir wichtiger als alles andere! Es vergeht keine Minute in der ich nicht an dein Wohlergehen denke. Ich möchte dich doch nur glücklich machen…“ Bei dem letzten Satz wurde seine Stimme nach und nach leiser. Gin wirkte nicht so, als würde ihn das überzeugen. „Das kannst du aber nicht, wenn du nicht bereit bist, auch Risiken einzugehen.“, sagte er, während er die Arme verschränkte. Wann sich Gin aus seinem Griff befreit hatte, war Rye nicht bewusst. „Solange es dich nicht in Gefahr bringt bin ich zu jedem Risiko bereit.“, versuchte er seinem Geliebten irgendwie entgegen zu kommen, auch wenn ihn das Gefühl beschlich, dass diese Risiken sehr wohl mit Gefahren für Gin verbunden waren. Dieser verdrehte nun genervt die Augen, bevor er erwiderte: „Und genau da liegt das Problem.“ „Wie?“ „Wir leben in einer gefährlichen Welt und noch dazu bin ich Teil einer Organisation die auf gefährlichen Geschäften aufbaut. Du kannst mich nicht vor allem beschützten, noch sollst du das. Auch wenn du das nicht gerne hörst: Ich kann auf mich selbst aufpassen! Also leg endlich deine verdammte Beschützer-Masche ab!“ Rye versuchte ruhig zu bleiben, doch die Worte durchbohrten ihn wie ein glühender Speer. Sie erschütterten ihn förmlich. Er presste die Lippen zusammen und ballte die Hände unbewusst zu Fäusten. Das ging nicht. Vollkommen unmöglich. Es war seine Pflicht, Gin zu beschützen. Wie könnte er je damit aufhören und zulassen, dass ihm etwas zustieß? Allein der Gedanke daran sorgte dafür, dass Rye fast den Boden unter den Füßen verlor. Ohne Gin wollte und konnte er nicht existieren. Niemals. „Jemanden, den man mehr als alles andere auf dieser Welt liebt, muss man beschützen.“, war er der festen Überzeugung. „Du hast mir seit wir uns kennen oft genug bewiesen, dass du eben nicht auf dich aufpassen kannst und zu viele unnötige Risiken eingehst.“, erklärte er sich verzweifelt. „Das sagt der Richtige. Wer von uns stürzt sich bei den Missionen immer kopflos und unvorbereitet in das Geschehen?“ Gin zeigte noch immer keinerlei Einsicht. Zwar lag er damit richtig, jedoch war es ein Fehler, sie beide miteinander zu vergleichen. Er schien zu vergessen, dass es keine Rolle spielte, wenn sich Rye einfach Hals über Kopf in Gefahren stürzte. Schließlich gab es nichts, was ihn töten oder verletzen konnte. „Das ist was anderes.“, meinte der Schwarzhaarige aus diesem Grund. „Verstehe. Du darfst das natürlich, aber ich nicht. Und was ist mit meinen Sorgen? Was ist mit den Befürchtungen und Ängsten, die ich habe? Was ist mit dem, was ich mir wünsche?“, wollte Gin wissen. Es tat weh, ihn so reden zu hören. Er klang verzweifelt, aber auch ein wenig gekränkt. So hatte Rye ihn noch nie erlebt. „Ich werde alles, was dich bedrückt und belastet beseitigen.“, schwor er mit schneidender Stimme. Gin sah ihn für einen Moment mit geweiteten Augen an, bevor er den Blick abwandte und dabei jegliche Emotionen aus seinem Gesicht wichen. „Du wirst mich aber nie komplett befriedigen. Zumindest nicht körperlich.“, sagte er leise. Leider musste sich Rye eingestehen, dass Gin damit recht hatte. Wie gern würde er ihm widersprechen und das Gegenteil beweisen. Doch er konnte nur schweigen. „Siehst du. Ich muss mich wohl an den Gedanken gewöhnen, mir jemand anderen zu suchen, der die Bedürfnisse befriedigt, die du entfachst und anschließend ignorierst.“, redete Gin nach ein paar Sekunden weiter. Die Worte lösten augenblicklich eine gewaltige Menge an Zorn in Rye aus, welche kurzerhand alles andere überlagerte. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Tief in seiner Brust vernahm er ein wütendes Knurren, während sich ein unaufhaltsamer Schmerz in seinem Körper ausbreitete. Völlig außer sich und ohne über seine Handlungen nachzudenken, krallte er seine Hände in Gins Schulter und drückte ihn auf das Bett. „Nein!“, stieß er hervor. „Das lasse ich nicht zu…! Du gehörst mir!“ Nach diesen Worten blieb es still. Nur Ryes hastiger Atem erfüllte den Raum. Er bereute sein Verhalten bereits in der nächsten Sekunde wieder. Doch es war zu spät und egal, wie sehr er sich innerlich dafür verfluchte: Die Wut verschwand nicht und hatte ihn noch vollständig unter Kontrolle. Er konnte nicht mal seine festen Griffe von Gins Schultern lösen, geschweige denn seine Gesichtszüge entspannen. Ihm fiel auf, dass sein ganzer Körper zitterte und sein Sichtfeld rot wurde. Dass sein Geliebter, welchen er unerbittlich unter sich gefangen hielt, ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, als könnte er nicht wahrhaben, was gerade passierte, half nicht die Situation zu entschärfen. „Rye…“, wich es Gin atemlos über die Lippen. Seine Stimme erreichte den Schwarzhaarigen nicht sofort. Nur langsam drang sie zu ihm durch, woraufhin er begann zu realisieren, dass er dem Monster fast erlaubt hatte, die Kontrolle zu übernehmen. Die Wut in seinem Inneren veränderte sich. Wurde noch stärker und richtete sich auf ein neues Ziel. Sie galt nicht mehr Gins vorherigen Worten, sondern Rye selbst. Wie hatte er das bloß tun können? Was war in ihn gefahren? Er war vor Schock wie gelähmt. Angst breitete sich in ihm aus. Angst, dass Gin ihn nun hasste. Doch ein Anzeichen dafür fand Rye überraschenderweise nicht in dessen Miene. Im Gegenteil. Aus unerklärlichen Gründen musste er gerade an einen dieser Momente zurückdenken, in denen er mit Gin allein gewesen war und er am liebsten alles mit ihm gemacht hätte, was er wollte. Gerade sah der Silberhaarige ihn so an, als würde er genau das wollen. Als würde es ihm gefallen, ihm schutzlos ausgeliefert zu sein. War das nur eine Einbildung? Es musste so sein. Gin würde niemals… Plötzlich unterbrach ein vibrierendes Geräusch die Stille. Rye folgte Gins Blick zu einer der Nachtschränke neben dem Bett, worauf sich ein Smartphone befand. Zwar handelte es sich wahrscheinlich bloß um eine SMS, da das Vibrieren sofort wieder verstummte, jedoch beschloss Rye die Gelegenheit zu nutzen, um wieder von Gin herunterzusteigen und sich zurückzuziehen. Er konnte ihm vor Reue nicht mehr in die Augen schauen. Nicht mehr mit ihm in einem Raum sein. Rye schlug den direkten Weg ins Wohnzimmer ein. Obwohl er längst mit dem Gedanken spielte, die Wohnung komplett zu verlassen. Aber irgendwie wollte er das nicht. Verzweifelt ließ er sich auf das Sofa fallen und zog die Beine zu sich ran, um den Kopf auf den Knien abzustützen. „Ich bin so ein selbstsüchtiger Vollidiot…“, beschimpfte er sich selbst, auch wenn er es eigentlich verdient hätte, dass Gin ihm jetzt noch weitaus schlimmere Beleidigungen an den Kopf knallte. Mit angehaltenem Atem lauschte Rye, was sein Geliebter gerade tat. Er hörte Schritte. Sie waren langsam, wirkten unsicher, doch kamen immer näher. Überrascht schaute der Schwarzhaarige in Richtung Tür.   Gin blieb im Türrahmen stehen und ließ seinen Blick auf Rye ruhen. Er fühlte sich ein wenig unbehaglich. Nach dem Beantworten der SMS vom Boss, hatte er gedanklich abgewogen, ob es eine gute Idee wäre seinem Partner zu folgen. Irgendwie fühlte er sich zu einer Entschuldigung gezwungen. Das vorhin hätte er nicht sagen dürfen. Auch wenn er es nicht ernst gemeint hatte, war es absehbar gewesen, wie Rye darauf reagieren würde. Dabei hatte er ihn lediglich dazu bringen wollen, an seiner Einstellung zu arbeiten, damit er derjenige sein könnte, der seine Bedürfnisse befriedigte. Und niemand anderes. Natürlich waren seine Worte völliger Unsinn gewesen und es entsetzte Gin schon ein bisschen, dass Rye wirklich gedacht hatte, er würde ihn einfach ersetzen. Schließlich gab es niemanden auf der Welt, der die Bedürfnisse, die Rye in ihm auslöste, befriedigen könnte. Niemand wäre je dazu in der Lage. Er wollte nur Rye. Nur für ihn hatte er Gefühle. Aber Gin wusste nicht, wie er ihm das sagen sollte. Jetzt schien ohnehin nicht der richtige Moment dafür zu sein…. Oder vielleicht doch? „Wenn er wirklich sehr schlecht gelaunt ist, könnte ich ihn so vielleicht aufheitern… aber ich hab noch nie…“ Nervosität kam in ihm auf. Und Rye die ganze Zeit wortlos anzustarren, trug nur dazu bei, dass sich dieses Gefühl sehr schnell verstärkte. „Es tut mir leid. Das vorhin sollte eigentlich nur ein Scherz sein, um dich etwas zu motivieren. Ich hätte wissen müssen, dass du es ernst nehmen würdest…“, begann er mit fester Stimme, um die Nervosität zu verbergen. Er überlegte, ob er Rye näherkommen sollte, doch seine Füße waren wie festgefroren und bewegten sich keinen Schritt. „Natürlich. So bin ich nun mal. Ich höre immer nur das, was ich hören will.“, entgegnete Rye im beleidigten Tonfall mit denselben Worten, die Gin vorhin verwendet hatte. Dieser wünschte sich nun, sie wieder zurücknehmen zu können. Auch wenn er eigentlich der Meinung war, im Recht gewesen zu sein. Ryes eigenwillige Interpretationen und dessen Beschützerinstinkt gingen ihm wirklich so langsam gegen den Strich. Das hatte er ihm schon lange klarmachen wollen, jedoch hielt er es für besser, vorerst nicht wieder darauf zurückzukommen. Zumal Rye an seiner Einstellung sowieso nichts ändern und weiterhin den Beschützer spielen würde. „Es tut mir leid.“, wiederholte Gin, diesmal lauter. „Ich wollte nicht-“ „Hör auf.“, schnitt Rye ihm aufbrausend das Wort ab. „Du musst dich für nichts entschuldigen. Es ist meine Schuld. Alles ist meine Schuld… Ich nehme nie Rücksicht auf deine Bedürfnisse… mache dich unglücklich… wenn du mich irgendwann verlässt, dann-“ „Das werde ich aber nicht.“ Gin fiel ihm ebenso ins Wort, um ihn daran zu hindern, noch mehr von diesem Unsinn zu erzählen. Mittlerweile konnte er es sich nicht mehr vorstellen sein Leben ohne Rye fortzuführen. Vor ein paar Monaten hätte Gin wahrscheinlich darüber gelacht und sich gewünscht diesen Kerl endlich loswerden zu können. Obwohl das vielleicht auch nicht ganz der Wahrheit entsprach und Rye zugegebenermaßen von Anfang an - wenn es auch schwer einzugestehen war - sein Interesse geweckt hatte. Aber nun war es zweifellos zu spät. Rye bedeutete ihm etwas, womöglich sogar viel mehr als er sollte, und durch ihn hatte sich inzwischen so viel in seinem Leben verändert, dass Gin eine Welt ohne ihn einsam und eintönig vorkommen würde. Er könnte sie nicht ertragen. „Ach ja? Woher willst du wissen, wie lange du es noch mit mir aushältst? Ich bin ein Monster. Meine Gefühle für dich sind viel zu stark ausgeprägt. Sie sind unmenschlich. Sogar meine Liebe zu dir kann in manchen Momenten eher zu Besessenheit werden… Und das Schlimme daran ist, dass du mich nicht einmal verlassen könntest, weil ich das nicht zulassen würde.“, redete Rye im hysterischen Tonfall, wobei der Schmerz in seiner Stimme fast greifbar war. Am liebsten würde Gin ihn ordentlich zurechtweisen, wenn es dadurch nicht schlimmer werden würde. Immer wieder rückte sich Rye in ein schlechtes Licht und sagte so viele verletzende Dinge über sich selbst, die schlichtweg falsch waren. Begriff er denn nicht, wie einzigartig und wundervoll er war? Warum musste er sich immer als Monster betiteln? „Und das ist in Ordnung für mich.“, erwiderte Gin. Mehr musste er dazu nicht sagen. Es war in Ordnung, dass Rye kein Mensch war und seine Gefühle zu stark ausgeprägt waren. Es war in Ordnung, dass er ihn nicht gehen lassen würde. Schließlich wollte Gin das auch nicht. Egal, wie anstrengend und nervig sein Partner manchmal sein konnte, er würde ihn keinesfalls sich selbst überlassen. Rye blickte ihn überrascht an. Er schien die Worte nicht erfassen zu können und hatte wahrscheinlich eine andere Antwort erwartet. „Was…?“ Seine Stimme klang zum Glück wieder ruhiger. Gin gelang es endlich, seine Beine dazu zu zwingen, sich wieder von der Stelle zu rühren. Er ging langsam auf Rye zu, während er überlegte, wie er sich erklären sollte, um den Schwarzhaarigen von seinen Sorgen und Befürchtungen zu befreien. Dessen Augen wurden bei jedem Schritt groß und größer, sodass Gin glaubte, sich in dem atemberaubend schönen, grünen Funkeln zu verlieren. Auf diese Weise fiel es ihm ein wenig leichter, die folgenden Worte auszusprechen: „Es ist in Ordnung, weil… ich dich liebe.“ Zuerst schaute Rye ihn nur verwirrt an, doch als er sich den Worten bewusst wurde, fingen seine Augen vor Freude an zu leuchten. Gin blieb bei diesem Anblick beinahe das Herz stehen. Wie konnte jemand nur solch eine Schönheit ausstrahlen? Besonders wenn Rye glücklich war, schien er nahezu einem Engel zu gleichen. Aber niemals einem Monster. Kaum zu glauben, dass er wirklich existierte und ihm gerade so nah war, dass er ihn einfach berühren konnte. Gin legte langsam seine Hand auf Ryes Wange und strich mit seinen Fingern über die weiße, makellose Haut. „Ich gehöre dir.“, flüsterte er seinem Geliebten ins Ohr, um ihm auch die letzten Sorgen endgültig auszutreiben und damit er sich keine Vorwürfe mehr für sein besitzergreifendes Verhalten machte. Gin versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass die Worte, die er noch nie zuvor verwendet hatte, ein unwohles Gefühl in ihm auslösten und sein Herz ihm bis in die Fingerspitzen schlug. Auch wenn Rye das wahrscheinlich sowieso gerade sehr deutlich spüren müsste. Ein Lächeln erschien auf dessen Lippen, was den Silberhaarigen sowohl beruhigte als auch auf unerklärliche Weise faszinierte. Der schönste Engel auf Erden schenkte ihm ein Lächeln und er konnte sich nicht erklären, womit er solch ein Glück verdient hatte. Er umfasste Ryes Gesicht mit beiden Händen und versprach: „Und ich werde dich nicht verlassen, verstanden? Bitte mach dir darüber keine Gedanken mehr.“ Rye wirkte, als würden ihm jeden Moment ein paar Tränen aus den Augen treten, wenn er weinen könnte. Doch es lag auch etwas Entschuldigendes in seinem weichen Blick. Er schien die Realität gerade ebenso anzuzweifeln und war noch nicht in der Lage zu antworten. Auf einmal schlangen sich zwei Arme blitzschnell um seinen Körper, sodass Gin fast gar nicht wahrnahm, wie Rye ihn zu sich auf das Sofa zog. Der Silberhaarige blinzelte ein paar Mal desorientiert und realisierte erst, als er Rye wieder direkt in die Augen sah, dass er sich auf ihm befand und er kurz darauf noch fester an den kühlen, steinernen Körper gezogen wurde. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss und sich seine Hände in Ryes Hemd verkrampften. Kalte Finger legten sich in seinen Nacken und drückten seinen Kopf nach vorn, sodass Rye ihm einen Kuss geben konnte. Mit einem aufkeimenden Kribbeln im Bauch kostete Gin begierig von den schneekalten Lippen, während Ryes andere Hand sanft durch seine Haare strich und schließlich auf seinem Kopf verweilte. „Danke… Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel mir deine Liebe bedeutet. Ich verspreche, dass ich mir keine Sorgen mehr machen werde. Entschuldige, dass ich an deinen Gefühlen gezweifelt habe.“, sprach Rye mit weicher Stimme, bevor er einen leichten Kuss auf Gins Stirn platzierte. Der Silberhaarige schaute ihn sehnsüchtig an. Ryes Augen waren so klar und tief, dass es beinahe unmöglich war, den Blick von ihnen abzuwenden. Gin tat es nur widerwillig, als Ryes Hand seinen Kopf vorsichtig zu sich an die Brust zog und sanft seinen Haaransatz streichelte. Ihm fielen fast automatisch die Augen zu und plötzlich verspürte er das Bedürfnis einfach einzuschlafen, obwohl er eigentlich gar nicht müde war. Gerade jetzt merkte Gin deutlich, wie sehr sich Rye von einem Menschen unterschied. Da war kein gleichmäßig schlagendes Herz, und auch keine Wärme, die ihn einhüllte. Nur Kälte und das Gefühl, als würde sein Kopf auf einem harten Stein liegen. Umso seltsamer war es, dass sich Gin dennoch auf eine unerklärliche Weise wohl fühlte. Er könnte für immer in dieser Position liegen bleiben. So nah bei Rye… „Du, sag mal…“, hörte er plötzlich dessen Stimme über sich, „Von wem war eigentlich die SMS vorhin?“ Gin hob den Kopf und blickte in Ryes neugierigen Gesichtsausdruck. „Vom Boss.“, meinte er kühl, woraufhin sich die Augen des Schwarzhaarigen sofort verengten. „Und was wollte er?“, bohrte er weiter. Gin wusste nicht, ob er die Frage beantworten sollte. Eigentlich ging der Inhalt der SMS Rye nichts an und es betraf ihn auch nicht. Aber er würde es ohnehin nicht vor ihm geheim halten können. Schon aus dem Grund nicht, weil Rye kaum noch von seiner Seite wich. „Ach, nur eine Erinnerung an diese Veranstaltung in zwei Tagen. Ist nicht weiter wichtig.“ Gin verriet so wenig wie möglich und formulierte es so, dass Rye hoffentlich nicht weiter nachfragen würde. Natürlich half das nicht. „Was für eine Veranstaltung?“ Gin stieß ein Seufzen aus. „Die findet traditionell einmal im Jahr statt. Es ist nur so eine Art feierliches Treffen zwischen ein paar unserer langjährigen Geschäftspartner… Der Boss legt viel Wert darauf, die Beziehungen zu ihnen zu pflegen, wenn sie von Nutzen für die Organisation sind. Im Endeffekt sind das alles nur kleine Fische, die glauben mit ihrem Familiennamen großes Geld machen zu können. Die meisten von denen sind sowieso nur neidisch und wollen versuchen ihren Machteinfluss zu erweitern, indem sie sich einschmeicheln. Mir geht das ziemlich auf die Nerven…“, erzählte er in gelangweilter Tonlage. Eigentlich interessierte ihn die Veranstaltung überhaupt nicht und hätte Vater ihn nicht dran erinnert, hätte er es womöglich vergessen. „Und du musst da auch hin?“, wollte Rye wissen. „Ja, schon…“ Leider. Gin hasste es, unter so vielen Menschen zu sein. Aber er konnte sich nicht widersetzen. Es war zum einen seine Pflicht jedes Jahr dort anwesend sein und zum anderen wollte er unbedingt Vaters Erwartungen erfüllen. Rye schien nebenher über irgendwas nachzudenken und zu keinem Ergebnis zu gelangen. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst, was Gin vermuten ließ, dass er ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit nur ungern allein auf diese Veranstaltung gehen lassen würde. „Willst du etwa auch mitkommen?“, fragte er neckend, woraufhin sich Rye sofort durchschaut zu fühlen schien und ihn aufgelöst anschaute. Doch er wirkte auch, als sei er sich noch unschlüssig. „Also ich… ich weiß nicht. Wird der Alte auch anwesend sein?“, fragte er. Gin warf ihm umgehend einen bösen Blick zu, welchem Rye beschämt versuchte auszuweichen. Scheinbar war ihm der Ausdruck nur aus Versehen über die Lippen gerutscht. Jedoch beschloss Gin, nicht weiter darauf einzugehen, da Vater schon weitaus schlimmere Bezeichnungen für Rye verwendet hatte und dieses feindselige Verhältnis blöderweise auf Gegenseitigkeit beruhte. „Natürlich.“ In seiner Stimme schwang dennoch ein beleidigter Unterton. „Er muss dort schließlich wie jedes Jahr eine Konferenz leiten. Wie du sicher schon mitbekommen hast, meidet er sonst immer die Öffentlichkeit und man bekommt ihn nie zu Gesicht. Das schafft allerdings nicht gerade eine vertrauensvolle Basis zu unseren Geschäftspartnern… Deshalb hat er beschlossen, einmal im Jahr eine Ausnahme zu machen. Die Gästeliste ist ohnehin streng eingegrenzt. Nur die Geschäftsleiter selbst und deren Familienmitglieder dürfen kommen.“ Gin wusste ehrlich gesagt nicht, zu welcher Sorte der Gäste er sich zählen sollte. Wohl zu den engsten Vertrauten, auch wenn ihn das in Wahrheit unglücklich machte. Sehr unglücklich. Aber mehr war er nicht… Niemals…   „Sei gefälligst still! Wie oft habe ich dir gesagt, dass ich nicht dein Vater bin?! Deine Eltern sind tot! Und du dankst mir meine Gütigkeit mit solch einem respektlosen, sturköpfigen Verhalten? Kannst du nicht ein einziges Mal auf mich hören? Du hast diesen Raum zum letzten Mal betreten! Verschwinde!“ Vaters wütendes Gesicht verschwamm durch die Tränen, die Gin in die Augen traten und kurz darauf unaufhörlich seine Wangen hinunterliefen. Er wischte sie weg und presste die Lippen zusammen. Warum nur? Warum war Vater so kaltherzig? Warum wandte er ständig den Blick ab? Hasste er ihn etwa? Dabei bemühte er sich doch so sehr, alles richtig zu machen. Er war kein respektloses, sturköpfiges Kind. Das stimmte nicht. Warum konnte Vater nicht… „Jin.“ Gin hob den Blick und schaute in Tante Sharons sorgenvollen Gesichtsausdruck. Sie griff vorsichtig nach seinem Handgelenk, doch Gin zog die Hand sofort wieder weg und rannte aus Vaters Arbeitszimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen…   „Mit anderen Worten: Ich befinde mich nicht auf der Gästeliste.“ Ryes Stimme riss Gin unverhofft aus seinen Erinnerungen, die er am liebsten restlos ausradieren wollte. Warum dachte er ausgerechnet jetzt wieder daran zurück? Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Schon seltsam, dass etwas, was schon so lange in der Vergangenheit lag, noch so weh tun konnte, als sei es gestern passiert. „Du hast ihn doch sowieso schon getroffen.“ Er hätte fast vergessen Rye zu antworten. So gesehen spielte es eigentlich keine Rolle, ob dieser zu der Veranstaltung kommen würde oder nicht. Aber Vater würde ihn definitiv nicht dabei haben wollen. „Er stellt sich immer so unbeholfen an, wenn zu viele Menschen anwesend sind… Allerdings wäre es wenigstens nicht so langweilig, wenn er auch da wäre…“, wog Gin gedanklich ab. Rye würde bestimmt für etwas Abwechselung auf dieser ermüdenden Veranstaltung sorgen, jedoch müsste er sich ordentlich benehmen und der Silberhaarige bezweifelte, dass sein Partner das konnte. „Wenn der A-… Boss mich dort sieht, hat mit Sicherheit mein letztes Stündlein geschlagen.“, erwiderte Rye scherzhaft. Sein Glück, dass er ein unzerstörbarer Vampir war. Gin musste schmunzeln. „Wenn du dich geschickt anstellst, wird er vielleicht nicht merken, dass du da bist.“, riet er dem Schwarzhaarigen, auch wenn das so gut wie ausgeschlossen war. Dem Boss entging nie etwas und meistens analysierte er jeden der Gäste genau, was natürlich auf seine übervorsichtige, misstrauische Art zurückzuführen war. Manchmal fragte sich Gin, ob Vater schon immer so gewesen war. So abgeneigt von der Öffentlichkeit. Als Kind hatte er nie mitbekommen, dass Vater seine altgewohnten vier Wände im Hauptgebäude der Organisation je verlassen hatte. Das tat er eigentlich nur, wenn es absolut notwendig war. Früher hatte er oft so gewirkt, als hätte ihn irgendwas gequält. Er war so oft wütend gewesen. Doch Gin hatte immer zu viel Angst gehabt, um nach dem Grund zu fragen. Auch weil er geglaubt hatte, dass er ein Teil des Grunds gewesen war. Inzwischen war es nicht mehr so. Die Zeiten hatten sich glücklicherweise geändert, nachdem Vater ihn endlich als vollwertiges Mitglied der Organisation anerkannt hatte. „Versuchst du gerade mich zu überzeugen?“ Rye lächelte ihn amüsiert an und strich ihm ein paar Strähnen hinters Ohr. Dessen bildschöner Anblick, gemischt mit den Erinnerungen, in denen Gin nun schon zum zweiten Mal versunken war, gaben ihm nahezu das Gefühl, abgetrennt von der Realität zu sein. Schulterzuckend erwiderte er: „Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst. Vielleicht wäre es sogar besser, wenn ich allein gehe.“ „Du machst Witze, oder? Dich im Anzug zu sehen, lass ich mir nicht entgehen.“, schoss Rye zurück, woraufhin Gin unbewusst errötete. Jedoch fiel ihm plötzlich wieder etwas ein, was er total vergessen hatte… „Ah… Moment, ich schulde dir ja noch einen Anzug.“ Rye bemerkte es ebenso. Ihm schien sein Missgeschick immer noch peinlich zu sein, was der Silberhaarige an seiner Tonlage hören konnte. „Schon gut, ich kann mir schnell einen neuen kaufen.“, spielte er es daher herunter, doch das schien Rye wie erwartet nicht akzeptieren zu wollen. „Ich hab dir doch gesagt, dass ich das machen werde.“ „Und ich habe dir gesagt, dass das nicht nötig ist.“, widersprach Gin. Beide starrten sich mit einem provokanten Blick in den Augen an, wobei Rye nach einer Weile die Lippen nachdenklich nach vorn schob. „Können wir uns vielleicht darauf einigen, dass wir dir gemeinsam einen neuen kaufen gehen?“, schlug er begleitet von einem Seufzen vor. Gin rollte mit den Augen. Natürlich würde Rye ihm diesen Kompromiss nicht anbieten, wenn er nicht bereits einen Plan im Hinterkopf hätte. Der Silberhaarige setzte sich auf und entgegnete leicht mürrisch: „Wenn du unbedingt drauf bestehst.“ Er hätte ohnehin nichts an Ryes Entscheidung ändern können. Dieser erhob sich nun ebenso und nachdem er Gin einen kurzen Kuss auf die Wange gegeben hatte, meinte er in belustigter Tonlage: „Ja, tue ich. Schließlich möchte ich mir sicher sein, dass du auf der Veranstaltung einen Anzug tragen wirst, der deine Schönheit noch mehr zur Geltung bringt.“ Gin verzog unbeeindruckt das Gesicht. „Übertreib‘s nicht.“, warnte er, bevor er Rye allein auf dem Sofa zurück ließ. Als er dem Schwarzhaarigen den Rücken zukehrte, hörte er, wie dieser anfing leise zu lachen.   Die Zeit verging wie im Fluge. Es war schon spät am Nachmittag, als Gin und Rye ihren Einkaufsbummel beendeten, welcher sich nur so sehr in die Länge gezogen hatte, weil der Schwarzhaarige ewig zu keiner Entscheidung gekommen war, welcher Anzug am besten zu Gin passte. Dessen Meinung hatte er dabei kaum beachtet, weshalb sie sich nie wirklich einig geworden waren. Selbst die Verkäuferin, die zuvor freundlicherweise ihre Hilfe angeboten hatte, war irgendwann in Verzweiflung geraten. Doch Ryes Erscheinung und seine höfliche, sanfte Art hatten sie scheinbar dazu gebracht bis zum bitteren Ende durchzuhalten. Nebenbei hatte sie auch noch versucht ihm ebenso einen Anzug aufzuschwatzen, was Gin ziemlich auf die Nerven gegangen war. Zwar konnte er ihr Motiv schon ein wenig nachvollziehen - denn ein Anzug ließ Rye zugegebenermaßen noch unwiderstehlicher aussehen, als er es ohnehin schon war - aber dieser Anblick stand ihr definitiv nicht zu. Zum Glück hatte Rye auch jedes Mal abgelehnt und sich kaum für sie interessiert. Stattdessen hatte er nur Augen für den Silberhaarigen gehabt, welchem es nach kurzer Zeit unangenehm geworden war, so von seinem Geliebten analysiert zu werden. Gin hatte ihm deutlich angesehen, wie sehr er sich daran ergötzt hatte, ihn in so vielen verschiedenen Anzügen zu sehen. Nicht selten hatte ein Kompliment oder ein zweideutiger Kommentar Gin in Verlegenheit gebracht, wobei es ihm noch immer ein Rätsel war, warum Rye es so sehr gefiel, wenn er einen Anzug trug. Gin war der Meinung, dass solche Teile ihm überhaupt nicht standen. Doch sein Partner schien das Ganze wahrscheinlich aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, vielleicht aus dem Grund, weil er ihn so sehr liebte. Am Ende hatte Rye natürlich wie vermutet nicht zugelassen, dass Gin den Anzug selbst bezahlte. Seit er seinen Willen bekommen hatte, strahlte er förmlich vor Freude und der Silberhaarige musste aufpassen sich nicht von dieser übertrieben guten Laune mitreißen zu lassen. Aber ihm war es letztlich egal, solange Rye glücklich war. Alles andere war nicht wichtig und er wollte sich nicht unnötig über solche kleinen Dinge aufregen. Eigentlich war er sogar froh darüber, dass Rye ihn begleitet hatte. In solchen Momenten wurde Gin immer mehr bewusst, wie viel es ihm in Wirklichkeit bedeutete, dass Rye nicht von seiner Seite wich. War dieser nicht in der Nähe, fühlte er sich, als würde ein Teil von ihm fehlen. Ein Teil, ohne den er nicht leben konnte. Gin wusste nicht, wie es Rye in so kurzer Zeit gelungen war, einen sicheren, festen Platz in seinem Herzen zu erobern. Doch es gab etwas, dass er mit Sicherheit sagen konnte: Rye war es als Einziger gelungen, die bittere Kälte in seinem Herzen zu vertreiben, welche ihn schon fast sein ganzes Leben lang begleitet hatte. Er musste diesen Vampir wohl sehr lieben. Jedoch war ihm das viel zu spät klar geworden, da solche Gefühle ihm immer fremd gewesen waren. Selbst jetzt waren sie ihm noch nicht vollständig vertraut. Aber hoffentlich bald. Vor ein paar Minuten hatte Rye den Silberhaarigen allein auf einer Bank zurückgelassen, um ihm trotz Ablehnung etwas zu trinken zu kaufen. Gin lehnte sich zurück und starrte nach oben zu der gläsernen Decke, durch welche man den dämmernden Abendhimmel wegen der Spiegelung der Einkaufshalle nur schwer erkennen konnte. Es war wirklich schon sehr spät und mittlerweile wollte er einfach bloß noch nach Hause. Solche Ausflüge ermüdeten ihn, besonders, weil hier zu viele Menschen herumliefen, denen man schlecht aus dem Weg gehen konnte. Deshalb bevorzugte er es das Meiste im Internet zu bestellen. Viel bequemer und vor allem weniger zeitaufwendig. Gin hielt sich die Hand vor den Mund, als er gähnen musste. Kurz darauf spürte er eine warme Berührung an seiner Wange, die ihn vor Schreck zurückweichen ließ. „Bist du etwa schon so erschöpft?“, hörte er Ryes amüsierte Stimme neben sich. Als er sich zu ihm drehte, erblickte er einen hellbraunen, dampfenden Kaffeebecher. „Hier, bitte.“ Rye lächelte ihn an. „Danke.“ Gin nahm das Getränk entgegen, woraufhin sich der Schwarzhaarige zu ihm auf die Bank setzte und seinen Blick durch das Getümmel schweifen ließ. „Es ist ganz schön voll geworden.“, meinte er dann, was Gin mit einem schlichten Nicken erwiderte. Der Kaffee war noch zu heiß, sodass er sich beim ersten Schluck die Zunge leicht verbrannte. Rye bemerkte es nicht, da er gerade dabei war sein Smartphone aus seiner Jackentasche zu kramen. Als er auf den Bildschirm schaute, bildete sich nach kurzer Zeit ein breites Lächeln in seinem Gesicht. Er wirkte beinahe wie ein Hals über Kopf verliebter Teenager, der soeben eine SMS von seinem Schwarm bekommen hatte. Nur dass es sich offensichtlich um etwas anderes handeln musste. Gin verengte skeptisch die Augen. „Ist was?“, fragte er, während er versuchte unauffällig einen Blick auf das Smartphone zu werfen. Vergebens. Rye steckte es sofort wieder weg und sah ihn überrascht an. „Nein, nichts.“, entgegnete er mit einer Unschuldsmiene, die dem Silberhaarigen noch verdächtiger vorkam. Doch er konnte nicht weiter nachhaken, da sein Partner sofort das Thema wechselte: „Nur damit du es weißt, das war vorhin kein Scherz. Ich werde dich wirklich zu dieser Veranstaltung begleiten.“ „Meinetwegen, du kennst ja die Regeln. Verhalt‘ dich normal und stell keinen Unsinn an.“ Gin fühlte sich, als würde er ein Kleinkind belehren. Demzufolge war Ryes darauffolgende, beleidigte Tonlage nicht verwunderlich. „Hab mal ein bisschen mehr Vertrauen in mich. Ich kann mich benehmen.“ Fast hätte Gin gelacht. „Ich bin doch derjenige, der dir mehr vertraut als du dir selbst.“, dachte er, auch wenn sich das auf ein anderes Thema bezog, welches er jetzt nicht nochmal ansprechen wollte. Stattdessen sagte er: „Ich wollte dich nur vorwarnen. Du weißt, dass der Boss nur darauf wartet, dass dir ein Fehler unterläuft und er dich daher mit hoher Wahrscheinlichkeit genau im Auge behalten wird. Am besten, du lässt dich gar nicht erst vor ihm blicken.“ „Ist das denn überhaupt möglich?“ Rye klang, als würde er stark daran zweifeln. Gin trank einen Schluck von seinem Kaffee und gestand anschließend in belustigter Tonlage: „Wenn ich ehrlich sein soll, nein.“ Rye stieß ein frustriertes Seufzen aus. „Ich werd das schon irgendwie hinbekommen.“, meinte er dennoch fest von sich überzeugt. Gin beschloss ihm zu glauben, war insgeheim aber gespannt wie sich Rye anstellen würde, wenn es soweit war. Leider würde er ihn nicht den ganzen Abend beaufsichtigen können, geschweige denn für eine längere Zeit in seiner Nähe bleiben können. Wie üblich würde Vater ihn die meiste Zeit über beanspruchen. Und dann war da auch noch die Konferenz, an welcher Rye definitiv nicht teilnehmen durfte. Dieser erhob sich nun wieder von der Bank und sah mit einem amüsierten Ausdruck in den Augen auf Gin herab. „Fühlst du dich in der Lage den Weg nach Hause zu bewältigen oder soll ich dich tragen?“, fragte er und unterdrückte nebenher ein Lachen. Gin warf ihm einen finsteren Blick zu und stand auf. „Soll ich dir den Kaffee ins Gesicht schütten?“ Er ließ es wie eine Drohung klingen, was Rye aber keinesfalls einschüchterte. „Ich finde, er erfüllt seinen Zweck mehr, wenn du ihn trinkst.“, erwiderte er gelassen, während er sich in Bewegung setzte und Gin ihm missmutig folgte. „Find‘ ich nicht.“ Beide gingen in Richtung des Ausgangs, wobei der Silberhaarige den Kaffee auf dem Weg dorthin in einem Zug leer trank und den Becher in den nächsten Mülleimer warf. Kapitel 33: Regen ----------------- Es war fast dunkel, als die Beiden bei Gins Wohnung ankamen. Draußen vor der Eingangstür blieb Rye stehen und hob seinen Blick zum Himmel, der begann, unruhig auf ihn zu wirken. Es war kein einziger Stern zu sehen. Der Wind trug die dichten Wolken über Tokio, welche laut Wetterbericht mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einfach nur vorbeiziehen würden. Die Luft roch bereits nach Regen. Möglicherweise könnte es in der Nacht auch zum ersten Mal seit langem wieder ein Gewitter geben. Es war seltsam für Rye sich nicht daran erinnern zu können, je ein solches Unwetter miterlebt zu haben, obwohl er eigentlich wusste wie so etwas ablief. Aber auch dieser verlorenen Erinnerung trauerte er nicht nach. Er senkte den Blick wieder und sah, wie Gin gerade dabei war, den Briefkasten zu öffnen und einen Brief aus diesem herausnahm. Seine Stirn legte sich verwirrt in Falten, während er den Umschlag in der Hand drehte. Doch dann schien ihm plötzlich etwas einzufallen. „Ah, so ein Mist…“, murmelte er und öffnete den Brief, um ihn mit den Augen zu überfliegen. Scheinbar wusste er schon was drin stand. „Was ist los?“, wollte Rye wissen. „Ich hab vergessen das Buch wieder abzugeben.“ Gin fasste sich an die Stirn und schüttelte den Kopf, als würde er sich innerlich dafür verfluchen. Rye ahnte, welches Buch gemeint war. Dieses verräterische Buch über alte Volksgruppen und deren Traditionen, das Gin dazu verholfen hatte, die Wahrheit über ihn herauszufinden. Demzufolge handelte es sich bei dem Brief wohl um eine Mahnung von der Bibliothek, welche allerdings bald schließen müsste, wenn Ryes Zeitgefühl ihn nicht trog. „Passiert, bring es einfach morgen zurück.“, schlug er vor, jedoch warf Gin trotzdem einen Blick auf seine Armbanduhr und meinte anschließend: „Noch knapp eine halbe Stunde. Theoretisch würde ich das noch schaffen.“ Rye blinzelte ihn ungläubig an. Das war nicht sein ernst, oder? Dem Schwarzhaarigen fielen auf Anhieb zig Gründe ein, warum es definitiv keine gute Idee war, das jetzt noch um diese Uhrzeit zu erledigen. Wenn es schon dunkel war. Und womöglich bald anfangen würde zu regnen. Menschen waren ziemlich anfällig für Krankheiten. Wenn Gin durch den Regen laufen würde, könnte er sich eine Erkältung holen. Und das wollte Rye auf keinen Fall, weshalb er erwiderte: „Nein, würdest du nicht.“ Daraufhin warf Gin ihm einen finsteren, leicht provozierenden Blick zu. Als hätte er vor, das Buch jetzt erst recht zurückzubringen. Also versuchte Rye noch schnell die Kurve zu kriegen, indem er einen Scherz anfügte: „Wetten ich würde es zehn Mal schneller schaffen?“ Ein selbstgefälliges Lächeln bildete sich auf seinen Lippen, doch Gins Miene blieb unberührt. „Witzig.“, sagte er tonlos. „Es ist doch schon viel zu spät und außerdem fängt es gleich an zu regnen. Besser ich erledige das schnell. Und wenn du das nicht willst, musst du bis morgen früh warten.“ Rye ließ den Silberhaarigen an seiner Tonlage erkennen, dass er keinen Widerspruch dulden würde. Überraschenderweise schien das tatsächlich auch zu funktionieren. Gin starrte ihn lediglich für ein paar Sekunden nachdenklich an. „Meinetwegen.“ Rye staunte nicht schlecht. Er hatte nicht erwartet, dass ihr Gespräch diesmal ohne eine der zahllosen Diskussion ablaufen würde, die dank Gins Sturheit immer wieder erneut entstanden. Dennoch war die Antwort mehrdeutig. „Also was jetzt?“, hakte Rye deswegen nach. Gin schlug bereits den Weg Richtung Tür ein und kramte seinen Wohnungsschlüssel aus der Jackentasche, während er entgegnete: „Dann mach du es halt, wenn du dich dann besser fühlst.“ „Er ist trotzdem beleidigt…“, bemerkte Rye frustriert. Aber davon würde er sich nicht beeinflussen lassen. Immerhin war es von Vorteil diese Kleinigkeit für Gin zu erledigen. So konnte er seinem Geliebten zum einen die Mühe ersparen und konnte zum anderen anschließend gleich zum Jagen übergehen. Als die beiden das Treppenhaus betraten, erlaubte sich Rye einen Scherz und überfiel seinen Geliebten von hinten, um ihn auf seinen Händen in rasender Geschwindigkeit die Treppe hinauf zu tragen. Gin hielt sofort den Atem an und sein ganzer Körper erstarrte vor Schreck, was Rye allerdings bewusst ignorierte. Er war froh, dass Gin ihn dafür jetzt nicht anschreien konnte, da sie sonst die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich ziehen würden. Einen mörderischen Blick kassierte er für die Aktion aber dennoch, sobald sie vor Gins Wohnung angekommen waren und er den Silberhaarigen vorsichtig wieder absetzte. Am liebsten würde Rye ihn den ganzen Tag tragen und fest an sich drücken, um Gins Wärme und seinen Duft in vollen Zügen genießen zu können. Aber das war ihm leider nicht vergönnt, was womöglich auch besser und vor allem sicherer für Gin war. In der Wohnung brachte dieser zuerst die Tüte mit dem Anzug ins Schlafzimmer, bevor er zurück ins Wohnzimmer ging und das Buch aus einem Regal hervorkramte. Rye wartete geduldig darauf, dass Gin ihm das Buch überreichte, doch dieser schien zu zögern. Er betrachtete es eine Weile gedankenversunken in seinen Händen, als würde es ihm schwerfallen, sich davon zu trennen. Schließlich schlug er das Buch auf und blätterte zu dem Artikel über Eclipse. Irgendwie überraschte es Rye, dass sein Geliebter den Artikel scheinbar nochmal durchlas. Interessierte ihn noch etwas oder war ihm noch eine Sache eingefallen, die er überprüfen wollte? „Stimmt was nicht?“, erkundigte sich Rye irgendwann mit leichter Besorgnis in der Stimme, da Gin den Blick einfach nicht wieder heben wollte und wie gebannt auf den Artikel starrte. Aus irgendeinem Grund wollte Rye nicht, dass der Silberhaarige den Inhalt nochmal intensiv analysierte. Zwar entsprach so ziemlich alles was in diesem Artikel stand der Wahrheit… doch genau da lag das Problem. Es war die bittere, unbestreitbare Wahrheit, dass er ein blutsaugendes Monster war. Ein Feind der Menschen und somit auch eine tödliche Bedrohung für Gin, welcher dieser Wahrheit bisher nie direkt ins Gesicht geblickt hatte. Und Ryes Angst, dass sein Geliebter dies plötzlich doch tun würde, wuchs mit jeder verstreichenden Sekunde ins Unermessliche. Zu gern würde er ihm das Buch einfach aus den Händen reißen und ihn anflehen, nicht länger über diesen verdammten Artikel nachzudenken. Doch noch bevor er sich dazu entscheiden konnte, gab Gin ihm eine Antwort auf seine Frage. „Es ist nichts. Ich finde es nur irgendwie faszinierend, wie diese Aussagen so haargenau auf dich zutreffen. Aber bei einer bin ich mir nicht sicher.“ Rye durchlief augenblicklich ein Schauer. Obwohl Gin eindeutig recht hatte, fühlte er sich von dessen Worte verletzt. Möglicherweise konnte er der Wahrheit selbst nicht vollständig ins Gesicht sehen und nicht akzeptieren, was für eine abscheuliche Kreatur er in Wirklichkeit war. „Nicht alles trifft zu… ich bin nicht unsterblich… und mein Aussehen… wirkt ganz bestimmt nicht einladend auf ihn… das ist keine Illusion…“, versuchte sich Rye in Gedanken zu beruhigen. Aber es half nicht. Die Angst fraß sich durch sein tiefstes Inneres und erschütterte seinen Körper. „Die wäre?“, brachte er mühsam über die Lippen. Seine offensichtlich bedrückte Tonlage brachte Gin dazu, ihn wieder anzusehen. Dessen Augen weiteten sich kurz vor Verwunderung, bevor er zögernd erwiderte: „Eigentlich wollte ich dich das schon früher fragen, aber ich hab es dann irgendwie vergessen… Hier steht, dass sich Vampire nicht fortpflanzen können und sie sich nur vermehren können, wenn sie andere Menschen zu ihresgleichen machen, indem sie sie beißen… Stimmt das wirklich? Kannst du das?“ Rye verengte misstrauisch die Augen. Er erinnerte sich an diesen Teil. Aber warum wollte Gin ausgerechnet darüber mehr erfahren? „Weiß ich nicht. Ich hab es nie probiert und ich wüsste auch nicht wie.“, meinte er mit fester Stimme. Ihm fiel kein plausibler Grund ein, warum er einem Menschen so etwas antun sollte. Er wollte niemandem auf der Welt diesen unerträglichen Fluch aufzwingen, aus welchem es kein Entkommen mehr gab. Gin schlug das Buch wieder zu und trat anschließend näher an ihn heran. „Willst du es irgendwann mal probieren?“ Rye entging der winzige Hoffnungsschimmer, der in Gins Augen plötzlich aufleuchtete, nicht. Eine Welle von Schock und Entsetzen übermannte ihn, jedoch versuchte er mit allen Mitteln die Fassung zu bewahren und ruhig zu bleiben. Eigentlich wollte er sofort mit einem felsenfesten „Nein“ antworten, stattdessen fragte er aber in gefährlich ernster Tonlage: „Worauf willst du damit hinaus?“ Gin schien sofort zu bemerken, dass seine Absichten soeben durchschaut worden waren und es am besten wäre, das Thema zu beenden, wenn er nicht wollte, dass dieses Gespräch fatal endete. Seine Haltung wurde unsicherer und er versuchte Ryes bohrendem Blick auszuweichen. „Sag schon.“, forderte der Schwarzhaarige, da ihm das Schweigen zu lang andauerte. Er wollte, dass Gin ihm erzählte, woran er gerade dachte. Dann könnte er ihn dafür zurechtweisen und ihm diese Idee ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen. Allerdings befürchtete Rye zugleich, dass sobald Gin seine Gedanken äußern würde, diese etwas in ihm auslösen könnten, was lieber verborgen bleiben sollte. Rye vernahm, wie Gin tief einatmete, bevor er ihm eine Antwort gab: „Ich dachte nur… es wäre vielleicht einfacher für dich, wenn ich auch…“ Er verstummte, sobald er Ryes zornbebenden Blick bemerkte. „Du willst, dass ich ein Monster aus dir mache?“, wollte Rye mit schneidender Stimme wissen. Er konnte es selbst nicht glauben. „Das ist deine Sicht der Dinge.“ „Sag mir, dass du das nicht ernst meinst.“ Ryes Stimme nahm einen düsteren Befehlston an, von welchem sich Gin jedoch nicht einschüchtern ließ. Im Gegenteil. Er schien jetzt sogar den Mut gefasst zu haben, den Schwarzhaarigen überzeugen zu wollen. Auch wenn die Chancen dafür gleich Null waren. „Warum? Wenn wir gleich wären, müsstest du dir keine Sorgen mehr machen mich versehentlich zu verletzen oder gar zu töten. Du müsstest dich nicht länger beherrschen.“ Rye musste einsehen, dass an den Worten etwas Wahres dran war, jedoch würde er Gins Menschlichkeit dafür niemals opfern. Zudem übersah dieser noch einen anderen, wichtigen Punkt: Sie würden nie einander gleichen. Auch nicht als Vampire. Angefangen bei ihrer unterschiedlichen Auffassung von Moral, was Rye schon öfters aufgefallen war. Gin legte bei weitem nicht so viel Wert auf ein anderes Menschenleben und würde demzufolge auch keine Reue empfinden, wenn er jemanden tötete. Rye kam deswegen der Gedanke, dass Gin womöglich als Vampir viel gefährlicher und blutrünstiger als er sein könnte. Dem Schwarzhaarigen fiel es schon schwer genug selbst die Kontrolle zu bewahren, da würde er es mit Sicherheit nicht auch noch schaffen auf Gin zu achten. „Und das ist der einzige Grund?“ Er tat so, als würde das noch lange nicht ausreichen, um ihn zu überzeugen. Doch Gin schien trotzdem nicht nachlassen zu wollen. „Nein.“, erwiderte er. „Aber hast du mal daran gedacht, was passieren könnte, wenn Eclipse dich vielleicht eines Tages wirklich finden sollte?“ Rye durchlief umgehend ein Schock. Daran wollte er nicht denken. Er würde sich niemals von ihnen finden lassen. Unter keinen Umständen. „Wenn sie dich erschaffen haben, was sollte sie davon abhalten, weitere Vampire zu erschaffen und auf die Menschheit loszulassen? Was würdest du dann tun? Glaubst du wirklich, du könntest allein mit ihnen fertig werden? Du brauchst jemanden an deiner Seite.“ Wieder sprach Gin die Wahrheit. Doch das würde Rye weder vor ihm noch vor sich selbst zugeben. Er konnte nur hoffen, dass er stark genug wäre, um es allein mit mehreren Vampiren aufnehmen zu können. „Ich brauche dich an meiner Seite. Als Mensch.“, antwortete er. Für ihn war nichts anderes auf der Welt von Belang. Er liebte Gin vom ganzen Herzen, so, wie er jetzt war. Ihre Beziehung bestand zwar aus vielen Hindernissen und war vielleicht gegen alle bestehenden Naturgesetze, doch das war in Ordnung. Rye fühlte sich lebendig. Er war glücklich. Gin musste sich nicht ändern. Und schon gar nicht auf diese Weise. „Wie soll ich dir als Mensch helfen können?“, fragte dieser nun. Ein verzweifelter Ton mischte sich in seine Stimme. Aber Rye weigerte sich weiterhin auch nur ansatzweise darüber nachzudenken seinen Geliebten zu verwandeln. Zum einen bedeutete es ihm schon sehr viel, dass er Gin wichtig war und dieser ihm helfen wollte, doch zum anderen fühlte er sich auch gekränkt, weil dem Silberhaarigen offensichtlich nicht bewusst war, was er seinetwegen aufgeben würde und dass solche Wesen wie Vampire einfach nicht in dieser Welt existieren durften. „Du hilfst mir schon genug… indem du bei mir bist… und mich liebst…“ Da trat Gin auf einmal direkt vor ihn und entgegnete mit einem eindringlichen Blick in den Augen: „Und genau weil ich dich liebe, könnte ich nicht einfach nur zusehen, wenn dir etwas passieren sollte. Wenn man sich liebt, muss man sich gegenseitig beschützen können. Ich hasse es, dass ich immer derjenige bin, der von dir gerettet werden muss, nur weil ich dir nicht ebenbürtig bin. Und das ist auch der Grund, warum du glaubst, dass ich nicht mal mehr in der Lage bin auf mich selbst aufzupassen. Ich will dich auch beschützen können!“ Rye ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn diese Worte überraschten. Zwar war er Gins direkte Art inzwischen gewöhnt, jedoch hätte er nicht erwartet, dass dieser plötzlich so offen zu seinen Gefühlen stehen würde. Ob das Gespräch von heute Morgen dazu beigetragen hatte? „Das musst du aber nicht. Ich würde im Ernstfall schon allein zurechtkommen.“, meinte Rye in beschwichtigender Tonlage. Ebenbürtigkeit spielte hier definitiv keine Rolle. Er würde sich genauso sehr um Gin sorgen, wenn sie beide Menschen wären. Denn er tat dies lediglich aus Liebe, nicht etwa, weil er der Meinung war, dass Menschen allesamt schwach und hilflos waren im Vergleich zu ihm. „Außerdem ist er nur meinetwegen immer in Lebensgefahr geraten…“ Ein andere, unbestreitbare Tatsache, die bewies, dass der Fehler bei ihm lag und nicht bei Gin, welcher im nächsten Moment fragte: „Woher willst du das wissen?“ Rye drehte sich etwas von ihm weg und wandte den Blick ab, damit er seinen verärgerten Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Der Schwarzhaarige schwieg für eine Weile und versuchte sich gedanklich eine Antwort zurechtzulegen. Natürlich fand er keine. Denn Gin hatte recht. Er konnte es nicht wissen. Aber das wollte sich Rye keinesfalls eingestehen, weshalb er der Frage einfach auswich. „Hör jetzt auf. Selbst wenn ich wüsste, wie ich dich verwandeln könnte, würde ich es niemals tun. Es reicht, wenn eine Kreatur meiner Art existiert und ich werde mit Sicherheit nicht dafür sorgen, dass sich das ändert.“, wies er seinen Geliebten zurecht, auch mit der Hoffnung, dass das Thema danach beendet war. Gin sollte aufhören davon zu reden. In Wahrheit hatte er nicht die geringste Ahnung, wovon er gerade sprach und was er da wollte. Rye glaubte, dass er es nicht wert war, dass Gin sein menschliches Leben einfach wegwarf, nur um ihm beistehen zu können. „Er würde es ganz bestimmt bereuen…“ Rye fragte sich, ob sein Geliebter denn nicht oft genug bemerkt hatte, wie sehr er unter diesem Fluch litt und wie sehr er sich selbst für das, was Eclipse aus ihm gemacht hatte, verabscheute? Wie konnte Gin da freiwillig ein von Trieben gesteuertes, kaltblütiges Monster werden wollen, dessen einziger Existenszweck das Abschlachten von Menschen war? Der Silberhaarige interessierte sich höchstwahrscheinlich nicht für das Leben anderer Menschen, doch Rye würde das niemals verantworten können. Er hatte sich selbst schon immer abgrundtief für seine Taten verabscheut und das würde sich auch niemals ändern. „Aber du solltest-“ „Ich hab gesagt HÖR AUF!“, schrie Rye mit neu entflammter Wut, wobei er sich impulsiv wieder zu Gin drehte. Doch er hatte die Geschwindigkeit seiner Bewegung und vor allem die unkontrollierte Geste seiner Hand, deren Rücken den Silberhaarigen unmittelbar schallend ins Gesicht traf, völlig falsch berechnet…   Gin hörte die zornentbrannte, markerschütternde Stimme von Rye klar und deutlich, während dessen Arm jedoch vor seinen Augen verschwamm. Noch im selben Moment spürte er einen schlagartigen, unermesslichen Schmerz in seiner Wange. Sein Kopf wurde zur Seite geschleudert und während seine Sicht unklar wurde, spürte er einen stechenden Schmerz im Nacken. Ehe er vollständig realisieren konnte, wie ihm gerade geschah, verlor er bereits den Halt unter seinen Füßen und fiel desorientiert zu Boden. Schwarz-bunte Flecken tanzten vor seinen Augen und er musste die aufkommende Übelkeit unterdrücken. Mit zittrigen Armen stützte er sich vom Boden ab und versuchte sich blinzelnd zu orientieren. Was war gerade passiert? Wieso lag er plötzlich auf dem Boden? Vorsichtig setze er sich auf und hob eine leicht zittrige Hand in seinen schmerzenden Nacken. Er versuchte den Kopf zu drehen und ignorierte dabei das leichte Knacken seiner Halswirbel, die zurück in ihre angestammte Position sprangen. Erst jetzt bemerkte Gin seine pochende Wange. Seine Hand glitt vom Nacken vor und betastete vorsichtig die langsam entstehende Schwellung. Verwirrt hob Gin den Blick zu Rye, dessen Augen vor Schock und Entsetzen weit aufgerissen waren. Sein blasses, makelloses Gesicht wirkte wie versteinert, während sein ganzer Körper zitterte und er seine rechte Hand fest umklammert hielt, als würde er sie abreißen wollen. Als wäre sie kein Teil mehr von ihm. „Dann hat er mich gerade wirklich…“ Allmählich begann Gin zu begreifen. Rye hatte ihm ins Gesicht geschlagen. Vor Wut. Versehentlich. „Tut… mir leid… ich wollte dich nicht…“, stammelte dieser mit leiser, erstickter Stimme. Er trat vorsichtig ein paar Schritte zurück und blickte nebenher bestürzt in verschiedene Richtungen, als würde er nach jemandem suchen, den er für seine Tat verantwortlich machen könnte. Bis er letztlich zu realisieren schien, dass er niemandem außer sich selbst die Schuld dafür geben konnte. Der Anblick sorgte dafür, dass Gin seine Schmerzen kaum noch wahrnahm, da diese von der eintretenden Sorge um Rye überlagert wurden. Er fürchtete um dessen empfindliche, seelische Verfassung, welche nach und nach zu zerbrechen schien. Wie von selbst streckte Gin seine Hand nach dem Schwarzhaarigen aus. Er wollte ihn beruhigen. Ihm mitteilen, dass alles in Ordnung und er nicht sauer auf ihn war. Doch als er seinen Mund öffnete, erklang nur ein weiteres Knacken - offensichtlich war selbst sein Kiefer verrenkt. Im nächsten Moment spürte er einen Luftzug an sich vorbeiziehen und Rye war verschwunden. Das Geräusch einer unsanft aufgerissenen Balkontür verriet ihm, dass dieser an ihm vorbei gesaust war und die Wohnung auf dem schnellsten Wege verlassen hatte. Gins Blick schoss unmittelbar zum Balkon, dessen Tür nun weit offen stand. Von dem Vampir fehlte jede Spur. Gin wollte sich schnell aufrichten und zum Balkon eilen, doch sein Körper verweigerte ihm den Gehorsam. Mit dröhnendem Kopf und Übelkeit erregendem Schwindel musste er sich an der Sofalehne festhalten, um nicht erneut zu fallen. Ihm war einfach viel zu schwindelig, um sich in irgendeiner Weise zu bewegen. Aber das war ihm egal. „Rye…“ Er krallte seine Hand in den Rahmen der Balkontür und taumelte nach draußen. Nichts. Sein Geliebter war offenbar wirklich geflohen. Aber wohin? Und für wie lange? Würde er überhaupt wieder zurückkommen? „Ganz ruhig… Er wird nicht verschwinden… Er wird zurückkommen. Es gibt keinen Ort, an dem er auf längere Zeit bleiben kann… und außerdem hat er gesagt, dass er es… nicht lange ohne mich aushält…“, versuchte Gin in Gedanken seine Sorgen zu vertreiben. Doch ohne Erfolg. Warum konnte er das nicht glauben? Warum übermannte ihn plötzlich eine unbeschreibliche Angst, dass Rye nie wieder kommen würde oder in seinem jetzigen Zustand vielleicht irgendeinen Unsinn anstellen könnte, den er im Nachhinein noch mehr bereuen würde als den Schlag ins Gesicht, den er ihm gegeben hatte? Rye verspürte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gerade eine immense Wut auf sich selbst. Und wenn er auf irgendetwas wütend war, hatte er sich nicht länger unter Kontrolle und war somit eine Gefahr. Sowohl für sich selbst, als auch für die Menschen um ihn herum. Er würde unweigerlich ein Chaos anrichten und so womöglich eine große Menge an Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das durfte auf keinen Fall passieren. Zum einen wegen Eclipse und zum anderen musste Rye die Füße stillhalten, um den Boss nicht zu verärgern. Nur ein einziger Bericht in den Nachrichten könnte alle bisherige Mühe zunichte machen und Vater einen Grund liefern den Schwarzhaarigen endgültig aus der Organisation zu verbannen. „Ich muss irgendwas tun… aber was…“ Gin fiel es schwer sich eine Strategie zu überlegen, da er andauernd von den Schmerzen in seiner Wange abgelenkt wurde und die wachsende Sorge um Rye fast alle seine Gedankengänge blockierte. „Das funktioniert so nicht…“, wurde ihm schließlich klar, bevor er sich, begleitet von einem Seufzen, über das Balkongeländer lehnte und den Blick schweifen ließ. Wegen der Dunkelheit konnte er kaum etwas erkennen. Die Straße, welche von einzelnen Laternen beleuchtet wurde, war bis auf ein paar parkende Autos komplett leer. Kein Mensch war unterwegs. Und es verbarg sich auch niemand im sicheren Schatten der Bäume, um vielleicht nicht entdeckt zu werden… Plötzlich bemerkte Gin, wie ein Regentropfen auf seine Hand tropfte. Zwei. Drei. Vier. Er hob trotz schmerzendem Nacken langsam den Blick, woraufhin ihm noch mehr Tropfen ins Gesicht fielen. Bereits in wenigen Sekunden regnete es in Strömen. Das Wasser drang durch seine Kleidung und er begann zu frieren, obwohl es eigentlich gar nicht so kalt war. Doch da war eine andere Kälte, die sich nach und nach in seinem Inneren ausbreitete und ihn erschaudern ließ. Er fühlte sich als wäre sein Körper bloß noch eine leere Hülle, die zu keiner Bewegung mehr fähig war. Seine Beine wollten ihn nicht nach drinnen tragen, um sich vor den Regen zu schützen. Rye kam einfach nicht zurück. Egal, wie viele Minuten Gin noch auf dem Balkon verharrte. Irgendwann blinzelte er mehrere Male, um endlich aus seinen benebelten Zustand auszubrechen. Ihm wurde bewusst, dass es nichts bringen würde, weiterhin auf Rye zu warten. Er musste jetzt etwas tun. „Ich muss ihn suchen gehen…“, dachte Gin mit neuer Entschlossenheit, während er zurück ins Wohnzimmer ging und die Tür hinter sich schloss. „Aber wie? Er kann überall sein… und es würde ewig dauern die ganze Stadt abzusuchen…“ Dem Anschein nach schien es keine Möglichkeit zu geben. Wenn der Schwarzhaarige nicht gefunden werden wollte, war es demnach wohl auch völlig unmöglich ihn zu finden. Aber noch wusste Gin nicht, ob dem wirklich so war. Vielleicht wollte Rye doch gefunden werden. Oder sogar freiwillig wieder zurückkommen. Um das zu überprüfen holte Gin sein Smartphone und wählte die Nummer seines Partners. Zum Glück ertönte nicht sofort die Mailbox, was bedeutete, dass Ryes Handy angeschaltet sein musste. Gin ließ es eine ganze Weile klingeln, jedoch ging niemand ran und am Ende meldete sich schließlich doch die Stimme des Anrufbeantworters, die ihm mitteilte, dass er nach dem Piepton eine Nachricht hinterlassen könnte. Mit einem genervten Stöhnen legte Gin auf und versuchte es danach noch zwei Mal. Vergeblich. Also hatte Rye wirklich nicht vor so schnell wieder zurückzukommen. Falls er das überhaupt vorhatte… Gin schluckte. Die grausame Vorstellung nahm unaufhaltsam in seinem Kopf Gestalt an: Ein einsames, eintöniges Leben ohne Rye. Eine Welt, in der er nicht mehr da war. In der plötzlich alles so sinnlos war. Gin schlang die Arme um die Brust und schüttelte kurz darauf energisch den Kopf. Es war nur eine Vorstellung. Sie würde nie real werden. Rye würde nicht verschwinden. „Es muss noch eine andere Möglichkeit geben ihn schnellstmöglich zu finden.“ Gin überlegte weiter. Bevor er anfing zu suchen brauchte er zumindest einen Anhaltspunkt. Orte, an denen Rye vielleicht sein könnte. Doch selbst dafür gab es keine Garantie und der Weg könnte umsonst sein. Wahrscheinlich wusste Rye selbst, dass Gin zuerst an vertrauten Orten suchen würde, weshalb er sich bewusst woanders aufhielt. Oder er ging überhaupt nicht davon aus, dass der Silberhaarige nach ihm suchen würde. „Er will bestimmt nicht, dass ich bei dem Wetter seinetwegen durch die ganze Stadt laufe. Das widerspricht seinem überfürsorglichen Wesen.“ Aber diesen Willen würde Gin ihm nicht erfüllen. Außer er kam rechtzeitig zurück, was so gut wie ausgeschlossen war. Eigentlich mochte sich Gin gar nicht vorstellen, wo Rye im Moment sein könnte und was er gerade tat. Die Horrorszenarien, die sich dabei in seinen Kopf schlichen, waren womöglich allesamt schlimmer als die Möglichkeiten, die es in Wirklichkeit gab. Trotzdem durfte er keine Zeit mehr verlieren. Rye war in allen Dingen unberechenbar. Besonders dann, wenn er sich von seinen Emotionen kontrollieren ließ. Da fiel Gin plötzlich doch eine Option ein, während er den Blick wieder auf sein Smartphone richtete. Jedoch hielt die Hoffnung auf Erfolg nur wenige Sekunden an. „Vielleicht… aber er wird mit Sicherheit nicht…“ Es wäre theoretisch möglich Ryes Handy mit der GPS-Funktion zu orten und so seinen Standort zu ermitteln. Vorausgesetzt, Rye hatte das GPS auch eingeschaltet. Und genau das bezweifelte Gin. „Allerdings würde er nicht damit rechnen, dass ich so vorgehe…“ Er beschloss, es einfach zu probieren. Ein Versuch war es immerhin wert und falls die Methode wirklich funktionierte, würde das Unmengen an Zeit sparen. Gin öffnete eine App auf seinem Smartphone, welche von der Organisation extra für solche Zwecke entwickelt wurde. Und es dauerte nicht lange, bis ihm tatsächlich Ryes Aufenthaltsort auf der Karte angezeigt wurde. Gins Augen weiteten sich. Zugleich fiel ihm vor Erleichterung ein schwerer Stein vom Herzen. Auf diese Weise würde er Rye in null Komma nichts finden können. So hatte es auf den ersten Blick zumindest den Anschein. „Das ist ja am anderen Ende der Stadt…“, stellte Gin bei genauerem Hinsehen auf das Display fest. Rye musste wohl sehr viel Wert darauf gelegt haben sich so weit wie möglich von ihm zu entfernen. Allerdings schien der rote Punkt nicht an einer Stelle zu verharren, sondern sprang hin und wieder zu verschiedenen Orten, aus denen sich Gin keinen Reim bilden konnte. Es wirkte nicht so, als verfolgte Rye irgendein festes Ziel. Er schien lediglich durch die Straßen zu irren. Jedenfalls hoffte Gin, dass sich der Schwarzhaarige unauffällig wie ein normaler Mensch durch die Straßen bewegte und dabei nichts Dummes anstellte. Aber allein die Geschwindigkeit des roten Punkts sprach dagegen, was Gin nun auch wieder daran erinnerte, dass er sofort aufbrechen sollte. Jede Sekunde zählte. Er schnappte sich seinen Mantel, warf sich diesen im Schnellschritt über und verließ anschließend die Wohnung, um nach Rye zu suchen.   Draußen empfing ihn der strömende Regen erneut, wodurch ihm auffiel, dass er seinen Hut vergessen hatte oder zumindest eine Jacke mit Kapuze hätte anziehen sollen. Aber das ließ sich nun nicht mehr ändern. Er war ohnehin schon klatschnass. Der Regen schien inzwischen noch mehr zugenommen zu haben. Von weitem konnte Gin ein leises Donnergrollen hören, doch es interessierte ihn nicht weiter. Er schirmte mit einer Hand sein Handy-Display ab, um noch einmal Ryes Standort zu überprüfen, welcher sich schon wieder verändert hatte. Irgendwie bekam Gin das Gefühl, dass sich die Suche trotz seines Vorteils noch ewig in die Länge ziehen würde. Warum konnte der Kerl nicht einfach da bleiben, wo er gerade war? Nachdem sich Gin den Namen der Straße und den groben Weg dorthin eingeprägt hatte, rannte er zu seinem Porsche, den er glücklicherweise zuletzt vor dem Wohnblock geparkt hatte. Rye befand sich im Bezirk Edogawa und bis dahin würde es zu Fuß mehrere Stunden dauern, die er definitiv nicht durchhalten würde. Allerdings bemerkte Gin selbst im Auto, dass seine noch immer andauernden Kopfschmerzen die Fahrt womöglich erschweren würden. Auch sein Nacken und sein Kiefer taten noch höllisch weh, doch Gin versuchte sich dadurch nicht beeinträchtigen zu lassen. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und schaltete nebenbei sowohl Motor als auch Scheibenwischer an. Dann trat er auf das Gaspedal. Sein Smartphone platzierte er dort, wo er es ständig im Blick behalten konnte. Noch hatte sich Ryes Standort nur um ein paar Meter verändert. Aber das musste nicht lange so bleiben.   Trotz des schlechten Wetters waren die Straßen ungewöhnlich voll und es ging nur schleppend voran, was Gin zunehmend aufregte. Die Scheibenwischer erfüllten nur zum Teil ihren Zweck, da es draußen wie aus Eimern goss und die Frontscheibe schnell wieder mit Regentropfen übersät war, die beim Aufprall ein lautes Geräusch von sich gaben. In ihnen glitzerte die rote Farbe der Ampel, vor welcher er gerade stand. Gin tippte ungeduldig mit dem Zeigefinger auf das Lenkrad, während seine Augen immer wieder zu seinem Handy-Display wanderten. So langsam glaubte er, dass er zu Fuß doch schneller gewesen wäre. Es ging einfach nicht weiter. Die Ampel schaltete erst nach einer gefühlten Ewigkeit auf grün um. Zudem kam Gin der Lärm vom Straßenverkehr in Kombination mit dem Prasseln der Regentropfen unerträglich laut vor und seine Kopfschmerzen wurden folglich immer schlimmer. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass ihm eine Autofahrt je so schwer gefallen war. Und die allgegenwärtige Sorge um Rye trug keinesfalls zu seiner Beruhigung bei und machte ihn stattdessen nur nervöser. Wenn er gleich einen Unfall baute, würde es ihn jedenfalls nicht wundern. Aber noch war es auszuhalten und er glaubte fest daran, dass er Rye bald erreichen würde. Bis zum nächsten Moment. „Ernsthaft?!“ Er riss seine Augen vor Schreck und Unmut weit auf, als er realisierte, dass sich der Standort des Schwarzhaarigen plötzlich schon wieder geändert hatte. Genau genommen fuhr Gin inzwischen in die völlig falsche Richtung. „Der Kerl macht mich wahnsinnig…“ Er presste die Lippen zusammen und unterdrückte ein Fluchen. Zum Glück konnte er gleich auf die Tokioter Stadtautobahn fahren, deren Auffahrt sich in der Nähe befand. Von dort aus erhöhte er das Tempo und fuhr die Strecke zurück in Richtung Sumida. So war es ihm möglich wenigstens ein bisschen aufzuholen. Auch dadurch bedingt, dass sich auf diesem Abschnitt der Autobahn nur wenige Autos befanden. Allerdings änderte sich das, kurz nachdem er die nächste Ausfahrt genommen hatte und wieder die normale Hauptstraße entlang fuhr. Der Wagen vor ihm fing auf einmal an zu bremsen und blieb stehen. Als Gin den Blick hob, musste er zu seinem Pech feststellen, dass die Autos in einer nahezu endlosen Schlange still standen. Stau. Aus welchen Gründen auch immer. Gin ließ sich seufzend im Sitz zurückfallen. Er fühlte sich, als würde das Schicksal mit allen Mitteln versuchen ihn von Rye fernzuhalten. Inzwischen war schon fast eine Stunde vergangen. „Was ist passiert? Ein Unfall?“ Von hier aus konnte Gin nichts erkennen. So war es ihm auch nicht möglich einzuschätzen wie lange er hier noch stehen würde. Doch er vermutete, dass es so oder so viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde, die er möglicherweise nicht zur Verfügung hatte. Wer weiß, was Rye gerade trieb und aus welchen Gründen er so oft den Standort wechselte. Gin schaute erneut auf das Display und fixierte den roten Punkt auf der Karte für ein paar Minuten, während sich außerhalb immer noch nichts tat. Ihm fiel auf, dass sich Rye inzwischen gar nicht mehr vom Fleck bewegte, was ihn stutzig werden ließ. Doch der Silberhaarige bemerkte kurz darauf noch etwas anderes: Die Entfernung zu Rye betrug zu Fuß in diesem Moment höchstens 20 Minuten, wenn er den Weg zu ihm richtig berechnet hatte. „Sollte ich das Risiko eingehen…?“, fragte sich Gin mit einem weiteren Blick auf die lange Autoschlange vor ihm. Der Regen konnte ihm egal sein, er müsste sich nur sicher sein können, dass Rye diesmal auch wirklich dort blieb, wo er gerade war. Sonst könnte er die Suche wirklich komplett aufgeben. Gin versuchte einen Blick aus den Seitenfenstern zu werfen. Zwar entdeckte er keine Parklücke, doch der Abstand zwischen Mittellinie und Fußweg sollte breit genug sein, sodass er am Straßenrand niemanden behindern würde, wenn er seinen Porsche für eine kurze Zeit dort stehen ließ. „Na schön, es kann ohnehin nicht mehr schlimmer werden.“ Entschlossen legte er beide Hände um das Lenkrad und schaltete den Blinker an, bevor er langsam rückwärts fuhr, um genug Abstand zum Vordermann zu gewinnen. Danach konnte er aus der Schlange herausfahren und dementsprechend am Straßenrand parken. Nachdem er den Motor ausgeschaltet und die Handbremse angezogen hatte, überprüfte er vor dem Aussteigen ein letztes Mal Ryes Aufenthaltsort, welcher ihm keine Veränderung zeigte. „Dann los. Das ist vielleicht die einzige Chance, die ich habe.“ Gin verließ seinen Porsche und ging um diesen herum, bevor er auf dem Fußweg anfing durch den Regen zu rennen. Die Pfützen gaben unter seinen Füßen ein lautes Platschen von sich und spritzten das Wasser bis zu seinen Knöcheln. Es war kaum noch jemand unterwegs und die wenigen Menschen, an denen er vorbeilief, trugen entweder eine Kapuze oder hatten einen Regenschirm dabei. Doch sonst nahm Gin fast gar nichts von seiner Umgebung wahr. Das Einzige, was seine Augen fixierten, war die Richtung in die er laufen musste, um zu Rye zu gelangen. Alles andere blendete er bewusst aus. Inzwischen war er bis auf die Knochen nass geworden. Er spürte jeden einzelnen Regentropfen, der ihm ins Gesicht fiel. Jeder Schritt sandte eine Welle stechenden Schmerzes durch seinen Kopf. Aber seine Beine trugen ihn immer weiter. Selbst dann noch, als ihm nach einiger Zeit der Atem knapp wurde. Sein Herz raste beinahe schneller als die Autos, die zwischenzeitlich an ihm vorbeifuhren. Als er jedoch um die nächste Ecke bog, sorgte die Nässe in Kombination mit seinem zu hohen Schritttempo dafür, dass er ausrutschte. Reflexartig hielt er sich mit einer Hand an einer Straßenlaterne fest, welche seinen Sturz nur leicht milderte, da das Eisen genauso rutschig war wie der Boden. Diese kleine Pause genügte, um ihn deutlich spüren zu lassen, wie erschöpft sein Körper in Wirklichkeit bereits war. Alles, was er bisher versucht hatte zu ignorieren, überwältigte ihn innerhalb weniger Sekunden. Der Schwindel kehrte urplötzlich zurück und seine Sicht verschwamm für einen kurzen Moment. Gin stützte sich mit beiden Händen an der Laterne ab und senkte den Blick, wobei ihm auffiel, dass er nicht nur höllische Schmerzen hatte, sondern auch gewaltige Hitzewellen mit jedem Herzschlag durch seinen Körper rollten. Er fasste sich vorsichtig an die Stirn, welche sich dementsprechend glühend heiß anfühlte. „So ein Mist… warum jetzt…“ Gin versuchte wenigstens seinen Atem wieder zu beruhigen. Doch es gelang ihm selbst mit viel Mühe nicht. Während die Regentropfen von seinem Haaransatz über sein Gesicht rannen und anschließend von seiner Nasenspitze tropften, spürte er, wie seine Muskeln wegen der Kälte allmählich steif wurden. Sein Körper begann zu zittern. „Reiß dich zusammen. Es ist nicht mehr weit.“, ermahnte er sich gedanklich und ballte die Hand an seiner Stirn zur Faust. Jetzt aufzugeben war definitiv keine Option. Nicht, wo er doch schon fast am Ziel war. Um die Entfernung zu diesem nochmal zu überprüfen, zog Gin sein Smartphone aus der Jackentasche und schaltete das Display ein. Daraufhin blieb sein Atem komplett stehen, während sein Herz weiter raste. Rye befand sich ganz in der Nähe. Keine fünf Minuten mehr von ihm entfernt. Sofort setzten sich seine Beine wieder in Bewegung, ohne dass er den Entschluss dazu hatte fassen müssen. Er wehrte sich gegen alle Beschwerden seines Körpers und rannte über einen Fußgängerüberweg, um die Straßenseite zu wechseln. Gleich war es vorbei und er würde Rye endlich erreichen. Solange musste er diese kurze Strecke um jeden Preis noch durchhalten. Nicht über den Schmerz nachdenken. Nicht stehenbleiben. Nicht die Augen schließen. Er lief weiter geradeaus und bog anschließend in eine leere Seitengasse ein. Diese war nicht sonderlich breit, aber dafür sehr lang. Die gegenüberliegende Hauptstraße war noch weit entfernt und kam Gin in diesem Moment wie der einzige Lichtblick in einem nahezu unendlichen Tunnel vor. Laut dem GPS-Signal von Ryes Handy musste es hier sein. Doch der Silberhaarige konnte auf den ersten Blick keine Gestalt erkennen. Nur mehrere, randvolle Müllcontainer, vor denen sich bereits die ersten Säcke stapelten, die teils zerrissen waren und deren Abfälle folglich quer am Boden verstreut waren. Ansonsten gab es nur noch einen Strommast, der neben einem alten, verlassenen Imbiss-Laden in die Höhe ragte. Kein Mensch würde sich freiwillig hierher verirren. „Und genau deswegen… hat er diese Gasse als Versteck ausgewählt…“, schlussfolgerte Gin, während er langsam ein paar Schritte vorwärts ging. Er bezweifelte, dass der Regen und der Lärm vom Verkehr sein Kommen verbergen würden. Hoffentlich würde Rye nicht wie eine scheue Streunerkatze das Weite suchen, bevor er ihn erreichen konnte. Allerdings traute sich Gin auch nicht nach ihm zu rufen, da er wohl ohnehin keine Antwort erhalten würde. Als er die Gasse ungefähr zur Hälfte durchquert hatte und an den Müllcontainern angelangt war, blieb er mit geweiteten Augen stehen. Sein Herz schlug automatisch ruhiger und alles in ihm schien sich augenblicklich zu entspannen, während eine große Welle der Erleichterung seinen Körper durchströmte. Er hatte Rye gefunden. Doch dieser kauerte in zusammengekrümmter Haltung an der Wand und hatte sein Gesicht in den Armen verborgen, als hätte man ihn ausgesetzt und zurückgelassen. Gin war sprachlos. Er wollte etwas sagen. Aber es ging nicht. Niemals hätte er gedacht, dass ihn ein solch hilfloser, verzweifelter Anblick erwarten würde, der ihm unmittelbar einen Stich durchs Herz jagte. Und das alles nur wegen eines Schlags ins Gesicht… „Ich hätte dir verziehen. Du hättest nicht weglaufen müssen.“ Gin ließ die Sätze unausgesprochen und streckte vorsichtig eine Hand nach Rye aus. Als dieser kurz darauf jedoch erschrocken den Blick hob, verharrte er in der Bewegung. „Gin… wie hast du…“, begann Rye mit leiser, verwirrter Stimme, während seine Augen immer größer wurden und trotz der Dunkelheit in einem leuchtenden Grünton schimmerten. Ein paar schwarze, nasse Strähnen klebten ihm im Gesicht, doch die Regentropfen auf seiner Haut wirkten wie glänzende Perlen auf schneeweißen, glatten Rosenblättern. Gins Hand ballte sich in der Luft zur Faust, bevor er sie wieder senkte. Er ging nicht auf die unvollständige Frage ein. „Was sollte das werden? Warum bist du einfach abgehauen?“ Obwohl er sich bemühte wütend zu klingen, gelang ihm das aufgrund des Mitleids nicht, welches er längst für seinen Partner empfand. „Ich hab… dir weh getan…“, brachte dieser als Grund hervor. „Aber nicht mit Absicht.“, wandte Gin ein. Jedoch blieb Ryes Gesichtsausdruck unverändert und er erwiderte in der gleichen, verzweifelten Tonlage: „Das spielt keine Rolle…“ Gin verschränkte die Arme. „Und du denkst, wenn du davor wegläufst, macht es das wieder rückgängig?“ Rye schwieg für einen kurzen Moment, dann schüttelte er langsam den Kopf und sagte: „Wenn ich nicht in deiner Nähe bin, bist du vor mir sicher.“ „Als ob.“ Gin schnaubte spöttisch. „Ich brauch mich nicht vor dir in Sicherheit zu bringen. Du tust so, als hättest du mich fast umgebracht. Dabei war es nur-“ „Hab ich aber!“, fiel Rye ihm aufgebracht ins Wort. „Kapierst du nicht, dass ich dir hätte das Genick brechen können?! Um ein Haar hätte ich den einzigen Menschen verloren, den ich über alles liebe! Ich hätte dich verloren!“ Gin starrte eine Weile in Ryes ernsten, traurigen Gesichtsausdruck. Die Worte berührten ihn auf eine seltsame Weise. Irgendwie war es für ihn immer wieder aufs Neue sowohl schockierend als auch herzerwärmend, wie wichtig er Rye war und wie sehr dieser ihn liebte. Doch das tat dem Schwarzhaarigen ab einem gewissen Grad der Intensität einfach nicht mehr gut. Egal, wie viel es Gin in Wahrheit bedeutete, von jemandem so sehr geliebt zu werden – es war dennoch die bessere Entscheidung, Rye jetzt zur Vernunft zu bringen. Dieser musste endlich damit aufhören ständig in Sorge um ihn zu sein und bei jeder Kleinigkeit sofort an Verlust zu denken. „Hör auf!“ Gin packte Rye am Kragen und zog ihn zu sich hoch, sodass sie sich auf Augenhöhe befanden. „Du kannst mich lieben, aber hör auf alles von mir abhängig zu machen!“ Im nächsten Moment bereute er es jedoch so viel Kraft aufgewendet zu haben. Sein Kiefer schmerzte bei jedem Wort und er spürte, wie die Hitze wieder zunahm und ihm zu Kopf stieg. Zuerst schaute Rye ihn nur überrascht an. Doch als er sich seiner Lage bewusst wurde, kehrte die Verzweiflung in seiner Miene zurück und er meinte wimmernd: „Das geht nicht… Du bist alles, was ich habe…“ Er verzog sein Gesicht, als würde er anfangen zu weinen und obwohl ein Vampir das eigentlich nicht konnte, glaubte Gin dennoch, seine Tränen zu sehen, auch wenn sie nicht wirklich da waren. „Ohne dich… ist alles sinnlos…“, fügte Rye fast lautlos hinzu. Der Silberhaarige versuchte sich davon nicht beeinflussen zu lassen. Er durfte seinem Geliebten auf keinen Fall zustimmen. „Red keinen Unsinn. Ich bin doch hier.“, entgegnete er deshalb. „Er redet glatt so, als sei ich längst tot.“ Er wollte sich nicht vorstellen, was Rye tun würde, wenn das wirklich der Fall wäre. Sterben konnte er schließlich nicht und selbst wenn doch, ertrug Gin den Gedanken nicht, dass er sich seinetwegen umbringen würde. „Ich verstehe ja, wie er sich fühlt und warum er sich selbst so verabscheut… Aber er darf sich nicht nur auf mich fixieren. Sein Leben wäre auch ohne mich lebenswert. Aber das wird er wohl nie verstehen, weil er längst aufgegeben hat und glaubt, dass er an seinem Zustand nichts mehr ändern kann… Deswegen will er auch nichts über seine Vergangenheit wissen, obwohl es da draußen bestimmt noch Menschen gibt, denen er wichtig ist…“ „Ja… noch bist du hier… bis ich dich eines Tages töte…“ Ryes kalte Worte rissen Gin aus seinen Überlegungen. Er klang so, als würde er das wirklich vorhaben. „Das wirst du nicht.“, stellte Gin klar. „Doch. Weil ich nie die vollständige Kontrolle über mich haben werde. Ich werde immer alles, was ich anfasse, unweigerlich kaputt machen…“ Gins Blick verfinsterte sich. Wie konnte jemand allein nur so wenig Selbstvertrauen in sich haben? Doch allmählich erkannte er Ryes eigentliches Problem. „Ich bin nicht kaputt, nur weil du mich geschlagen hast. Ich bin höchstens sauer, aber nicht mal deswegen, sondern weil du dir ständig solch einen Schwachsinn einredest, ohne vorher darüber nachzudenken!“ Er ignorierte die stechenden Schmerzen, die seine Wange beim Sprechen durchfuhren. Stattdessen bemerkte er, wie die Kraft in seinen Händen immer weiter nachließ und er Rye kaum noch festhalten konnte. Sogar einzelne Gesichtszüge waren inzwischen zu anstrengend und verstärkten seine Kopfschmerzen. Trotzdem versuchte er durchzuhalten und atmete tief durch, bevor er im ruhigeren Ton fortfuhr: „Was ich dir damit sagen will: Die Entscheidung, ob du etwas kaputt machst, liegt ganz bei dir. Es muss nicht so weit kommen, wenn du es nicht willst.“ Stille. Von Rye erfolgte keine Reaktion. Sein Gesicht blieb vor Schock versteinert und er konnte nur schweigen, weshalb Gin beschloss weiter auf ihn einzureden, mit dem Ziel, ihm endlich die Augen zu öffnen. „Du denkst, da ist etwas in dir, was dich all diese Dinge tun lässt und dass du es nicht kontrollieren kannst. Aber das glaube ich nicht. Das redest du dir ein. In Wirklichkeit suchst du nach einer Erklärung, um dich nicht selbst verantwortlich fühlen zu müssen. Doch genau das musst du. Und erst dann wirst du anfangen, deine Handlungen und Entscheidungen genauer zu überdenken. Ich weiß, dass du eines Tages lernst dich zu kontrollieren.“ Danach musste er Rye loslassen, da ihm seine Kräfte endgültig verließen und er sich von Sekunde zu Sekunde schlechter fühlte. Ein Wunder, dass seinem Geliebten noch nichts aufgefallen war, welcher nun an der Wand wieder zu Boden rutschte. „Verstehe… vielleicht hast du recht…“, erwiderte er mit gesenktem Blick. Gin stieß ein Seufzen aus. „Schön, dass du das einsiehst. Du solltest wirklich an deiner Einstellung arbeiten.“ Er war froh, dass Rye das mit einem Nicken wortlos hinnahm und sich dabei sogar ein leichtes Lächeln auf seine Lippen bildete. Hoffentlich würde er auch wirklich anfangen an sich zu arbeiten und bald realisieren, dass es kein eigenständiges Monster gab und auch nie gegeben hatte. Den verhassten Teil seines Selbst zu personifizieren war auf Dauer keine wirksame Strategie und würde ihn irgendwann womöglich zerstören, zusammen mit allem, was ihm lieb war. Während Gin mit wachsenden Sorgen darüber nachdachte und dem Regen lauschte, wurde ihm nach und nach schwindeliger. Seine Beine konnten kaum noch stehen. Alles strengte ihn zu sehr an. Es war viel zu heiß. Er wollte einfach nur noch nach Hause. Und das mit Sicherheit nicht ohne Rye.   „Komm jetzt.“, ertönte plötzlich Gins tiefe, schöne Stimme über ihn. Rye hob überrascht den Kopf und sah, dass sein Geliebter ihm eine Hand hinstreckte. „Wir gehen nach Hause.“ Die unbeschreiblichen Gefühle, die Rye nach diesen Worten überwältigten, erfüllten ihn umgehend mit Wärme und spülten alle negativen Gedanken restlos fort. Ja, er hatte jetzt ein Zuhause. Einen Ort, an den er immer wieder zurückkehren konnte und wo er immer von jemandem geliebt werden würde. Gin war sein Zuhause. Und er würde ihn niemals wieder verlassen. Überglücklich und mit einem Lächeln auf den Lippen, griff Rye nach Gins Hand und erschrak, als der Silberhaarige ihn ruckartig zu sich in die Arme zog. „Gin…“, entwich es Rye atemlos, bevor er die Umarmung zögerlich erwiderte. Hatte er seinem Geliebten etwa so viele Sorgen bereitet? Er wollte sich bei ihm entschuldigen, doch Gin kam ihm zuvor. „Idiot.“, sprach er an seinem Ohr, während er ihn fester an sich drückte. „Wenn du nochmal abhaust, verzeih ich dir das nicht.“ Rye konnte nicht anders als leise zu lachen. „Keine Sorge, ich werde-…“ Plötzlich spürte er, wie der Halt in Gins Beinen nachließ und dessen Arme sich kraftlos von ihm lösten. „Gin?!“ Geschockt hielt Rye ihn fest und ließ ihn vorsichtig in seinen Armen zu Boden sinken. Gin reagierte nicht mehr. Seine Augen waren geschlossen. „Was ist los…?“, fragte sich Rye aufgewühlt, während er das bewusstlose, blasse Gesicht seines Gegenübers betrachtete. Als er vorsichtig mit einer Hand dessen Stirn berührte, erkannte er das Problem sofort. Gins Körpertemperatur war viel heißer als sonst. „Er hat Fieber…“ Rye tastete weitere Stellen in Gins Gesicht ab, bevor er ihm ein paar nasse Strähnen hinters Ohr strich. „Er ist klatschnass… und das ist nur meine Schuld… weil er nach mir gesucht hat…“, stellte der Schwarzhaarige voller Reue fest. Der heftige Schlag ins Gesicht, der Regen, der Stress und die Sorgen… das alles war seinem Geliebten wahrscheinlich zu viel geworden. Rye biss die Zähne zusammen und zog ihn fester an sich. Er konnte ihn nicht einmal wärmen, weil er selbst kalt und vollkommen durchnässt war. Der Regen wollte einfach nicht nachlassen. „Ich bereite ihm nur Probleme… selbst wenn ich nicht da bin. Und dabei wollte ich vorhin noch unbedingt vermeiden, dass er durch den Regen zur Bibliothek geht.“, dachte Rye, doch es nützte nichts mehr sich innerlich dafür zu verfluchen. Es hatte jetzt erst mal oberste Priorität Gin so schnell wie möglich nach Hause ins Warme zu bringen. „Von hier aus liegt meine Wohnung näher ran…“, überlegte Rye. „Ich kann ihm ja Klamotten von mir leihen…“ Der Gedanke, dass er Gin die Klamotten dann auch selbst wechseln müsste, wenn dieser bis dahin nicht erwacht war, schlich sich mit aufkeimender Beschämung ebenso in seinen Kopf. Schnell scheuchte er ihn wieder fort. „Das ist jetzt wirklich unangebracht.“, ermahnte er sich und ließ nebenher seine Arme unter Gins Körper gleiten, um ihn hochheben zu können. Da fiel ihm auch wieder ein, dass er sich vor dem ganzen Chaos noch gewünscht hatte seinen Geliebten für immer tragen zu können. Doch die Erfüllung dieses Wunsches hatte er nun eindeutig nicht mehr verdient, nach allem, was er Gin heute angetan hatte. „Und trotzdem… liebt er mich immer noch…“ Rye wusste nicht, womit er solch ein Glück verdient hatte. Aber darüber konnte er sich später noch genug Gedanken machen, wenn sie Zuhause angekommen waren und es Gin wieder besser ging. Kapitel 34: Angst ----------------- Wie gebannt ließ Rye den Blick auf seinem Geliebten ruhen, welcher schon seit Stunden im Bett schlief und sich kaum regte. Zwar schienen ihn keine Alpträume zu quälen, jedoch war das Fieber bisher noch nicht gesunken. Hin und wieder bildeten sich ein paar Schweißtropfen auf seiner Stirn, welche Rye mit einem nass-kalten Tuch wegwischte. Er fühlte sich ein wenig unbeholfen, da er nicht wusste, wie genau man sich richtig um kranke Menschen kümmerte. „Hätte ich ihn lieber ins Krankenhaus bringen sollen?“ Dieser Gedanke schwirrte ihm schon die ganze Zeit im Kopf herum und bis jetzt hatte er noch keine Antwort darauf gefunden. Er konnte unmöglich ein Krankenhaus betreten, geschweige denn Gin dort besuchen. Und er wollte nicht von ihm getrennt sein, wenn es ihm so schlecht ging. „Bestimmt will er das gerade genauso wenig…“ Rye glaubte, dass er Gin mit seinem Verschwinden einen tiefen Schock eingejagt haben musste, so fest, wie dieser ihn zuvor in die Arme genommen hatte. Als hätte er ihn nie wieder loslassen wollen. Rye dachte an die Worte, die Gin zuletzt zu ihm gesagt hatte. Dass er es ihm nicht verzeihen würde, wenn er nochmal verschwand. Der Schwarzhaarige vermutete, dass dies Gins Art war ihm zu sagen, dass er ihn niemals wieder allein lassen sollte. „Keine Angst… ich bleibe bei dir… versprochen…“, flüsterte Rye ihm leise zu, während er sanft über Gins Stirn strich, welche immer noch glühte. Voller Sorge überlegte er noch einmal gründlich, ob es noch irgendwas gab, was er für den Silberhaarigen tun könnte. „Die Klamotten habe ich ihm sofort gewechselt, seine Haare sind inzwischen trocken, das Bett sollte angenehm warm sein und was zum Kühlen habe ich ihm auch gegeben…“ Eigentlich konnte er nur abwarten, bis Gin aufwachen und ihm mitteilen würde, ob er noch etwas benötigte. Das Dringendste war womöglich viel Schlaf und Ruhe, weshalb Rye auch davon absah, ihn aufzuwecken. Doch wenn Gin von allein erwachte, würde er da sein. Er würde keine Sekunde von seiner Seite weichen und noch immer auf der Bettkante sitzen. „Aber was ist, wenn er vielleicht einen heißen Tee trinken will oder Tabletten braucht? So etwas habe ich nicht… ich hab ja nicht mal was Vernünftiges zu essen da!“ Gedanklich schlug er sich die Hand vor die Stirn. Er hatte sich so sehr um Gins Zustand gesorgt, dass er solche einfachen Dinge mal wieder völlig vergessen hatte. Und mittlerweile war es mitten in der Nacht, sodass zumindest die Apotheken nicht mehr geöffnet hatten. „Ganz ruhig… Ich sollte warten, bis er aufwacht. Am Ende kaufe ich noch irgendwas Falsches ein.“, überlegte Rye. Zwanghaft versuchte er seine Unruhe zu unterdrücken, als sich sein Geliebter anfing hin und her zu wälzen. „Rye…“, murmelte Gin verzweifelt. Obwohl das Wort nur undeutlich und im Halbschlaf ausgesprochen wurde, konnte der Schwarzhaarige seinen Namen dennoch klar verstehen. Es jagte ihm einen unwohlen Schauer über den Rücken, da er sofort befürchtete, dass Gin vielleicht schlecht von ihm träumte. Dieser drehte sich nun zur anderen Seite und vergrub seinen Kopf im Kissen, während er eine Hand in das Bettlaken krallte. „Ich bin hier.“, antwortete Rye leise, in der Hoffnung, Gin beruhigen zu können. Es schien tatsächlich zu helfen. Ein Lächeln erschien auf Ryes Lippen und er beugte sich vorsichtig über seinen Geliebten. Er schob ihm ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, erstarrte jedoch vor Schock, als er Gins knallrote Wange erblickte. Die Rötung war ihm schon vorher aufgefallen, zu dem Zeitpunkt war sie aber noch nicht ganz so intensiv gewesen. Er hatte gehofft keinen größeren Schaden angerichtet zu haben. Doch da war er offensichtlich im Irrtum gewesen. Durch den Schlag waren mehrere Blutgefäße geplatzt und das Blut hatte sich unter der Haut im Gewebe verteilt. Schon bald würde ein riesiger, blauer Fleck zu sehen sein. Und diesen Anblick musste Rye nun unweigerlich ertragen, wobei ihm dann jedes Mal erneut gewaltige Schuldgefühle übermannen würden. Doch das war womöglich das geringste Problem. „Er muss furchtbare Schmerzen haben…“, vermutete Rye. Der unermessliche Hass auf sich selbst, welchen er versucht hatte wenigstens ein bisschen auszublenden, kehrte unmittelbar zurück. Seine Hand, mit welcher er Gin geschlagen hatte, begann zu zittern und ballte sich zur Faust. Am liebsten würde er sich selbst in Stücke reißen. Seine Existenz restlos auslöschen. Wenn er das könnte. „Nein, das würde er nicht wollen… er liebt mich… und verzeiht mir…“, redete sich Rye ein, um seine grausamen Gedanken zu vertreiben. Doch es war nicht überzeugend genug und ihn plagte zunehmend das Gefühl, als würde er in seinem eigenen Selbsthass ertrinken. Wie ferngesteuert wanderte seine Hand zu seinem Hals und drückte diesen so fest zusammen, dass ein normaler Mensch womöglich in wenigen Sekunden erstickt wäre. „Nicht…“ Rye erstarrte, als er plötzlich Gins schwache Stimme hörte. Er wollte etwas erwidern, doch stellte fest, dass dies so nicht ging. Erst nachdem er seine Hand gesenkt hatte, bemerkte er, dass sein Geliebter immer noch schlief. „Er scheint sogar im Schlaf auf mich aufzupassen…“ Ein leichtes Lächeln zierte seine Lippen. Gerade wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass Gin endlich aufwachen würde. Er wollte mit ihm reden. Ihn in die Arme nehmen. Ihm einen Kuss geben. Und dafür sorgen, dass er so schnell wie möglich wieder gesund werden würde. Theoretisch könnte sich Rye seinen Wunsch jetzt schon erfüllen, doch er beschloss, noch ein paar Stunden zu warten. Für gewöhnlich wachten Menschen ganz von selbst wieder auf, sobald die ersten Sonnenstrahlen in das Zimmer schienen. Solange musste er sich zumindest noch gedulden.   Am frühen Morgen wurde sein langes Warten dann von einem glücklichen Lächeln auf Gins Lippen belohnt. „Du bist hier…“, sagte er zufrieden mit sanfter Stimme, die Ryes erkaltetes Herz sofort erwärmte. Die unendlich langen Stunden der Einsamkeit, in denen Gin geschlafen hatte, waren umgehend in Vergessenheit geraten. „Natürlich. Das war ich die ganze Zeit.“, erwiderte Rye, während er Gins Hand in seine eigenen nahm und sie fest umschloss. „Du kannst mir doch nicht solche Sorgen bereiten und einfach ohnmächtig werden…“ „Du hast mir weitaus schlimmere Sorgen bereitet.“, schoss Gin kalt zurück. Seine Stimme klang immer noch schwach und trotz der vielen Stunden Schlaf machte er generell einen sehr erschöpften Eindruck, als würde er bereits wieder müde sein. „Entschuldige bitte…“ Damit bezog sich Rye nicht nur auf Gins vorherige Aussage, sondern auf alles, was dieser gestern seinetwegen durchmachen musste. Er konnte sich nicht oft genug für sein Verhalten entschuldigen. Und egal, wie oft Gin ihm verzieh, er würde sich dadurch nie besser fühlen. „Das will ich nicht mehr hören, verstanden?“ Obwohl der Silberhaarige sehr leise sprach, erkannte Rye, wie ernst er das meinte. Gins Augenbrauen zogen sich leicht zusammen, doch durch die Blässe in seinem Gesicht und den erschöpften Ausdruck darin, wirkte es eher bekümmert als verbittert. „Aber ich-“ „Nein.“ Gin musterte Rye weiterhin mit Verbitterung in den Augen, welcher ihn für eine Weile schweigend anstarrte, bis er sich schließlich geschlagen gab und ein Seufzen ausstieß. „Ich werde es dich nicht mehr hören lassen.“ Gins Miene wurde daraufhin wieder weicher, wovon sich Rye sofort verzaubert fühlte. Er fuhr seinem Geliebten sanft über die Stirn und fragte: „Wie geht es dir?“ Ein schwaches Schmunzeln stahl sich auf Gins Lippen. „Beschissen.“, entgegnete er dann, was Rye ebenso ein kleines Lachen entlockte. „Brauchst du etwas? Tee? Tabletten?“, hakte er nach. „Klingt beides gut. Glaube in der Küche sollte noch Tee sein… und im Bad, über dem Waschbecken im Spiegelschrank müssten Tabletten sein.“ Nach dieser Antwort schaute Rye den Silberhaarigen verwirrt an. „Ähm… wir sind nicht bei dir Zuhause.“, merkte er vorsichtig an, bevor sich Gins Augen weiteten und er den Kopf langsam drehte, um sich im Zimmer umzusehen. „Oh… Ach so.“ Jetzt schien er es zu bemerken. Rye warf ihm einen kurzen, entschuldigenden Blick zu und erklärte dann: „Meine Wohnung war näher. Ich hätte dich nicht so weit durch den Regen tragen können, sonst hätte sich dein Zustand vielleicht noch mehr verschlechtert.“ Für einen Moment kam wieder etwas Farbe in Gins Gesicht, die seinen Wangen ein wenig Röte verlieh. Doch er antwortete nichts und nickte nur schwach. „Am besten ich gehe kurz zu dir und hole Tee und Tabletten für dich. Das Buch kann ich bei der Gelegenheit auch schnell zurück zur Bibliothek bringen. In Ordnung?“, schlug Rye vor, woraufhin er von Gin jedoch entgeistert angesehen wurde, als hätte er etwas dagegen. „Ich brauch nicht lange. Versprochen.“, fügte Rye deshalb hinzu. Selbstverständlich würde er versuchen, so schnell wie möglich wieder zurück zu sein. Ihm selbst gefiel es auch nicht, Gin kurz alleine zu lassen, doch es ging nun mal nicht anders. „Na gut…“, erwiderte dieser schließlich, noch immer nicht wirklich begeistert. Rye beugte sich über seinen Geliebten, strich ihm liebevoll über den Haaransatz und fragte mit weicher Stimme: „Brauchst du sonst noch irgendwas?“ Gin nickte langsam. Als Rye weiter nachhaken wollte, hob der Silberhaarige jedoch zitternd die Hände, legte sie um Ryes Kopf und zog ihn zu sich herunter, sodass ihre Lippen aufeinander trafen. Der Schwarzhaarige spürte sofort, wie sehr er das in Wirklichkeit ebenso gebraucht hatte. Er war unendlich froh, dass Gin ihn trotz allem, was er getan hatte, noch immer bedingungslos zu lieben schien und offensichtlich nicht wollte, dass er ihn allein ließ. Gins Kraft war schon nach kurzer Zeit fast vollständig aufgebraucht und so war es Rye, welcher den Kuss zum Schluss dominierte und seine Lippen stärker gegen Gins presste, während dessen heißer Atem in seine Mundhöhle drang. Als sich Rye von ihm löste und sich zurückziehen wollte, verharrte er jedoch, da Gins verklärter Blick ihn gefangen hielt und lähmte. Nur am Rande nahm er wahr, wie die Hände des Silberhaarigen langsam von seinem Hinterkopf rutschten und seine Wangen entlang glitten. Völlig sprachlos beobachtete Rye, wie Gin ihn anlächelte und verträumt mit den Fingern über seine glatte, kalte Haut fuhr und dort brennende Spuren zurückließ. „Du bist so schön…“, begann Gin plötzlich. „…wie ein Engel…“ Seine Stimme klang ganz heiser. Ryes Augen weiteten sich. Beinahe wäre ihm „Was ist los mit dir?“ über die Lippen gerutscht, doch da ihn die Worte schockierten, konnte er nur schweigen. Er fühlte sich zwar durch sie geschmeichelt, allerdings hätte er das niemals von Gin erwartet. In letzter Zeit überraschte ihn sein Geliebter immer wieder aufs Neue. „Ich bin höchstens ein Dämon, aber gewiss kein Engel, Liebster.“, korrigierte Rye ihn neckend, weil er der Meinung war, dass die Bezeichnung Engel keinesfalls zu ihm passte. Auch wenn es für ihn schon interessant zu wissen war, dass er für Gin offenbar einer zu sein schien. Rye versiegelte ihre Lippen ein zweites Mal miteinander. Er versank unmittelbar in seiner Liebe zu Gin und seinem Verlangen, welches allmählich in ihm erwachte, sodass der Kuss diesmal viel länger andauerte. Mittlerweile wollte er gar nicht mehr weg und vergaß fast, dass er das bis eben überhaupt noch vorgehabt hatte. Nur Gins auf den Kuss folgende Worte erinnerten ihn wieder daran: „Bitte beeil dich…“ Rye sah ihm fest in die Augen. „Werde ich.“, versprach er und stand anschließend vom Bett auf, um die Wohnung zu verlassen und seine Wege zu erledigen.   In Gins Wohnung schnappte er sich schnell die nötigen Dinge, wobei er vermutlich mehr Tablettenschachteln mitnahm als notwendig, da er sich nicht sicher war, welche genau sein Geliebter brauchen würde. Im Wohnzimmer warf er dem Buch, das eigentlich schon längst wieder in der Bibliothek sein sollte, einen vorwurfsvollen Blick zu. Es war der Ursprung des ganzen Übels. Das gestrige Gespräch und somit der Streit am Ende hätten nie stattgefunden, wenn das Buch bereits nicht mehr da gewesen wäre. Rye würde es am liebsten in seinen Händen zerreißen und die Fetzen verbrennen, doch er dachte daran, dass Gin dann wahrscheinlich die Kosten dafür tragen müsste. „Aber irgendwie… hat er sich vorhin wirklich seltsam verhalten. Ob das an dem Fieber liegt? Eigentlich bin ich doch eher derjenige, der nie von seiner Seite weichen will. Er würde das nie so einfach zugeben… und mir nie so ein Kompliment machen, geschweige denn mich darum bitten, so schnell wie möglich wiederzukommen…“, überlegte Rye zwischenzeitlich. Zugegebenermaßen mochte er diese Seite an Gin schon ein wenig und er könnte sich durchaus daran gewöhnen, wenn da nicht die vielen Sorgen wären, die ihn stattdessen plagten. In der Bibliothek entschuldigte sich Rye aufrichtig in Gins Namen für die verspätete Abgabe und schilderte kurz die Lage, wofür das Personal glücklicherweise Verständnis hatte und ein Auge zudrückte. Er gab das Buch dementsprechend zurück und verließ die Bibliothek wieder. Anschließend kaufte er noch ein paar Lebensmittel ein, was so ziemlich die meiste Zeit beanspruchte, da er sich im Laden dem menschlichen Tempo anpassen musste und die Kasse recht voll war. Insgesamt benötigte er ungefähr eine halbe Stunde, bevor er zurück in seine Wohnung kehren konnte.   Dort ging er zuerst in die Küche und bereitete einen Tee und eine Kleinigkeit zu essen zu. Er vermied es jedoch, den Herd dabei zu verwenden, da er sich sicher war, dass dies in einem Desaster enden würde, da er nach wie vor nicht kochen konnte. Zumindest schien der Tee ihm einigermaßen gelungen zu sein. Rye platzierte Beides anschließend auf einem Servierbrett und legte die Schachteln mit den Tabletten dazu, sodass sich Gin selbst aussuchen konnte, welche er davon nehmen würde. Er balancierte das Brett langsam bis zum Schlafzimmer und achtete besonders darauf, nichts von dem Tee zu verschütten, bevor er vorsichtig mit dem Ellbogen die Tür öffnete und in den Raum trat. Zuerst ging Rye davon aus, dass Gin wieder eingeschlafen war, doch dessen Blick schoss unmittelbar zu ihm und er versuchte sich mit Mühe im Bett aufzusetzen. „Wow, das ist ja Service wie im Krankenhaus.“, meinte der Silberhaarige scherzhaft und setzte ein amüsiertes Lächeln auf. Rye war froh, dass sich sein Zustand offensichtlich in der letzten halben Stunde nicht verschlechtert hatte. Aber das Sprechen schien ihn dennoch weiterhin anzustrengen. „Ich will ja schließlich auch, dass du schnell wieder gesund wirst.“, antwortete Rye, während er zum Bett ging. „Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Morgen bin ich wieder fit.“ „Das wäre zwar schön, aber ich bezweifle es.“ Da wäre viel Glück vonnöten, welches sich in letzter Zeit ohnehin nicht oft zeigte, und eine außerordentlich gute Krankenpflege, worin Rye nicht sonderlich geübt war. Er gab Gin vorsichtig das Tablett und ließ dieses erst dann los, als er sich sicher war, dass der Silberhaarige es nicht fallen lassen würde. Dessen Hände zitterten ein wenig, sodass ein kleiner Schluck des Tees über den Tassenrand schwappte. Doch er beachtete es nicht weiter und trank stattdessen einen Schluck. „Du vergisst, dass morgen diese Veranstaltung ist.“, erinnerte er Rye danach, welcher skeptisch die Stirn runzelte. Er hatte eher gehofft, dass Gin es vergessen würde. „Dort wirst du ganz bestimmt nicht hingehen, wenn es dir nicht besser geht. Du musst dich ein paar Tage ausruhen, sonst wird es nur schlimmer.“, ermahnte er ihn, wofür er jedoch aus dem Augenwinkel heraus böse angefunkelt wurde. Rye senkte peinlich berührt den Blick. „Ich klinge langsam echt wie ein überfürsorglicher, strenger Vater.“, stellte er fest und vermutete, dass Gin gerade fast das Gleiche dachte. „Mir wird es besser gehen.“ Dieser nahm beleidigt noch einen Schluck von seinem Tee, bevor er nach einer Schachtel Tabletten griff und sie öffnete. „Das werden wir dann sehen.“, antwortete Rye und wartete einen Moment, bis Gin das Medikament eingenommen hatte und die Tasse wieder abstellte. Dann legte er eine Hand über Gins schweißnasse Stirn, um die Körpertemperatur zu fühlen. „Noch immer viel zu heiß…“, dachte er, während der müde Blick seines Geliebten auf ihm ruhte. Er fuhr ihm langsam durch die Haare, wobei ihm plötzlich etwas einfiel, was er sich bisher nicht hatte erklären können und unbedingt noch von Gin erfahren wollte. „Kann ich dich mal was fragen?“ Nachdem seine Frage mit einem Nicken erwidert wurde, fuhr er fort: „Wie hast du mich eigentlich gefunden?“ Gins Augen wurden ein wenig größer, bevor ein vielsagendes Lächeln seine Lippen umspielte. Die Lösung war womöglich ganz einfach, und dennoch hatte Rye keinerlei Vorstellungen. Was auch immer Gin geholfen hatte: der Schwarzhaarige war froh, dass er dadurch nicht noch länger im Regen durch die Stadt hatte irren müssen. „Mithilfe des GPS-Signals von deinem Handy… aber du hast es mir trotzdem nicht wirklich leichter gemacht.“, verriet Gin mit leiser Stimme. „Das ist echt ein mieser Trick.“ Ryes Blick verfinsterte sich und er musste sich daran erinnern, dass er dieses eine Mal lieber dankbar sein sollte, obwohl ihm ein solcher Eingriff in seine Privatsphäre schon etwas entsetzte. Ab heute würde er das GPS immer ausgeschaltet lassen. Er versuchte seinen Ärger mit einem Seufzen wieder herauszulassen und entgegnete anschließend: „Nagut, einmal lasse ich dir das durchgehen. Aber ich möchte, dass du das in Zukunft nicht nochmal tust, okay?“ Gin zog leicht eine Augenbraue nach oben. „Wieso nicht?“ „Wenn ich… nicht in deiner Nähe sein kann, hat das einen guten Grund. Dann solltest du auf keinen Fall nach mir suchen. Du siehst ja, was bei rauskommt…“, erklärte Rye in der Hoffnung, dass Gin es verstehen und sich dran halten würde. Das wäre das Beste für ihn. Aber natürlich wollte er nicht das Beste für sich, sondern stürzte sich lieber weiterhin in irgendwelche Gefahren. „Das war kein guter Grund. Und was hätte ich anderes tun sollen?“, wollte er wissen, was Rye nicht nachvollziehen konnte und daher erwiderte: „Warten, bis ich zurückkomme?“ Gin schnaubte spöttisch. Doch dann trat ein melancholischer Schatten in seine Miene. „Das konnte ich nicht.“, meinte er, während er das Tablett auf dem Nachtschrank abstellte und sich wieder hinlegte. Rye beobachtete dies mit stillen Sorgen, da er eigentlich gewollt hatte, dass Gin etwas aß. Dessen letzte Mahlzeit musste schon sehr lange her sein und gerade wenn man krank war, sollte man vernünftig essen. „Warum?“, hakte Rye nach und setzte sich auf die Bettkante. Der Grund interessierte ihn brennend, doch es schien nicht so, als würde sein Geliebter ihm eine Antwort geben wollen. Er drehte den Kopf weg und schwieg. Trotzdem starrte Rye ihn eine Weile erwartungsvoll an, was Gin nach kurzer Zeit bemerkte. Dennoch schüttelte er nur mit dem Kopf. „Bitte sag es mir.“, drängte Rye ihn im sanften Tonfall. Aber er erhielt noch immer keine Antwort. Erst nach weiteren von Schweigen erfüllten Sekunden, schien sich der Silberhaarige endlich zu überwinden. „Ich hatte Angst…“, gestand er leise, „dass du nicht mehr zurückkommst.“ Rye schluckte. Er merkte Gin an seiner Tonlage an, dass diese Angst immer noch nicht verschwunden war. Eine Angst, die er ihm endgültig austreiben wollte. „Ich könnte dich niemals verlassen.“, versicherte er Gin. Doch dieser schien der Aussage keinen Glauben zu schenken. „Doch. Du denkst, du bist nicht gut für mich, weil du dich selbst so sehr hasst. In manchen Momenten bekomme ich das Gefühl, du wärst lieber tot als bei mir.“ Nach diesen erschütternden Worten durchfuhr Rye ein Stich. „Nein! Das stimmt nicht!“, schrie er. „Dein Verhalten sagt was anderes.“ Mittlerweile klang Gins Stimme emotionslos. Sein Blick war vollkommen leer. Ein wenig musste sich Rye eingestehen, dass sein Geliebter recht hatte. Ohne ihn an seiner Seite würde er seiner Existenz am liebsten ein Ende bereiten. Ein richtiges Leben besaß er sowieso nicht mehr. Nichts wies darauf hin, dass er überhaupt am Leben war. Kein Fleisch. Kein Blut. Kein schlagendes Herz. Gar nichts. Da waren nur seine Gefühle für Gin, durch die er sich lebendig fühlte. Rye beugte sich über den Silberhaarigen und legte seine Hand auf dessen gesunde Wange, dann sprach er: „Ich gebe zu, dass ich früher so gedacht habe. Doch jetzt nicht mehr. Ich liebe dich. Ich will bei dir sein… aber ich will dich auch nicht verletzen…“ Sein Blick wanderte zu Gins geschwollener Wange. Er empfand es als eine Art traurige Ironie, da er sich letztens noch darüber gesorgt hatte, dass Gin ihn eines Tages verlassen könnte. Dabei schien diese Sorge bei ihm noch viel größer zu sein. „Das hast du aber, indem du abgehauen bist.“, flüsterte er. Beinahe wäre Rye eine weitere Entschuldigung über die Lippen gekommen, wenn er sich nicht noch rechtzeitig daran erinnert hätte, dass Gin es ihm verboten hatte. Wenigstens das wollte er einhalten, obwohl die Reue in seinem Inneren so schmerzhaft war, dass er es kaum ertragen konnte. Um sich schnell davon abzulenken, streichelte er Gins Wange und beugte sich tiefer zu ihm herunter. „Ich verspreche, dass ich das nie wieder tun werde. Ich bleibe bei dir. Du musst keine Angst mehr haben.“, beruhigte er seinen Geliebten und hauchte ihm anschließend einen Kuss auf die Lippen. „Bitte glaub mir.“ Rye würde alles dafür tun. Auch wenn er längst kein Bisschen mehr von Gins Vertrauen verdient hatte. Er wollte seinen Fehler wieder gut machen, und das konnte er nur, wenn er nie wieder ein Versprechen brechen und für immer bei Gin bleiben würde. Solange dieser es ihm gestattete. Der Silberhaarige überlegte einen Moment. Zweifel sowie Wehmut zeichneten sich in seinem Gesicht ab, als würde er den Worten gern glauben wollen, weil ihm die Wahrheit dahinter viel bedeutete. Aber er war sich scheinbar unsicher, ob er ihnen überhaupt trauen konnte. Rye fuhr währenddessen immerzu mit den Fingern über Gins Wange und warf ihm einen flehenden Blick zu, von welchem sich sein Geliebter irgendwann glücklicherweise erweichen ließ. „In Ordnung…“, entgegnete er schließlich leise. Rye lächelte ihn erleichtert an, bevor er sich wieder normal hinsetzte. Eine Weile kehrte Stille ein. Gin schloss die Augen und schon nach wenigen Sekunden wusste Rye nicht mehr, ob er ihn nochmal ansprechen oder lieber schlafen lassen sollte. Da er jedoch nicht einschätzen konnte, wann Gin wieder aufwachen würde, wollte er sichergehen, dass dieser vorher noch etwas aß. „Willst du nicht noch etwas essen?“, fragte er vorsichtig. Gin antwortete nur mit einem müden „Später“, woraufhin sich erneut Stille ausbreitete. Allmählich begann sich Rye unbehaglich zu fühlen. Er beobachtete Gin gern beim Schlafen, aber eigentlich durfte er das nicht. Deshalb überlegte er, ob er besser das Zimmer verlassen und nur ab und zu nach dem Silberhaarigen sehen sollte. Doch kurz bevor er eine Entscheidung treffen konnte, fragte dieser plötzlich mit geschlossenen Augen: „Hast du jetzt vor die ganze Zeit da sitzen zu bleiben und mich zu beobachten?“ Rye schaute beschämt zur Seite. Langsam glaubte er, dass Gin wirklich seine Gedanken lesen konnte. „Ich kann auch ins Wohnzimmer gehen…“, bot er an. Da riss Gin die Augen auf, drehte sich zu Rye und umfasste dessen Handgelenk. „So meinte ich das nicht.“ Der Schwarzhaarige merkte sofort, worauf Gin stattdessen hinauswollte. Er versuchte seine Hand wieder wegzuziehen und entgegnete: „Das ist keine gute Idee.“ Als er daraufhin nur fragend angesehen wurde, fügte er hinzu: „Du wirst nur frieren. Ich kann dich nicht wärmen.“ Nicht einmal Wärme konnte er Gin geben. Dieser unerfüllbare Wunsch löste eine neue Menge an Trauer in ihm aus. Warum konnte er nicht einfach ein Mensch sein? „Das ist mir egal.“ Gin schien nicht nachgeben zu wollen. Sein Griff wurde fester. „Mir aber nicht.“ Rye wusste bereits, dass er diese kleine Diskussion verlieren würde. Wenn er es wirklich nicht wollen würde, könnte er jederzeit das Zimmer verlassen, ohne dass Gin in der Lage wäre ihn daran zu hindern. Aber er tat es nicht, weil sein innerstes Bedürfnis, bei seinem Geliebten zu bleiben, viel zu groß war. „Bitte.“, sprach dieser nun mit fester Stimme. Rye sah ihn überrascht an. „Er bittet mich schon wieder…“ Obwohl er dies einerseits immer noch als seltsam empfand und es auf das Fieber schob, konnte er andererseits kaum widerstehen, die Bitte nicht zu erfüllen. Zumal Gins sehnsüchtiger Blick ihn von Sekunde zu Sekunde schwächer werden ließ. Ohne weiter darüber nachzudenken, streifte er sich die Schuhe von den Füßen und stieg letztlich zu Gin ins Bett, welcher ihn umgehend fest an sich zog. Sobald die Hitze von Gins Körper Rye überwältigte, erstarrte er vor Schreck und hielt den Atem an. Der Silberhaarige schien sich dessen nicht bewusst zu sein, da er sich noch stärker an ihn schmiegte und den Kopf in seiner Brust vergrub. Rye benötigte einen Moment, um zu realisieren, wie ihm gerade geschah und was für eine Art Liebe Gin ihm gerade zu schenken schien. Es war fast wie ein unbeschreiblich schöner Traum, in welchem sich der Vampir viel zu schnell verlor. Aber er zwang sich einen klaren Kopf zu bewahren. Gins Gesundheit hatte schließlich Vorrang. „Sobald ich merke, dass du frierst, gehe ich wieder auf Abstand.“, merkte er an, bevor er die Arme um Gin legte und sich von der Hitze vollständig einhüllen ließ, auch wenn diese in Kombination mit Gins süßem Duft ein Brennen in seiner Kehle entflammte. Er versuchte es bestmöglich zu ignorieren und konzentrierte sich stattdessen auf Gins ruhige, gleichmäßige Atemzüge. Anscheinend war er längst eingeschlafen, weshalb auch keine Antwort mehr von ihm kam. Nach kurzer Zeit beschloss Rye ebenso die Augen zu schließen. Er genoss die dichte Nähe zu seinem Geliebten und erlaubte es sich in einen tiefen Schlaf zu versinken, der diesmal zum Glück keine Alpträume mit sich brachte. Kapitel 35: Sinneswandel ------------------------ Unsicher beugte sich Gin leicht über das Waschbecken und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Er drehte den Kopf zur Seite und verharrte einen Moment. Obwohl er nichts mehr von der Verletzung an seiner Wange sehen konnte, wurde er das unwohle Gefühl nicht los, dass andere es vielleicht doch bemerken würden. Dabei hatte er sich heute Morgen so viel Mühe gegeben, die rot-bläuliche Prellung zu überschminken. Ein praktischer, wenn auch sonst unbedeutender Trick, den er sich mal von Vermouth abgeguckt hatte, welche früher eine begabte Verkleidungskünstlerin gewesen war. Da konnte er natürlich bei Weitem nicht mithalten. Aber für solch ein kleines Malheur reichten seine Make-up-Kenntnisse glücklicherweise aus, womit er Rye vorhin sehr überrascht hatte. Gin ließ seinen Blick im Spiegel zum Antlitz des Schwarzhaarigen wandern, welcher ihn mit sorgenvollen Augen musterte und so still stand wie eine Eisskulptur. Schon seit ihrer Ankunft schien er deutlich unzufrieden zu sein, oder schon viel mehr seit heute Morgen. Zwar hatte es ihn offenbar gefreut, dass Gins Fieber so schnell zurückgegangen war, doch von dessen Entscheidung, auf die Veranstaltung zu gehen, war er überhaupt nicht begeistert gewesen. Und da sich Gin auf keinen Fall umstimmen lassen wollte, war Rye nichts anderes übrig geblieben, als dies zu akzeptieren und ihn zu begleiten. Nun waren sie hier. Auf der Männertoilette. Und draußen befand sich ein menschengefüllter Saal, der zumindest Rye völlig überforderte und fast aus der Fassung brachte. Er hatte bisher mit keinem der Gäste ein Wort gewechselt, selbst dann nicht, als er ein paar Mal direkt angesprochen wurde. Dafür hatte Gin jedes Mal den kurzen Dialog übernehmen müssen, während sich Rye stets hinter ihm versteckt hatte. Aber sobald der Boss hier eintraf, würde diese Methode nicht mehr funktionieren und Rye war gezwungen, allein zurechtzukommen. Gin konnte nicht den ganzen Abend in seiner Nähe bleiben. Das würde Vater nicht gefallen. „Es ist nichts zu sehen. Wirklich nicht.“, versicherte Rye. Gin drehte sich zu ihm um. Er schien sich zu schämen. Seine zusammengepressten Lippen wirkten, als würde er eine Entschuldigung zurückhalten. Und das war auch besser so. „Du müsstest dir darüber gar keine Gedanken machen, wenn wir nicht hergekommen wären…“, fügte er im Flüsterton hinzu. Gin hörte förmlich das unausgesprochene „Lass uns nach Hause gehen“ hinter diesem Satz. Er verdrehte die Augen und warf Rye anschließend einen scharfen Blick zu. „Hör auf zu jammern. Ich werde mich nicht vor meinen Pflichten drücken.“, ermahnte er ihn, woraufhin der Schwarzhaarige beleidigt die Lippen schürzte. „Deine Gesundheit geht vor.“, konterte er. „Mir geht es bestens. Wie oft noch?“ Gin ging genervt an seinem Partner vorbei – jedenfalls hatte er das vor, doch Rye hielt ihn am Handgelenk fest. „Ich glaube dir ja… Aber übertreib‘s bitte nicht.“, meinte er, während er Gin streng in die Augen sah. Der Silberhaarige setzte ein provozierendes Lächeln auf. „Du auch nicht.“, antwortete er neckend. Rye erwiderte sein Lächeln, bevor er ihn plötzlich näher zu sich zog und begann, ihn von unten bis oben zu begutachten. Als sich ihre Blicke wieder trafen, sprach Rye sanft: „Hab ich dir heute eigentlich schon gesagt, wie schön du aussiehst?“ Gin schmunzelte. „Schmeichler.“, sagte er und ließ es etwas abfällig klingen, was Rye ein leises Lachen entlockte. Er fasste ihn an den Schultern und beugte sich vor, um Gin einen Kuss von den Lippen zu stehlen, doch dieser drückte ihn schon nach der ersten kleinen Berührung sofort von sich weg. „Nicht. Es kann jederzeit wer reinkommen.“, versuchte Gin seine Abweisung zu erklären, konnte aber nicht verhindern, dass sich dennoch Enttäuschung in Ryes Gesicht ausbreitete. „Wir sind sowieso schon viel zu lange hier drin.“ Er betete gedanklich, dass niemand gesehen hat, wie sie gemeinsam die Toilette betreten haben. Das könnte sonst zu unangenehmen Gerüchten führen. Auch wenn sie sich gerade auf einer Toilette befanden, die sich etwas abseits vom Saal befand und deshalb nicht andauernd jemand hereinkam. „Ich glaube, der Boss sollte jeden Moment ankommen. Wie ich dir bereits geraten habe, solltest du dich lieber nicht von ihm bemerken lassen.“, erinnerte Gin den Schwarzhaarigen nach einem Blick auf seine Armbanduhr. Innerlich hoffte er, dass Vater noch nicht da war und später kommen würde. Dann hätte Rye noch genug Zeit, sich vorher unter die Leute zu mischen. „Na, ob ich das schaffen werde…“, erwiderte dieser in belustigter Tonlage, während beide in Richtung Tür gingen. Als Rye die Klinke herunterdrückte, fügte er noch zynisch hinzu: „Dem Alten entgeht doch nichts. Wenn ich…“ Gin wunderte sich, warum Rye plötzlich schweigend im Türrahmen verharrte und er eine angespannte Haltung einnahm. Doch als er hinter ihm hervortrat und somit eine bestimmte Person in sein Blickfeld geriet, erstarrte er ebenso vor Schreck. „Oh, welch Überraschung.“, begrüßte der Boss sie im freundlichen Ton. Gin erkannte sofort, dass die Tonlage nur gespielt war. Ein Schauer durchlief ihn. Vaters Blick wanderte prüfend zwischen ihnen hin und her, bis er seine Augen zuletzt auf Rye richtete und sie zu schmalen Schlitzen verengte. „Dich hätte ich hier heute nicht erwartet.“ Diesmal versteckte er die Verbitterung in seiner Stimme nicht. Gin schaute im Augenwinkel unauffällig zu Rye, welcher noch immer wie versteinert wirkte. Seine Miene war zwar ausdruckslos, doch Gin konnte ihm deutlich ansehen, dass er sich in Wirklichkeit bemühte, Vaters strengem, stechendem Blick standzuhalten. Die Feindseligkeit zwischen beiden schien sich wie ein Lauffeuer in der Luft zu verbreiten und war für Gin nahezu greifbar. Er wusste nicht, ob er sich Sorgen machen sollte. Und falls ja, um wen sollte er sich mehr Sorgen machen? Rye hielt sich wahrscheinlich nur ihm zuliebe zurück. Und wer wusste schon, zu welchen Mitteln Vater im Ernstfall greifen würde. Oder ob er überhaupt eine Chance hätte. Gin riss sich umgehend von diesem Gedanken los. „Gin hat mich gefragt, ob ich mitkommen will.“, antwortete Rye auf einmal in einer unbekümmerten Tonlage, in der rein gar nichts von seinem Zorn mitschwang. „Musstest du das jetzt sagen…“ Gin fasste sich gedanklich an die Stirn. Er wollte nicht in dieses Gespräch mit eingebunden werden, welches jetzt schon nur Unannehmlichkeiten mit sich bringen würde. Wahrscheinlich nahm Vater ihm die Einladung an Rye übel. Auch wenn Gin das im Moment nicht einschätzen konnte, da der Blick des Älteren noch immer auf dem Vampir ruhte, als würde er diesen damit töten wollen. Rye dagegen lächelte schelmisch, als er hinzufügte: „Und ich finde, Sie in der Öffentlichkeit zu sehen, ist schon ein Privileg, welches ich mir nicht entgehen lassen sollte.“ Gin biss die Zähne zusammen. Natürlich musste dieser Idiot es mal wieder auf die Spitze treiben. Zum Glück verfinsterte sich Vaters Miene nicht weiter. Er zog nur die Augenbrauen nach oben, sodass sich seine Falte auf seiner Stirn bildete. „Na wenn das so ist, hoffe ich, du genießt deinen Aufenthalt.“ Seine Stimme nahm wieder einen überfreundlichen, ironischen Tonfall an. Das Lächeln, welches dann in seinem Gesicht erschien, war ebenso wenig echt. Rye erwiderte es und entgegnete ruhig: „Danke, das werde ich, Sir.“ Gin beschloss, die kurze, darauffolgende Stille auszunutzen, um das Gespräch der beiden zu beenden, bevor dieses noch ein schlimmes Ende nehmen würde. Er räusperte sich und begann anschließend: „Ist irgendwas passiert oder warum bist du hier?“ Den Grund würde Gin wirklich gern erfahren. Er bezweifelte nämlich, dass ihre gemeinsame Begegnung vor dieser Toilette lediglich ein unheimlicher Zufall gewesen war. „Aber er konnte unmöglich wissen, dass wir…“ „Es gibt genau zwei Dinge, die ich an diesem Abend vermisse. Da ich dich ja nun gefunden habe, fehlt nur noch eins.“, erklärte der Boss so streng, dass es Gin kalt den Rücken herunterlief und er es vorerst nicht wagte, weiter nachzuhaken. „Komm.“, befahl Vater, während er sich längst umdrehte und voranging. Gin folgte ihm wortlos und ließ Rye hinter sich zurück, ohne sich nochmal zu ihm umzudrehen. Den mörderischen Blick seines Partners konnte er dennoch im Rücken spüren, welcher zweifellos dem Boss galt. Auf dem Weg zum Saal wechselten beide Männer kein Wort miteinander. Die von dort zu hörenden, gedämpften Stimmen wurden nach und nach klarer. Vaters Gehstock gab beim Berühren des gefliesten Bodens im gleichmäßigen Rhythmus ein klopfendes Geräusch von sich, das ein Echo im Gang erzeugte. Kurzzeitig stellte sich Gin die Frage, wohin Rye wohl gegangen war und womit er sich nun die Zeit vertrieb. An der Konferenz durfte er später nicht teilnehmen. Und so scheu, wie er sich vorhin die ganze Zeit über verhalten hatte, glaubte Gin nicht, dass sich der Schwarzhaarige mit den Gästen unterhalten würde. Abgesehen davon beschäftigte Gin noch die andere Person, von der Vater eben gesprochen hatte. Wen sollte er bitte vermissen? Er interessierte sich doch für niemanden. Die Gäste waren ihm egal, darunter zählten auch seine engen Geschäftspartner, die für die Organisation allesamt den gleichen Nutzen erfüllten. „Vielleicht sagt er es mir gleich… oder auch nicht…“ Gin seufzte innerlich. Eigentlich war ihm alles recht, solange Vater nicht anfing, über Rye zu reden. Aber ein unwohles Gefühl in der Magengrube verriet ihm, dass er diesem Thema so schnell nicht entkommen würde. Im Saal herrschte nach wie vor eine sehr lebhafte, lockere Stimmung. Viele der Gäste unterhielten sich, tranken ein Glas Sekt, aßen vom Büfett oder zogen sich auf den Balkon zurück, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Die meisten Familienclans blieben zusammen, deren jeweiliges Oberhaupt immer auf den ersten Blick erkennbar war. Sie machten gewissermaßen einen wachsamen Eindruck, schienen sich aber trotzdem zu amüsieren. Grob gesagt war also alles wie jedes Jahr. Keine Komplikationen. Genau so, wie es sein sollte. Ryes Anwesenheit war wirklich das Einzige, was diesmal anders war. Und von dieser bekam Gin gerade ohnehin nichts mit. Der Boss erhöhte fortlaufend sein Schritttempo und ging zielgerichtet geradeaus, während er den Blick starr nach vorn richtete. Gin kannte diesen Trick gut. Es sollte so aussehen, als hätten sie es eilig, an einen bestimmten Ort zu gelangen. So konnte vermieden werden, dass jemand sie unnötig aufhielt oder von der Seite anquatschte. Doch obwohl Gin niemandem ins Gesicht sah, vernahm er die neugierigen Blicke auf sich und seinem Boss trotzdem. Viele von ihnen tuschelten. Das taten sie jedes Jahr. Gin bemühte sich, es zu ignorieren. Er hasste solche Menschen, die glaubten, alles über andere zu wissen. In Wirklichkeit wussten sie nicht das Geringste und dennoch nahmen sie sich das Recht, irgendwelche Gerüchte in die Welt zu setzen. Vater hatte gewiss keinen guten Ruf. Zugegebenermaßen war das größtenteils sein eigener Verdienst, nur es war Gin schon immer schwergefallen, dies zu akzeptieren. Genau wie unzählige andere Dinge, die Vater betrafen. Dieser blieb nun in einer stillen Ecke stehen und stieß ein Seufzen aus. In unmittelbarer Nähe befand sich glücklicherweise niemand, der es wagen könnte, ihre Zeit mit einem unnötigen Gespräch zu stehlen. Lediglich einer der Kellner bot ihnen ein Glas Champagner an, bevor er schnell wieder in der Menge verschwand. Der Boss nippte an seinem Glas und ließ nebenbei den Blick voller Bedenken durch den Saal wandern. Irgendwas schien nicht in Ordnung zu sein. Gin wollte abwarten, bis Vater es ihm von selbst mitteilen würde. Doch als dieser den Mund öffnete, kamen ganz andere Worte heraus, mit denen der Silberhaarige nicht gerechnet hatte. „Ist er jetzt eigentlich dein Hund?“, fragte er abschätzig. Gin verengte pikiert die Augen. Als er zu einer Antwort ansetzte, bemerkte er jedoch, dass Vaters Blick mittlerweile gezielt auf eine ganz bestimmte Person gerichtet war. Als er in dieselbe Richtung schaute, wäre ihm beinahe der Mund aufgeklappt. Rye hatte sich tatsächlich unter die Gäste gemischt. Oder besser gesagt: unter die Damen. „Nein. Warum?“ Wie sehr Gin das innerlich verärgerte, konnte man ihm leicht an seiner Tonlage anhören. Doch der Boss ließ sich davon nicht beeinflussen und erwiderte kühl: „Er weicht kaum von deiner Seite. Sogar zur Toilette folgt er dir.“ „Das…“ Gin wusste nicht, wie er das erklären sollte. Die Wahrheit konnte er nicht erzählen und etwas anderes fiel ihm gerade nicht ein, was einigermaßen glaubhaft klingen würde. „Ich will es gar nicht wissen.“ Der Boss lenkte seinen Blick wieder zu Gin. „Ich befürchte nur, dir ist nicht ganz bewusst, worauf du dich da einlässt. Er ist eine abscheuliche, vom Fluch besessene Kreatur, die in der Lage wäre, in wenigen Sekunden den kompletten Saal in ein Blutbad zu verwandeln.“ In seiner Miene zeichnete sich Argwohn ab. Warum konnte er nicht wenigstens versuchen, Rye zu tolerieren? Nur weil dieser ein Vampir war, bedeutete das doch nicht automatisch, dass er von Grund auf böse war. Und selbst wenn, seit wann legte Vater wert auf die Moral? Möglicherweise war Eclipse das eigentliche Problem. „Aber was hat er mit ihnen zu tun…?“ Eine Frage, auf die Gin wohl keine Antwort bekommen würde. Sogar nach 30 Jahren kannte er den Älteren kaum besser als einen Fremden. Aber dieser Mann hatte noch nie jemanden an sich ran gelassen… „Mag sein, dass er dazu in der Lage ist. Aber er wird es nicht tun.“, sagte Gin mit fester Überzeugung in der Stimme. Dafür würde er sogar die Verantwortung übernehmen. „Du scheinst ja eine Menge Vertrauen in ihn zu haben.“, stellte Vater fest. Und diese Feststellung schien ihm nicht zu gefallen. Seine Augen richteten sich wieder auf Rye. „Ja.“, antwortete Gin. Wahrscheinlich hatte er so viel Vertrauen in den Vampir, dass er seinem Boss mindestens die Hälfte davon abgeben könnte. Dieser schüttelte nun mit dem Kopf und sprach voll höhnender Verachtung: „Und genau das will er. Wahrscheinlich baut er immer erst Vertrauen zu seinen Opfern auf, bevor er sie verführt und anschließend in eine stille Ecke lockt, um sie dann abzuschlachten.“ „Er kann dich hören.“, merkte Gin im leisen Ton an, nicht in der Hoffnung, dass Vater dann aufhören würde, schlecht über den Schwarzhaarigen zu reden. Es lag klar auf der Hand, was er ihm indirekt eintrichtern wollte, doch Gin würde es niemals nicht mal ansatzweise in Betracht ziehen, sich von Rye fernzuhalten. Seinem Geliebten. Der sich immer noch munter mit zwei Frauen unterhielt. „Das kann er meinetwegen auch hören.“ Die Antwort klang etwas gereizt. „Generell kann er jedes Gespräch auf dieser Veranstaltung hören, das nicht für seine Ohren bestimmt ist. Ein weiterer Punkt, der ihn gefährlich macht.“ Damit hatte der Boss zwar recht, doch Gin konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeines dieser Gespräche Ryes Interesse wecken würde. Außer vielleicht das Jetzige. Hoffentlich war er im Nachhinein nicht wieder beleidigt. Gin würde auch liebend gern über etwas anderes reden. „Zweifelst du etwa immer noch an seiner Loyalität?“, hakte er nach, woraufhin ein unsicherer Ausdruck in Vaters Miene trat. „Es ist schwer, ihn einzuschätzen. Ich weiß nicht, ob er lügt und in Wirklichkeit andere Absichten verfolgt. Das werde ich wohl erst erfahren, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.“ Er musterte Rye eine Weile abschätzig und fuhr dann fort: „Sieh ihn dir an. Jetzt im Moment macht er einen auf charmant. Aber das ist nicht sein wahres Gesicht. Er verstellt sich. Und wer weiß, ob er das nicht sonst auch immer tut.“ Gin ließ das Gesagte unerwidert. Er musste sich darüber keine ernsthaften Gedanken machen. Schließlich kannte er Rye inzwischen gut genug, um sich sicher sein zu können, dass dieser nicht für Eclipse arbeitete und auch keine bestimmten Absichten verfolgte. „Seine einzige Absicht war gewesen, mich für sich zu gewinnen… und das ist ihm erfolgreich gelungen.“, dachte Gin ironisch. Während er Rye weiter beobachtete, bemerkte er, dass dieser mittlerweile eher von den zwei Frauen bedrängt wurde und es ihm offensichtlich schwerfiel, die Flucht zu ergreifen. Zugegebenermaßen sahen die beiden recht hübsch aus. Sie waren Zwillinge. Ihre Gesichter kamen Gin bekannt vor, aber er konnte sie dennoch nirgends einordnen. „Die beiden sind wirklich sehr naiv. Sie haben ohnehin schon immer wenig wert auf innere Werte gelegt, weshalb sie noch leichter auf seine Fassade hereinfallen. Wenn ich mich richtig erinnere, sucht Lozano zurzeit nach einem geeigneten Mann für seine Töchter.“, kommentierte Vater die Szene. Als Gin den Namen hörte, machte es allmählich Klick. Er hatte ihn das ein oder andere Mal schon irgendwo aufgeschnappt. Sich Namen und Gesichter zu merken, war ohnehin nie seine Stärke gewesen. Vater stand ihm da eigentlich in nichts nach, weshalb es den Silberhaarigen ein wenig wunderte, dass dieser Name ihm offensichtlich nicht entfallen war. „Ich bezweifle, dass Rye ein Kandidat dafür wäre.“, antwortete Gin, woraufhin ein leichtes Lächeln auf den Lippen des Bosses erschien. „In vielerlei Hinsicht.“, stimmte er nickend zu. „Aber wenn du diese Rolle einnehmen könntest… das wäre durchaus ein großer Gewinn. Lozano steht zwar kurz vor dem Ruin, doch das kann man sich zu Nutze machen.“ Bei dem Wort ‚du‘ zuckte Gin unbemerkt zusammen. Er sah noch, wie sich Ryes Haltung im selben Moment ebenso schlagartig veränderte, bevor er sich mit einem verwirrten Ausdruck im Gesicht zum Boss drehte. „Deswegen war ihm der Name also im Gedächtnis geblieben…“, erkannte Gin. Aber woher kam diese Idee so plötzlich? Sie hatten zuvor noch nie übers Heiraten gesprochen. Wozu auch? Er wäre mit Sicherheit ein miserabler Ehemann. „Vor allem was soll ich mit solchen Tussis… da ist eine schlimmer als die andere. Mir egal, was die Organisation davon hätte. Und außerdem…“ Sein Blick huschte unauffällig zu Rye. „…bin ich bereits vergeben.“ „Da lehne ich lieber ab.“, sagte er im möglichst höflichen Tonfall und hoffte, dass Vater dies ohne eine Diskussion akzeptieren würde. Leider war dem nicht so. „Warum?“ Gin suchte schnell nach einer plausiblen Ausrede. „Sagtest du nicht immer, ich soll mich nicht verlieben?“ „Liebe.“, schnaubte Vater spöttisch. Dieses Wort würde ihm immer fremd bleiben. „Das hat rein gar nichts damit zu tun. In unseren Kreisen ist Heirat nichts weiter als ein Mittel zum Zweck. Macht und Geld bedingen sich gegenseitig, und nur diese Dinge sind von Bedeutung.“ Vor seiner Begegnung mit Rye hätte Gin all dem womöglich ausnahmslos zugestimmt. Sein ganzes Leben lang wurde ihm beigebracht, niemals Gefühle zu zeigen und sich auf keinen Fall auf diese einzulassen, weil sie ein Zeichen für Schwäche waren und angreifbar machten. Insbesondere vor Liebe hatte Vater ihn so oft gewarnt, dass er in manchen Zeiten seiner Kindheit sogar Angst davor gehabt hatte. Liebe bringt nichts als Schmerz und Kummer. Liebe kann einen innerlich zerreißen. Liebe führt bis in den Tod. Liebe sorgt dafür, dass man den Verstand abschaltet und blind handelt. Wer aus Liebe handelt, ist unvorsichtig und naiv. Gin kannte unzähliger solcher Prinzipien so gut wie Geschichten vor dem Schlafengehen. Er hatte ihnen Glauben geschenkt und wollte sich niemals in jemanden verlieben. Irgendwann hatte er es sich deshalb angewöhnt, die meisten Menschen als gleich zu betrachten. Als nichts Besonderes. Uninteressant. Doch dann war Rye in sein Leben getreten – und all diese Prinzipien waren nach und nach erloschen. Gin hatte verstanden, wie unbeschreiblich schön es sich anfühlte zu lieben und geliebt zu werden. Als würde eine dicke Eisschicht Stück für Stück in ihm auftauen, wodurch er sich endlich lebendig fühlen und die Welt mit all ihren Farben sehen konnte. Liebe war nicht etwas, wovor er hätte Angst haben müssen, sondern etwas, was ihm die ganze Zeit über gefehlt hatte. Während Gin über diese Dinge nachdachte, betrachtete er Rye mit einem warmen Lächeln auf den Lippen, welches er sich selbst gar nicht bewusst war. Er würde Vater wohl nie erzählen, wie sehr er Rye liebte und dass nur das für ihn von Bedeutung war. „Das weiß ich… und du magst recht haben, aber ich würde keine Frau heiraten, die ich nicht liebe. Und da ich nie jemanden lieben werde, werde ich auch niemals heiraten.“, log Gin teilweise. Heiraten war tatsächlich noch eine ganz andere Herausforderung, bei der er sich nicht sicher war, sie bewältigen zu können. Könnte er die Person, die er liebte, auch heiraten? Könnte er Rye heiraten? Gin musste sich umgehend von diesem Gedanken losreißen. Das war definitiv noch zu viel für ihn. „Deine Entscheidung. Ich hatte nicht vor, dich zu zwingen. Es war lediglich ein Angebot.“, antwortete Vater in ruhiger Tonlage. Er wirkte längst vom jetzigen Thema abgelenkt. Seinen Blick ließ er analysierend durch Saal wandern, bevor er missmutig die Augenbrauen zusammenschob. „Was ist los? Suchst du jemanden?“ Gin vermutete, dass es sich wahrscheinlich um die Person handelte, die Vater noch vermisste und offenbar nach wie vor noch nicht eingetroffen war. „Cognac.“, verriet der Ältere knapp, woraufhin Gin verdutzt die Stirn runzelte. Er hätte jemand anderen erwartet. „Du hast ihn eingeladen?“, fragt er. In den letzten Jahren war Cognac nie auf dieser Veranstaltung gewesen. Dazu gab es immerhin auch keinen Grund. Der Boss nickte kurz und erwiderte: „Ja, um zu sehen, ob er kommt oder nicht.“ Jetzt war Gin noch verwirrter als vorher. Das ergab für ihn keinen Sinn. „Warum?“ Einen Moment lang herrschte Stille, in welcher Vater ausdruckslos in die Menschenmenge starrte. Nachdem er einen Schluck von seinem Glas getrunken hatte, begann er zu berichten: „In den letzten paar Tagen ist es ungewöhnlich still um ihn geworden. Ich erreiche ihn nicht. Niemand tut das. Er ist nicht zur Arbeit gekommen und seine Frau scheint auch nicht zu Hause zu sein. Bei seinen zwei Söhnen ist es dasselbe. Spurlos verschwunden, und das ohne ein Wort.“ Das klang schon ein wenig beunruhigend. Gin wusste, dass Cognac nicht der Typ war, der einfach verschwindet, ohne vorher Bescheid zu sagen. Auf ihn war bisher eigentlich immer Verlass gewesen und als Oberkommissar konnte er sich das sowieso nicht einfach erlauben. Zumal seine ganze Familie anscheinend spurlos verschwunden war, dabei waren seine beiden Söhne schon erwachsen und hatten selbst Kinder. Wirklich seltsam. Irgendwie musste Gin gerade an Vermouth zurückdenken. Von ihr war man es sogar gewohnt gewesen, dass sie ohne ein Wort verschwand, und am Ende wurde sie von Rye umgebracht. „Rye…“ Eine böse Vorahnung schlich sich in Gins Gedanken. Doch er vertrieb sie schnell wieder. „Nein, so ein Unsinn, er hat nichts mit Cognac zu tun.“ Auch wenn er den Vampir nicht verdächtigte, konnte er sich schon denken, wer dies anstelle dessen sehr wohl tat. Gin musste versuchen, diesen Verdacht zu ersticken, bevor Rye noch zu Unrecht in Schwierigkeiten geriet. Er tat so, als würde ihm die Sache keine Sorgen bereiten und meinte schulterzuckend: „Vielleicht brauchte er mal eine Auszeit und ist mit seiner Familie weggefahren.“ Dem Boss entwich ein verbittertes Lachen. „Keiner aus seiner Familie hat einen Urlaub bei den Arbeitgebern beantragt. Die Ehefrau von seinem ältesten Sohn hat gestern Abend sogar bei der Polizei angerufen und wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben, die ihr vorerst aber verweigert wurde. Das hört sich nicht gerade nach Urlaub an, findest du nicht auch?“ Der Boss sah Gin an, als wüsste er bereits, dass dieser nur absichtlich den Unbekümmerten spielte. Der Silberhaarige musste sich wohl oder übel geschlagen geben. „Und du denkst stattdessen, dass sie entführt wurden oder so?“ Seine Stimme klang dennoch nicht überzeugt. „Das ist am naheliegendsten. Ich habe bereits ein paar Leute mit der Suche beauftragt. Bisher gibt es weder Hinweise auf den Verbleib von Cognac noch von seiner Familie, was zu erwarten gewesen war.“ „Aber wer sollte ihn und seine Familie bitte entführen? Aus welchem Grund?“ Gin überlegte kurz, ob Cognac irgendwelche Feinde hatte, für die ein Motiv infrage käme. Als hohes Tier bei der Polizei war das gar nicht so absehbar. Aber angenommen, es handelte sich wirklich um einen x-beliebigen Übeltäter, der vielleicht Rache für irgendwas nehmen wollte, dann würde das den Verdächtigenkreis gewaltig vergrößern. Und welcher Verbrecher würde sich dazu noch die Mühe machen, sowohl Frau als auch Kinder zu entführen? Welch einen immensen Hass musste der Täter bitte auf Cognac verspüren? „Drei Mal darfst du raten.“ Vaters ironische Tonlage verriet ihm, dass er wohl in die völlig falsche Richtung gedacht hatte. Es handelte sich nicht um einen Einzeltäter, der nach Rache trachtete, sondern um… „Sag nicht…“, setzte Gin leise an. „Doch.“ Der Boss sah ihn mit einem gefährlich ernsten Ausdruck in den Augen an, bevor seine Lippen den Namen „Eclipse.“ formten. Gin durchlief augenblicklich ein Schauer. Er wollte es nicht wahrhaben. Das war vollkommen ausgeschlossen. Auf einmal war sein Kopf wie leer gefegt und er konnte nur noch die Angst spüren, die ihn allmählich erfüllte. „Was sollte Eclipse von Cognac wollen?“ „Denk nach.“, ermahnte ihn der Boss streng – etwas, was Gin im Moment nicht mehr konnte. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Wind von der Mordserie bekommen würden. Selbstverständlich gilt diese inzwischen offiziell als gelöst, aber wir können nicht davon ausgehen, dass Eclipse dem auch Glauben schenkt. Möglicherweise haben sie Recherchen angestellt und sind dabei ziemlich schnell auf Cognac aufmerksam geworden, welcher ja die Ermittlungen geleitet hat und dessen Name des Öfteren in den Medien erwähnt wurde.“ So, wie der Boss es formulierte, schien das alles tatsächlich einen Sinn zu ergeben, sodass es Gin schwerfiel, sich vor Augen zu halten, dass es sich lediglich um Vermutungen handelte. Es gab keine Beweise, dass Eclipse etwas mit dem Fall zu tun hatte. Vater könnte sich irren. „Aber warum sollten sie seine Familie…“ „Ich gebe das nur ungern zu – aber in manchen Punkten ist diese Organisation uns sehr ähnlich. Sie machen keine halben Sachen.“, erklärte der Boss kalt. Er richtete seinen Blick auf Rye, welcher mittlerweile sehr beunruhigt wirkte, und fügte erbost hinzu: „Es würde mich nicht wundern, wenn er auch etwas damit zu tun hat.“ Gin schluckte lautlos. Jede Faser seiner Muskeln spannte sich an. Nein. Rye hatte nichts mit Cognacs Verschwinden zu tun. Diesmal war er unschuldig. „Rye kennt Cognac doch überhaupt nicht. Er weiß wahrscheinlich nicht mal, wie er aussieht, geschweige denn irgendwas von dessen Familie. Außerdem hat er ihm vieles zu verdanken, unter anderem seine reingewaschene Weste. Es gibt nichts, was ihn zu solch einer Tat verleitet haben könnte.“, sprach Gin mit fester Überzeugung in der Stimme. Er würde alles tun, um Rye zu verteidigen. Egal wie. „Das ist das, was du annimmst. Aber kannst du es wirklich wissen?“ Der Boss sah ihm eindringlich in die Augen. Gin konnte dem Blick nicht lange standhalten und starrte zu Boden. „Nein, kann ich nicht, aber…“ Als er zu einer Antwort ansetzte und Vater wieder ansehen wollte, blickte er jedoch in ein hartes, erbarmungsloses Gesicht, welches das Blut in seinen Adern gefrieren ließ. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. „Warum nimmst du diese Kreatur eigentlich immer in Schutz?“, wollte der Boss wissen. Gin legte die Augenbrauen tief und biss die Zähne zusammen. Er durfte sich nicht einschüchtern lassen. Er musste selbstsicher und überzeugend wirken. Für Rye. Nichts durfte darauf hinweisen, dass er an dessen Unschuld zweifelte. „Weil ich der Meinung bin, dass du ihn zu Unrecht verurteilst.“, antwortete er. Innerlich begann er sich auf das Schlimmste einzustellen. Er hatte sich noch nie offen gegen Vater gestellt, und er war sich sicher, dass er diese Entscheidung gleich bereuen würde. Oder spätestens nach der Veranstaltung. Er hatte einen letzten Funken Hoffnung, dass Rye dazwischen gehen und ihn irgendwie aus dieser Situation heraushelfen würde. Aber er kam nicht. Er stand noch immer bei den zwei Frauen und ließ sich nicht anmerken, was mit hoher Wahrscheinlichkeit in seinem Inneren zu toben schien. Allerdings reagierte Vater nicht so, wie Gin es befürchtet hatte. Das amüsierte Lächeln, welches sich plötzlich auf seinen Lippen bildete, warf den Silberhaarigen völlig aus der Bahn. „Ach so? Das ist… wirklich interessant.“, meinte er, als hätte er gerade irgendeine spannende Neuigkeit erfahren. Gin wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Sein Gespür für Gefahr schrie ihm zu, dass Schweigen im Moment die beste Option war. Zum Glück verschwanden kurz darauf jegliche Emotionen wieder aus Vaters Gesicht und er warf prüfend einen Blick auf seine Armbanduhr. „Versuch nicht, mir was vorzumachen. Das wird nie funktionieren.“ Nach diesen leise ausgesprochenen Sätzen drehte er sich weg und ging davon. Gin überlegte, ob er ihm folgen sollte, entschied sich letztlich aber dagegen. Seine Nerven lagen blank. Er bräuchte wohl den ganzen Abend, um dieses Gespräch ordentlich zu verarbeiten. Danach würde er noch ein paar Sorgen mehr haben, die ihn fortan quälen würden und die er auf keinen Fall mit Rye teilen durfte. Dieser machte sich schon mehr als genug Vorwürfe und ging dabei fast kaputt an seiner Angst vor Eclipse. Noch einen Hauch mehr und er könnte den Verstand verlieren, was Gin um jeden Preis verhindern wollte. „Ich glaube, ich sollte die Chance nutzen und ihn erst mal beruhigen… Er hätte wirklich nicht hierher kommen sollen. Wahrscheinlich ist er gerade vollkommen außer sich…“ Gin seufzte. Eigentlich müsste er sich zuerst beruhigen, aber Ryes Psyche war empfindlicher und die Folgen im schlimmsten Fall tödlich. Also hatte das Vorrang. Jedoch weiteten sich Gins Augen vor Schreck, als er gerade die Richtung einschlagen wollte, in welcher der Schwarzhaarige bis vor Kurzem noch gestanden hatte: Dort befand sich abgesehen von ein paar Gästen niemand mehr. Rye war weg.   „Na warte, du elendiger alter Knacker. Jetzt hast du es zu weit getrieben.“ Rye kochte vor Wut. Er wusste nicht mehr, wie es ihm gelungen war, die beiden nervigen Damen abzuwimmeln. Wahrscheinlich hatte es an seinem plötzlichen Ansporn gelegen, dem Boss ordentlich die Hölle heißmachen zu wollen. Ein Jammer, dass ihm das nicht erlaubt war. „Wie kann sich Gin das bloß gefallen lassen? Wenn der Alte ihm weiter so einen Blödsinn einredet, glaubt er es irgendwann bestimmt noch…“ Rye hoffte zutiefst, dass sein Geliebter ihm gut genug vertraute, um zu wissen, dass er diesem Mitglied mit dem Codenamen Cognac nichts angetan hatte. Vielleicht höchstens aus Versehen, aber da offensichtlich die ganze Familie verschwunden war, kam das auch nicht infrage. Der Boss schien da natürlich anderer Ansicht zu sein. „Wo ist er hingegangen? Ich hätte ihn genauer im Auge behalten sollen…“ Rye sah sich im Saal um und versuchte, den Geruch des Bosses aus der Menge herauszufiltern, was sich tatsächlich als etwas schwierig entpuppte. Es waren einfach zu viele Gerüche. Er blieb kurz stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Obwohl der Boss auch heute recht auffällig gekleidet war – zumindest eher untypisch für solch eine Veranstaltung – und dessen roter Schal ihm eigentlich ins Auge stechen sollte, konnte Rye ihn nicht entdecken. Er nahm einen tiefen Atemzug, schloss die Augen und rief sich den Geruch des Bosses nochmal ins Gedächtnis: Dieser war fast so ähnlich wie der von Gin, nur weniger intensiv und nicht ganz so süßlich, sondern eher wie Kräuter. Es verstrichen ein paar Sekunden, ehe Rye den gesuchten Geruch endlich fand. Er riss die Augen auf und begann, die Spur zu verfolgen. „Ich muss ihn irgendwie davon überzeugen, dass ich unschuldig bin. Aber wie? Er vertraut ja mir kein Stück…“ Im Schnellschritt drängelte er sich durch die Massen, bis die Geruchsspur ihn glücklicherweise aus dem Saal führte. Dies leitete ihn jedoch zu der Frage, was der Boss außerhalb davon zu erledigen hatte. Während Rye im Flur entlang ging, versuchte er sich so gut wie möglich zu beruhigen. Es gab einfach zu viele Dinge, wegen denen er gerade verdammt wütend war und er den Boss am liebsten zu Tode foltern würde. Es war das eine, dass dieser ihn ständig beleidigte und über ihn herzog, aber musste er das ausgerechnet immer vor Gin tun? Und was sollte das mit der Heirat? So langsam glaubte Rye, dass der Boss den Silberhaarigen ganz bewusst von ihm fernhalten wollte und dabei vor keinem Mittel zurückschreckte. Nicht mal vor falschen Anschuldigungen. „Egal, was du versuchst: Du wirst ihn mir nicht wegnehmen. Niemals. Wenn es sein muss, werde ich ihn künftig von dir fernhalten.“, sprach Rye übel gesinnt in Gedanken zum Boss. Auch wenn das eine ziemlich schwierige Herausforderung wäre, da Gin diesen alten, arroganten Kerl trotz allem zu mögen schien oder zumindest zu ihm aufsah und von ihm respektiert werden wollte. „Ich kann mir schon ungefähr denken, was der Grund dafür ist. Gin hat immerhin nie richtige Eltern gehabt und der Alte scheint als Einziger für ihn da gewesen zu sein… Die beiden haben trotzdem ein seltsames Verhältnis zueinander. Mir wäre es wirklich lieber, wenn Gin ihm aus dem Weg geht. Dieser Mann ist von Grund auf ein schlechter Mensch… und das hat nichts mit seiner Abneigung gegen Vampire zu tun…“ Ryes Grübeleien sorgten dafür, dass er seine Wut allmählich wieder kontrollieren konnte. Er verlangsamte sein Schritttempo und ließ den Blick schweifen. Die Gegend kam ihm bekannt vor. Hier war er vorhin zuletzt mit Gin gewesen. „In der Nähe ist doch die Toilette…“, erinnerte sich Rye. Zu seiner Überraschung führte die Geruchsspur des Bosses genau dorthin. Er umfasste vorsichtig den Türgriff und lauschte. Nichts war zu hören. „Ist er allein?“, fragte er sich. Keine Zeugen waren immer zum Vorteil. Im nächsten Moment öffnete Rye lautlos die Tür, welche zum Glück nicht in den Reflexionen der Spiegel zu sehen war, da sich die Waschbecken um die Ecke befanden. Er setzte langsam einen Schritt nach dem anderen und schlich sich von hinten an. Der Boss war wirklich allein. Gerade stand er vor einem der Waschbecken und schien irgendwas einzunehmen. Bei genauerem Hinsehen erkannte Rye mit Erstaunen, dass es sich um Tabletten handelte. Noch hatte der Ältere ihn nicht bemerkt. „Noch nicht.“, dachte Rye hämisch, bevor er in neugieriger Tonlage begann: „Oh? Wofür sind die denn?“ Der Boss zuckte sofort zusammen und krallte seine Hand vor Schreck ins Waschbecken. Rye konnte nicht verhindern, dass nach dieser äußerst amüsanten Reaktion ein breites Lächeln seine Lippen umspielte. Der Boss drehte sich mit einem eisernen Gesichtsausdruck zu ihm um und versuchte sich wieder zu sammeln. Ein bisschen erinnerte Rye der Anblick daran, wie sich Gin früher immer erschrocken hatte, als er mitten aus dem Nichts neben ihn aufgetaucht war. Nur mit dem Unterschied, dass es jetzt viel lustiger war. Über eine mögliche Strafe, die ihn dafür vielleicht erwartete, dachte der Schwarzhaarige lieber bewusst noch nicht nach. Inzwischen hatte sich der Atem des Mannes wieder beruhigt und er musterte ihn mit einer gewissen Wachsamkeit in den Augen. „Was willst du? Folgst du mir jetzt auch noch auf die Toilette?“ Rye presste die Lippen zusammen. Die Begegnung vorhin war ihm immer noch peinlich. Und Gin vermutlich noch viel mehr. „Nun, ich habe mir nur Sorgen gemacht, weil Sie allein unterwegs waren.“, log Rye. Der Boss zog unbeeindruckt eine Augenbraue nach oben. „Glaub mir, ich kann sehr gut auf mich selbst achten. Und jetzt sag schon, was du von mir willst.“ Rye überlegte einen Augenblick. Vielleicht war die Toilette nicht der geeignete Ort, um solche Angelegenheiten zu klären. Auch wenn es sich um eine Toilette für spezielle Gäste handelte, bestand dennoch die Gefahr, dass jederzeit jemand hereinkommen könnte. Unsicher warf Rye den Blick zur Seite, entdeckte dann jedoch zu seinem Glück einen Schlüssel im Türschloss stecken. Er ging zur Tür und drehte den Schlüssel herum. Der Gesichtsausdruck des Bosses blieb dabei vollkommen unverändert, was Rye im Nachhinein stutzig machte. „Warum hat er nicht vorhin schon abgeschlossen?“, fragte er sich. „Hat er es etwa vorausgeahnt und wollte, dass ich ihm folge…?“ Das leichte Lächeln, welches auf einmal im Gesicht des Bosses zum Vorschein kam, bejahte diese Frage. Innerlich ärgerte es Rye, dass er genau nach den Erwartungen dieses Kerls gehandelt hatte. Aber es war nicht mehr zu ändern. Er hätte ihn so oder so zur Rede stellen müssen. „Sie scheinen unter den Gästen ja nicht sehr beliebt zu sein, wenn sie Ihre Tabletten sogar heimlich einnehmen, Sir.“, meinte Rye belustigt, um das Gespräch allmählich ins Rollen zu bringen. „Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Tablettenabhängigkeit ist eine Schwäche, die sich gute Beobachter zunutze machen können. Du kannst dir sicherlich denken, wie viele Todesfälle es diesbezüglich schon gegeben hat.“, erwiderte der Boss ruhig. Das klang relativ einleuchtend. In ein paar Krimis, die Rye gelesen hatte, wurde des Öfteren mal jemand auf diese Weise umgebracht. „Also sind sie lebenswichtig für Ihre Gesundheit?“, hakte er nach, woraufhin der Ältere die Hände auf seinen Gehstock stützte und mit den Schultern zuckte. „Ich wüsste nicht, was dich mein gesundheitlicher Zustand zu interessieren hat.“ Als Rye darauf antworten wollte, fügte er gereizt hinzu: „Hör auf, schon wieder meine Zeit zu stehlen und komm endlich zum Punkt. Ich kann mir schon denken, was du mir sagen willst. Du bist hier, um dich rauszureden.“ Ryes Miene verfinsterte sich. „Ich habe nichts mit dem Verschwinden von diesem Cognac zu tun.“, stellte er klar. „Ich gab Ihnen mein Wort, dass keines Ihrer Mitglieder je wieder durch mich zu Schaden kommen wird. Warum können Sie nicht wenigstens versuchen, mir zu vertrauen?“ Der Boss schnaubte spöttisch. „Worte können sich auch als Lüge enttarnen, wenn sie aus dem falschen Mund kommen. Nimm es nicht persönlich, aber dein Wesen und deine Herkunft ermutigen mich nicht wirklich, dir mein vollstes Vertrauen zu schenken. Nicht bei dieser Angelegenheit.“ Rye sah ihn entrüstet an. Er spürte, wie eine gewaltige Welle von Wut ihn erfasste. Und er musste sich stark bemühen, sich nicht von ihr fortreißen zu lassen. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass die Worte einfach unkontrolliert aus ihm herausplatzten. „Glauben Sie etwa, ich habe mir das ausgesucht?! Ich will nicht so sein! Und dass Sie mich so behandeln, als wäre es so, macht es nicht besser! Sie können sich nicht im geringsten vorstellen, wie ich mich fühle und was das mit mir macht! Ich verabscheue mich mehr, als Sie es jemals könnten!“ Ryes ganzer Körper fing an zu zittern. Sein Atem ging hastig. Er spürte ein tiefes Grollen in seiner Brust. Es war gefährlich, sich so aufzuregen. Er durfte den Boss nicht töten, welcher jedoch von dem womöglich furchterregenden Anblick überhaupt nicht eingeschüchtert wirkte. Seine Haltung war entspannt. Seine Miene emotionslos. Nichts deutete auf Angst hin. „Du armes Ding.“, meinte er nur tonlos. Ein Seufzen entwich ihm. „Das sind vage Worte für jemanden, der sich nicht daran erinnern kann, was vor seiner Verwandlung passiert ist. Was macht dich so sicher, dass du es dir nicht ausgesucht hast? Kannst du es zu hundert Prozent wissen?“ „Sie können es auch nicht wissen.“, schoss Rye bissig zurück. Solche Unterstellungen musste er sich nicht bieten lassen. „Ich hätte niemals ein Monster werden wollen.“ Ein ironisches Lächeln umzuckte die Lippen des Bosses. „Es gibt genug Menschen, die das wollen. Und stell dir vor, es gibt sogar welche, die an der Herstellung von Substanzen arbeiten, die so etwas möglich machen.“ „Ich arbeite nicht für Eclipse.“, entgegnete Rye mit zusammengebissenen Zähnen, während seine Hände sich zu Fäusten ballten. „Ich arbeite für Sie, Sir.“ „Vielleicht…“ Der Boss betrachtete ihn nachdenklich und setzte eine kurze Pause. „Ja, vielleicht liege ich falsch und du bist wirklich nichts weiter als eines ihrer Versuchskaninchen, das ihnen mit sehr viel Glück davonhoppeln konnte. Wir werden sehen. Sollte sich herausstellen, dass du tatsächlich nicht mit dem Verschwinden von Cognac in Verbindung stehst, bin ich gern bereit, meine Anschuldigung zurückzunehmen. Aber bis dahin bleibst du auf der Liste der Verdächtigen.“ Das hörte sich für Rye nicht gerade vielversprechend an. Zumindest konnte er mit Bestimmtheit wissen, dass ihm der Sieg sicher war und der Boss seine Anschuldigung definitiv bald zurücknehmen müsste. Blieb nur noch die Frage offen, wie sich das Ganze klären würde und wer tatsächlich der Verantwortliche in diesem Fall war. „Können Sie dann nicht wenigstens aufhören, Gin in die Sache mit einzubeziehen? Ich will nicht, dass er mich auch verdächtigt.“, bat Rye und fand langsam aber sicher wieder zurück zu einem freundlicheren Tonfall. Gewiss brachte ihm das keinen Vorteil. Im Gegenteil. Das hätte er nicht sagen dürfen. Zu spät. „Ach, darum geht es dir also.“, erwiderte der Boss erstaunt. Doch in seinen vor Heiterkeit glänzenden Augen konnte Rye deutlich erkennen, dass er es bereits geahnt hatte. Dem Schwarzhaarigen durchlief ein Schock. Er hielt es für besser, zu schweigen. Sonst würde er womöglich nochmal etwas Falsches sagen. Seinem Gegenüber schien das nichts auszumachen, da er mit freudloser Stimme noch ergänzte: „Ich glaube nicht, dass du dir darüber Gedanken machen musst.“ Anschließend ging er ohne ein weiteres Wort an Rye vorbei, welcher ihm mit großen Augen hinterherschaute. „Hat er gerade indirekt zugegeben, dass es ihm wahrscheinlich nie gelingen wird, Gin umzustimmen und er sich somit auf verlorenem Posten befindet?“, dachte er ungläubig. Allerdings war er auch unendlich erleichtert, dass er sich scheinbar umsonst Sorgen gemacht hatte. Gin war auf seiner Seite. Das würde von nun an immer so bleiben. Weil sie einander liebten und vertrauten. Doch das triumphierende Lächeln, welches sich bei dieser Erkenntnis fast auf Ryes Lippen gebildet hätte, verging ihm in dem Moment wieder, als der Boss plötzlich an der Tür stehen blieb. „Weißt du was?“, begann er und drehte sich zum Schwarzhaarigen um. „Wenn du schon einmal hier bist, kannst du dich auch nützlich machen.“ Rye sah den Älteren verwundert an. „Wie?“ „Du wirst mir nachher den Rücken freihalten. Als meine persönliche Leibwache.“, entgegnete dieser im Befehlston, während er ihn mit einem strengen Blick musterte. Rye glaubte, er hätte sich verhört. Kurz schob er ungläubig die Augenbrauen zusammen, bevor sich dann aber ein breites Grinsen auf seine Lippen schlich. „Sie wollen Ihr Leben wirklich in meine Hände legen?“, fragte er halb lachend. In Gedanken fragte er sich jedoch, wofür das überhaupt nötig sein würde. Eben hatte der Kerl noch behauptet, er könne gut auf sich selbst achten - und nun brauchte er plötzlich eine Leibwache? Rye ahnte Schlimmes, während der Boss ihn nur vielsagend anlächelte und erwiderte: „Willst du mir damit jetzt etwa verdeutlichen, dass du damals doch gelogen hast, als du mir deine Loyalität geschworen hast?“ Rye starrte den Boss eine Weile wortlos an. Analysierte dessen Gesichtszüge genau. Er benötigte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass es sich bei dem Befehl um keinen Scherz gehandelt hatte. Dieser Mann verlangte wirklich nach seinem Schutz. Der Mann, der ihn in Wirklichkeit abgrundtief verabscheute. Ihm angeblich nicht einmal vertraute. Also war das eine Lüge? Oder wollte er ihn nur auf die Probe stellen? Rye wusste es nicht. Zudem stellte er sich die entscheidende Frage, ob er diesen unerträglichen Kerl, den er eigentlich ebenso sehr hasste, wirklich beschützen wollte. Hatte er einen Grund, ihn zu beschützen? Falls ja, welcher wäre das und was hätte er davon? Während Rye im Gesicht des Bosses nach Antworten auf diese Fragen suchte und nicht fündig wurde, fiel ihm stattdessen nach und nach etwas ganz anderes auf. „Seine Augen…“ Stechend. Kaltblütig. Erbarmungslos. Und doch fühlte sich Rye auf unerklärliche Weise so sehr von ihnen in einen Bann gezogen, dass er für einen kurzen Moment glaubte, er würde Gin in die Augen schauen. Und auf einmal gerieten alle Zweifel in Vergessenheit. Es gab keine offenen Fragen mehr, sondern nur noch eine klare Antwort: Ja, er wollte ihn beschützen. Er musste ihn beschützen. Wie von selbst ging Rye auf die Knie und beobachtete dabei, wie sich das vertraut grüne Augenpaar überrascht weitete. Er legte eine Hand auf seine Brust und senkte leicht den Kopf, bevor er versprach: „Nein, Sir. Sie können sich auf mich verlassen.“ Stille breitete sich aus. Sie war voller Anspannung. Rye hörte Schritte, die langsam auf ihn zukamen und schließlich vor ihm stehen blieben. Er starrte auf das schwarze, glänzende Paar Schuhe des Mannes, als sich kurz darauf vorsichtig eine warme Hand auf seine Schläfe legte. Die anfangs sanfte Berührung verwirrte Rye, doch er zuckte innerlich zusammen, als sich die rauen Finger in seinen Haaren verkrampften. Ein Finger wanderte unter sein Kinn und hob dieses an, sodass sich Ryes Blick mit dem des Bosses traf. Die grünen Augen sahen streng auf ihn herab. Rye konnte seinen sehnsüchtigen Gesichtsausdruck in ihnen erkennen. Doch nicht einmal dann wurde er sich dessen vollkommen bewusst. Er spürte sich selbst nicht mehr. Als befände er sich im Trancezustand und er wusste nicht, wie er sich aus diesem wieder befreien sollte. „Gut.“ Die Stimme des Bosses brach unverhofft das Schweigen und holte Rye wieder zurück in die Realität. „In einer halben Stunde in Saal 3. Sei pünktlich.“ „Ja, Sir.“ Danach lockerte der Ältere seinen Griff und wandte sich ab. Diesmal drehte er sich nicht nochmal um und ließ Rye allein auf der Toilette zurück. Kaum hatte der Boss den Raum verlassen, sackte Rye auf dem gefliesten Boden zusammen. Wie gebannt starrte er auf die geschlossene Tür, sich nicht darüber im Klaren, was gerade passiert war. „Was… war los mit mir… wieso habe ich…“ Rye konnte sich sein Verhalten nicht erklären. Wie hatte er seinen Stolz und seine Würde so fallen lassen können? Und das vor einem Menschen, den er eigentlich hasste. Kopfschüttelnd fasste sich Rye an die Schläfe. Er schämte sich für sein unterwürfiges Verhalten. Doch nun war er gezwungen, sein Wort zu halten. „Wie es aussieht, kann ich jetzt wohl doch an der Konferenz teilnehmen…“, dachte er missmutig. Wenigstens konnte er so wieder in Gins Nähe sein. Aber das war auch das einzig Gute an der Sache. Er befürchtete, dass das möglicherweise genau so ein bitteres Ende nehmen könnte wie damals bei dem Meeting im Westin Hotel. „Am besten halte ich dieses Mal einfach die Klappe und mische mich nicht ein.“, beschloss er. Er würde nicht reden, nicht atmen, niemanden ansehen und schon gar nicht irgendwas Unüberlegtes tun. Er würde erst dann handeln, wenn das Leben des Bosses gefährdet war. Und natürlich das von Gin. Diese beiden Dinge hatten oberste Priorität, ansonsten nahm er lediglich die Rolle des stillen Zuhörers ein. „Ich sollte Gin suchen und nachher einfach mit ihm zusammen zu diesem Konferenzsaal gehen. Alleine finde ich das bestimmt nicht so schnell…“ Rye rappelte sich langsam wieder auf. Doch kaum eine Sekunde später wurde die Tür plötzlich so schwungvoll und laut aufgerissen, dass er vor Schreck in eine Lücke hinter den Toilettenkabinen flüchtete. Schnelle, ungleichmäßige Schritte erfüllten den Raum und das Kichern einer Person. „Ist das… eine Frau?“ Ryes Augen weiteten sich. Er verharrte angespannt an der Stelle und lauschte. „Bist du dir sicher?“, fragte die hohe Frauenstimme belustigt, woran Rye erkannte, dass sich noch jemand bei ihr befinden musste. „Ja, keine Sorge, hier kommt keiner rein.“, versuchte eine Männerstimme die Frau zu beschwichtigen. „Und außerdem… kann man abschließen.“ Rye lief es eiskalt den Rücken herunter. „Bitte nicht.“, flehte er gedanklich, doch kurz darauf hörte er schon, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Jetzt saß er in der Falle. „Zum Glück. Wenn mein Vater das wüsste, würde er mich lynchen.“ Die Frau klang sowohl erleichtert als auch unsicher. „Dich wohl eher nicht, aber mich.“ Er schien ihr einen Kuss zu geben. Für eine Weile war es still und Rye konnte nur hin und wieder das Rascheln von Kleidung hören. Als der Kuss scheinbar wieder beendet war, entwich der Frau ein Stöhnen. Wieder Stille. „Was hast du denn?“, fragte die Männerstimme überrascht. „Ich weiß nicht… ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann. Was, wenn es doch jemand herausfindet?“ „Unsinn, Liebling. Wer sollte es herausfinden? Hier ist niemand. Und es wird bestimmt nicht auffallen, wenn wir kurz weg sind.“, sprach der Mann beruhigend auf sie ein, wobei Rye ihn am liebsten unterbrochen und sich bemerkbar gemacht hätte. Schön wärs, wenn die beiden gerade wirklich die Einzigen im Raum wären. „Und du weißt doch: The snack you eat secretly is more tasty, after all.“ Obwohl der Mann dies leise sagte, konnte Rye es klar und deutlich verstehen. Er erschauderte, als er erkannte, dass ein Hauch Wahrheit hinter den Worten verborgen war. Danach erfolgte von der Frau wieder ein leises Kichern. Eine der Türen von den Kabinen wurde geöffnet und fast im selben Moment wieder zugeschmissen. Mit einem weiteren Schreck musste Rye beschämt feststellen, dass das Paar genau die letzte Kabine ausgewählt hatte, die seinem Versteck am nächsten war. Die dünne Trennwand hinter ihm rüttelte kurzzeitig, als scheinbar jemand kraftvoll dagegen gedrückt wurde. Er hörte den schweren Atem der Frau, als befände er sich direkt neben ihr. Ihr Atem wandelte sich zu einem lustvollen Stöhnen um, welches hin und wieder unterbrochen wurde, wenn ihr Liebhaber ihr anscheinend einen leidenschaftlichen Kuss gab. Inzwischen würde sich Rye am liebsten in Luft auflösen. Er schüttelte den Kopf und versuchte, die Geräusche auszublenden. „Ich sollte die Chance nutzen und verschwinden.“, riet er sich, bevor er leise aus seinem Versteck hervorkam und zur Tür schlich. Doch vor dieser blieb er dann ungläubig stehen. „Das ist ein schlechter Scherz, oder?“ Der Schlüssel im Schloss war verschwunden. Dieser Typ hatte ihn wahrscheinlich eingesteckt. „Scheiße!“ Rye fasste sich an die Stirn und warf der besetzten Kabine anschließend einen finsteren Blick zu. Er wollte es nicht wahrhaben, dass er gerade wirklich auf einer öffentlichen Toilette eingesperrt war. Noch dazu mit einem Pärchen, welches der Meinung war, ihre intimen Angelegenheiten unbedingt hierher verlegen zu müssen. Konnte der Tag eigentlich noch schlimmer werden? „Ich könnte einfach die Tür einschlagen…“, kam es ihm in den Sinn. Aber das wäre wohl definitiv zu auffällig und würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. „Schlösser knacken kann ich nicht…“ Er unterdrückte ein Seufzen. Vielleicht könnte er Gin einfach eine SMS schicken und ihn um Hilfe bitten. Begeistert von diesem neuen Einfall holte Rye sein Handy hervor und wählte Gin in seiner Kontaktliste aus. Doch als er die Nachricht eintippen wollte, verharrte sein Finger in der Luft. „Ich kann ihm doch nicht schreiben, dass ich auf der Toilette eingesperrt bin. Was soll er dann bitte von mir denken?“ Das wäre viel zu peinlich. Zudem wollte er seinem Geliebten nicht noch mehr Ärger machen, als er heute ohnehin schon angerichtet hatte. Also blieb als einzige Möglichkeit: abwarten. Rye hoffte, dass die beiden keine Ewigkeit brauchen würden und der Mann das vorhin ernst gemeint hatte, als er sagte, sie würden nur kurz weg sein. Sonst könnte es mit der Zeit ziemlich knapp werden. „Zur Not muss ich doch die Tür einschlagen.“, dachte er ironisch und ging anschließend leise zu seinem Versteck zurück. Bis das hier vorbei war, musste er sich irgendwie auf andere Gedanken bringen. Aber das war gar nicht so einfach, wenn es sonst nichts anderes in der Nähe gab, was ihn ausreichend ablenkte. Da war nur lusterfülltes Stöhnen. Das Geräusch, wie feuchte Körper aneinander rieben. Wie Schweißperlen über die Haut rannen. Rye spürte, wie die Hitze der Frau trotz der Wand allmählich zu ihm durchdrang. Sie schien förmlich dahinzuschmelzen. Das Blut raste ihr durch die Adern und ihr Herz sprang ihr beinahe aus der Brust. Rye hielt die Luft an. „Ablenken… ich muss mich ablenken…“, ermahnte er sich mehrmals. Verzweifelt sah er sich in der schmalen Ecke um und erblickte nichts weiter als blanke, langweilige Fliesen. Er fing an, sich hilflos ausgeliefert zu fühlen und fragte sich, ob er das wirklich bis zum bitteren Ende durchhalten würde. Das Einzige, was vielleicht noch zur Ablenkung diente und woran er sich klammern konnte, war sein Handy. Auch wenn er es sonst nur benutzte, um mit Gin zu schreiben oder zu telefonieren. Als Rye einen Blick auf das Display warf, sah er, dass er zufälligerweise vor drei Minuten eine neue Nachricht von dem Silberhaarigen erhalten hatte.   [ Wo bist du? ]   , wollte er wissen. Scham stieg erneut in Rye auf, als er mit dem Gedanken spielte, Gin seinen derzeitigen Aufenthaltsort doch zu verraten. Dann würde dieser sofort hierher kommen und die Qual hätte ein Ende. „Nein, da muss ich jetzt allein durch.“, dachte Rye fest entschlossen, bevor er Gins SMS ausweichend beantwortete:   [ Wir sehen uns in einer halben Stunde. ]   Rye musste bei der Vorstellung schmunzeln, wie Gins Gesichtsausdruck wohl aussehen würde, sobald er die Nachricht las. Zum einen ganz verärgert darüber, dass der Schwarzhaarige ihm einfach ausgewichen war. Doch zum anderen würde er sich bestimmt auch fragen, wie dieser das gemeint haben könnte. Ob er nachher sehr überrascht sein würde? „Wenn er jetzt hier wäre, hätte ich wenigstens eine Ablenkung.“, schoss es Rye durch den Kopf, bemerkte anschließend jedoch, dass dieser Gedanke den Umständen entsprechend gewaltig falsch klang. Doch davon befreien konnte er sich dennoch nicht. Die Vorstellung gefiel ihm. Sehr sogar. „Ob wir dann auch…“ Er warf seinen Blick über die Schulter zur Wand und als er sich bewusst wieder auf das Geschehen innerhalb der Kabine konzentrierte, nahm er wahr, wie die Wand im gleichmäßigen Rhythmus hinter ihm bebte. Er konnte hören, wie das Glied des Mannes tief in die junge Frau eindrang und ihr dabei ein abgehaktes Stöhnen über die Lippen drang. Wieder und wieder. Rye öffnete die Augen, sich nicht daran erinnernd, sie überhaupt geschlossen zu haben. Er starrte auf die weißen Fliesen vor sich und krallte seine Hand, die nach unten gewandert war, in den Stoff seiner Hose. Auch ohne an sich herabsehen zu müssen, wusste er mit Sicherheit, was sich ihm gerade voller Energie entgegenstreckte und nach Aufmerksamkeit verlangte. Seine Hand begann zu zittern. Er konnte das unmöglich tun. Nicht hier. Nicht in dieser Situation. Doch wenn er sich nicht darum kümmerte, könnte das sehr unangenehme Folgen haben… Es gelang ihm nicht mehr, eine Entscheidung zu fällen, denn Lust und Verlangen übermannten ihn wie eine unaufhaltsame Flut und vernebelten seinen Verstand. In seinen Ohren rauschte es. Dunkelheit hüllte ihn ein. Hielt ihn gefangen. Alles, was er spüren konnte, war seine pochende Erregung. Plötzlich spielte nichts anderes mehr eine Rolle. Er musste es tun. Jetzt. Sofort. „Gin…“, hauchte Rye gedanklich. Er lockerte seine Hand, öffnete den Reißverschluss seiner Hose und umfasste schließlich sein steifes Glied. „Ich… will ihn halten… ihn an die Wand pressen und… seinen entblößten Körper berühren…“ Er begann den Punkt zu massieren, bewegte seine Finger auf und ab… „Ich will in ihm sein… mich bewegen… ihn erobern… tiefer… schneller…“ Rye hob seine freie Hand zu seinem Mund und biss in sein Handgelenk, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Er stellte sich vor, den Silberhaarigen zu küssen und seine Zunge in dessen feucht-heiße Mundhöhle zu stoßen. So doll, dass ihm ein ersticktes Keuchen entwich und er nahezu vergessen würde zu atmen. „Ich… will… sein Blut… trinken…“ Rye drückte die Zähne fester in seine steinerne Haut. Sein ganzer Körper vibrierte. Das Verlangen hatte die völlige Kontrolle über ihn. In seiner Vorstellung sah er Gins bildschönes, errötetes Gesicht. Tränen glitzerten in seinen Augen, die nichts als pure Lust widerspiegelten. Sie liefen ihm über die Wangen. Rye leckte jede Einzelne von ihnen auf und ließ sich den salzigen Geschmack auf der Zunge zergehen. Er verteilte ein paar Küsse in Gins Halsbeuge, bevor er seine Zähne in die zarte Haut rammte und das dahinter verborgene Blut gierig in sich aufnahm. Bisher kannte er den wahren Geschmack nicht und konnte diesen nur anhand des süßen, verführerischen Dufts erahnen. Doch das genügte. Rye bewegte seine Hand schneller auf und ab, während er das Tempo der Stöße in seiner Vorstellung ebenso erhöhte und seinen Geliebten in neue Höhen trieb. Immer wieder knallte dieser mit dem Rücken gegen die Wand. Stöhnte vor Schmerz und Vergnügen. Krallte seine Finger in Ryes Schulterblätter. Vergaß sich selbst und alles andere um sich herum. Irgendwann spürte Rye, wie sein Körper erzitterte und folglich eine kalte Flüssigkeit in seine Hand spritzte. Das Bild vor seinem inneren Auge verschwand und seine Sicht färbte sich rot. Er fühlte sich noch immer von der Realität gelöst, weshalb er nicht merkte, wie seine Beine ihren Halt verloren und er erschöpft zu Boden sank. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Fliesen ab, wobei sein Kopf leicht gegen die harte Wand knallte, als er ihn senkte.   Rye wusste nicht, wie viele Minuten verstrichen. Es kam ihm nur wie ein kurzer Moment vor. Die Benommenheit ließ allmählich nach und die schwarz-roten Punkte vor seinen Augen lösten sich in Nichts auf. Rye blinzelte desorientiert und versuchte langsam aufzustehen, was ihm aber nur schwer gelang. Es war fiel zu eng und seine Kraft in den Beinen war noch nicht vollständig zurückgekehrt. Seine Knie zitterten und er musste sich an der Wand abstützen. Da bemerkte er jedoch mit Schreck seinen Samenerguss, welcher in kleinen Rinnsalen an den Fliesen hinunter geflossen war und ihn daran erinnerte, was er getan hatte. Er wandte peinlich berührt den Blick von der Sauerei ab und schloss hastig seine Hose. „Das ist unverzeihlich…“ Rye fühlte sich, als hätte er eine schwere Sünde begangen. Und gewissermaßen stimmte das auch. Denn er hatte Gins Unterlegenheit in seiner Vorstellung hemmungslos ausgenutzt und mehr oder weniger bewusst nach dessen Blut verlangt. Wie sollte er ihm nachher bloß wieder unter die Augen treten? „Er wird es nicht erfahren… keiner hat es gesehen…“, beruhigte sich Rye gedanklich. Das würde für immer ein Geheimnis bleiben. Auch wenn es ihm bereits peinlich genug war, dass er der Einzige war, der dieses Geheimnis kannte. Er schämte sich vor sich selbst. Und er wusste nicht, wie er das so schnell vergessen sollte. „Gleich werde ich ja schon mal genug Ablenkung bekommen…“, dachte er ironisch, wobei ihm einfiel, dass er die Zeit völlig aus den Augen verloren hatte. Ein Schock durchfuhr ihn, als er die Uhrzeit auf seinem Handy überprüfte: Bis zum Beginn der Konferenz waren es keine fünf Minuten mehr. Rye lauschte angespannt, doch es war kein Geräusch mehr zu vernehmen. War das Paar etwa schon weg? Um sich zu vergewissern, warf der Schwarzhaarige vorsichtig einen Blick um die Ecke. Die Tür der Kabine stand tatsächlich offen, weshalb Rye den Mut fasste, sein Versteck zu verlassen. Auf dem Weg zum Waschbecken stellte er fest, dass die Kabine leer war. Erleichterung breitete sich in ihm aus. Nachdem er sich die Hände gewaschen und nochmal überprüft hatte, ob seine Kleidung richtig saß, nahm er schnell ein Tuch und entfernte die Samenreste von der Wand, sodass man es nicht unbedingt auf den ersten Blick entdecken würde. Um alles gründlich wegzuwischen, blieb ihm leider keine Zeit mehr. Zum Glück steckte der Schlüssel wieder im Türschloss. Rye verließ die Toilette und sprintete in unmenschlicher Geschwindigkeit zurück zum Saal, in der Hoffnung, dort Gin oder den Boss noch zu erwischen. Doch Fehlanzeige. Beide schienen nicht mehr da zu sein und den ganzen Saal zu durchsuchen, würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Noch zwei Minuten. Das musste noch zu schaffen sein. Diesmal versuchte sich Rye nur auf Gins Geruch zu konzentrieren, da dieser leichter aus der Masse herauszufiltern war. Selbst jetzt noch, wo sein Geliebter den Saal längst verlassen hatte, konnte Rye dessen süßen Duft noch so intensiv wahrnehmen, als befände er sich direkt neben ihm. Schnell verfolgte er die Spur und war froh, dass diese ihn durch einen menschenleeren Treppenflur führte. So war er nicht gezwungen, sich in einem menschlichen Tempo fortzubewegen und konnte deshalb den gesuchten Treffpunkt noch gerade rechtzeitig erreichen. Vor ihm betraten gerade zwei ältere Männer den Raum. Rye passte sich unauffällig ihrem Schritttempo an und folgte ihnen. Kaum hatte er den etwas kleineren Saal betreten, schlossen zwei Bedienstete die Türen hinter ihm. Das Erste, was Rye wahrnahm, war der beinahe unerträgliche Zigarettengestank. Es war relativ dunkel, was unter anderem daran lag, dass die Lampe an der Decke nur schwach leuchtete und die Wände dunkelblau gestrichen waren. Die Fenster wurden allesamt von Vorhängen verdeckt, sodass niemand herein, aber auch niemand hinausschauen konnte. In der Mitte befand sich ein riesiger, runder Tisch. Die Stühle schienen genau abgezählt zu sein, da sich an jedem Platz ein volles Weinglas befand. Auf einem kleineren Tisch an der Seite standen noch mehr Weinflaschen auf einem Tablett und daneben ein paar unbenutzte Aschenbecher. Ansonsten gab es nicht mehr viel an Einrichtung. Insgesamt wirkte die Atmosphäre im Raum sehr düster, fast unheimlich auf Rye, was durch die schwarz gekleideten Gestalten mit den todernsten Gesichtern noch verstärkt wurde. Obwohl dies nach Ryes Wissensstand eigentlich eine Art friedliches Treffen sein sollte, machte es auf ihn eher den Eindruck, als würden sich alle Anwesenden insgeheim gegenseitig nach dem Leben trachten. Die Wenigen, die miteinander ein leises Gespräch führten, hatten ihre neiderfüllten Blicke nebenbei fest auf eine andere Person gerichtet. Der Zigarettenqualm wich aus ihren Mündern, während sie lästerten. Rye hatte jetzt schon genug. Am liebsten würde er direkt auf dem Absatz kehrtmachen und aus dem Saal flüchten. Aber das war nicht möglich. Er durfte sein Wort, welches er dem Boss gegeben hatte, nicht brechen. Dieser befand sich bereits auf seinem Platz und musterte Rye mit einem ungeduldigen Blick. Links neben ihm konnte der Schwarzhaarige Gin entdecken, doch als er ihm ein leichtes Lächeln zuwerfen wollte, bemerkte er, dass er inzwischen von jedem im Saal angestarrt wurde. Unbehagen beschlich Rye. Doch dann erkannte er den Grund für das Anstarren: Er war der Einzige, der noch nicht Platz genommen hatte. Tatsächlich gab es noch genau einen freien Stuhl. Allerdings neben dem Boss. Während Rye innerlich ein verzweifeltes Seufzen entwich, huschte er mit schnellen Schritten zu seinem Platz und setzte sich wortlos hin. Er hörte, wie einer der Anwesenden kaum merklich lachte. Ein paar andere schmunzelten amüsiert. Im Augenwinkel konnte Rye sehen, wie sich Gin an die Stirn fasste und unauffällig den Kopf schüttelte. „Das fängt ja gut an.“ Rye senkte verlegen den Blick zur Tischplatte, wo ihm auch das für ihn bestimmte Weinglas auffiel. Er bekam eine böse Vorahnung. Im nächsten Moment räusperte sich der Boss an seiner rechten Seite, bevor er mit sicherer, fester Stimme begann: „Nun, da wir jetzt vollzählig sind, können wir ja beginnen. Ich heiße Sie alle wie jedes Jahr herzlich Willkommen und freue mich, dass wir uns auch in diesem Jahr über eine weitere, gemeinsame Entwicklung unserer Geschäfte unterhalten können.“ Die ganze Konferenz dauerte ungefähr eine Stunde. So genau wusste es Rye nicht. Aber es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor und mit jeder weiteren Sekunde, die verstrich, sehnte er sich mehr und mehr nach einem Schlusssatz, der das ganze Hin und Her beenden würde. Doch was dies betraf, wurde er immer wieder enttäuscht. Keiner wollte ein Ende finden, jedes Mal fiel irgendjemandem noch etwas anderes ein oder war mit vorherigen Vereinbarungen nicht zufrieden, sodass das entsprechende Thema nochmal neu aufgerollt werden musste. Ein bis zwei Mal kam es fast zu einer Auseinandersetzung, jedoch war es dem Boss durch geschickte Worte stets gelungen, eine Eskalation rechtzeitig zu verhindern. Auch wenn der Punkt dann trotzdem an ihn ging. Generell schien alles so zu verlaufen, wie er es wollte. Alles musste sich nach ihm richten. Alles musste so gemacht werden, wie er es am besten fand. Komischerweise waren die anderen Anwesenden größtenteils immer mit allem einverstanden und sagten nur selten etwas dagegen. Viele von ihnen wirkten auf Rye teils sogar eingeschüchtert und mit der Zeit fiel ihm auf, dass er nicht der Einzige war, der sich bewusst zurückhielt. Es war so, als gäbe es keine andere Wahl, weil die Folgen zu fatal wären. In gewisser Weise schienen all diese Geschäftsleute vom Boss abhängig zu sein. Als seien sie nur winzig kleine Teile einer Maschine, die zur Vervollständigung zwar notwendig waren, aber an sich keinen großen Einfluss auf die Funktion nehmen konnten. Das Einige darüber sehr erbost waren, bemerkte Rye relativ schnell an ihrer Tonlage oder ihrem Gesichtsausdruck, auch wenn es nur ein gereiztes Zucken der Mundwinkel war. Es war ein Leichtes für Rye, fast jeden der Männer zu durchschauen und ihre wahren Gedanken zu erraten. Und ein Gefühl sagte ihm, dass dem Boss dies ebenso gelang, es ihm aber nicht weiter kümmerte, was die anderen dachten. Die ganze mühsam beibehaltene gute Stimmung in Kombination mit den hintergründigen Motiven, die niemand aussprach, erzeugte eine drückende, angespannte Atmosphäre im Raum, welche Rye schon nach wenigen Minuten nicht mehr aushielt. Je mehr Zeit verging und je mehr Worte ausgesprochen wurden, desto unwohler fühlte er sich. Als stände jemand hinter ihm, der ihn mit einem Strick erwürgte. Und er konnte nichts tun, geschweige denn um Hilfe schreien. Die Menschen im Raum stellten allein eigentlich keine gefährliche Bedrohung für ihn dar – generell gab es hier drin nur einen Menschen, den er fürchtete – doch es war die Stimmung, die sie verbreiteten und die Rye innerlich fast wahnsinnig werden ließ. Er hatte sich seit Beginn keinen Zentimeter gerührt. Nicht geblinzelt. Nicht einmal einen Atemzug getan. Er konnte sich gut vorstellen, wie dieses Verhalten möglicherweise auf andere wirkte, doch dadurch schien er für die meisten auch unsichtbar zu wirken. Keiner beachtete ihn. Nur sehr selten wurde er von jemandem angesehen. Und die Blicke, die sich versehentlich auf ihn verirrten, wendeten sich blitzschnell wieder ab. Dem Inhalt der Gespräche schenkte Rye kaum Beachtung, da ihn das meiste sowieso nicht betraf, jedoch wenn Gin ab und zu etwas beizutragen hatte, hörte er ihm genau zu. Er empfand es irgendwie als bewundernswert, wie überzeugend sein Geliebter bei jeder Silbe klang und er sich nicht von Gegenargumenten aus der Bahn werfen ließ. Zum Ende hin fiel Rye immer weiter in einen Trancezustand und das Meiste rauschte an ihm vorbei. Erst, als sich irgendwann alle gleichzeitig von ihren Stühlen erhoben, wurde ihm wieder bewusst, wo er sich gerade befand und dass er ebenso aufstehen musste. Jedoch nicht, um zu gehen. Sondern um anzustoßen. Rye nahm zögerlich das Weinglas in die Hand und betrachtete das Gebräu darin mit einem angewiderten Gesichtsausdruck. Wenn er sich das in den Rachen kippte, würde er sich mit Sicherheit vor allen Anwesenden blamieren. Doch was sollte er dann tun? Schließlich musste er den Wein trinken. Fast im selben Moment nahm jeder einen Schluck aus seinem Glas. Rye behielt den Inhalt einfach in seinem Mund, ohne ihn herunterzuschlucken. Es fühlte sich schon nach wenigen Sekunden widerlich auf der Zunge an, sodass er es am liebsten sofort wieder ausgespuckt hätte. Aber er versuchte sich nichts anmerken zu lassen. In ein paar Minuten würde er diese Hölle hoffentlich verlassen können. Zum Glück war bis jetzt nichts Außergewöhnliches passiert, was den Abend in einem Desaster hätte enden lassen können. Doch gerade, als sich Rye in Sicherheit wiegen wollte, begann der Boss neben ihm plötzlich in einem hochmütigen Tonfall: „Fujiwara, mein Freund…“ Er richtete seinen Blick auf den Besitzer dieses Namens. Die Anspannung im Saal schien sich mit einem Mal plötzlich zu verdoppeln. Die Augen des Bosses blitzten diabolisch, als er fortfuhr: „Bitte sag mir doch, auf was wir gerade angestoßen haben.“ Stille. Alle Anwesenden tauschten beklommene, unauffällige Blicke miteinander aus, während sich ihr Herzschlag von Sekunde zu Sekunde erhöhte. Der Puls von diesem Fujiwara schien vor Angst besonders hoch zu schlagen. Doch seine Miene blieb ausdruckslos, als er mit unsicherer Stimme erwiderte: „Nun, auf weiterhin gute Zusammenarbeit, nehme ich an…“ Der Boss setzte ein amüsiertes Grinsen auf. Er stellte sein Glas lautlos auf dem Tisch ab und sagte: „Ach wirklich? Weißt du, ich habe mir neulich erlaubt, die Teile der Waffen, die du mir jeden Monat zukommen lässt, überprüfen zu lassen. Dabei konnte ich feststellen, dass die Qualität technisch bezogen sehr nachgelassen hat. Anders ausgedrückt: Du jubelst mir schon seit einer gewissen Zeit Billigware unter, verlangst dafür aber dennoch immer wieder eine höhere Geldsumme. Du selbst hingegen scheinst anderen gegenüber nicht mehr in der Lage zu sein, deine eigenen Rechnungen zu bezahlen. Zumindest die, die dein Waffengeschäft betreffen. Seltsamerweise bist du, wie ich aus sicherer Quelle erfahren konnte, weder bankrott noch hast du bei jemandem einen Berg Schulden auszugleichen. Du investierst viel. Sehr viel sogar. In Projekte von gewissen Akteuren, die mich schon ein wenig in Sorge versetzen. Ich wusste gar nicht, dass du seit Neuestem mit der Konkurrenz zusammenarbeitest. Hältst du mich etwa für bescheuert und dachtest, ich merke das nicht?“ Sein Gesprächspartner konnte sich zu diesen Vorwürfen nicht mehr äußern. Ryes Augen weiteten sich vor Schock, als der Mann plötzlich kreidebleich im Gesicht wurde und anfing, wild zu zittern. Seine Hand wanderte zu seinem Hals. Er schien zu ersticken. Im Augenwinkel sah Rye, wie das Lächeln des Bosses mit jedem verzweifelten Versuch des Mannes, nach Luft zu schnappen, immer breiter wurde. „Nein, mein lieber Fujiwara, wir beide haben heute nicht auf gute Zusammenarbeit angestoßen.“, meinte er in gespielt bedauerlicher Tonlage und beobachtete mit all den anderen, wie der Mann schließlich zu Boden fiel. Sein Herz hörte auf zu schlagen. Alle Blicke – mit Ausnahme von Gin und dem Boss – waren entsetzt auf den toten Leichnam gerichtet. Niemand traute sich, irgendwas zu sagen. Als sie das Geschehene scheinbar endlich mit den Augen verarbeitet hatten, richteten sie ihren Blick geschlossen auf Renya. In vielen Gesichtern lag so etwas wie Todesfurcht, aber auch eine Mischung aus Wut und Verachtung. Dennoch brachte niemand ein Wort über die Lippen. Selbst Rye musste sich eingestehen, dass das, was gerade passiert war, ihm ein wenig Angst machte. Er konnte nicht einmal genau sagen, was überhaupt passiert war und wie es hatte passieren können. Der letzte klar denkende Teil seines Verstandes teilte ihm irgendwo im Hinterkopf mit, dass der Mann offensichtlich vergiftet wurde und das höchstwahrscheinlich mithilfe des Weins, den er kurz vorher getrunken hatte. Doch das perfekt abgestimmte Timing bis zu seinem eintretenden Tod war wohl die schwerwiegendere Ursache, die alle vor Schock versteinern ließ. Da brach der Boss auf einmal das Schweigen. „Ich denke, das war soweit alles für heute. Wenn die Herren uns dann entschuldigen würden.“, meinte er in einer unbesorgten Tonlage, als hätte der Mord eben gar nicht stattgefunden. Rye sah ihn überrascht an, war insgeheim aber froh darüber, dass er anscheinend endlich hier raus konnte. Er folgte Gin und dem Boss mit zügigen Schritten zur Tür, erstarrte dann jedoch, als jemand hinter ihnen schrie: „Mir reicht es jetzt! Du kannst uns nicht ständig alle nach deiner Nase tanzen lassen und dann auch noch jeden beseitigen, der sich weigert, dieses Spielchen länger mitzuspielen! Hältst du dich etwa für Gott oder was?!“ Rye hörte, wie die wütende Stimme immer näher kam. Als er sich umdrehte, sah er, wie sich ein Mann beim Gehen eine volle Weinflasche vom Tisch schnappte und dann anfing zu rennen. Seine Augen waren gezeichnet von tiefer Mordlust. „Woher nimmst du dir das Recht, über uns zu richten?!“ Der Mann erhöhte sein Schritttempo weiter. Schwang die Weinflasche dabei hoch in die Luft. Er dachte wohl, er wäre stark genug, um den Schwarzhaarigen einfach beiseite zu stoßen. Doch da hatte er sich geschnitten. Rye schnellte nach vorn, um dem Kerl den Weg zu versperren und sein Handgelenk zu ergreifen. Mit Leichtigkeit drehte er dieses herum, sodass dem Mann ein schmerzerfülltes Keuchen entwich und er die Flasche fallen ließ. Er schaute Rye durch seine verengten Augen hasserfüllt an, während dieser dagegen keine Miene verzog. Was nun? Sollte er ihn etwa töten? Rye wartete auf einen Befehl, der aber nie kam. Wie fremdgesteuert zerdrückte er das Handgelenk des Mannes immer weiter, bis die Knochen ein knackendes Geräusch von sich gaben und noch ein Schrei erfolgte. Gerade, als er seine andere Hand hob und sie um den Hals des Mannes schließen wollte, sprach eine autoritäre Stimme hinter seinem Rücken: „Das reicht, Rye.“ Erschrocken wandte Rye den Blick und schaute in das strenge Gesicht seines Bosses. Er hatte mit einem anderen Befehl gerechnet. War das wirklich sein Ernst? Dieser Mann hatte nicht den Tod verdient? Die Fragen in seinem Kopf brachten Rye zum Zögern. „Allerdings… das ist das erste Mal, dass er mich mit meinen Codenamen angesprochen hat…“ Das erste Mal, dass er ihn nicht als ein abscheuliches Wesen bezeichnet hatte. „Lass ihn los.“ Rye lockerte seinen Griff auf der Stelle, ohne sich zu dem Kerl umzudrehen. Er vernahm nur, wie dieser schwer atmend von ihm zurückwich. Der Schwarzhaarige ließ seinen Blick abwechselnd zwischen Gin und dem Boss hin und her wandern. Ihre Gesichtsausdrücke ähnelten sich zwar, und doch unterschieden sie sich so voneinander. Die Augen des Bosses schienen von völliger Leere gefüllt zu sein, während sich in Gins wiederum Dankbarkeit sowie ein Hauch von Erleichterung widerspiegelte. „Auf dieser Welt gibt es keinen Gott.“, sagte der Boss plötzlich tonlos, bevor er sich wegdrehte und den Raum verließ. Rye wartete, bis sich Gin ebenso in Bewegung setzte und erst, als er sich sicher war, dass keine Gefahr mehr drohte, folgte er ihnen durch die Tür und ließ alles andere hinter sich zurück. Draußen überkam ihm umgehend eine große Welle der Erleichterung. Es war vorbei. Er hatte es überstanden. Auch wenn das Ergebnis weniger erfreulich war. Den Boss hingegen schien das völlig kalt zu lassen. Rye beobachtete, wie dieser mit Gin vor ihm lief und die beiden sich im leisen Ton unterhielten. „Willst du ihm das wirklich einfach so durchgehen lassen?“, fragte Gin mit Skepsis in der Stimme, woraufhin der Boss ironisch erwiderte: „Natürlich nicht. Aber darum kümmere ich mich später. Ich wollte es nicht übertreiben und die edlen Herren unnötig verärgern. Sie sind ja durchaus noch von Nutzen.“ Anschließend drehte er sich mit einem zufriedenen Lächeln zu Rye um und sagte zu ihm: „Das hast du gut gemacht.“ Der Schwarzhaarige blinzelte überrascht. „War das etwa… ein Lob?“ Für einen kurzen Moment glaubte er so etwas wie Stolz zu fühlen. Er war stolz auf sich selbst. Zum ersten Mal schien er in den Augen des Bosses etwas richtig gemacht zu haben. Er hatte ihn weder enttäuscht noch einen Grund geliefert, herablassend zu sein. „Vielleicht… hasst er mich ja doch nicht allzu sehr…“, hoffte Rye. Aber warum hoffte er das? Warum war es ihm auf einmal so wichtig? Eigentlich hasste er diesen Mann doch auch. Diesen uralten, arroganten, kaltherzigen Mann, der einen Haufen Geheimnisse mit sich herumschleppte und diese nicht aufzudecken vermochte. Und dennoch wollte Rye am liebsten alles über ihn herausfinden. „Du darfst jetzt gehen.“, fügte der Boss noch hinzu. Die Wortwahl deutete zwar eher auf ein Angebot hin, jedoch hörte es sich wie ein Befehl an, welchen Rye lieber nicht missachten wollte. Er nickte und nutzte die Gelegenheit, den schnellsten Weg zur Toilette aufzusuchen. Da war noch immer dieses widerliche Zeug in seinem Mund, welches allmählich seine empfindlichen Geschmacksnerven absterben ließ. Zumindest fühlte es sich so an. Ätzend und bitter. Die Toilette war diesmal ausnahmsweise nicht leer. Jedoch war der ältere Mann glücklicherweise schon fertig mit Hände waschen und Rye musste nur kurz warten, bis dieser die Örtlichkeit wieder verließ. Kaum war er allein, beugte er sich über das Waschbecken und spuckte den Wein aus. Dabei entwich ihm ein angewidertes Keuchen. Ironischerweise handelte es sich um roten Wein, sodass es beinahe so aussah, als würde er Blut spucken. Doch das machte keinen Unterschied. Denn selbst als die Flüssigkeit nicht mehr in seinem Mund war, verschwand der ekelhafte Geschmack trotzdem nicht und biss sich tief in seine Rachenhöhle. Irgendwie musste er diesen Geschmack schnell wieder loswerden. Doch wie? Würde Wasser ausreichen? Noch bevor Rye diese Option ausprobieren konnte, hörte er, wie die Tür geöffnet wurde und jemand hereinkam. Er verdeckte seinen Mund mit der Hand und drehte schnell den Wasserhahn auf. Als er den Kopf allerdings zur Tür drehte, entspannte er sich sofort wieder und ließ seine Hand sinken. „Woher wusste er, dass ich hier bin?“, überlegte Rye, während die Person auf ihn zukam. „Obwohl… schwer zu erraten war das nicht.“ „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Gin und blieb neben dem Waschbecken stehen. „Ja, der Wein hat nur ziemlich furchtbar geschmeckt.“, gestand Rye lächelnd und spülte seinen Mund danach mit Wasser aus, welches eine leicht rote Färbung annahm, als er es wieder ausspuckte. Nicht mal das konnte den schrecklichen Geschmack gänzlich vertreiben. Er spülte noch ein paar Mal. „Hey, der Rotwein war nicht gerade billig und du verschmähst ihn.“, neckte Gin ihn, was Rye aber nicht beachtete und einfach weiter seinen Mund ausspülte. Er kam sich total bescheuert vor. Es half kein bisschen. Der Geschmack klebte förmlich an seiner Mundschleimhaut. Schließlich gab er es nach etlichen erfolglosen Versuchen auf und drehte den Wasserhahn wieder zu. Als er aufsah, begegnete er Gins sorgenvollem Blick. „Tut mir leid, ich hätte dich nicht ermutigen sollen, mitzukommen.“, meinte er, was Rye nicht nachvollziehen konnte. Er hätte Gin ohnehin begleitet, egal, ob dieser es ihm erlaubt hätte oder nicht. „Schon gut. So schlimm war es nicht… Abgesehen von dem Mord… das kam etwas unerwartet.“ Rye versuchte es herunterzuspielen. Dass er sich in Wirklichkeit wie in der Hölle gefühlt hatte, verschwieg er seinem Geliebten besser. „Wenn ich gewusst hätte, dass du auch an der Konferenz teilnehmen sollst, dann hätte ich dich eingeweiht.“, erwiderte dieser schulterzuckend. Rye blieb der Atem stehen. „Der Mord… war also nicht nur vom Boss geplant gewesen?“ Er wusste nicht, weshalb ihn das so überraschte. Manchmal vergaß er einfach, was für eine Art Mensch der Silberhaarige sein konnte. Ein Mensch, der dem Boss in vielen Dingen erschreckend ähnlich war. „Natürlich nicht. Ich hab schließlich auch das Weinglas präpariert.“ Gin sprach das so aus, als hätte er was ganz Alltägliches getan. „Oh…“ Rye wollte nicht sagen, was ihm auf der Zunge lag, weshalb er schnell nach anderen Worten suchte: „Aber das… war doch viel zu riskant. Was, wenn die Polizei dahinterkommt oder einer von denen redet…“ Vermutlich war das vollkommen ausgeschlossen. Der Boss würde nichts tun, was die Organisation gefährden könnte. Gins nächste Aussage bestätigte dies: „Die Polizei kommt nicht dahinter, glaub mir. Und die haben alle genug Leichen im Keller, da werden sie es sich nicht wagen, in irgendeiner Weise mit der Polizei in Verbindung zu treten. Das ist denen viel zu riskant. Im Endeffekt war es zwar offensichtlich gewesen, wer den Kerl vergiftet hat, aber hat es jemand gesehen? Kann man uns irgendwas nachweisen? Nein.“ „Stimmt wohl… dann ist ja alles gut.“ Rye zwang sich ein Lächeln auf, doch Gin durchschaute die unbekümmerte Fassade sofort. „Wirklich?“, hakte er nach. Rye nickte. Es gab tatsächlich noch etwas, was ihm ein echtes Lächeln entlockte. „Der Boss war wohl tatsächlich mal zufrieden mit mir.“, antwortete er. „Scheint so.“ Gin schaute nachdenklich zur Seite. „Er hat sich mit dir an seiner Seite erstaunlich sicher gefühlt, sonst hätte er sich nicht so leichtsinnig verhalten. Übrigens danke… dass du ihn beschützt hast.“ Der letzte Satz kam ihm schwer über die Lippen. Ryes Augen verengten sich. „Ich hab das nicht seinetwegen getan.“, stellte er klar. Wenn es nach ihm ginge, wäre dieser Kerl schon drei Mal tot. Nein, mindestens zehn Mal. „Ich weiß.“, entgegnete Gin leise. Er schien auch zu ahnen, wo das Problem lag. Aber natürlich wollte er nicht darauf eingehen, was Rye ihm nicht durchgehen ließ. „Warum stehst du eigentlich so für jemanden ein, der letztlich nur auf dich herabsieht? Dieser Mensch ist einfach unerträglich… und innerlich verdorben…“ In seinen letzten Worten mischte sich eine gewaltige Menge Hass, die seiner Stimme einen düsteren Unterton verlieh. Er senkte den Blick und ballte die Hände zu Fäusten. „Rye.“, ermahnte Gin ihn plötzlich. „Das ist genug.“ Der Schwarzhaarige blickte seinen Gegenüber eine Weile fassungslos an. Doch er ließ sich von der strengen Tonlage nicht einschüchtern. Es war ihm egal, ob er vielleicht einen empfindlichen Punkt getroffen hatte. Er konnte das nicht länger wortlos akzeptieren. Sonst würde es nie aufhören. „Nein. Ich ertrage es nicht, wie er mit dir redet, und wie er ständig versucht… dich mir wegzunehmen…“ Rye wurde zum Schluss immer leiser. Er bemerkte nicht, wie gekränkt seine Stimme klang. Doch Gin schien ihm dadurch entgegenkommen zu wollen. „Du weißt genau, dass ich das nicht zulassen würde.“ Auch wenn die Worte keinen Zweifel daran ließen, konnte Rye ihnen nicht glauben. „Auch nicht, wenn er es befehlen würde?“ Er beschloss Gin auf die Probe zu stellen. Doch dieser antwortete schneller und selbstsicherer, als er erwartet hatte. „Auch dann nicht.“ Seine Miene war ernst. Sein Blick eindringlich. Rye sah ihn mit großen Augen an. „Das heißt… du würdest dich seinem Befehl widersetzen, weil ich dir wichtiger bin?“, verdeutlichte er seine Frage nochmals, um sich zu vergewissern. Er wollte es hören. Gin sollte ihm sagen, dass er für ihn wichtiger war als der Boss. Dass es niemanden gab, der wichtiger war. Erst dann würde Rye nachlassen. Doch er erhielt keine Antwort. Nach etlichen Sekunden des Schweigens fiel ihm auf, dass Gin absichtlich seinem Blick auswich. Als er seinem Geliebten näherkam, schlich sich eine warme Röte in dessen Wangen, die Rye fast alles um sich herum vergessen ließ. Er strich mit den Fingern über Gins weiche Haut und flüsterte ihm verführerisch ins Ohr: „Du kannst es ruhig zugeben.“ Seine Zungenspitze berührte dabei zärtlich die Ohrmuschel, was Gin ein Schaudern entlockte und sein Atem ins Stocken brachte. „Er ist so leicht aus der Fassung zu bringen.“, dachte Rye triumphierend und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Seine Hand wanderte zu Gins Nacken und zog ihn ein wenig näher zu sich heran, sodass er ihm einen Kuss auf die Lippen hauchen konnte. Danach schmiegte er seinen Kopf an Gins Stirn und schaute ihm tief in die Augen. So tief, dass er sich fast in ihnen verlor. Und ein Gefühl sagte ihm, dass es bei seinem Geliebten bereits zu spät war. Rye konnte kaum widerstehen. Die Vorstellungen mit Gin, in welchen er vorhin versunken war, drängten sich unweigerlich erneut in seine Gedanken und lösten ein ungezügeltes Verlangen in ihm aus. Auf einmal wurde Rye bewusst, dass er nur noch einen Hauch davon entfernt war, diese Vorstellungen auch wahr werden zu lassen. „Aber soll ich dieses Risiko wirklich eingehen…?“ Er wusste genau, dass er das nicht tun durfte. Er durfte Gin nicht auf diese Weise für sich beanspruchen. Dafür besaß er nicht genügend Selbstkontrolle. Doch so sehr er sich das auch versuchte einzureden – es funktionierte nicht. Stattdessen hallten plötzlich ganz andere Worte in seinem Kopf wider: „Ich möchte dich doch nur glücklich machen… Das kannst du aber nicht, wenn du nicht bereit bist, auch Risiken einzugehen.“ Auch wenn der Streit schon zwei Tage zurücklag, fühlte er sich noch immer von dem Gesagten verfolgt. Gerade jetzt in diesem Moment schenkte er Gins damaligen Worten wohl mehr Glauben, als er eigentlich sollte. Weil er ihn so sehr wollte. Er wollte ihn glücklich machen. Jetzt. Und dafür musste er Risiken eingehen. Ihm blieb keine Wahl. Seine Kehle wurde immer trockener. Das Verlangen immer größer. Ein winziger Teil in ihm hoffte, dass Gin etwas sagen und ihm von seinen Vorhaben abbringen würde. Aber das geschah nicht. Erst, als Rye ihn am Handgelenk packte und in eine der Toilettenkabinen zog, erwachte der Silberhaarige aus seiner Starre. Aber längst zu spät. Rye schloss die Tür hinter sich und stützte seine Hände links und rechts neben Gin ab, welchem in diesem Moment dutzend Fragen im Gesicht standen. Die Augen vor Verwirrung weit aufgerissen, öffnete er den Mund, um etwas zu sagen. Doch der Schwarzhaarige ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen und drängte ihm einen intensiven Kuss auf. Er stellte sein Knie zwischen Gins Beine und drückte ihn an die Wand, während seine Zunge begann dessen Mundhöhle zu erkunden. Alles, was er schmeckte, was er schmecken wollte, war Gin. Inzwischen war der furchterregende Geschmack des Weines nur noch eine ferne Erinnerung für ihn. Er stöhnte in den Kuss hinein und fing nebenher an, die Knöpfe von Gins Sakko zu öffnen. „Was… tust du…“, entwich es seinem Geliebten schwer atmend, als Rye ihm kurz eine Pause zum Luft holen gönnte, nur um kurz darauf noch tiefer in seine Mundhöhle einzudringen. Er suchte nach der Nähe zu Gins Zunge und umschmeichelte sie leidenschaftlich, woraufhin er spüren konnte, wie dem Silberhaarigen ein Schauer der Lust durchbebte. Rye erschauderte ebenso und presste sich instinktiv stärker an ihn. Er streifte das Sakko über Gins Schulter und machte sich keine Sekunde später an die Knöpfe des weißen Hemds zu schaffen, welches sich darunter verbarg. Gleich würde Gin endlich vollkommen ihm gehören. Gleich würde er endlich bekommen, wonach er sich schon so lange gesehnt hatte. Nichts konnte ihn mehr davon abhalten. Er würde sich alles von Gin nehmen. Alles, was er an ihm begehrte. Es war ausweglos. „N-Nicht… Rye…“, sprach sein Geliebter mit zittriger Stimme. Doch Rye kam der Forderung nicht nach und fuhr mit seinen Liebkosungen fort. Die Reaktionen von Gins Körper zeigten ihm mehr als eindeutig, wie sehr dieser es wollte. Er konnte spüren, wie immer mehr Energie in das Glied des Silberhaarigen wanderte und es sich wohl bald in voller Länger aufrichten würde. Doch so weit kam es nicht mehr. Im nächsten Moment entriss sich Gin den Berührungen von Rye und schubste ihn von sich weg, sodass er mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand landete. Rye schaute seinen Geliebten aufgelöst an, während dieser ihn mit einem wütenden Funkeln in den Augen musterte und sich das Hemd zuhielt, um seine entblößte Brust zu verbergen. Dieser hinreißende Anblick brachte den Vampir fast erneut um den Verstand. Er drehte seinen Kopf schnell woanders hin und versuchte sich wieder zu sammeln. Als er sich über sein egoistisches Fehlverhalten im Klaren wurde, stieg Reue in ihm auf und zeichnete sich kurzerhand in seinem Gesicht ab. „Was soll das? Was ist plötzlich los mit dir?“, wollte Gin wissen. Seine Stimme klang kalt vor Entsetzen, was Rye unmittelbar einen Stich durchs Herz jagte. Obwohl er sich seiner Schuld bewusst war, ertrug er die offensichtliche Abweisung nicht. Er würde es nie ertragen können, von Gin abgewiesen zu werden. Egal aus welchem Grund. „Nichts… ich dachte… also… ich wollte nur…“ „Ja?“, bohrte Gin, während Rye das Gefühl bekam, an der Wand immer kleiner zu werden. Er konnte den Silberhaarigen nicht mal mehr in die Augen schauen. „Entschuldige. Das war rücksichtslos von mir.“, meinte er leise. Ihm fiel nichts anderes ein. Die Wahrheit würde Gin vermutlich noch mehr verärgern. Auch wenn er jetzt schon verärgert genug zu sein schien. „Bitte sei nicht sauer…“ Im Augenwinkel sah Rye, wie sich Gin schweigend das Hemd zuknöpfte und sein Sakko wieder vernünftig über die Schultern zog. „Ich werd gleich sauer, wenn ich noch einmal dieses Wort aus deinem Mund höre. Das erklärt gar nichts.“, entgegnete er dann. Ryes Lippen bebten stumm. Er konnte nur nicken. Doch irgendwas musste er sagen. Mit einer Entschuldigung würde er bei Gin nie mehr weit kommen. Also entschied er sich, ihm anders auszuweichen. „Warum muss ich das erklären? War es nicht offensichtlich, was ich von dir wollte?“ „Aber warum? Du bist doch sonst immer so rücksichtsvoll und willst nichts überstürzen. Und jetzt überfällst du mich förmlich und erwartest, dass ich mich dir einfach hingebe, obwohl du so wenig Selbstvertrauen in dir hast?“ Das Misstrauen in Gins Stimme war nicht zu überhören. Aber würde dieses Misstrauen auch lang genug anhalten, um ihn vor Ryes Motiven zu schützen? „Du hast recht, ich hab es diesmal wirklich überstürzt. Das wollte ich nicht. Aber ich muss ständig daran denken, was du letztens gesagt hast… dass ich dich nicht glücklich machen kann, wenn ich nicht bereit bin, auch Risiken einzugehen… und dass ich dich körperlich nie richtig befriedigen kann…“, gestand dieser verzweifelt. „Ich hab dir doch gesagt, dass du dir darüber keine Gedanken mehr machen musst. Sehe ich gerade in irgendeiner Weise unglücklich für dich aus?“ Rye war kurz davor, seinen Geliebten wieder anzusehen. Doch er traute sich noch nicht und schüttelte einfach kaum merklich den Kopf. Wenn Gin schon so fragte, wollte er mit Sicherheit kein Ja darauf hören. „Gib es zu, in Wahrheit bist du derjenige, der unglücklich ist.“, fügte er mit schneidender Stimme hinzu, sodass Rye vor der Wahrheit in den Worten erschrak. Es stimmte. Ständig das Gefühl zu haben, Gin nicht glücklich machen zu können, machte ihn in Wirklichkeit selbst unglücklich. Doch nicht nur das. „Ja, weil ich mir selbst im Weg stehe. Ich stehe uns im Weg. Dabei will ich dir so viel mehr bieten…“ Er wollte seinem Geliebten die Welt zu Füßen legen. Ihm all seine Wünsche und Bedürfnisse von den Augen ablesen. Rye würde ihm ausnahmslos alles geben. Aber das Problem war er selbst. Er selbst war sein größter Feind, welchen er besiegen musste. „Wie gesagt, die Entscheidung-“ „Sie liegt bei mir, ich weiß.“, unterbrach er Gin und fasste anschließend endlich den Mut, ihn wieder anzusehen. Ein Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. „Du hattest recht. Da ist nichts in mir, was mich kontrolliert. Ich bin selbst dafür verantwortlich.“ Gin zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Hab ich heute irgendwas verpasst oder woher kommt plötzlich dieser Sinneswandel?“, fragte er scherzhaft, was Rye zum Schmunzeln brachte. Ja, er hatte in der Tat eine Menge verpasst. Aber das würde er niemals erfahren. „Nein… das ist alles deinetwegen… weil ich dich viel zu sehr liebe und ich diese körperliche Distanz zwischen uns nicht länger aushalte… Ich will dir auf keinen Fall weh tun, aber ich glaube, wenn genau dieser Wille stark genug ist, dann werde ich es schaffen die Kontrolle zu bewahren. Ich muss mir nur selbst ein wenig mehr vertrauen und mich konzentrieren.“, sprach Rye mit einer Entschlossenheit, von welcher er selbst nicht wusste, woher sie genau kam. Doch er bemerkte zunehmend, dass er seinen eigenen Worten nicht richtig glauben konnte. Er fühlte sich unwohl. Als würde sein Verlangen im Hintergrund die Fäden ziehen und versuchen, Gin in einen Bann zu ziehen. Dieser benötigte eine Weile, um die Worte zu erfassen. Doch letztlich schien er sich von ihnen einwickeln zu lassen. Von dem vorherigen Misstrauen war in seiner Miene keine Spur mehr zu sehen. „Ich würde es gern… nochmal versuchen. Wenn du willst.“, bot Rye an. Ein neuer Versuch, der hoffentlich nicht scheitern würde. Er wollte nicht noch einen Abend ruinieren. Dieses Mal würde er sich beherrschen. Und zur Not würde er rechtzeitig erkennen, wann seine Grenze überschritten war. Wie beim letzten Mal. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen oder gar an Verlust zu denken. Er würde Gin nicht verlieren. Nicht, solange er sich selbst genug vertraute. Dafür musste er den wahren Feind besiegen. Sich selbst. Denn es gab kein Monster in seinem Inneren. Es hatte nie eins gegeben. Während Rye beklommen auf eine Antwort wartete, vernahm er, wie sich Gins Körper anspannte und sein Herz vor offensichtlicher Nervosität höherschlug. In seinen Wangen kehrte die Röte von vorhin nach und nach zurück. „Ja, will ich schon… aber nicht hier…“, brachte er schließlich hervor und Rye spürte augenblicklich, wie Erleichterung ihn einhüllte. Es bedeutete ihm so viel, dass Gin ihm vertraute und er ihm noch eine Chance gab. Er kam seinem Geliebten langsam wieder näher und fragte mit sanfter Stimme: „Wo dann?“ Gin presste sich mit dem Rücken stärker gegen die Wand, während die Röte in seinem Gesicht intensiver wurde. Das Herz schlug ihm bis in die Fingerspitzen. Amüsiert über diese Reaktion, umfasste Rye das Kinn des Silberhaarigen und strich mit dem Daumen über dessen bezaubernde Lippen, bevor er ihn vor die Wahl stellte: „Willst du lieber zu mir oder zu dir?“ „Mir ist beides recht.“, erwiderte Gin, wobei Ryes Finger leicht zwischen den schmalen Spalt der weichen Lippen glitt. „Gut.“ Rye lächelte ihn an. Insgeheim wählte er bereits Gins Wohnung als Ort für die gemeinsame heutige Nacht aus. „Dann lass uns von hier verschwinden.“ Er wollte nichts lieber als das. Auch wenn die Veranstaltung eine miserable Erfahrung für ihn gewesen war, so wollte er zumindest dafür sorgen, dass der Tag ein nahezu perfektes Ende nehmen würde. Er wollte die kommende Nacht zu der Schönsten machen, die er je erlebt hatte. Sowohl für ihn als auch für Gin, welcher ihm mit einem stillen Nicken antwortete. Er nahm seine Hand und zusammen verließen sie das Gebäude, um anschließend zu Ryes Wohnung zu gehen. Kapitel 36: Wolf und Schaf -------------------------- Angespannt lauschte Gin dem rhythmischen Ticken der Uhr und starrte an die Wand. Die Sekunden dehnten sich zu Minuten aus. Er war viel zu nervös, um irgendetwas anderes wahrzunehmen. Seit fast einer halben Stunde saß er bereits hier auf dem Bett. Allein. In seinem Schlafzimmer. Darauf wartend, dass der Schwarzhaarige bald zurückkehren würde. Es hatte Gin nicht sonderlich überrascht, dass sich dieser zuerst auf das Bevorstehende vorbereiten wollte und dementsprechend kurz nach ihrer Ankunft jagen gegangen war. Schließlich würde ihm diese Nacht eine Menge an Anstrengung und Selbstbeherrschung kosten. Mehr, als er davon vermutlich übrig hatte. Doch darüber machte sich Gin keine Gedanken. Denn Ryes Worte hatten ihn überzeugt. So entschlossen und voller Einsicht. Vielleicht würde Rye nun wirklich anfangen an seiner Einstellung zu arbeiten. Er würde sich selbst mehr vertrauen und lernen Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Ob dieses Vertrauen allerdings jetzt schon ausreichte, um die kommende, gemeinsame Nacht bewältigen zu können, stand noch in den Sternen geschrieben. Nicht mehr lange und Gin würde erfahren, ob es ein fataler Fehler gewesen war, sich auf das Angebot von Rye einzulassen. Doch selbst wenn ja, würde er es vermutlich nicht bereuen. An so etwas wie Reue konnte er im Moment überhaupt nicht denken. Da war nur die alt bekannte Nervosität, die alles andere überlagerte und die Szenarien, die sich vor seinem inneren Auge abspielten, was Rye mit ihm tun würde, sobald er wieder da wäre. Hitze stieg in Gin auf und verbreitete sich in alle Regionen seines Körpers. Seine Finger krallten sich in die weiche Bettwäsche. Er wusste nicht genau, ob er wirklich bereit dazu war, um Sex mit einem unbezwingbaren Vampir zu haben – doch bei einer Sache war er sich sicher: Er wollte diesen Vampir mehr als alles andere und verlangte nach ihm mit jeder Faser seines Körpers. Egal, was Rye mit ihm vorhatte: Er würde es zulassen und sich ihm vollständig hingeben. Welche tödlichen Gefahren dies mit sich bringen könnte, verdrängte er. Rye würde ihn nicht verletzen. Das hatte er letztes Mal mit weitaus weniger Selbstvertrauen auch nicht. Alles war in Ordnung. Es gab keinen Grund sich Sorgen zu machen. All das redete sich Gin solange ein, bis er es glaubte und nicht mehr anzweifelte. Dafür versank er umso tiefer in seine Fantasien, die seine Sehnsucht nach dem Schwarzhaarigen von Sekunde zu Sekunde steigerten. Es war kaum noch auszuhalten. Allein die Vorstellung von dem Gefühl, wie Ryes kalte Finger ihn berühren würden, erzeugte ein Kribbeln auf seiner Haut, was sein Verlangen zusammen mit der Hitze weiter verstärkte. Als seine Hand jedoch zu seiner Krawatte wanderte, um diese zu lockern, öffnete sich plötzlich die Tür. Völlig lautlos, wie ein Schatten, betrat Rye das Schlafzimmer und blieb einen Meter vor dem Silberhaarigen stehen. Sein Lächeln wirkte weich und nahezu unbeschwert, doch in seinen smaragdgrünen Augen lag eine gewisse Unsicherheit, die er nicht verbergen konnte. Gin ließ sich davon nicht beirren und begann mit möglichst fester Stimme: „Schon zurück?“ Die eigentlich kurze Zeitspanne war ihm in Wahrheit allerdings wie eine Ewigkeit vorgekommen. Er konnte sich gerade noch davon abhalten, Rye nicht sofort mit zu sich auf das Bett zu ziehen. Dieser sah ihn nun mit einem Schmunzeln auf den Lippen an und erwiderte: „Ich hatte ja auch allen Grund so schnell wie möglich wieder hier zu sein.“ Seinen Worten folgend, beugte er sich zu Gin herunter und nahm vorsichtig dessen Gesicht in seine Hände. Die einhüllende Kälte in Kombination mit Ryes bildschönem, engelhaften Antlitz direkt vor seinen Augen, ließ den Silberhaarigen unmittelbar darauf beinahe alles um sich herum vergessen. „Ich hoffe, du warst deshalb nicht nachlässig.“ Seine eigenen Worte klangen auf einmal so weit weg. Er konnte sich nur noch auf Rye konzentrieren. „Überhaupt nicht.“, antwortete dieser leise, während er die letzte Distanz zwischen ihren Gesichtern überwand und seine Lippen auf die von Gin legte. Die darauffolgende Welle der Lust überrollte diesen völlig unerwartet. Er schlang seine Arme um Rye und drückte ihn fester an sich, um den Kuss zu intensivieren. Begierig sog er die schneekalten Lippen zwischen seine Zähne und fuhr mit seiner Zunge über den schmalen Spalt, der sich nur zögerlich öffnete und ihm Einlass gewährte. Rye hielt sich offensichtlich sehr zurück. Selbst dessen Finger lagen inzwischen nur noch leicht auf seinen Wangen, sodass sie seine Haut kaum berührten. Irgendwann stützte Rye seine Hände links und rechts neben Gin auf dem Bett ab, bevor er sich doch traute, die Kontrolle zu übernehmen und Gins Zunge in seine eigene Mundhöhle zurückdrängte. Dem Silberhaarigen entwich ein Stöhnen. Rye schmeckte so gut. Es war ein undefinierbarer, süchtig machender Geschmack, der seine Sinne nach und nach benebelte. Er konnte erst wieder einen klaren Gedanken fassen, als sich sein Geliebter von ihm löste und sich Enttäuschung in ihm ausbreitete. Rye musterte ihn mit einem hungrigen Blick. Gin konnte sich selbst in den leuchtend grünen Augen sehen. Seinen lusterfüllten, benommenen Gesichtsausdruck, welcher alle Gefühle, die gerade in ihm tobten, hemmungslos offenbarte. Noch nie hatte er jemanden so angesehen. Nie hatte er so sehr nach jemandem verlangt. Rye war der Einzige den er wollte. Da wanderte auf einmal eine Hand wieder zu seiner Wange und strich ihm sanft ein paar Strähnen hinters Ohr. Das weiche Lächeln, was Rye ihm kurz darauf schenkte, raubte ihm fast den Atem. „Sicher, dass du das willst? Ich könnte es verstehen, wenn du ablehnst… schließlich hat das bisher niemand vor dir überlebt…“ Ryes niedergeschlagene Stimme riss Gin aus dem Dunst seines Verlangens. Sein Verstand meldete sich allmählich zurück und er ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Dabei drängte sich die alles entscheidende Frage erneut in den Vordergrund: Könnte er heute Nacht vielleicht sterben? Die Chance, dass Rye ihn versehentlich tötete, würde immer bestehen, egal wie gering sie am Ende auch sein mochte. Eine falsche Berührung oder gar eine falsche Bewegung könnten seinen letzten Atemzug bedeuten. Aber es musste nicht so kommen. Rye liebte ihn. Für all die anderen zuvor hatte er keinerlei Gefühle gehegt. Und solange Gin fest an diese Liebe glaubte, konnte er jegliche Ängste und Befürchtungen über Bord werfen. Morgen würde er wahrscheinlich darüber lachen und neben einem friedlich schlafenden Rye aufwachen, während er bei dessen Anblick nichts als reine Erfüllung und Zufriedenheit verspüren würde. Mit neuer Entschlossenheit umfasste er Ryes Gesicht und raunte ihm verführerisch zu: „Ich will dich.“ Anschließend leckte er ihm über die Lippen, wobei sich der Schwarzhaarige leicht anspannte, bevor er sich letztlich doch auf einen Kuss einließ. Dieser dauerte jedoch nicht all zu lange an, da Rye seine Hände auf Gins Schultern legte und ihn von sich wegschob. „Aber langsam.“, ermahnte er den Silberhaarigen im sanften Ton. „Du willst doch nicht meine Selbstbeherrschung auf die Probe stellen, oder?“ Gin überlegte einen Moment, entschied sich aber gegen eine provozierende Antwort, als er Ryes tiefernsten Gesichtsausdruck bemerkte. Er schüttelte den Kopf und fragte stattdessen: „Was soll ich tun?“ Er würde jede Anweisung befolgen, wenn er es seinem Partner dadurch irgendwie leichter machen konnte. Dieser lächelte ihn kurz an, bevor er Gin wieder näherkam und ihm mit einer eleganten Bewegung die Krawatte vom Hals zog. „Stillhalten…“, erwiderte Rye, während er das Kleidungsstück achtlos wegwarf und Gin kurz darauf das Sakko auszog. „…tun, was ich dir sage…“ Auch dieses warf er zur Seite und ergriff dann Gins Hemdkragen. „…und ständig auf der Hut sein.“ Nach diesen Worten verharrte er. Gin benötigte einen Moment, um zu registrieren, was gerade passiert war. Ihm war es schwergefallen sich nur auf das Gesagte zu konzentrieren und sich nicht nebenher von Ryes Handlungen, geschweige denn von den Bewegungen seiner Lippen ablenken zu lassen. Er konnte nur nicken. Doch Rye schien zu bemerken, dass er nicht ganz bei der Sache war. „Ich meine es ernst… Wenn dir irgendwas komisch vorkommt oder du merkst, dass ich… nicht mehr ganz ich selbst bin, dann lauf weg, solange du noch kannst.“ Seine Stimme nahm plötzlich einen düsteren, warnenden Tonfall an, der Gin ein wenig einschüchterte. Die Vorstellung, wie er vor einem blutrünstigen Rye fliehen musste, nahm unweigerlich in seinem Kopf Gestalt an und ließ ihn erschaudern. Insbesondere bei der darauffolgenden Erkenntnis, dass eine Flucht zwecklos wäre. Rye würde ihn immer finden. Kein Versteck wäre gut genug. „Und noch etwas: Wenn ich dir auf irgendeine Weise weh tue oder ich aufhören soll, musst du mir das sagen, verstanden?“, fügte der Schwarzhaarige streng hinzu. Gin seufzte und versuchte das Horrorszenario aus seinem Kopf zu verbannen. „Ja, ich hab‘s verstanden. Du machst dir schon wieder viel zu viele Sorgen.“, beschwerte er sich, eher verärgert darüber, dass bereits wieder die ersten Sorgen in ihm aufstiegen und seine noch immer bestehende Unsicherheit verstärkten. „Ich will nur, dass du dir der Gefahr auch vollständig bewusst bist. Denn das eben war meine letzte Warnung.“, verkündete Rye jedoch unerwartet und drückte Gin anschließend mit dem Rücken auf die Matratze. „Ab jetzt werde ich nämlich einfach das tun, was mir gerade in den Sinn kommt.“ Wie betäubt starrte der Silberhaarige das bildschöne Wesen über sich an. Noch ehe er reagieren konnte, waren ihre Münder bereits wieder miteinander verschmolzen. Die Unsicherheit, die ihn bis eben noch geplagt hatte, löste sich zusammen mit den restlichen Sorgen in Nichts auf. Auf einmal war ihm alles egal. Die Welt um ihn herum verschwand. Es gab nur noch Rye, dessen Zunge immer fordernder seine Mundhöhle auskundschaftete. Ein gedämpftes Stöhnen drang Gin über die Lippen. Er spürte, wie Ryes Hände an seinen Schultern anfingen zu zittern und sich verkrampften. Doch er nahm die Schmerzen aufgrund der Hitze, die durch seinen Adern strömte, nur am Rande wahr. Als sich die Zunge des Schwarzhaarigen ruckartig zurückzog, entwich Gin ein lusterfülltes Keuchen und er schnappte nach Luft. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er aufgehört hatte zu atmen. Er schaute Rye erwartungsvoll an, welcher sich jedoch nicht mehr regte und den Blick starr zur Wand gerichtet hielt. Die Lippen zusammengepresst und die Augenbrauen krampfhaft zusammengezogen, verharrte er eine Weile in dieser Position. Gin war sich nicht sicher, ob er Rye ansprechen oder sich ebenso still verhalten sollte. „Vielleicht hat er es sich doch anders überlegt…“, befürchtete er. Auch wenn er das durchaus verstehen würde, wollte er nicht, dass sie jetzt aufhörten. Sein Verlangen war mittlerweile zu groß, als dass seine Bedürfnisse so eine Enttäuschung noch ein zweites Mal verkraften würden. Doch da erwachte Rye glücklicherweise aus seiner Starre. Er blickte zu Gin herab, wobei seine Miene wieder viel entspannter wirkte. Er ließ seine Hände zu Gins Hemdkragen wandern und öffnete langsam nach und nach jeden der Knöpfe, bis er die Brust des Silberhaarigen vollständig freigelegt hatte. Immer noch leicht zitternd umfasste er vorsichtig Gins Taille und beugte sich wie hypnotisiert zu ihm herunter, um den Kopf in seine Halsbeuge zu schmiegen. Gin überkam ein Schauer, als Ryes kalte Lippen seine Haut streiften und sanfte Küsse auf seiner Brust verteilten. Am liebsten hätte er Ryes Kopf fester an sich gedrückt, wenn sein Geliebter ihm nicht verboten hätte sich zu bewegen. So konnte er nur still liegen bleiben und sich den Berührungen hingeben. Rye schob seine Hände hinter Gins Rücken und hob seinen Oberkörper ein wenig an, womit auch die Küsse intensiver wurden. Während er Gin das Hemd über die Schultern streifte, umkreiste er mit seiner Zunge spielerisch einen der hervorstehenden Nippel. Gin zog scharf die Luft ein und drückte sich Rye entgegen. Ein Kribbeln breitete sich von seiner Brust bis in alle Regionen seines Körpers aus. Er richtete sich etwas auf und schlüpfte nebenher aus den Ärmeln seines Hemdes, bevor Rye dieses ergriff und es neben das Bett warf. Gleich darauf drückte er Gin erneut auf dieses und presste seinen Mund grob gegen den des Silberhaarigen, welcher ihm auf die Unterlippe biss, als er sich nach kurzer Zeit versuchte zurückzuziehen. Gin blinzelte seinen Geliebten fragend an, als er bemerkte, wie dieser etwas sagen wollte, es ihm aber offensichtlich große Mühe bereitete zum Sprechen Luft zu holen. Seine Brust bebte förmlich, als er langsam einatmete. „Kannst du mir versprechen, dass du morgen noch lebst, wenn ich aufwache…?“ Seine Stimme war nur ein leises, ängstliches Flüstern. Schock zeichnete sich auf Gins Gesicht ab. Er dachte eigentlich, dass Rye ebenso wie er zuvor alle Ängste und Zweifel in sich ausgelöscht hatte. Doch dem war anscheinend nicht so. Mit dieser Einstellung wäre diese Nacht zum Scheitern verurteilt, weshalb Gin beschloss Rye so zu ermutigen, dass er an seinem Selbstvertrauen festhielt. „Dieses Versprechen kann ich nicht ohne dich einlösen.“ Schließlich hing alles davon ab, ob Rye ihn auch am Leben lassen würde. „Ich versuche mein Bestes…“ Dieser sah Gin aufrichtig an, auch wenn die Angst noch immer nicht aus seiner Stimme verschwunden war. „Das Gleiche kann ich auch versprechen.“, erwiderte Gin. Und dieses Versprechen würde er auch einhalten. Diese Nacht war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu sterben. Denn bis dahin dauerte es noch sehr lange und es war nicht notwendig sich darüber schon Gedanken zu machen. „Und du bleibst auch für immer bei mir, ja?“, wollte sich Rye vergewissern. Lag das nicht klar auf der Hand? Von wie viel Angst musste er gerade gequält werden, dass er selbst das anzweifelte? „Natürlich.“, versicherte Gin, wofür er mit einem strahlenden Lächeln belohnt wurde. Rye fuhr ihm mit der Hand über die Wange. „Ich liebe dich.“ Gin erwiderte das Lächeln wie von selbst. Diese drei Worte, ausgesprochen von Rye, würden wohl immer dafür sorgen, dass ihm ganz warm ums Herz wurde. Mit Rye an seiner Seite war er einfach wunschlos glücklich. Hatte er ihn, dann hatte er alles, und es gab nichts, was in seinem Leben noch fehlte. „Ich dich auch…“ Zum ersten Mal schwang in diesem Satz keine Unsicherheit mit, was sein Geliebter auch zu erkennen schien. Seine Augen glitzerten. Seine Haut leuchtete bleich. Seine Lippen waren noch immer zu einem Lächeln geformt. Und wieder glaubte Gin, ein Engel würde auf ihn herunterblicken. Wenn es Engel wirklich gab, dann mussten sie einfach genauso eine Herrlichkeit wie Rye ausstrahlen. Verträumt hob Gin die Hände, um nach dem Schwarzhaarigen zu greifen und ihn zu einem Kuss heranzuziehen. Sobald er die schneekalten Lippen auf seinen eigenen spürte, breitete sich ein wohliger Schauer in ihm aus. Der Kuss war von einer Leidenschaft erfüllt, die Gin nicht definieren konnte. Er wurde viel mehr von ihrer Liebe geleitet als von dem Verlangen, welches sie womöglich gleichermaßen verspürten. Letztlich war es aber auch nicht wirklich entscheidend. Genauso wenig wie die Tatsache, dass sie nicht von derselben Spezies waren. Es spielte keine Rolle, was Rye war. Gin liebte ihn. Nur weil die Natur es so vorgeschrieben hatte, dass der Wolf das Schaf tötet, um sich zu ernähren, bedeutete das doch noch lange nicht, dass beide Arten immer dazu verdammt sein würden, als Jäger und Beute zu enden. Es gab immer Ausnahmen. Auch wenn es wahrscheinlich außerordentlich naiv war, das zu glauben. Nach einer Weile beendete Rye den Kuss, um seine Erkundung anderweitig fortzusetzen. Trotz der eisigen Kälte brannten die Spuren seiner Finger auf Gins Haut, als sie an den Seiten herabwanderten und sich anschließend in den Bund der Hose krallten. Rye platzierte ein paar Küsse auf Gins Bauch, versenkte seine Zunge in dessen Bauchnabel, während er nebenbei den Reißverschluss der Hose öffnete. Gin hob sein Becken und schob sich den Küssen automatisch entgegen. Jedoch weiteten sich seine Augen überrascht, als Rye ihm ohne Vorwarnung die Hose einschließlich Boxershorts mit einem Ruck herunterzog. Sein Körper spannte sich an, während Scham in ihm aufstieg und seine Wangen rot färbte. Er drehte sich etwas zur Seite und winkelte die Beine an, als könnte er so verbergen, was Rye nicht schon längst einmal gesehen hatte. „Warum plötzlich so schüchtern?“, fragte dieser ihn neckend. Wenn Gin das wüsste. Er verstand immerhin selbst nicht, was mit ihm los war. Sonst war es ihm nie peinlich gewesen vollkommen nackt vor jemandem zu sein. Doch sonst hatte er auch mit irgendwelchen Frauen das Bett geteilt, die ihn nicht wirklich interessiert hatten. Gut möglich, dass es an Rye oder gar an dessen dominierender Art und Weise lag. Die Frage, wer die Führung übernehmen würde, brauchte er sich inzwischen wohl nicht mehr zu stellen. Jedoch überraschte es ihn, dass ihn das nicht wirklich störte. Im Gegenteil. Er war mehr als willig die Kontrolle abzugeben. „Es ist nur etwas unangenehm, weil du…“ Gin verstummte. Das war ein alberner Grund. Aber anders würde er wohl nichts von Rye zu sehen bekommen, da dieser überhaupt keine Anstalten machte, sich ebenso zu entkleiden. Er schien sich eher an dem verlockenden Anblick zu erfreuen, welchen er ihm wahrscheinlich gerade bot. „Weil ich was?“, hakte er nach. Gin schüttelte den Kopf. „Nichts.“ Ein Moment lang herrschte Stille. Doch dann lächelte Rye ihn an, als würde er verstehen. Er entfernte sich wortlos zwei Schritte vom Bett, sodass sich Gin halb aufrichten und auf den Händen abstützen musste, um ihn wieder sehen zu können. Da wurden seine Augen groß und größer, als er registrierte, wie sein Geliebter begann sich zu entkleiden. Mit mechanischen Bewegungen zog sich Rye das Jackett aus und ließ es zu Boden fallen. Dann hielt er inne und schaute Gin prüfend durch seine dichten Wimpern an. Scheinbar dachte er nach. Doch worüber? Sein Gesichtsausdruck war von Unsicherheit geprägt. Seine Lippen formten eine harte Linie. Scham war in seinen Augen zu erkennen. Gin bekam die Vermutung, dass es Rye vielleicht in Wirklichkeit viel peinlicher war ihm seinen Körper zu offenbaren, weshalb er jetzt zögerte. Zwar würde Gin das nachvollziehen können, doch das Verlangen einfach aufzustehen und den Schwarzhaarigen selbst aus dem Hemd zu befreien, um mit den Fingern über dessen steinharte Brust zu fahren, wurde er dennoch nicht los. Geduld. Er würde Rye heute hoffentlich noch so oft berühren können, wie er wollte. Und vor allem wo er wollte. Je mehr er daran dachte, desto trockener wurde sein Mund. Er spürte, wie ihm immer heißer und seine Erregung stärker wurde. Doch diese Empfindung wurde im folgenden Moment durch Verwirrung vertrieben, als das Bild vor seinen Augen verschwamm und er Rye plötzlich nicht mehr sehen konnte. Er registrierte nur, wie innerhalb einer Sekunde mehrere Kleidungsstücke auf den Boden landeten, bevor noch im selben Augenblick die Matratze einsank und Rye mitten aus dem Nichts vor ihm auftauchte. So nah, dass Gin vor Schreck zurückwich. Das schöne Gesicht umrandet von langen, schwarzen Haaren überwältigte ihn förmlich wie ein starker Windzug. „Besser?“, wollte Rye wissen, woraufhin Gin erst dann realisierte, dass sein Geliebter vollkommen nackt war. Aber er konnte dessen Körper nicht in seiner vollen Pracht bewundern, da Rye den Abstand zwischen ihnen immer weiter verringerte. Es gelang Gin lediglich einen kurzen Blick auf Ryes gut definierte Brustmuskulatur zu erhaschen, bevor der Vampir auch das vereitelte, indem er einen Finger unter Gins Kinn legte und seinen Kopf anhob. Der Silberhaarige nutzte die Gelegenheit, um zu antworten. „Viel besser.“, meinte er leise. Auch wenn er gern mehr von Ryes Körper sehen wollte. Natürlich war die Aktion gerade Absicht gewesen, weil sich Rye in Wirklichkeit selbst hasste und alles an sich verabscheute. Deshalb dachte er wohl, er würde Gin einen Gefallen tun, wenn er ihm den grauenvollen Anblick ersparte. „Damit kommst du mir nicht durch.“, schwor dieser sich gedanklich. Er packte Rye an den Schultern mit dem Vorhaben, ihn etwas von sich wegzuschieben. Jedoch drehte Rye den Spieß sofort wieder um und griff nach Gins Handgelenken. „Hab ich dir nicht gesagt, dass du stillhalten sollst?“, ermahnte er den Silberhaarigen in amüsierter Tonlage. Noch bevor Gin reagieren konnte, wurde er ruckartig herumgedreht, sodass er sich auf einmal in Ryes Armen wiederfand und mit dem Rücken an dessen kalte, muskulöse Brust gedrückt wurde. Doch da war noch etwas anderes, was er mehr als deutlich hinter sich spüren konnte: Ryes hartes, in voller Länge aufgerichtetes Glied drückte sich genau in den schmalen Zwischenspalt seiner Pobacken. Gin schluckte. Seine Augen weiteten sich. Ein Schauer der Lust durchbebte seinen Körper. Während er ein wohliges Seufzen an seinem Ohr vernahm, musste er selbst ein Stöhnen unterdrücken. Er wollte wissen, wie es sich anfühlen würde, wenn diese Länge sich in ihn schob. Ihn komplett ausfüllte. Gin schloss die Augen und presste sich automatisch stärker gegen Rye, welcher den Kopf in seine Halsbeuge drückte und ihm mit den Händen über die Brust fuhr. Seine Daumen platzierten sich jeweils auf die steifen Nippel und umkreisten diese mit langsamen Bewegungen. Mehrere Wellen der Erregung überrollten Gin. Dieses berauschende Gefühl in Kombination mit der Aufmerksamkeit, die Rye seinem Hals in Form von sanften Liebkosungen zukommen ließ, sorgten dafür, dass er sich nahezu wie im Himmel fühlte. Bestimmt gab es keinen schöneren Himmel. Nirgends wäre die Welt so vollkommen, wie sie es jetzt gerade war. Mit Rye. Es war beinahe faszinierend, wie er ihn fast bis ins letzte Detail hinter sich spüren konnte. Mit jedem Schauer, jedem Reiz und jeder neuen Empfindung nahm er seinen Geliebten stärker war. Aber auch dessen Zittern und die Anspannung, weil er stets darauf achten musste, sein Verlangen streng unter Kontrolle zu halten. Sobald die Liebkosungen an seinem Hals nachließen, schlug Gin die Augen wieder auf, woraufhin er Ryes Blick begegnete. In den Augen des Schwarzhaarigen funkelten unzählige Begierden, doch er wirkte auch ein wenig erschöpft. Gin konnte sich gut vorstellen, wie sehr sich Rye innerlich in Wirklichkeit quälte und wie viel Anstrengung es ihn kostete, sich davon nichts anmerken zu lassen. Dennoch schien er glücklich zu sein. Besonders jetzt, wo er Gin verträumt mit einem leichten Lächeln im Gesicht musterte. Es deutete zum Glück noch nichts darauf hin, dass Rye an den Grenzen seiner Selbstbeherrschung angelangt war. Hoffentlich würde das auch nicht so schnell passieren. Im nächsten Moment bemerkte Gin, wie sich eine von Ryes Händen immer weiter nach unten bewegte und als er realisierte, was sein Geliebter vorhatte, hob er ruckartig den Kopf und spannte sich an. Rye strich ihm beruhigend mit der anderen Hand über die Wange, während er ihm einen Kuss auf die Schläfe gab. Doch das lenkte Gin keinesfalls von dem Geschehen an seinem Unterleib ab. Ryes Finger waren nur noch weniger Zentimeter von seiner Erregung entfernt. Die Sekunden schienen sich zu Minuten auszudehnen. Und doch war es nur ein winzig kleiner Augenblick, bis sich die Finger von Rye zärtlich um sein Glied schlossen. Der Kontrast zwischen den eisigen Fingern und der heiß pulsierenden Länge brachte Gin fast zum Höhepunkt. Jedoch versuchte er seinen Orgasmus so gut wie es ging zurückzuhalten. Er wollte noch nicht kommen. Rye sollte ihn zuerst ganz nach Belieben weiter verführen. Und das, so lange er wollte. Egal, ob es bis zum nächsten Morgen andauern würde. Als sich die Finger langsam anfingen zu bewegen, gelang es Gin nicht mehr, ein Stöhnen zu unterdrücken. Er schrie seine Lust förmlich heraus. Spreizte seine Beine etwas mehr. Schmolz in Ryes Armen dahin, während seine Länge von dem Schwarzhaarigen sanft massiert wurde. Dieser schien genau zu wissen, wie er seine Finger geschickt einsetzen musste, um den entsprechenden Punkt bis aufs Äußerste zu reizen. Nur um kurz darauf zu verharren und Gin somit an der Schwelle der Erlösung zu halten. Dieser schmiegte sich halb benommen immer fester an den steinernen Körper und war fast soweit die Welt vollständig auszublenden, wenn er sich nicht noch schwach an Ryes Ratschlag erinnerte, dass er ständig auf der Hut bleiben sollte. Bei den ganzen Gefühlen, die der Vampir gerade in ihm auslöste, war das allerdings so gut wie unmöglich. Gin hob sowohl den Blick als auch eine Hand, um mit den Fingern über Ryes Wange zu fahren und ihn dabei ansehen zu können. Rye schien die leichte Berührung in seinem Gesicht gar nicht wahrzunehmen, da er wohl zu sehr damit beschäftigt war jede seiner Handlungen streng zu kontrollieren und seinen Verstand beisammen zu halten. Zumindest konnte man ihm das sehr leicht an seiner harten Miene ablesen, die abgesehen davon nicht im geringsten darauf hindeutete, was er gerade vielleicht fühlte. Einzig und allein seine immer stärker werdende Erregung gab Gin ansatzweise eine Vorstellung, wie groß das Verlangen seines Geliebten tatsächlich war, auch wenn dieser es mit reiner Willenskraft und Kontrolle bändigte. Da sich Gin immer mehr auf Ryes Gesichtsausdruck konzentrierte, bemerkte er nicht sofort, dass die Stimulierung an seinem Glied irgendwann stoppte. Umso deutlicher spürte er den heißen Knoten in seiner Magengrube, welcher längst explodiert wäre, wenn Rye ihn zuvor nicht an der Schwelle gehalten hätte. Ob das Absicht gewesen war oder der Schwarzhaarige nur eine Pause benötigte, konnte Gin nur erahnen. Vielleicht ein bisschen von Beidem. Doch da kehrte der in Wahrheit bittere Ernst der Lage mit einem Schlag zurück, als sich Ryes Hände plötzlich gewaltsam in Gins Schultern krallten und ihn unweigerlich auf das Bett rissen, bevor er sich keine Sekunde später über den Rücken des Silberhaarigen beugte. Wie ein Raubtier, dass seine gefangene Beute daran hindern wollte zu fliehen. Gin glaubte tatsächlich, eine Art Knurren aus Ryes Kehle vernehmen zu können. Doch dessen Mund war geschlossen. Zudem zitterte er am ganzen Leib und sein Rücken krümmte sich. Gin wusste nicht, ob er etwas sagen sollte. Ein wenig bekam er es jetzt doch wieder mit der Angst zu tun. Obwohl die Matratze eigentlich weich war, so sorgte die Kraft, die Rye gerade aufwand, dafür, dass seine Schultern anfingen zu schmerzen. Noch etwas mehr und seine Knochen würden womöglich zersplittern. Selbst das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. Als sich Rye weiter zu ihm herunterbeugte und er somit dessen steifes Glied wieder an seinem Hintern spüren konnte, bekam er die Befürchtung, dass der Vampir gleich ohne Vorwarnung in ihn eindringen würde. Doch das geschah zum Glück nicht. Rye hielt inne, sodass Gin nur dessen kühlen Atem und das Kitzeln einiger schwarzer Haarsträhnen an seiner überhitzten Haut wahrnahm. Er nutzte die Gelegenheit, um seinem Geliebten mit erstickter Stimme mitzuteilen: „Das… tut weh…“ Kaum hatten die Worte Rye erreicht, hielt dieser sofort den Atem an und wich erschrocken zurück. Gin setzte sich auf und ergriff schnell Ryes Handgelenk, aus Angst, der Schwarzhaarige würde sich zu weit von ihm entfernen, da er sich innerlich bereits wieder für seine Tat zu verurteilen schien. Rye verzog sein Gesicht zu einer gekränkten Miene und meinte kopfschüttelnd: „Verzeih… das… waren wohl einfach meine Instinkte…“ „Schon okay.“, beschwichtigte Gin ihn. So lange, wie sich Rye dieser Instinkte noch bewusst war und rechtzeitig reagieren konnte, war alles in Ordnung. Vorsichtshalber nahm der Silberhaarige Ryes Gestalt für einen kleinen Moment genauer in Augenschein und suchte nach möglichen Anzeichen, dass sein Geliebter vielleicht längst nicht mehr er selbst war. Doch von dem Raubtier, welches eben kurz zum Vorschein gekommen war, konnte Gin nichts mehr ausfindig machen. Abgesehen von den deutlich erkennbaren Sorgen und der Anspannung schien sich Rye wieder beruhigt zu haben. Auch seine Augen besaßen nach wie vor einen tiefen, funkelnden Grünton. Keine Spur von einem blutdürstigen Rot. „Wirklich? Wir können auch aufhören…“, bot Rye plötzlich mit abgewandtem Blick an. Gin verdrehte die Augen. Wieso musste dieser Kerl unbedingt mit Worten zerstören, was er gerade empfand? Bemerkte Rye denn nicht, wie sehr er ihn wollte und dass er nicht einmal im Traum daran denken würde, jetzt aufzuhören? Gin verfestigte seinen Griff um Ryes Handgelenk und zog ihn vorsichtig zu sich ran, woraufhin er einen überraschten Blick zugeworfen bekam. „Nein.“, stellte Gin klar und fügte im ruhigeren Ton hinzu: „Lass uns weiter machen. Du hast es versprochen.“ Rye blinzelte ihn wortlos an, bevor er in sich hinein lächelte und in einem scherzhaften Tonfall entgegnete: „Dafür, dass ich so miserabel darin bin, bist du ganz schön entschlossen.“ „Du bist nicht miserabel.“ Gin legte seine Arme um Ryes Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Die Anspannung des athletischen Körpers schien sich daraufhin mindestens zu verdoppeln. Gin spürte, wie Ryes Finger seine Hüfte umklammerten und anfingen zu zittern. Dennoch ging er begierig auf den Kuss ein, sodass ihre Zungen in einen unnachgiebigen Kampf verfielen, den Gin nach einiger Zeit verlor. Rye zog ihn schließlich so stark an sich, dass der Silberhaarige das Gefühl bekam, die Kälte von Ryes Haut würde sich in seine eigene brennen. Seine Erregung rieb sich schmerzhaft gegen die des Vampirs. Er spürte Rye zu deutlich. Er spürte ihn viel zu deutlich. Doch jedes Detail spornte sein Verlangen nur noch mehr an. Es fühlte sich an, als würden sie miteinander verschmelzen. Und genau das war alles, was Gin in diesem Moment wollte. Er sehnte sich bereits so sehr nach Erlösung, dass er kaum noch klar denken konnte. Am Rande registrierte er, wie Ryes Finger von seinen Hüften zu seinen Pobacken wanderten und diese fest umschlossen. Dadurch wurden ihre Glieder noch stärker aneinander gepresst. Jedoch genügte die Reibung noch nicht, um ihn kommen zu lassen. Noch lange nicht. Aber es genügte, um ihm zumindest den Verstand zu rauben. Und da war er scheinbar nicht der Einzige. Rye löste sich plötzlich von ihm und legte seinen Kopf auf Gins Schulter ab. Während dieser damit zu tun hatte, seine Atmung wieder zu normalisieren, hörte er, wie der Schwarzhaarige mit zusammengebissenen Zähnen stöhnte. Er klang ziemlich fertig, weshalb Gin ihm leicht über den Haaransatz strich, um ihn zu beruhigen. Bis auf das unaufhörliche Zittern war von Rye eine Weile keine Regung mehr zu vernehmen. Aus diesem Grund hielt Gin vor Schreck die Luft an, als sein Geliebter unerwartet anfing seinen Hintern zu kneten. Doch dabei blieb es nicht. Ryes Finger fuhren sogar zwischen seine Pobacken. Gin zuckte und stieß zeitgleich den Atem aus. Die kalten Lippen des Schwarzhaarigen begannen nun auch wieder tätig zu werden und hinterließen eine feuchte Spur auf seiner Schulter, bevor Rye den Kopf in Gins Halsbeuge schmiegte und dort einen Kuss zurückließ. „Rye…“, stöhnte Gin und erschauderte. Er glaubte zu spüren, wie ein Lächeln auf Ryes Lippen erschien. Kurz darauf wanderten die kalten Finger an Gins Wirbelsäule empor, wobei den Silberhaarigen eine Gänsehaut überkam. Kaum hatte er seinen Oberkörper jedoch stärker gegen Ryes gepresst, wich dieser plötzlich von ihm zurück. Seiner Enttäuschung nachgehend, wollte Gin sofort nach ihm greifen, doch da umfassten zwei Hände seine Schultern und brachten ihn unmittelbar zu Fall und drehten ihn, sodass er mit dem Gesicht voran auf der Matratze landete. Ehe er überhaupt begriff, was geschehen war, wurden seine Beine bereits etwas auseinander geschoben und Rye schien sich genau dazwischen zu setzen. Noch während sich Gin versuchte wieder aufzurappeln und begann, sich auf den Unterarmen abzustützen, hörte er Ryes seidenweiche, befehlende Stimme hinter sich: „Heb deinen Hintern.“ Durch diese Worte begann Gin vollständig zu realisieren, was ihm nun bevorstand. Lange hatte er diesen Moment herbeigesehnt. Doch jetzt beschlich ihn trotzdem eine gewisse Unsicherheit, die ihn zögern ließ. Wie genau würde sich Ryes Länge in ihm anfühlen? Würde es sehr weh tun? Inwieweit wäre er überhaupt in der Lage, diese Art von Schmerz zu ertragen? Gin fand auf keine dieser Fragen eine Antwort. Besonders, weil er nicht mit einberechnen konnte, wie viel Rücksicht Rye letztlich auf ihn nehmen würde. Doch eines war sicher: Rye konnte ihn entweder vollends befriedigen oder komplett zerstören. Wortwörtlich. Die Entscheidung lag allein bei ihm. „Und es gibt nichts, was ich tun kann, um diese Entscheidung zu beeinflussen…“, dachte Gin im Stillen. Noch immer blieb er regungslos, was seinen Geliebten scheinbar stutzig machte. „Was ist los? Hast du Angst…?“, erkundigte er sich mit leiser Stimme. Als Gin den Kopf zu ihm drehte, blickte er in ein bleiches Gesicht voller Unsicherheit und Schmerz. Ein Stich durchfuhr ihn. „Nein… Nein, ich will es…“, redete er sich gedanklich Mut zu. Vor allem wollte er Rye nicht traurig machen. Er wollte dessen Gefühle nicht verletzten, indem er jetzt einfach einen Rückzieher machte. Insbesondere nicht, nachdem er ihm zuvor vorgehalten hatte, ihn nicht befriedigen zu können. Gin setzte ein unbeschwertes Lächeln auf und schüttelte den Kopf, bevor er tat, was Rye ihm befohlen hatte. Danach wartete er mit wachsender Anspannung auf dessen nächste Handlung, die aber nicht sofort erfolgte, weshalb Gins Gedanken in der kurzen Zeitspanne anfingen wirr hin und her zu kreisen. Vielleicht würde es so sehr weh tun wie ein Messerstich. Nur einmal. Ganz kurz. Und dann nicht mehr. Rye würde ihn ohne Zweifel komplett ausfüllen. Vermutlich war er sogar zu groß. Gin krallte seine Hände in das Bettlaken und biss die Zähne zusammen. Doch das, was er beklommen erwartete, geschah nicht. Zumindest nicht auf die Weise, wie er es befürchtet hatte. Ryes Hände legten sich nur ganz sanft auf seinen Hintern. Kurz darauf spürte er kalte, feuchte Lippen auf seiner Haut. Ein Kuss. Zwei Küsse. Drei Küsse. Mit jedem Mal sogen die Lippen kräftiger, während Ryes Finger langsam seine Pobacken entlang strichen. Gin atmete tief durch. Sein Körper entspannte sich wieder. Die Sorgen verflogen. Die Angst verschwand. Wie hatte er nur für eine Sekunde glauben können, dass Rye einfach gewaltsam und ohne Vorbereitung in ihn eindringen würde? Im Nachhinein schämte sich Gin ein wenig für diese Annahme. Natürlich wollte Rye ihm nicht weh tun. Schließlich liebte er ihn. Und er war noch immer bei Verstand. Das bewies insbesondere die sanfte, rücksichtsvolle Vorgehensweise, wie die kalten Finger nun begannen, seinen Hintern zu massieren. Gin gab sich allmählich wieder seinem Verlangen hin. Aus seinen schweren Atemzügen wurde ein leises, aber lustvolles Stöhnen, als zwischenzeitlich auch sein erregtes Glied von den geschickten Fingern bearbeitet wurde. Während Ryes feuchte Zunge zwischen seinen Pobacken entlang fuhr und seine freie Hand diese etwas auseinander drückte, um ein mögliches Zusammenkneifen aufgrund der Kälte zu verhindern, wurde Gin zunehmend heißer. Immer wieder streifte Ryes Zungenspitze sein Loch, tauchte einmal sogar kurz in dieses ein und hielt dabei seine Länge fest umschlossen. Zuerst fühlte es sich unangenehm an und Gin benötigte eine Weile, um sich an das fremde Gefühl zu gewöhnen. Doch schon nach kurzer Zeit streckte er sich der Behandlung instinktiv entgegen. Es fühlte sich so gut an. Er war kurz davor zu kommen. Aber sobald Rye dies bemerkte, zog er seine Zunge schnell zurück und hielt inne, sodass Gin die Erlösung ein weiteres Mal verwehrt blieb. „Er macht das voll mit Absicht…“, wurde ihm bewusst. Jedoch war er viel zu erschöpft und erregt, um verärgert darüber zu sein. Er konnte sich kaum noch auf den Knien halten. Allerdings wurde ihm ebenso wenig eine Verschnaufpause gegönnt. Ein leiser Schrei entwich ihm. Ryes kalter Finger schaffte es trotz des instinktiven Widerstands seiner Muskeln einzudringen. Immer tiefer schob er sich in sein Loch, während sich gefühlt alles in ihm verkrampfte. Dennoch folgte sogleich ein zweiter Finger, begleitet von einem dumpfen Schmerz. Gin versuchte es bestmöglich zu ignorieren. Er selbst wollte Rye nicht abwehren. Aber sein Körper schien mit allen Mitteln gegen das fremde Eindringen ankämpfen zu wollen. Selbstverständlich zwecklos. Denn auch Rye ignorierte sämtliche Beschwerden und fing an, seine Finger zu bewegen. Er spreizte sie, veränderte ab und zu den Winkel oder krümmte sie kurzzeitig. Mal zog er sie fast vollständig heraus, nur um sie gleich darauf wieder tiefer in Gin zu stoßen. Dessen Bauchmuskeln waren inzwischen so stark angespannt, dass sie sich verkrampften. Als dann noch ein dritter Finger dazu kam, drückte er sein Gesicht in die Matratze, um nicht schreien zu müssen. Er erkannte an Ryes stockenden Bemühungen, dass er sich dabei nicht sonderlich wohl zu fühlen schien ihm derartige Schmerzen zuzufügen. Auch wenn diese noch einigermaßen erträglich waren. „Ich weiß, dass das sehr schwer für dich sein mag… aber du musst versuchen dich wenigstens ein bisschen zu entspannen. Sonst tut es nur mehr weh…“ Ryes Stimme klang etwas verzweifelt. Aber er hatte recht. Irgendwie musste sich Gin an diese bittere Kälte gewöhnen, die von seinem Geliebten ausging. Sonst empfand er es doch auch als angenehm. Von Rye berührt zu werden fühlte sich jedes Mal aufs Neue außergewöhnlich schön an. Die Kälte war ihm schon immer egal gewesen. Also musste er sie auch jetzt irgendwie ignorieren. „Aber wie…“ Kaum versuchte er sich eine Lösung zu überlegen, war es, als hätte Rye seinen Gedanken gehört. Plötzlich spürte Gin die Kälte auch wieder an seinem steifen Glied, was ihn für einen Moment von den Schmerzen an seinem Hintern ablenkte. Ryes Hand wanderte zärtlich von unten nach oben, umkreiste mit dem Daumen kurz die Spitze und erhöhte anschließend sowohl den Druck, als auch das Tempo. Gin glaubte, sich zu vergessen. Leise stöhnend streckte er sich Rye entgegen und genoss, wie eine Welle der Lust nach der anderen seinen Körper erfasste. Immer wieder versenkten sich dabei die kalten Finger in sein Loch. Stets im gleichen Rhythmus. So, wie Ryes Hand an seiner Länge auf und ab wanderte. Auf einmal gab es keinen Schmerz mehr, sondern nur noch das Verlangen, endlich zu kommen. Gins Beine zitterten. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Haut, liefen an seinem überhitzten Körper herab und tropften auf das Bettlaken. „Du bist… so heiß…“, drang es über Ryes Lippen. Seine Stimme war so leise. Voller Begierde und dennoch schwer erschöpft. Aber die Worte in Kombination mit der Tonlage genügten, um Gin seinen Höhepunkt erreichen zu lassen. Er spürte, wie sein Körper erzitterte, sich seine Muskeln zusammenzogen und er Ryes Finger förmlich verschlang, während er sich, begleitet von einem lauten Stöhnen, in dessen Hand ergoss. Kaum eine Sekunde später brach er kraftlos auf dem Bett zusammen. Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Sein Atem ging viel zu schnell. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust. So doll, dass es ihm beinahe so vorkam, als würde das Bett mit ihm beben. Doch er fühlte sich trotzdem zufrieden und wunschlos glücklich. Rye war keineswegs miserabel. Er war einfach wunderbar. In allem, was er tat. Niemand anderes würde ihn jemals so befriedigen können. Gin drehte den Kopf langsam zu Rye und ertappte diesen dabei, wie er sich den Samenerguss von der Handfläche ableckte. Jedoch wirkte er dabei ein wenig neugierig, als würde er lediglich herausfinden wollen, wie es schmeckt. Gin wurde rot, als Rye dabei den Blick auf ihn richtete und die smaragdgrünen Augen verführerisch glitzerten. Der Schwarzhaarige ließ die Hand wieder sinken und beugte sich blitzschnell über Gin, um ihn auf den Rücken zu drehen und ihre Lippen miteinander zu verriegeln. Der Kuss fühlte sich weitaus weniger kontrolliert an als alles davor. Rye presste sich so hastig gegen ihn, als gäbe es kein Morgen mehr. Gierig sog er an den Lippen des Silberhaarigen, bevor seine Zunge in dessen Mundhöhle gnadenlos alles eroberte, was sie auf ihrer Erkundung fand. Zu der Kälte kam nun auch ein leicht salziger Geschmack dazu, den Gin aber kaum bemerkte, da sein Körper anderweitig beansprucht wurde. Während er die grobe Behandlung seines Mundes über sich ergehen ließ und ihm allmählich der Speichel aus dem Mundwinkel lief, spürte er, wie seine Handgelenke fest umschlossen wurden und Rye ihn geradezu bedrängte, indem er seinen ganzen Körper an ihn schmiegte. Dadurch konnte Gin nun auch das starke Vibrieren wahrnehmen, welches von seinem Geliebten ausging und leichtes Misstrauen in ihm weckte. Doch als er versuchte, sich zu bewegen oder sich gar von Rye zu lösen, gestattete dieser es ihm nicht sofort. Erst nach einigen Bemühungen ließ er von Gin ab und richtete sich auf. Aber dem Silberhaarigen blieb nicht viel Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. Ein letzter prüfender Blick in Ryes grüne Augen verriet ihm, dass dieser eigentlich noch bei Verstand zu sein schien. Kurz darauf griff Rye in seine Kniekehlen und drückte seine Beine weit auseinander, bevor er wie eine Statue verharrte und ihn mit leerem Blick anstarrte. Diese Leere verstärkte Gins Misstrauen. Er überlegte, ob er Rye besser aufhalten sollte. Allerdings blieb die Frage offen, ob dieser sich auch aufhalten lassen würde. So unerbittlich, wie er ihn gerade festhielt, bezweifelte Gin es. Doch er wollte zumindest herausfinden, ob sein Geliebter noch mit Worten erreichbar war. „Alles in Ordnung…?“, erkundigte er sich. Ryes Miene veränderte sich. Sie wirkte nicht mehr ganz so leer wie zuvor. Eher verwirrt und unsicher. „Ja.“, antwortete Rye leise. Er klang abwesend. Als sei er auf irgendetwas anderes fixiert. Gin versuchte vorsichtig sein Bein zurückzuziehen, was der Schwarzhaarige jedoch nicht zuließ. Da Gin so schnell nicht aufgeben wollte, startete er sogleich einen neuen Versuch. Erfolglos. Er wusste nicht, was genau mit Rye gerade nicht stimmte. Aber alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass er für den nächsten Akt definitiv nicht mehr genügend Selbstbeherrschung besaß und er zu sehr nach seinen Trieben handelte. Denn wäre er noch bei vollständiger Besinnung, dann würde er ihn loslassen. Doch er tat es nicht. Egal, wie viel Kraft Gin aufwand. „Lass los…“, versuchte er Rye stattdessen erneut mit Worten zu erreichen. Doch nichts passierte. Noch bevor der Silberhaarige etwas hinzufügen konnte, erschütterte ihn ein eiskalter, unerträglicher Schmerz, der ihn für mehrere Sekunden betäubte. Er hörte sich schreien. Spürte, wie etwas hartes, langes bis zum Anstoß in ihn eindrang. Gin blieb der Atem stehen. Es kam ihm so vor, als hätte er sogar vergessen wie man atmet. Der Schmerz überlagerte einfach alles. Lähmte seine Muskeln. Raubte ihm den Verstand. Gab ihm das Gefühl, innerlich zerrissen zu werden. Sein Körper begann zu zittern. Alles zog sich automatisch in ihm zusammen und verstärkte so den Schmerz nur noch mehr. Er blinzelte ein paar Mal benommen, versuchte seine Atmung zu beruhigen und wieder eine klare Sicht zu erlangen. Da geriet Rye in sein Blickfeld, welcher so reglos zwischen seinen Beinen kniete, als sei er versteinert. Die Augen weit aufgerissen und den Mund leicht geöffnet, wirkte er, als sei er mit den Gedanken längst nicht mehr in diesem Schlafzimmer, geschweige denn überhaupt noch in der Realität. Mit panischem Entsetzen sah Gin, wie Ryes Gesicht raubtierhafte Züge annahm, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Ein unheimliches Blitzen funkte in seinen Augen, bevor sie nach und nach ihre grüne Farbe verloren und stattdessen von einem tiefen, bestialischen Rot gefüllt wurden. Als diese Augen ihn dann gierig fixierten, glaubte Gin für einen Moment, dem Tod direkt ins Gesicht zu blicken. Er musste erkennen, dass es zu spät war. Er hatte Rye verloren. Wenn dieser recht hatte und es wirklich so etwas wie ein Monster in ihm gab, dann hatte dieses nun zweifellos Besitz von ihm ergriffen. Und dieses Monster wollte um jeden Preis nur eines: Sein Blut. „Rye… bitte… nicht…“, brachte Gin mit gebrochener Stimme hervor. Er versuchte zitternd eine Hand zu heben, doch krallte diese abrupt in das Bettlaken, als Rye plötzlich anfing, sich in ihm zu bewegen. Wieder blieb dem Silberhaarigen der Atem weg. Wieder durchrollte ihn ein erschütternder Schmerz. Wieder musste er schreien. Hinzu kamen Tränen, die ihm aus den Augen traten und seine Wangen herabflossen. Doch dieses Mal verharrte Rye nicht mehr. Er bewegte sich weiter. Während Gin die Zähne zusammenbiss, spürte er, wie sich der Vampir erneut über ihn beugte und dabei seine Arme so fest packte, dass er sie wie ein Schraubstock zu zerquetschen schien. Gin fühlte sich schutzlos ausgeliefert. Und dennoch wollte er seine Lage einfach nicht wahrhaben. Er wollte nicht wahrhaben, was Rye ihm gerade antat, obwohl es doch von Anfang so vorhersehbar gewesen war. „Es ist… meine eigene Schuld…“, realisierte Gin. Diese Tatsache war unbestreitbar. Er hätte Ryes Angebot niemals annehmen dürfen. Hätte vor allem einwilligen sollen, als dieser ihm vorhin vorgeschlagen hatte, aufzuhören. Er hätte die Gefahr rechtzeitig erkennen müssen. Hätte Ryes Warnungen ernst nehmen sollen. Hätte ihm nicht blind vertrauen dürfen. Hätte. Hätte. Hätte. Strömend flossen Tränen über Gins Wangen. Es spielte keine Rolle mehr. Was bereits geschehen war, ließ sich nun auch nicht mehr ändern. Egal, wie sehr er seine Entscheidungen jetzt im Nachhinein bereute. Es gab nur noch eines, was er tun konnte: versuchen nicht zu sterben. Gin drehte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Er wollte und konnte Rye nicht mehr ansehen, welcher immer wieder tief in ihn stieß und das in einem Tempo, bei dem es Gin schon nach kurzer Zeit nicht mehr gelang mitzuzählen. Selbst, wenn er es gewollt hätte und sein Inneres nicht vor Schmerz brennen würde. Aber bei diesem Schmerz allein sollte es nicht bleiben. Im nächsten Moment bereute er, wie er den Kopf auf das Bett gelegt hatte und Rye somit seinen Hals unbewusst darbot. Die Strafe folgte unmittelbar der Erkenntnis, als sich messerscharfe, spitze Zähne in seine dünne Haut bohrten. Ein abgehackter Schrei entwich ihm. Seine Sicht verschwamm für einen Augenblick. Sein Körper wollte sich automatisch aus den Fängen des Vampirs befreien, traf jedoch lediglich auf den Widerstand von dessen unermesslicher Muskelkraft. Zudem bemerkte Gin schnell, dass je mehr er den Kopf bewegte, desto tiefer gruben sich Ryes Zähne in seinen Hals und der Schmerz nahm schlagartig zu. Demzufolge blieb ihm nichts anderes übrig als stillzuhalten. Es zu ertragen. Sein Schicksal zu akzeptieren. So fühlte es sich also an, als Beute zu enden und dem Raubtier in die Klauen zu fallen. So musste sich also das Schaf fühlen, wenn der Wolf es packte und kein Wimmern mehr half, bis er seine Zähne in das zarte Fleisch schlug. Nur würde das Schaf niemals so dumm sein und sich in den Wolf verlieben. Das Schaf hätte die Gefahr von Anfang an erkannt und wäre vor dem Wolf geflohen. Auch dann, wenn es vollkommen aussichtslos gewesen wäre. Nicht einmal jetzt konnte Gin seine Liebe zu Rye vergessen. Er liebte ihn noch immer. Er liebte diesen Vampir, der ihm gerade jeden Lebenstropfen aussaugte. Er würde ihn bis zu seinem Tod lieben. So sehr, dass der Gedanke, ihn niemals wieder zu sehen, mehr schmerzte, als von ihm getötet zu werden. „Kannst du mir versprechen, dass du morgen noch lebst, wenn ich aufwache…?“ Ryes schöne, besorgte Stimme hallte so klar und deutlich in Gins Kopf wider. Er wollte gar nicht an Morgen denken. Morgen, wenn er nicht mehr da wäre. Wenn Rye allein neben ihm aufwachen und er hingegen für immer weiter schlafen würde. Rye würde niemals damit zurechtkommen, sein Leben auf dem Gewissen zu haben. Vermutlich würde er sich auf ewig verfluchen und verzweifelt nach einer Möglichkeit suchen, ihm zu folgen. Gin vertrieb diese Befürchtung. Alles schien plötzlich auf ihn einzustürzen. Er wollte Rye nicht verlassen. Er wollte nicht sterben. Nicht heute. Nicht auf diese Weise. „Und du bleibst auch für immer bei mir, ja?“ Gins Lippen bebten stumm. Wie gern würde er das tun. Doch er konnte nicht. „Tut mir leid…“, flüsterte er, während ihn auch seine letzten Kräfte verließen. Vielleicht waren das seine letzten Worte an Rye, welche diesen leider niemals erreichen würden. Dabei wollte er ihm noch so vieles sagen. Einiges davon hätte er ihn bereits viel öfters hören lassen sollen. Aber die Chance dazu würde er wohl nie wieder haben. Es war vorbei. Reglos war sein Körper unter Ryes gefangen und bewegte sich lediglich im Einklang mit den inzwischen langsamer geworden, aber härteren Stößen, wie der Schwarzhaarige in ihn eindrang und nebenher von seinem Blut trank. Wie abgetrennt von der Welt nahm Gin irgendwann wahr, wie eine eisig kalte Flüssigkeit in sein tiefstes Innerstes spritze, die alles in ihm gefrieren ließ. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Kapitel 37: Abwesenheit ----------------------- „Bin ich… tot…?“, fragte sich Gin, umgeben von unendlicher Leere. Es war so still. So dunkel. Doch trotzdem passte etwas nicht. Irgendetwas war da, was ihm verriet, dass er noch am Leben war. So konnte sich der Tod nicht anfühlen. Aber fast. Er fühlte sich, als hätte man ihn aus den grausamsten Tiefen der Hölle wieder herausgezogen. Mitsamt den Qualen, die er dort hatte erleiden müssen. Wohl zu Recht. Das Feuer war noch immer nicht erloschen. Die Wunde an seinem Hals brannte. Sandte ihm unerträgliche Wellen des Schmerzes durch den Körper. Einfach alles schmerzte. Er konnte sich nicht bewegen. Egal wie sehr er es versuchte. Keiner seiner Muskeln gehorchte ihm mehr. Lediglich seine Augenlider konnte er öffnen, doch seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das grelle Licht. Die Sonne war viel zu hell. Es schien bereits der nächste Tag angebrochen zu sein. „Dann konnte ich… das Versprechen wohl doch einhalten…“ Die kurze Erleichterung wurde schnell wieder von den Schmerzen überlagert. Selbst Worte in Gedanken zu formulieren fiel ihm schwer. Doch ihm war klar, dass er irgendwas tun musste. Andernfalls würde er wirklich sehr bald sterben. Seine Zeit lief. Sie lief ab. Jede Sekunde zählte. Jede Sekunde könnte seine Letzte sein. Aber wie sollte er etwas dagegen tun, wenn er sich nicht bewegen konnte? So kam er nicht mal an sein Handy, um einen Krankenwagen zu rufen. Also war es doch aussichtslos? „Aber wenn Rye…“, kam es ihm in den Sinn, doch die winzig kleine Hoffnung wehrte nicht lang. Erst in diesem Moment wurde er sich wieder vollständig bewusst, was letzte Nacht passiert war. Was Rye mit ihm gemacht hatte. Und wie dieser höchstwahrscheinlich darauf reagieren würde, sobald er ebenfalls erwachte. Nein. Rye würde keinen Krankenwagen rufen. Er würde davonlaufen. Vor Schock. Vor Entsetzen. Aus Angst. Aus Trauer. Als Gin versuchte, trotz Schmerzen den Kopf zu drehen und ihm dabei kurz die Sicht verschwamm, bekam er die Bestätigung für seine Vermutung. Die Bettseite neben ihm war bereits leer. Rye schien wirklich nicht mehr da zu sein. Jedoch tat diese Bestätigung weitaus mehr weh als die bloße Vermutung. Gin schloss die Augen. Er war allein. Reglos. Hilflos. Unfähig, irgendetwas gegen seinen Zustand zu unternehmen. Der Tod war ihm so unbeschreiblich nah. Fast glaubte er, ihn in der Dunkelheit sehen zu können. Zu spüren, wie sich alles um ihn herum auflöste und ihn der Tod in seine Arme schloss. Doch dann hörte Gin von draußen ein Geräusch, welches ihn wieder zurück in die Realität holte. Sirenen. Die Sirenen eines Krankenwagens. Sofort waren seine Gedanken um den Tod in Vergessenheit geraten, als hätte es sie nie gegeben. „Dann hat er etwa doch…“ Gin wurde erneut von einer brennenden Schmerzenswelle überrollt, als er den Kopf langsam zum Fenster drehte. Wieder verschwamm ihm für einen Moment die Sicht, aber dennoch glaubte er am Fenster für den Hauch einer Sekunde den Umriss einer vertrauten Person zu erkennen. „Rye…“, entwich es seinen Lippen fast lautlos. Seine Hand zitterte nur kraftlos auf dem Bett, als er sie nach dem Vampir ausstrecken wollte. Aber es war sowieso zu spät, da dieser bereits wieder verschwunden war. Wohin hatte Gin nicht sehen können. Und er würde es wohl auch nicht herausfinden. Er hörte nur, wie danach eine Tür geöffnet und nicht wieder geschlossen wurde. Kaum eine Minute später klingelte es. Gin blieb nichts anderes übrig als zu warten, was als Nächstes passieren würde. Überhaupt würden gleich womöglich lauter Dinge geschehen, auf die er ohnehin keinen Einfluss hatte. Er kämpfte jetzt schon gegen die Bewusstlosigkeit an, welche höchstwahrscheinlich bald gewinnen und ihn erneut in einen tiefen Schlaf schicken würde. Sein Leben hing nur noch an einem hauchdünnen Faden. Und er wusste nicht, wovon es letzten Endes abhing, dass dieser Faden nicht reißen würde. Er konnte nur hoffen, dass sein Lebenswille stark genug war. Gin vernahm Schritte von mehreren Personen. Und obwohl diese immer näher zu kommen schienen und sich ein paar gedämpfte Stimmen hinzumischten, so kam es ihm dennoch so vor, als würde sich alles sehr weit von ihm entfernen. Er blinzelte benommen. Versuchte weiter gegen die Bewusstlosigkeit anzukämpfen und die Worte der fremden Frau, welche sich plötzlich vor ihm befand, zu verstehen. Aber es gelang ihm nicht. Letztlich war ihm egal, was jetzt passierte und was diese Leute mit ihm machen würden. Solange sie ihn nicht sterben ließen, spielte es keine Rolle. Zumindest das nicht. Die anderen Sorgen, die sich stattdessen in seinen Hinterkopf drängten, erloschen mitsamt dem Bild vor seinen Augen, sobald die Dunkelheit ihn wieder einhüllte.   …   Als Gin die Augen erneut aufschlug, schien er sich nicht mehr in seinem Schlafzimmer zu befinden. Grelles Licht blendete ihn, welches von der Decke auf ihn herabstrahlte. Ihm fiel auf, dass er auf dem Bauch lag. Die Wände um ihn herum waren weiß gestrichen und an der rechten Seite erblickte er ein Fenster mit mintgrünen Vorhängen, die ihm endgültig verrieten, dass er in ein Krankenhaus gebracht wurde. Zudem bemerkte er, dass sein Hals von einem dicken Verband umwickelt war. Generell schien er an mehreren Stellen seines Körpers einbandagiert zu sein. Die Schmerzen waren nicht mehr allzu unerträglich wie zuvor, da sie wahrscheinlich von irgendwelchen Schmerzmitteln unterdrückt wurden, die man ihm gegeben hatte. Dadurch konnte er sich wenigstens wieder ein bisschen bewegen. Er hielt vorsichtig eine Hand vor sein Gesicht, die mit mehreren durchsichtigen Schläuchen und Kabeln umwickelt war. Letzteres schien ihn mit einem Monitor zu verbinden, der irgendwo neben seinem Ohr ein monotones Piepen von sich gab. Das Bett unter ihm war ziemlich hart und das Kissen fühlte sich auch nicht sonderlich bequem an. Gin hatte jetzt schon genug von diesem Ort. Hinzu kam noch dieser ekelhafte, typische Krankenhausduft, welcher ihm längst in die Nase gestiegen war und sich dort festgesetzt hatte. Er stieß ein Seufzen aus und ließ die Hand wieder auf das Bett sinken. Zwar hasste er Krankenhäuser wie die Pest, aber diesmal war er wirklich dankbar, noch am Leben zu sein. So hatte er Rye zum Glück nicht verlassen müssen und dieser hatte sein Leben auch nicht auf dem Gewissen. Eigentlich war alles nochmal gut gegangen. Eigentlich. Rye war da mit Sicherheit ganz anderer Meinung. Doch von ihm schien wie immer jede Spur zu fehlen. „Wo ist er…“ Gins Magen zog sich zusammen. Jetzt, wo er wieder an Rye dachte, kamen plötzlich alle schrecklichen Empfindungen von gestern Nacht wieder in ihm hoch. Die Wunde an seinem Hals fing schmerzhaft an zu pochen. Es drängten sich unweigerlich Bilder in seinen Kopf, die er nicht sehen wollte. Gin schluckte und kniff die Augen zusammen, bevor er hastig blinzelte und die blutigen Erinnerungen vertrieb. Zum ersten Mal seit Langem kam er zu dem erschreckenden Entschluss, dass er Rye gerade nicht in seiner Nähe haben wollte. Zumindest nicht in diesem Moment. Denn die Angst, dass der Schwarzhaarige nie wieder in seine Nähe kam, war einfach viel zu groß, als dass er es für einen längeren Zeitraum ohne ihn aushalten würde. Rye blieb ihm wahrscheinlich nur fern, weil er ebenso Angst hatte. Jedoch vor anderen, weitaus schlimmeren Dingen. „Bestimmt geht er davon aus, dass ich ihn jetzt abgrundtief hasse und nie wieder sehen will… weil er mich… fast umgebracht hat…“ Da stieg Panik in Gin auf, als ihm auf einmal etwas Wichtiges einfiel, woran er bisher gar nicht gedacht hatte: Was sollte er den Ärzten erzählen? Oder besser gesagt: Wie sollte er das Ereignis von letzter Nacht schildern, sodass Rye kein Teil mehr davon war? Er konnte unmöglich die Wahrheit sagen, wenn ihn jemand fragen würde. „Irgendwas wird mir schon einfallen…“, versuchte sich Gin zu beruhigen. Schließlich hatte er noch eine Menge Zeit, sich eine perfekte Ausrede auszudenken. Oder auch nicht. Denn plötzlich wurde die Tür geöffnet. An den leichten, flinken Schritten erkannte Gin, dass es sich um eine Schwester handeln musste. Er überlegte, ob es besser wäre, Schlaf vorzutäuschen. Jedoch gab es da ein paar Sachen, die er gern in Erfahrung bringen würde. Vor allem wollte er wissen, wie die Lage war und wann er hier bestenfalls wieder raus konnte. Dass das wiederum nicht in absehbarer Zeit passieren würde, lag leider klar auf der Hand. „Oh, Sie sind ja schon wach.“, begann die Schwester überrascht, als sie das Fenster anklappen wollte und Gin somit bemerkte. Sie erwiderte seinen verwirrten Blick mit einem warmherzigen Lächeln und fuhr im freundlichen Ton fort: „Sie haben fast zwei Tage geschlafen. Aber keine Sorge, die Operation haben Sie gut überstanden. Es besteht keine Lebensgefahr mehr. Sie hatten wirklich sehr großes Glück.“ „Hatte ich das…“, wiederholte Gin leise. Seine Stimme kam ihm auf einmal so fremd vor. Die Schwester hingegen antwortete sogleich: „Die tiefe Wunde an Ihrem Hals befindet sich sehr nahe an Ihrer Halsschlagader. Sie haben dadurch eine Menge Blut verloren… und dann auch noch die inneren Verletzungen…“ Ein Hauch Sorge mischte sich in ihre Stimme und sie wurde zum Ende hin leiser, bis sie im lauteren Ton noch eine Frage hinzufügte: „Sind die Schmerzen erträglich oder soll ich Ihnen noch ein Schmerzmittel verabreichen?“ „Es geht.“, log Gin. In Wahrheit war gerade nicht das Geringste erträglich. Er fühlte sich völlig miserabel. Aber das lag nicht nur an den Schmerzen. „Können Sie mir vielleicht sagen, wer den Krankenwagen alarmiert hat?“ Die Schwester überlegte kurz. „Das war glaube Ihr Freund gewesen.“, sagte sie dann. „Wenn ich mich richtig erinnere, war es derselbe, der vorhin ein paar Ihrer Sachen vorbei gebracht hat. Darunter befanden sich zum Glück auch alle nötigen Dokumente. Ein wirklich höflicher, junger Mann… Er hatte sich als Dai Moroboshi vorgestellt. Sagt Ihnen der Name etwas?“ Also war es wirklich Rye gewesen, der den Krankenwagen gerufen hat. Irgendwie beruhigte das Gin. Jedoch wunderte es ihn, dass Rye danach nochmal hier gewesen war. „Noch dazu scheint er mal wieder in meiner Wohnung herumgekramt zu haben…“ „Ja… danke. Und wo ist er jetzt?“, wollte er wissen, hoffte aber nicht auf eine klare Antwort. Wenn Rye nicht hier bei ihm war, dann befand er sich mit Sicherheit auch nicht irgendwo im Gebäude, geschweige denn sich in der Nähe von diesem. Die Schwester zuckte wie erwartet mit den Schultern. „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Eine Kollegin hatte ihn zwar gebeten zu bleiben, da ein Beamter der Polizei ihn noch befragen wollte, doch dann war er plötzlich verschwunden…“ Sie schien darüber selbst verwundert zu sein. Gin blieb vor Schock der Atem stehen. „Poli… zei…?“, hakte er mit erstickter Stimme nach. Wo kam die Polizei denn plötzlich her? Hatten die Sanitäter diese etwa zugeschaltet? Was, wenn sie schon seine Wohnung durchsucht hatten? Oder schlimmer: wenn bereits schon Ermittlungen liefen? War Rye jetzt etwa der Hauptverdächtige? „Ja. Sobald Sie sich dazu in der Lage fühlen, werde ich den Beamten zu Ihnen schicken. Wenn das in Ordnung für Sie ist?“, fragte die Schwester. Scheinbar war es noch nicht so weit gekommen, wenn sie ihn erst mal befragen wollten. Gin nickte. „Da komme ich eh nicht drumherum…“, dachte er. Aber er würde gewiss nicht die Wahrheit sagen oder gar Anzeige erstatten. Die Polizei sollte sich da einfach raushalten. Und in dem Fall war Gin wirklich froh, dass er das selbst entscheiden konnte. Rye durfte auf keinen Fall in irgendwelche Schwierigkeiten geraten. Und schon gar nicht seinetwegen. „Gut. Brauchen Sie sonst noch irgendwas? Wollen Sie vielleicht jemanden anrufen?“, erkundigte die Schwester sich noch. Fast hätte Gin die Lippen zu einem ironischen Schmunzeln verzogen, als er gedanklich eine sehr kurze Liste durchging, wen er anrufen könnte. Ob Rye überhaupt gerade mit ihm reden wollte? Wahrscheinlich nicht. Und die andere Person auf der Liste, sein Boss, sollte wohl am besten erst gar nicht von diesem Vorfall erfahren. „Später.“, entgegnete Gin. „Die Sachen, die Ihr Freund gebracht hat, habe ich erst mal in den Schrank dort drüben gepackt. Ein Handy schien leider nicht dabei gewesen zu sein, aber das Telefon zu Ihrer Linken können Sie gern jederzeit benutzen.“ „In Ordnung.“ Natürlich war es kein Zufall, dass sein Handy nicht mit dabei gewesen war. Offensichtlich wollte Rye wirklich nicht mit ihm sprechen. Kein gutes Zeichen. Bis jetzt wies alles darauf hin, dass der Schwarzhaarige vorhatte, für längere Zeit das Weite zu suchen. Genau wie beim letzten Mal. Gin spürte, wie ihm sofort wieder schlecht wurde. Die vertraute Angst, dass Rye nie wieder zurückkommen würde, ergriff unmittelbar Besitz von ihm. „Unsinn. Er hat es versprochen. Bestimmt braucht er nur Zeit…“, hoffte er. Inzwischen war die Schwester aus seinem Sichtfeld verschwunden und wohl schon dabei das Zimmer zu verlassen. Vorher gab sie an der Tür noch Bescheid: „Das Abendessen bringe ich Ihnen dann in einer halben Stunde. Versuchen Sie sich auszuruhen.“ Gin erwiderte nichts. Durch die Angst hatte sich ein unüberwindbarer Klos in seinem Hals gebildet. Er merkte, wie sein Körper begann zu zittern und alle Schmerzen sich verstärkten. Während er stillschweigend wieder zum Fenster starrte, realisierte er erst dann, wie spät es schon war. Draußen war es dunkel. Zudem hatte die Schwester eben von Abendessen gesprochen. Gin seufzte und schloss die Augen. Ihm war der Appetit längst vergangen. Womöglich würde er keinen Bissen herunter bekommen. Er überlegte, wie er die Zeit hier stattdessen am sinnvollsten totschlagen könnte und wie er dabei möglichst nicht ständig an Rye dachte. Allerdings stand wohl ohnehin schon fest, dass ihn wegen dieses Vampires eine schlaflose Nacht erwartete.     Am nächsten Tag   Wie vermutet hatte Gin die ganze Nacht kein Auge zu bekommen. Und jedes Mal, wenn er in einen nicht sehr lang andauernden Minutenschlaf gefallen war, hatten ihn furchterregende Albträume heimgesucht, an die er sich nicht zurückerinnern wollte. Nun war er vollkommen übermüdet und versuchte sämtliche Schmerzen mit Schmerzmitteln zu unterdrücken, während er sich im Fernsehen irgendwelche langweiligen Serien anschaute und zwischenzeitlich zum Nachrichtenkanal wechselte, welcher aber nichts Interessantes berichtete. Das Gleiche hatte er gestern Abend auch getan, nachdem man ihn zum Essen zum Glück wieder auf den Rücken gedreht hatte. Jedoch saß er jetzt auf gefühlt hundert unbequemen Kissen und musste nebenbei noch aufpassen, dass diese nicht verrutschten. Andernfalls wäre die Matratze für seinen Hintern einfach zu hart. Generell war diese Verletzung das, was seinem Körper am meisten zusetzte. Er konnte weder richtig sitzen, geschweige denn laufen oder vernünftig auf Toilette gehen, ohne dass er dabei nicht wieder zusammenbrach. Jedoch wollte er nicht ständig eine Schwester deswegen belästigen, wobei er sich dabei wohl mehr belästigt fühlen würde, wenn ihm jemand Fremdes auf Toilette half. Des Weiteren hatte er hin und wieder versucht Rye zu erreichen. Selbstverständlich erfolglos. Entweder der Schwarzhaarige drückte ihn sofort weg oder ließ die Mailbox rangehen. Zwei Mal hatte Gin auf diese eine Nachricht hinterlassen, doch selbst das schien Ryes Meinung nicht geändert zu haben. Egal, wie oft er ihm versucht hatte zu versichern, dass er nicht sauer war und dass bald alles wieder gut werden würde. Gewiss glaubte ihm Rye das nicht. Für ihn würde wohl nie mehr alles gut werden. Die Verletzungen, die Gin erlitten hatte, würden irgendwann verheilen und höchstens Narben hinterlassen. Doch die unermesslich schwere Schuld, die sich Rye dafür gab und all die Vorwürfe, die er sich für sein Vergehen machte, würden ihn bis auf ewig verfolgen. Da war sich der Silberhaarige absolut sicher. Inzwischen hatte er es aufgegeben Rye anzurufen. Wahrscheinlich würde er es in ein paar Stunden weiter versuchen, da seine Sorgen und Ängste um seinen Geliebten ihn niemals in Frieden lassen würden, doch das war Gin im Moment auch egal. Vorhin war der Arzt bei ihm gewesen, welcher ihm allerdings auch keine guten Neuigkeiten übermittelt hatte. Seine Entlassung stand wie befürchtet noch in den Sternen. Nicht, dass Vater doch noch von seinem Krankenhausaufenthalt erfuhr. Dann hätte nicht nur seine letzte Stunde geschlagen. Auf einmal hörte Gin ein Klopfen an der Tür. Er hatte fast vergessen, dass er heute Morgen eingewilligt hatte, mit dem Polizeibeamten zu sprechen. Das musste er wohl sein. „Herein.“, sagte Gin etwas lauter, während er nach der Fernbedienung griff und den Fernseher ausschaltete. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. „Guten Tag Herr Kurosawa. Mein Name ist Daichi Tanaka von der Kriminalpolizei Tokio. Es tut mir aufrichtig Leid, Sie in Ihrem Zustand stören zu müssen, doch die gegebenen Umstände erfordern es, dass ich Ihnen ein paar Fragen stelle. Haben Sie kurz Zeit?“, stellte sich der Polizist im Anzug vor, bevor er die Tür hinter sich schloss und etwas näher herantrat. Gin nickte. Leider hatte er hier alle Zeit der Welt. Und das würde sich so schnell nicht ändern. Der Polizist holte einen Notizblock mit Kugelschreiber aus seinem Jackett hervor und fuhr fort: „Danke. Ich wurde bereits von den Ärzten über das Ausmaß Ihrer Verletzungen informiert und habe erfahren, in welchem Zustand man Sie am Morgen vor drei Tagen aufgefunden hat, nachdem ein gewisser Dai Moroboshi, der sich als Ihr Freund entpuppte, den Krankenwagen alarmiert hat. Es handelt sich hierbei offensichtlich um ein Gewaltverbrechen und ich würde gern von Ihnen erfahren, wie es dazu kommen konnte und was genau passiert ist. Laut Aussage einer Schwester ist Ihr Freund gestern hier gewesen, jedoch habe ich ihn nicht angetroffen. Wäre es möglich, dass Sie mir seine Kontaktdaten geben, damit wir seine Aussage ebenso aufnehmen können?“ „Das wird nicht nötig sein.“, lehnte Gin schnell ab. Das kam gar nicht infrage. Der Polizist schaute ihn überrascht an, bevor er nachhakte: „Und aus welchem Grund, wenn ich fragen darf?“ „Ich möchte nicht, dass er da mit reingezogen wird. Er hat mit dem Vorfall nichts zu tun und mich lediglich gefunden. Er wird Ihnen nicht mehr sagen können.“, erklärte Gin, womit er seine Aussage mit einer ersten Lüge geschmückt hatte. Und es würden noch viele weitere folgen. Denn zu lügen und sich dabei nichts anmerken zu lassen, war eine seiner leichtesten Übungen. Der Polizist schien ihm bereits zu glauben. Jedoch konfrontierte er ihn sogleich mit anderen Fragen: „Verstehe. Dann hoffe ich, dass Sie mir dafür umso mehr sagen können. Was ist am Tag zuvor passiert? Wer hat Ihnen das angetan? Kannten Sie die Person?“ „Ich erinnere mich nicht mehr genau. Aber ich kannte ihn nicht.“, log Gin weiter. Die Nummer, sich vor Schock nicht mehr an ein traumatisches Ereignis erinnern zu können oder diesbezüglich ein paar Gedächtnislücken aufzuweisen, sollte eigentlich immer funktionieren. Der Polizist nahm das scheinbar auch so hin. „Es handelte sich also um einen Mann?“, fragte er. „Ja…“ „Nicht kennen im Sinne von Sie haben ihn zum ersten Mal getroffen oder Sie können mir noch nicht mal einen Namen sagen?“ „Beides. Er hat mir glaube seinen Vornamen verraten, doch ich bezweifle, dass das sein Richtiger war.“, erwiderte Gin, während er sich in Gedanken bereits einen Vornamen ausdachte. Denn das würde der Beamte mit hoher Wahrscheinlichkeit als Nächstes wissen wollen, egal ob der Name falsch war oder nicht. „Sagen Sie es mir trotzdem. Und beschreiben Sie mir bitte auch sein Aussehen.“, lautete seine Antwort, wie Gin es vorausgesehen hatte. „Er hieß… David… etwas stabil gebaut, blaue Augen, blonde, kurze Haare und 3 Tage Bart… wahrscheinlich war er ein bisschen älter als ich, schätzungsweise um die 40.“, beschrieb er seinen imaginären Peiniger grob, was der Polizist alles ordentlich in seinem Notizblock notierte. „Klingt wie ein Ausländer.“, meinte er. „Und wo haben Sie diesen David getroffen?“ „In einer Bar.“ „Welche Bar?“ „Keine Ahnung. Ich war an dem Abend in mehreren Bars… und mir waren die Namen von denen ziemlich egal…“, entgegnete Gin ausweichend. Wenn er keinen genauen Ort nannte, würde die Polizei auch nicht nachforschen oder gar Leute befragen können, über ein Ereignis, das gar nicht stattgefunden hatte. „Und warum?“ Gin zuckte mit den Schultern, rollte aber innerlich mit den Augen. Der Kerl war eindeutig viel zu neugierig. „Einfach so. Verspüren Sie nie das dringende Bedürfnis, jemand Neues kennenzulernen?“ Im Nachhinein bemerkte Gin, dass das jetzt eher so rüberkam, als hatte er vorgehabt, seinem Freund fremdzugehen. Aber auch egal. Sollte der Beamte doch über ihn denken, was er wollte. Dieser erwiderte nach einem verlegenen Räuspern: „Ich verstehe schon.“ Dann senkte er den Blick und fügte hinzu: „Waren die Motive des Mannes von Anfang an erkennbar? Oder ist Ihnen das erst im Nachhinein klar geworden?“ Da verlor sich Gin plötzlich für einen Moment in seiner Rolle und fand sich gedanklich mit Rye in der Toilettenkabine auf dieser Veranstaltung wieder. Er erinnerte sich, wie Rye versucht hatte, ihn zu überzeugen. Wie er ihn zuvor verführt und keinen Zweifel an seinen Absichten gelassen hatte. „Ich wusste schon, was er wollte… aber ich hatte es mir anders überlegt und wollte einen Rückzieher machen, was er nicht akzeptiert hat…“, antwortete Gin abwesend. Die halbe Lüge kam ihm schwerer über die Lippen. „Sie meinen, er hat Sie vergewaltigt?“ Gin durchlief ein Schock. Fast glaubte er, sein Herz würde stehenbleiben. Zwar bezog sich der Polizist damit auf die erfundene Version des Ereignisses, jedoch kam es dem Silberhaarigen dennoch so vor, als sei von Rye die Rede. Der winzig kleine, wahre Kern hinter der Frage ließ ihn erschaudern. „Nein. Das stimmt nicht. Er konnte nichts dafür. Es ist meine Schuld. Nur meine Schuld. Nicht seine. Er wollte das nicht. Er wollte mich nicht verletzen…“ Der Polizist schien zu bemerken, dass sich Gins Haltung schlagartig veränderte und er zunehmend in eine Gedankenspirale versank, weshalb er sich entschuldigte: „Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht kränken. Sie müssen dazu nichts weiter sagen, wenn Sie nicht möchten.“ Gin schüttelte hastig den Kopf, wobei die Wunde an seinem Hals schmerzhaft anfing zu brennen. Doch der Schmerz ließ ihn allmählich wieder zu Vernunft kommen. Er fasste sich an den Verband und versuchte seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen. Dabei bekam er eine Idee, die sich vielleicht als wirksam erweisen könnte. „Allerdings ist es mir ein Rätsel, wie diese Bisswunde am Hals dabei zustande gekommen ist.“, kommentierte der Polizist die Geste. Gin wusste nicht, wie er das erklären sollte. Aber das musste er auch nicht. „Ich weiß es nicht mehr. Ich hab… irgendwann das Bewusstsein verloren…“, redete er sich einfach raus, was eigentlich der Wahrheit entsprach. Im Augenwinkel bemerkte er, wie der Polizist ihn misstrauisch musterte. Gin nutzte die Gelegenheit, um das Gespräch in die Richtung zu lenken, in die er es schon von Anfang an hatte lenken wollen. „Offensichtlich gehen Sie davon aus, dass ich will, dass man den Täter schnell findet. Doch da irren Sie sich. Ich habe nicht vor, Anzeige zu erstatten.“, offenbarte er, woraufhin die Augen des Beamten sich erstaunt weiteten. „Nicht?“, hakte er ungläubig nach. „Was würde das bringen? Das, was geschehen ist, lässt sich sowieso nicht mehr rückgängig machen. Außerdem… ist es meine eigene Schuld…“, erklärte Gin mit leiser Stimme. Der Polizist sah ihn noch ungläubiger an, sodass sich tiefe Falten auf seiner Stirnen bildeten. „Sie geben sich selbst die Schuld für das, was Ihnen zugestoßen ist?“ Er schien es wirklich nicht wahrhaben zu wollen. „Ja. Ich hätte nicht so naiv sein dürfen. Das hab ich jetzt davon.“, erwiderte Gin. Das, was passiert war, hatte er sich zweifellos selbst zuzuschreiben. Er würde Rye niemals die Schuld dafür geben. Wenn er die Gefahr von Anfang an erkannt und die Warnungen seines Geliebten nicht immer auf die leichte Schulter genommen hätte, dann hätte er seinem Schicksal vermutlich entgehen können. Aber so war er nun mal. Rye hatte damals womöglich mit seinem Vorwurf recht damit gehabt, dass er stets zu viele unnötige Risiken einging. Und nun hatte er seine gerechte Strafe dafür erhalten. „Sagen Sie so etwas doch nicht. Ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen. Sie sind nicht der Erste, dem das passiert ist. Die meisten Opfer-“ „Hören Sie bitte auf damit. Sie verstehen mich überhaupt nicht.“, unterbrach Gin den Beamten mit einem bewusst gewählten hysterischen Tonfall. Er war also das Opfer? Na schön. Dann würde er sich auch wie eines verhalten. „Herr Kurosawa-“ „Nein! Ich möchte Sie dringlichst bitten, jetzt zu gehen. Wenn Sie das nicht tun, werde ich eine Schwester rufen.“, fiel er dem Kerl erneut ins Wort. Das war wohl der einfachste Weg, ihn am schnellsten wieder loszuwerden. Es schien zu funktionieren. Der Polizist ließ sein Notizblock sinken. „Schon gut. Ich werde Sie nicht länger belästigen. Und Sie sind sich sicher, dass Sie wirklich keine Anzeige erstatten wollen?“, wollte er sich vergewissern. „Bin ich. Und ich wünsche, dass in meinem Fall nicht ermittelt wird. Das können Sie ihren zuständigen Kollegen auch ausrichten.“, stellte Gin klar, woraufhin dem Polizisten ein Seufzen entwich. „Wie Sie meinen.“ Er ging endlich in Richtung Tür. „Dann noch gute Besserung.“ Gin schwieg und wartete, bis die Tür geschlossen wurde und er wieder allein war. Dann lehnte er sich erleichtert im Bett zurück. Immerhin wäre das jetzt erledigt. Inwieweit der Polizist ihm letztlich Glauben schenkte und ob dessen Kollegen seiner Aufforderung nachkommen würden, war erst mal nicht so wichtig. Zumindest würde man ihn fürs Erste in Ruhe lassen und keine Ermittlungen aufnehmen. Eine Sorge weniger. Blieb nur noch seine größte Sorge mit dem Namen Rye übrig. „Sollte ich ihm von dem Gespräch erzählen? Vielleicht hatte er auch einfach am meisten Angst vor der Polizei… Wenn ich ihm sage, dass er aus dem Schneider ist, kommt er vielleicht wieder…“ Gin beschloss, ihm heute Abend nochmal auf die Mailbox zu sprechen, da der Schwarzhaarige höchstwahrscheinlich wieder nicht ans Handy gehen würde. Die Nachrichten hörte er bestimmt dennoch alle ab. Aber ob ihn diese letzten Endes auch umstimmen würden, wagte Gin zu bezweifeln. Missmutig wanderte seine Hand zur Fernbedienung, um den Fernseher wieder einzuschalten. Es war alles echt zum kotzen. Ihm fiel hier drin beinahe die Decke auf den Kopf. Und allein der Gedanke, dass er noch mehrere Tage in diesem Bau schmoren musste, brachten ihn fast dazu, sich aus dem nächstbesten Fenster stürzen zu wollen. „Das kann ja noch heiter werden…“, dachte er deprimiert.     5 Tage später   Gin atmete erleichtert auf, als er endlich wieder in seiner Wohnung angekommen war. Zum Glück war der Weg vom Krankenhaus hierher nicht allzu weit gewesen, denn ganz so gut auf den Beinen war er noch immer nicht. Längere Strecken waren noch sehr mühselig und nicht jede Bewegung konnte er problemlos ausführen, ohne dass er nicht von Schmerzen gequält wurde. Von den Tabletten würde er sich daher nicht so schnell verabschieden können. Es war auch nicht wirklich einfach gewesen, den Arzt von seiner etwas frühzeitigen Entlassung überzeugen zu können. Am Ende schien er wohl aufgegeben zu haben und hatte den Silberhaarigen nach einer langen Predigt bestehend aus Anweisungen und Hinweisen zur Vorsicht nach Hause geschickt. Die fünf Tage hatten sich eher angefühlt wie fünf Jahre. Insbesondere weil Gin nichts anderes hatte tun können, außer fernzusehen und nebenher Löcher in die Luft zu starren. Selbst die Mahlzeiten hatte er nach zwei Tagen nicht mehr sehen können und das tägliche Wechseln des Verbands an seinem Hals, welchen er gerade unter einem Rollkragen verbarg, hatte ihm auch irgendwann den letzten Nerv genommen. Nachts ein Auge zu zubekommen war nahezu unmöglich gewesen. Zum einen wegen des unbequemen Bettes und der Schmerzen, zum anderen wegen der ständigen Gedanken um Rye, welcher nach wie vor kein Lebenszeichen von sich hören ließ. Gin hatte versucht, damit zurechtzukommen, und die Abwesenheit des Schwarzhaarigen zu ignorieren. Doch je länger dieser fort war, umso schlechter fing Gin an, sich zu fühlen. Es war ein ganz seltsames, unbeschreibliches Gefühl. Als befände sich ein schwarzes Loch in seiner Brust, welches ihn von innen zerfraß und nichts als eine einsame Leere zurückließ, die Gin beinahe den Verstand raubte. Er begriff es einfach nicht. Bevor er Rye kennengelernt hatte, war er fast sein ganzes Leben lang allein gewesen. Nie hatte er irgendwelche Freunde gehabt. Nie hatte sich jemand für sein Wohlergehen interessiert oder gar Liebe für ihn empfunden. Genau aus diesem Grund war Gin der festen Überzeugung gewesen, das Alleinsein ertragen zu können. Weil er geglaubt hatte, daran gewöhnt zu sein. Doch offenbar hatte er sich geirrt. Er war nicht im geringsten dazu in der Lage, es ertragen zu können. Nicht, wenn es um Rye ging. „Er hat mir beigebracht zu lieben… aber auch, wie es sich anfühlt, Angst zu empfinden… schreckliche Angst… jemanden zu verlieren…“ Gin stellte seine Sachen im Schlafzimmer ab und lehnte sich gegen die Tür. Da stand er nun. War zurück am Ort des Geschehens. Es hatte sich rein gar nichts verändert. Alles sah noch genau wie vor einer Woche aus, als er aus diesem Zimmer transportiert wurde. Nur mit dem Unterschied, dass Ryes Kleidungsstücke nicht mehr da waren. Erst jetzt wurde sich Gin eigentlich bewusst, wie viel Blut er verloren haben musste. Sein Bett ließ den Eindruck entstehen, als sei dort drin jemand auf brutale Weise gestorben. Und so war es für ihn nicht mehr schwer zu erahnen, wie sich Rye gefühlt haben musste, als er neben ihm an jenem Morgen aufgewacht war. Gin wandte den Blick vom Bett ab, da sich sein Magen plötzlich verkrampfte. „Ich muss… dringend die Bettwäsche wechseln… und wahrscheinlich auch eine neue Matratze kaufen…“, dachte er frustriert. Zweiteres könnte er später erledigen, doch das Blut sollte er lieber gleich beseitigen, bevor ihm noch der letzte Rest von dem widerlichen Krankenhausessen hochkam. Eigentlich hatte er noch nie Probleme mit Blut gehabt. Und eigentlich ging es auch gar nicht um das Blut an sich, sondern darum, wie es zustande gekommen war. Gin kniff die Augen zusammen und ging mit schnellen Schritten zum Bett, bevor er hastig das Bettlaken von der Matratze zog. Er verstaute darin sowohl Kissen als auch Decke und verknotete das Ganze am Ende zu einem riesigen Sack. Dann verharrte er und bemerkte dabei seine zitternden Hände. Blut. So viel Blut. Gin wich vom Bett zurück. „Ich mache es doch später…“, beschloss er und drehte sich anschließend zum Nachtschrank, um sein Handy zu nehmen. Dessen Akku schien mittlerweile leer zu sein, da es sich nicht mehr anschalten ließ. Gin kramte das dazugehörige Ladekabel aus dem Schrank und ging danach eilig aus dem Schlafzimmer. Die Übelkeit nahm sofort wieder etwas ab, sobald er dieses hinter sich gelassen hatte und stattdessen das Wohnzimmer betrat. Dort schloss er sein Smartphone an eine Ladestation an, sodass er es wieder einschalten konnte. Jedoch bereute er dies im folgenden Moment auch schon. Das Gerät vibrierte vor verpassten Anrufen. Allerdings handelte es sich keineswegs um verpasste Anrufe von Rye. „Scheiße.“ Gin vergrub sein Gesicht in den Händen. Er war erledigt. Der Boss würde ihn lebendig begraben lassen. „Was soll ich ihm sagen…? Was, wenn er schon alles erfahren hat…“ Vater hatte überall seine Quellen und in den meisten Fällen entging ihm nichts. Gin konnte nur hoffen, dass der Ältere nicht so sehr an seinem Verbleib interessiert gewesen war, dass er Nachforschungen hatte anstellen lassen. „Vielleicht war es nichts Wichtiges gewesen… außerdem bin ich ihm egal… ich war ihm… schon immer egal gewesen…“ Nie hätte Gin geglaubt, dass ihn das eines Tages mehr beruhigen als verletzen würde. Er atmete tief durch. Doch die einkehrende Ruhe in seinem Körper hielt nicht lange an. Ihn durchbebte ein gewaltiger Schock, als das Smartphone an seinem Ohr auf einmal zu vibrieren begann. „Das ist doch ein schlechter Witz…“, dachte er, während er auf das Display starrte. Annehmen oder vibrieren lassen? Beide Entscheidungen waren nicht sonderlich klug. „Besser ich stelle mich dem einfach, sonst wird es noch schlimmer.“ Er nahm den Anruf an und begann mit möglichst fester Stimme: „Was ist los?“ „Was los ist? Das wagst du mich auch noch zu fragen, nachdem du tagelang nicht erreichbar warst?“, schoss der Boss sogleich in einer finsteren, strengen Tonlage zurück, die Gin einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Er konnte sich auf die Schnelle keine plausible Ausrede ausdenken. Während seines Krankenhausaufenthalts hatte er das auch nicht versucht, jedoch überwiegend aus dem Grund, weil er Vater nur sehr ungern anlog. Denn die Folgen einer aufgedeckten Lüge wären schlichtweg zu fatal, als dass er es riskieren wollte. „Es gab gewisse… Komplikationen… nicht weiter wichtig.“, wich er daher aus, wofür er gleich darauf die Quittung bekam. „Du wirst mir jetzt sofort sagen, wo du gewesen bist.“, verlangte der Boss. Es war jedes Mal erschreckend, wie man den Zorn aus seiner Stimme deutlich heraushören konnte, ohne dass er wirklich wütend dabei klang, sondern stets beherrscht. Gin versuchte sich nicht davon beirren zu lassen. „Und warum willst du das wissen? Es ist immer noch meine Angelegenheit, wo ich mich wie lange aufhalte.“, entgegnete er. „Wo du bist und für wie lange, entscheide am Ende immer noch ich. Das weißt du ganz genau. Insbesondere wenn du tagtäglich von einer blutsaugenden Bestie umgeben bist. In der aktuellen Situation können wir es uns nicht leisten, unvorsichtig zu sein.“, wies der Boss ihn zurecht. Gin biss sich auf die Unterlippe. Er kam nicht umhin, sich zu fragen, ob sich Vater vielleicht ein bisschen um ihn gesorgt hatte. Und was meinte er mit ‚in der aktuellen Situation‘? War etwa irgendwas passiert, wovon Gin noch nicht wusste? Etwas, was die aktuelle Situation zu einer hochgradig gefährlichen Situation machte? „Ich war aber nicht unvorsichtig. Und er ist keine blutsaugende Bestie.“ „Es ist mir egal, was er ist. Wo ist er?“ Die eiserne Tonlage drang tief zu Gin durch und weckte in ihm unweigerlich die Befürchtung, dass Rye etwas Dummes angestellt hatte. Vaters Stimme nach zu urteilen, würde er diesen am liebsten in Stücke reißen wollen. Gin schwieg. Er konnte die Frage nicht beantworten. Auch wenn er es noch so sehr selbst wissen wollte. „Gin.“, drängte der Boss ihn nach ein paar Sekunden, weshalb sich der Silberhaarige doch zu einer Antwort zwang. „Ich… weiß es nicht…“, gab er schließlich zu. „Wie du weißt es nicht? Er ist doch sonst immer bei dir.“ „Nicht mehr… Er ist weg, schon seit einer Woche.“ Gin war sich dessen bewusst, dass er Rye jetzt gewiss keinen Gefallen tat. Was auch immer der Boss dem Schwarzhaarigen im Moment vorwerfen wollte – damit hatte Gin diesen Vorwurf nur noch untermauert. „Wirklich seltsam, dass du genau so lange nicht erreichbar warst.“ Es war offensichtlich, dass Vater bereits mit Bestimmtheit wusste, dass das eine mit dem anderen zusammenhing. Natürlich lag er richtig. Doch das würde Gin niemals direkt zugeben. „Ich konnte ihn ebenso wenig erreichen.“, meinte er nur, um ein wenig vom Offensichtlichen abzulenken. „Na schön. Dann weiß ich jetzt wenigstens, wer hinter all dem steckt. Aber das war ja zu erwarten gewesen.“ Die Worte des Bosses erfüllten Gin unerwartet mit Schrecken. Also doch. Irgendwas musste passiert sein. „Wovon sprichst du?“, wollte er wissen. „Von dem Grund, weshalb ich dich versucht habe zu kontaktieren. Ich wollte dir mitteilen, dass wir Cognac und seine Familie gefunden haben.“ „Das ist doch aber-“ „Tot.“ Gin erstarrte. Warum schockierte ihn diese Neuigkeit so dermaßen, obwohl es von Anfang an zu erwarten gewesen war? Doch nun, wo er es erfahren hatte, konnte er es nicht glauben. „Wie…“, brachte er hervor. Vaters Antwort war noch schockierender. „Das solltest du lieber deinen Vampirfreund fragen.“ In Gins Kopf begann sich automatisch ein schleierhaftes Puzzle zusammenzufügen, welches ihn Antworten auf Fragen lieferte, die er sich weigerte, in Gedanken zu stellen. Weil er Rye diese Tat nicht zutraute und bereits unbewusst jemand anderen verdächtigte. „Warum sollte er dafür verantwortlich sein?“ Wenn es auch nur irgendeinen, ansatzweise logischen Grund gab, dann wollte er ihn wissen. Auch wenn es längst völlig sinnlos war, nach einem zu suchen. Rye hatte Cognac nie kennengelernt. Und zum Zeitpunkt von dessen Verschwinden war er wiederum noch nicht verschwunden gewesen. Cognacs Tod konnte schlichtweg nichts mit Rye zu tun haben. Aber mit etwas anderem, das eine weitaus größere Gefahr ausstrahlte und dessen Name Gin nicht einmal gedanklich aussprechen wollte… „Gin.“, ermahnte ihn der Boss plötzlich. „Hör endlich auf dir einzureden, es würde auch nur einen Funken Gutes in dieser Kreatur stecken. Das war zweifellos sein Werk. Die Zurichtung aller Leichen beweist es. Kein anderer Täter würde seinen Opfern Blut entnehmen und sie am Ende so hinterlassen, als seien sie von einem wilden Tier zerfetzt worden. Das kann nur er gewesen sein.“ Gin schluckte. Obwohl Vater ihn mit diesen Worten von Ryes Schuld überzeugen wollte, erreichte er damit das komplette Gegenteil. Gin spürte, wie sein Herz anfing zu rasen und ihn eine unbeschreibliche Angst beschlich. Angst vor etwas, dessen Macht er nicht vollständig einschätzen konnte. „Nein. Er muss es nicht gewesen sein.“, sagte er und machte somit unausgesprochen deutlich, wen er stattdessen verdächtigte. Der Boss brach daraufhin in Schweigen aus. Als er antwortete, hatte sich seine Tonlage auf seltsame Weise verändert: „Du weißt, welche Alternative es nur noch geben kann, oder?“ „Ja…“ Wahrscheinlich musste es so sein. Sie hatten es beide auf der Veranstaltung bereits in Erwägung gezogen. Und letzten Endes war es ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Eclipse aus seinen dunklen Schatten heraustreten und sich in Bewegung setzen würde. Und niemand wusste, wie sie agierten und welches Ziel sie dabei verfolgten. Doch eines stand fest: Es handelte sich ohne Zweifel um Kreaturen, die Rye problemlos das Wasser reichen konnten und vielleicht sogar viel stärker als er waren. „Glaub mir, in diesem Fall sollten wir uns wünschen, dass er dafür verantwortlich ist.“, erwiderte der Boss trocken, womit Gin ihm nur ungern recht gab. Inzwischen wünschte er sich wirklich, dass Rye die Tat begangen hatte. Dann würde er zumindest nicht in ernster Gefahr schweben. „Aber wir können es dennoch nicht einfach ausschließen.“ „Mag sein, dass du damit recht hast.“ Danach breitete sich Stille aus. Gin würde nur zu gern wissen, was der Ältere in diesem Moment dachte. Aus welchem Grund auch immer schien er Eclipse zu kennen oder irgendeine Verbindung zu dieser Organisation zu haben. Aber warum? Und warum hatte Gin dann noch nie zuvor von ihnen gehört? „Und was sollen wir jetzt tun?“, fragte er nach einer Weile, um das angespannte Schweigen zu brechen. Er selbst hatte überhaupt keine Idee. Was sollte man auch gegen solche Kreaturen ausrichten können? Sie waren wie Rye unbesiegbar. Nichts konnte sich ihnen in den Weg stellen. „Ich werde der Sache nachgehen. Irgendwohin werden meine Nachforschungen mich schon führen und dann entscheide ich, wie weiter vorgegangen wird. Du hingegen wirst gar nichts tun. Bleib da, wo du bist. Das ist ein Befehl.“ Gins Augenbrauen zogen sich entrüstet zusammen. Das verstand er nicht. Was sollte das auf einmal? Seit wann wollte Vater ihn aus solchen Angelegenheiten raushalten? „Was? Wieso? Ich könnte doch-“, wollte er protestieren, wurde jedoch von der schneidenden Stimme des Bosses unterbrochen. „Du wirst deine Wohnung nicht verlassen, haben wir uns verstanden? Ich werde dich informieren, sobald das hier erledigt ist. Und falls Rye in der Zwischenzeit wieder auftauchen sollte, wirst du mir das unverzüglich mitteilen.“, stellte er klar und Gin erkannte an seiner Tonlage, dass kein weiterer Widerspruch gestattet war. Ihm blieb trotz wachsender Verwirrung keine andere Wahl, als den Anweisungen Folge zu leisten. Er wollte Vater nicht noch mehr verärgern. „Verstanden…“, erwiderte er. „Das hoffe ich doch. Und wage es nicht, diesen Befehl zu missachten.“ Nach diesen Worten legte der Boss auf. Gin ließ die Hand sinken und starrte ins Leere. Was nun? Was sollte er tun? Konnte er überhaupt etwas tun? „Verdammt Rye, wo steckst du…“ Er fuhr sich über die Stirn. Alles wäre bei weitem unkomplizierter, wenn Rye wenigstens hier wäre. Dann könnten sie gemeinsam nach einer Lösung suchen. Doch jetzt war sich Gin nicht einmal sicher, was er glauben sollte. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder Rye hatte die Tat begangen oder nicht. Und wenn dem nicht so war, kam nur Eclipse infrage. Dann würde sein Geliebter in sehr großen Schwierigkeiten stecken. Verzweifelt tippte Gin Ryes Nummer auf seinem Smartphone ein. Er lauschte dem gleichmäßigen Tuten an seinem Ohr, bis schließlich die Mailbox ertönte. Während die altbekannte Frauenstimme sprach, dass der Gesprächsteilnehmer zurzeit leider nicht erreichbar war, drängte sich ein neuer, angsteinflößender Gedanke in Gins Kopf. „Und was, wenn er nicht rangehen kann? Wenn sie ihn bereits…“ Er tat einen zittrigen Atemzug. Nein. Rye würde sich bestimmt nicht so leicht fangen lassen. „Aber falls doch… und wenn Eclipse die Nachrichten liest und abhört…“ Gin legte schnell auf. Es machte ihn zunehmend fertig, vollkommen im Dunkeln zu tappen. Er könnte noch zig Vermutungen über Ryes Verbleib anstellen und würde dennoch zu keiner Antwort gelangen. Doch wenn der Schwarzhaarige in Gefahr war, dann musste er ihm helfen. Egal, ob er letztlich eine Chance gegen Eclipse hätte oder nicht. Er musste es wenigstens versuchen. Andernfalls würde er sich das niemals verzeihen, wenn sie Rye etwas antaten. „Ob ich sein Handy noch einmal orten kann?“ Zwar hatte sein Geliebter es ihm beim letzten Mal ausdrücklich verboten, aber Gin tat einfach bewusst so, dieses Verbot nie gehört zu haben und probierte, den Standort von Rye zu ermitteln. „War ja klar…“ Zwecklos. Es funktionierte nicht. Ryes GPS war ausgeschaltet. Gin stieß ein Seufzen aus und setzte sich vorsichtig auf das Sofa. Also konnte er wirklich nicht das Geringste ausrichten und nur hoffen, dass es Rye gut ging und er bald wieder zurückkehren würde. Jedoch bezweifelte der Silberhaarige, dass er lange genug imstande wäre, dieser Tatsache tatenlos ins Auge zu blicken. Kapitel 38: Das Spiel beginnt ----------------------------- Es war erst kurz nach Mittag, als sich Gin müde auf dem Sofa hin und her wälzte. Obwohl er sich wegen der Schmerzen und dem ganzen Stress erschöpft fühlte, gelang es ihm nicht einmal, wenigstens für einen kurzen Moment einzuschlafen. Sein Kopf war voll von Sorgen und Ängsten, die allesamt entweder Rye, Eclipse oder beides betrafen. Doch er konnte nichts dagegen tun, geschweige denn den Gedankenspiralen, die ihn beinahe in die pure Verzweiflung trieben, entkommen. Es kam ihm fast so vor, als hätte sich ein riesiger schwarzer Schatten über ihn ausgebreitet, welcher ihm jegliche Hoffnungen raubte und versuchte, ihn mitsamt seiner negativen Gefühle und Gedanken gefangen zu halten. Einen Lichtblick oder gar einen Ausweg gab es nicht mehr. Einzig und allein Rye könnte es schaffen, ihn aus dieser Finsternis zu befreien. Wenn er doch hier wäre. Einen Tag noch. Einen Tag würde Gin noch warten. War Rye bis dahin nicht zurückgekehrt, würde er ausgiebig nach ihm suchen. Egal, ob sich sein Weg dann mit dem von Eclipse kreuzte oder andere Gefahren auf ihn warten würden. Vielleicht ließ sich ein Zusammentreffen mit Eclipse ohnehin nicht vermeiden. Vielleicht war es von Anfang an unvermeidbar gewesen und es stand bereits schon seit seiner ersten Begegnung mit Rye fest, welches Ende ihre Beziehung zueinander nehmen würde. Vielleicht war sogar ein mögliches Ende davon, dass einer von ihnen sterben würde. Aus diesem Grund hatte sich Gin in den vergangenen Stunden gefragt, ob er wirklich bereit dazu wäre, sein Leben für Rye zu opfern. Er dachte an die Konsequenzen und an die Möglichkeit, ob es für Rye vielleicht noch Hoffnung gab und er irgendwann wieder ein normales Leben führen könnte. Egal ob als Mensch oder Vampir. Hauptsache, er wäre glücklich. „Jedoch hat er nie den Eindruck gemacht, als könnte er in irgendeiner Weise glücklich werden, wenn ich nicht mehr da bin… selbst wenn er die Chance hätte, kann ich mir nicht sicher sein, dass er sie nutzen würde… und dennoch…“ Gin würde es riskieren. Sein Leben für das von Rye. Aber nur wenn alle Stricke rissen und es keine andere Wahl mehr gäbe. Niemals würde er es drauf anlegen oder es gar so weit kommen lassen, dass er solch eine Wahl treffen musste. Er würde bis zum bitteren Ende kämpfen. Und das nur, weil er diesen dummen Vampir so sehr liebte, der innerhalb weniger Monate sein striktes, eintöniges Leben vollkommen verändert hatte. Sowohl positiv als auch negativ. Gin musste sich eingestehen, dass Vater letztlich doch recht hatte. Liebe machte tatsächlich blind. So blind und naiv, dass man die richtigen Entscheidungen vor Augen nicht mehr sehen konnte. Und selbst wenn man sich dieser Liebe bewusst war, konnte man sich nicht mehr von ihr losreißen. Stattdessen nahm man das Risiko in Kauf, eine falsche Entscheidung zu treffen, die einen für immer in ein tiefes Unglück stürzen konnte. Auf einmal handelte man nicht mehr aus eigenen Beweggründen, nicht mehr aus Egoismus, sondern einzig und allein für die Person, die man liebte. Doch was war falsch daran, nicht aus Egoismus handeln zu wollen? Wer bestimmte, welches Leben am Ende wichtiger war? Zudem machte Liebe nicht nur blind. Sie war auch in gewisser Weise ein Rätsel, welches jeder Mensch unterschiedlich lösen und für sich definieren konnte - und Rye war Gins Definition von Liebe. Das würde sich niemals ändern. Egal, was in Zukunft noch geschah. Gin legte die Hand auf seine Stirn. Das Alleinsein und das daraus resultierende, häufige Nachdenken, tat ihm einfach nicht gut. Besonders, wenn er zu keiner Lösung kam. Er atmete tief durch und versuchte sich der Stille im Raum hinzugeben. Doch diese wurde im folgenden Moment durch das Vibrieren seines Handys auf dem Tisch unterbrochen. Ein Anruf. Gin richtete sich sofort mit einem Ruck auf. „Ist es etwa…“ Er spürte, wie sich neue Hoffnung in ihm aufbaute, während seine Hand zum Tisch wanderte, um das Smartphone zu greifen. „Rye!“ Gin konnte es nicht glauben, dass der Bildschirm ihm wirklich den Namen seines Geliebten zeigte. Eine Welle der Erleichterung überkam Gin. All die Sorgen und der Schmerz in ihm verblassten. Wenn es Rye gut ging und er nun wieder mit ihm reden wollte, würde sich bestimmt bald alles klären und der dichte Nebel um das Problem Eclipse würde sich hoffentlich ebenso auflösen. Doch dieses Problem vorerst nach hinten geschoben, war es gerade viel mehr Gins sehnlichster Wunsch, einfach nur Ryes Stimme wieder zu hören. Er nahm den Anruf an und wollte etwas sagen. Aber seine Stimme erstarb, noch bevor Worte seinem Mund überhaupt entweichen konnten. Am anderen Ende der Leitung schrie jemand. Vor Schmerzen. Nach Hilfe. „Rye…? Rye?!“, unterbrach Gins panische Stimme die Schreie, die ihn bis ins Mark erschütterten. Das konnte unmöglich Rye sein. Was war passiert? Wie konnte das passiert sein? Und warum reagierte er nicht? „Nein, bitte! Macht das rückgängig! Lasst mich wieder gehen!!“ „Rye? Was ist los? Antworte!“ Gin biss sich fast die Unterlippe auf, während er auf eine Reaktion wartete, die nie kam. Seine Hand schloss sich zitternd fester um sein Smartphone. Ihm fiel auf, dass Ryes Stimme klang, als sei sie nicht in unmittelbarer Nähe seines Handys. Scheinbar konnte er ihn nicht hören. „Ich will nicht sterben!“, schrie sein Geliebter aus voller Kehle, erfüllt von Angst und Not. Diesmal blieb Gin still. Er hörte, wie Ryes Stimme etwas leiser wurde, als würde sich jemand von ihm entfernen. Bis plötzlich ein lautes Knallen ertönte, als wäre eine Tür zugeschlagen worden. „Das ist wirklich Musik in den Ohren, nicht wahr? Ich glaube jedoch, lange hält er das nicht mehr durch.“, meldete sich eine helle, unbekannte Stimme, welche Gin auf eine anonyme Art vertraut vorkam und ihn durch ihren Klang ein wenig an die von Rye erinnerte. So schön und rein – nur mit dem Unterschied, dass der hämische Unterton einen unbeschreiblichen Hass in Gin auslöste. „Du brauchst nicht schüchtern zu sein. Mit einem einseitigen Telefonat ist leider niemandem geholfen. Von daher wäre es besser, du redest mit mir.“, fügte die Stimme des fremden Mannes nach ein paar Sekunden des Schweigens amüsiert hinzu. „Wer sind Sie?“, fragte Gin mühsam beherrscht. „Ich wusste, dass du das fragst. Aber kannst du es nicht auch erraten?“ Gin glaubte, ein selbstgefälliges Grinsen aus der Tonlage herauszuhören. Er schluckte. Die Antwort lag klar auf der Hand. Doch er wollte es nicht wahrhaben. „Eclipse…“, flüsterte er benommen. „Dann hat er dir schon von uns erzählt. Sehr gut, das macht es um einiges unkomplizierter.“, erwiderte der Mann zufrieden. „Was wollt ihr von mir?“ Gin verstand es nicht. Wenn sie Rye bereits in ihrer Gewalt hatten, wozu riefen sie ihn dann noch an? Etwa, weil er Bescheid wusste? Doch wieso beseitigten sie ihn dann nicht einfach? So, wie sie es vermutlich auch mit Cognac getan hatten… „Ich werde gleich zur Sache kommen: Wie viel bedeutet er dir?“, wollte der Mann wissen. Gin verengte die Augen, während ihn innerlich ein schockartiges Gefühl durchlief. Was sollte der Blödsinn? „Ich habe gefragt, was ihr von mir wollt.“, wiederholte er in strenger Tonlage. „Ganz ruhig. Beantworte meine Frage, dann werde ich es dir sagen.“ Für den Mann schien die Antwort von hoher Wichtigkeit zu sein. Aber aus welchem Grund? Gin bekam die Befürchtung, dass Eclipse bereits von ihrer Beziehung zueinander wusste. Sonst würde der Kerl diese Frage nicht stellen oder gar auf die Idee kommen, dass Rye überhaupt irgendeine Bedeutung für ihn hatte. „Wenn er dir rein gar nichts bedeutet, sollte es wohl kein Problem für dich sein, wenn wir ihn einfach töten. Schließlich wäre das aufgrund seines Verrats mehr als angebracht.“, fuhr der Mann fort, um Gin scheinbar zu einer Antwort zu ermutigen. Aber das Ganze ergab für diesen noch immer keinen Sinn, weshalb er tonlos erwiderte: „Wenn ihr dieser Meinung seid, dann verstehe ich nicht, was gerade ich daran noch ändern könnte.“ Was zur Hölle bezweckte der Kerl mit seinem Gerede? Erwartete er etwa, dass Gin um Ryes Leben betteln würde? Nur wozu? „Vielleicht wollen sie irgendwas von mir, aber ich wüsste auch nicht, was das sein soll. Außerdem könnten sie es sich dann auch einfach holen…“ Gin dachte deshalb an eine Art Spiel, dass sie womöglich mit ihm spielen wollten. Oder was auch immer. Doch er glaubte nicht im geringsten daran, dass sie ihm wirklich eine Chance geben würden, Rye in irgendeiner Weise zu retten. „Du wirst es verstehen, sobald du meine Frage beantwortet hast. Wie viel bedeutet er dir?“ Der Mann sprach nach wie vor in Rätseln, was Gin allmählich begann, aufzuregen. Aber wenn er dahinter kommen wollte, müsste er sich wohl vorerst auf dieses Spiel einlassen und zumindest antworten. „Viel…“, brachte er leise hervor. Es war so schwer, seine Gefühle für Rye vor jemand anderem preiszugeben. Eigentlich hatte er nie vorgehabt, das jemals zu tun. Aber dem Fremden schien es nicht auszureichen. „Viel ist gut… aber nicht gut genug.“, sagte er bedauernd. Gin presste die Lippen zusammen. Er hätte längst aufgelegt, wenn von diesem Telefonat nicht Ryes Leben abhängen würde. Vielleicht war das jetzt die einzige Verbindung, die ihm noch zu Rye blieb. Und wenn diese Verbindung abbrach, würde er ihn nie wieder sehen. „Willst du dich nicht lieber nochmal korrigieren?“ Die Stimme des Mannes nahm einen drohenden Tonfall an, sodass die Frage eher einem Befehl glich. Nach weiteren etlichen Minuten des Schweigens gestand Gin schließlich: „Alles… er bedeutet mir alles…“ Dabei fühlte er sich, als würde seine Seele seinen Körper verlassen. „Das klingt schon besser. So können wir miteinander ins Geschäft kommen.“, erwiderte der Mann jetzt wieder freundlicher in einer helleren Tonlage. Gin verstand nicht, was er damit meinte. Wollte Eclipse etwa mit ihm verhandeln? Das schien dem Silberhaarigen völlig absurd. „Wie?“ „Was, wenn ich dir sage, dass er nicht sterben muss und du ihn noch retten kannst, wenn du unseren Anweisungen Folge leistest?“ Der Mann schien diese Option selbst spannender zu finden, als sie es womöglich in Wirklichkeit war. Bestimmt handelte es sich nur um eine Finte. Auch wenn Gin so langsam der Gedanke kam, dass doch mehr dahinter steckte. Aber dafür konnte er diese Leute nicht gut genug einschätzen. Er wusste rein gar nichts über ihre Vorgehensweisen, geschweige denn über das Motiv, welches sie gerade verfolgten. Nur, dass sie ihre Arbeit anscheinend sehr gründlich verrichteten und dabei nicht davor zurückschreckten, ihre sonderbaren Fähigkeiten einzusetzen, gegen die absolut niemand eine Chance hatte. Nicht einmal Rye. Es wäre besser, sich nicht so leicht auf das Angebot einzulassen. „Warum solltet ihr ihn davonkommen lassen? Und was hab ich damit zu tun?“ „Eins nach dem anderen. Unser Boss war gewiss nicht von dem Verrat von 12 erfreut, aber er würde zur Not davon absehen, ihn dafür zu bestrafen. Das wiederum hängt von dir ab.“, erklärte der Mann. 12 – das hatte also Ryes Tattoo 0012 zu bedeuten. Anstelle von einem Namen, schien er in Eclipse diese Nummer zu tragen. Doch sie sollte mit Sicherheit wohl nicht denselben Zweck erfüllen, wie für den fiktiven MI6-Geheimagenten James Bond. Eher das komplette Gegenteil. „Von mir?“, hakte Gin nach. „Unser Boss möchte mit dir über etwas verhandeln. Er kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen.“, verriet der Mann und an seiner Tonlage erkannte der Silberhaarige, wie sehr sein Boss dieses Kennenlernen erwartete. Also doch. Es ging um eine Verhandlung. Allerdings gab es da aus Gins Sicht einen Haken. „Ich habe nichts, was euer Boss wollen könnte.“ Diesbezüglich machte er sich keine Illusionen. Was sollte Eclipse schon von ihm wollen können, was sie sich nicht auch selbst besorgen konnten? „Das glaubst du. Er wird es dir hier vor Ort sagen. Vorausgesetzt, du bist bereit dazu, mit ihm zu verhandeln und willst, dass das Leben von 12 verschont bleibt?“ Die strenge Tonlage des Mannes verdeutlichte Gin, dass ihm keine andere Wahl blieb: Entweder er ließ sich auf eine Verhandlung mit dem Boss ein oder sie würden Rye umbringen. Alles oder nichts. Selbst wenn es doch nur ein Spiel war und Ryes Todesurteil in Wirklichkeit längst gefällt war, gab es keine andere Möglichkeit, ihn noch zu retten. Wenn Gin ihn lebend wiedersehen wollte, musste er alles auf eine Karte setzen und darauf vertrauen, dass diese Leute es ernst meinten. Alles andere würde sich ohnehin erst vor Ort entscheiden. „Wo soll ich euch treffen?“, fragte Gin. In der kurzen Sprechpause glaubte er zu sehen, wie ein zufriedenes Lächeln die Lippen des Fremden umspielten. „Wie wäre es heute Abend um 9 bei deiner alten Oberschule? Den Weg solltest du sicherlich noch kennen.“, schlug er dann vor. Gin blieb der Atem stehen. „Woher wisst ihr-“ „Wir wissen eine Menge über dich. Weitaus mehr, als du dir vorstellen kannst, Jin Kurosawa. Als ich vorhin sagte, dass unser Boss es kaum erwarten kann, dich kennenzulernen, meinte ich damit lediglich persönlich.“, unterbrach der Mann ihn mit schneidender Stimme. Gin konnte dessen Worte nicht fassen. Woher wussten sie seinen richtigen Namen? Woher hatten sie all diese Informationen und warum hatten sie überhaupt erst danach gesucht? Etwa nur um ihn einzuschüchtern? Doch bevor Gin dem Mann diese Fragen stellen konnte, kam dieser ihm zuvor: „Achja und eins noch: Du wirst allein kommen. Komm bloß nicht auf die Idee, irgendjemanden in dieses Treffen einzuweihen. Falls du das doch tust oder anderweitig versuchst, uns reinzulegen, wird 12 für diesen Fehler bitter bezahlen, verstanden? Wir beobachten jeden deiner Schritte.“ Danach legte er auf und ließ Gin mit einem vor Schock versteinerten Gesicht zurück. Der Silberhaarige starrte wie gebannt auf den Bildschirm seines Handys, in der Hoffnung, das sei alles nur ein Traum gewesen. Doch da stand wirklich Ryes Nummer. Dieses Telefonat eben hatte wirklich stattgefunden. Es war die bittere, beängstigende Realität, dass sich sein Geliebter in der Gewalt von Eclipse befand. Nur ganz, ganz langsam drangen die ersten klaren Gedanken durch den Schmerz, der nach und nach Gins Körper erfüllte. Ihm wurde übel und plötzlich fing sich alles um ihn herum an zu drehen. Was hatte er getan? Wie hatte er diesem Treffen nur zusagen können? „Die werden mich umbringen…“, wurde ihm bewusst. Das waren immerhin keine Menschen, sondern Kreaturen wie Rye. Selbst wenn sie seinen Tod wirklich nicht beabsichtigten, wurden sie womöglich vollständig von ihrem Blutdurst kontrolliert. Und das konnte kein gutes Ende nehmen. Höchstens ein Ende, wo er als Mahlzeit enden würde. Bei dieser Vorstellung überkam Gin ein weiterer Schauer der Übelkeit. Auf solch eine Weise wollte er bestimmt nicht sterben. Doch was blieb ihm anderes übrig? Er konnte Rye nicht im Stich lassen. Niemals. „Noch über sieben Stunden…“, stellte Gin nach einem kurzen Blick auf die Uhr an der Wand fest. Genügend Zeit, um alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Aber bei Weitem nicht genug, um den Tatsachen ins Auge blicken zu können. Wie gern würde er jetzt einfach die Zeit zurückdrehen. Wenn diese Nacht vor einer Woche nicht stattgefunden hätte, dann wäre Rye auch nicht abgehauen und die Situation wäre vielleicht nicht ganz so drastisch, wie sie es im Moment war. Gin wankte mit langsamen Schritten zur Balkontür und warf einen Blick nach draußen. Der Mann hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wahrheit gesagt, als er meinte, sie würden jeden seiner Schritte beobachten. Wenn sie sogar seinen Namen wussten und herausfinden konnten, welche Schule er früher besucht hatte, dann war es für sie auch ein Leichtes, ihn zu beschatten. „Doch wenn dem so ist, warum dann der ganze Aufwand?“ Zu viele offene Fragen. Aber keine einzige Antwort. Gin wusste nicht einmal, welche Vorbereitungen er zu seinem Schutz treffen konnte. Es war ihm nicht erlaubt, jemanden um Hilfe zu bitten. Und das wollte er zugegebenermaßen auch nicht. Denn jeder, den er mit einweihen würde, wäre am Ende genauso chancenlos wie er. Genau da lag das Problem: Er hätte nie eine Chance. Egal, wie viele Vorkehrungen er traf. Womit sollte er sich denn schützen? Hier in seiner Wohnung gab es nichts zur Bekämpfung von Vampiren. Sämtliche Schusswaffen waren nutzlos, ebenso wie Messer oder Ähnliches. Um sich Curare zu besorgen, müsste er wieder zum Labor der Organisation fahren, doch auch das konnte er nicht riskieren, falls er wirklich beobachtet wurde. Die Lage war schlichtweg eine endlose Zwickmühle. Gin stieß ein Seufzen aus und zog hastig die Vorhänge zu, bevor er zurück zum Sofa ging.   Er dachte eine ganze Weile nach. Ohne Ergebnis. Die Zeit schien noch viel langsamer als sonst zu vergehen, da er überwiegend auf die Gefühle, die in ihm tobten, fixiert war. Angst. Trauer. Verzweiflung. Gin versuchte diese Gefühle so gut es ging zu unterdrücken. Es half ohnehin nicht. Seine Entscheidung war gefällt. Sich noch von etwas wie Angst beeinflussen zu lassen, machte keinen Sinn mehr. Auch wenn das Treffen umsonst war und er vielleicht dabei sterben würde, musste er es probieren. Für Rye. Gin durchsuchte zwischenzeitlich sämtliche Zimmer seiner Wohnung. Dabei hoffte er auf ein Wunder, dass er noch irgendwas Brauchbares finden würde. Im Schlafzimmer nahm er seine Beretta aus dem untersten Schubfach einer Kommode und steckte diese in die Innentasche seiner Jacke. Auch wenn sie letztendlich nutzlos sein würde, gab sie ihm dennoch ein kleines, gewohntes Gefühl von Sicherheit. Er durchsuchte auch die anderen Schubfächer. Ohne einen wirklichen Grund. Doch bei der Obersten angekommen, weiteten sich seine Augen überrascht. „Das ist doch… aber wie kommt die hierher?“ Dort drin lag tatsächlich eine gefüllte Spritze. Es war genau die Spritze, die er damals bei sich getragen hatte, als er Rye konfrontiert und dessen wahres Wesen enthüllt hatte. Er griff vorsichtig nach ihr, woraufhin ihm ein gefalteter Notizzettel ins Auge fiel, welcher darunter gelegen hatte. Auf diesem stand handgeschrieben mit Kugelschreiber:   Ich weiß, was da drin ist. Und ich weiß, dass du es gegen mich verwenden wolltest. Aber ich werde dir das nicht übel nehmen. Vielleicht solltest du es wirklich lieber bei dir tragen, sobald du das hier gefunden hast. Das würde mich tatsächlich ein wenig beruhigen. Es tut mir leid.   - Rye   „Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen…“ Gin konnte nicht anders, als zu lächeln. Das Geschriebene gab ihm irgendwie neue Kraft. Auch wenn sich Rye damals wahrscheinlich nichts weiter bei gedacht hatte. Jetzt waren sowohl die Spritze als auch die kurze Notiz für Gin eine Art Zeichen von diesem Wunder, wonach er wohl gesucht hatte. Vielleicht würde es ihm helfen. Er steckte beides ebenso in seine Jackentasche. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es an der Zeit war. Wenn er rechtzeitig da sein wollte, musste er sich allmählich auf dem Weg machen. Diesen würde er allerdings zu Fuß zurücklegen, da er sich aufgrund der Unruhe und der Konzentrationsschwäche, die in ihm herrschten, keinesfalls zum Fahren in der Lage fühlte. Bis zu seiner ehemaligen Schule war es ohnehin von hier aus nicht sehr weit. Auf dem Weg zur Tür bog Gin kurz in das Badezimmer ein, wo er sich ein paar Mal Wasser ins Gesicht spritzte. Er musterte sein Gesicht im Spiegel, wie die Tropfen an seiner blassen Haut herabliefen. Seine Hände wanderten zum Rollkragen seines schwarzen Pullovers, um diesen weiter nach oben zu ziehen, sodass der Verband an seinem Hals nicht mehr hervorlugte. Dann richtete er seine Jeansjacke und trocknete sein Gesicht ab. Aber seine Beine wollten ihn anschließend einfach nicht wieder aus dem Raum tragen. Er redete sich ein, dass nichts schief gehen würde. Dass sie Rye nichts mehr antun und vielleicht sogar frei lassen würden. Aber das waren letztlich nichts weiter als hoffnungslose Vorstellungen. Was auch immer der Boss von Eclipse von ihm wollte, er würde dessen Forderungen wahrscheinlich ausnahmslos nachkommen, solange er Rye damit retten konnte. Alles andere war nicht wichtig. Darunter fiel auch sein eigenes Leben. Zwar würde er sich bemühen, nicht zu sterben, doch wenn es wirklich so kommen sollte, dann würde er sich damit abfinden können. Vielleicht gab es noch eine andere Lösung. Doch das würde er erst herausfinden, wenn er am Ort des Treffens angekommen war. Und so schob Gin auch seine letzten Sorgen nach hinten und machte sich mit neuer Entschlossenheit auf dem Weg zu seiner alten Oberschule. Oder besser gesagt: Er startete seine Reise zurück in die düstere Vergangenheit seiner Jugend. Kapitel 39: Namenlose Gesichter ------------------------------- Benommen öffnete Rye seine Augen, woraufhin er sofort von einem grellen Weiß geblendet wurde. Es wunderte ihn, dass er sich erst an das helle Licht gewöhnen musste. Scheinbar lag er auf etwas Hartem. Er wollte aufstehen, was jedoch feste Schnallen um seine Hand- und Fußgelenken verhinderten. Selbst sein Hals schien an den Untergrund festgeschnallt zu sein, sodass es ihm nicht einmal möglich war, den Kopf zu heben, um sich genauer im Raum umzusehen. Er konnte ihn lediglich leicht nach links und rechts drehen und erblickte daraufhin eine schlichte Einrichtung mit vielen komplizierten Geräten, die einem OP-Saal glich und ihm seltsam vertraut vorkam. Diese Vertrautheit machte ihm Angst. Er glaubte, dass er tatsächlich schon öfters hier gewesen war. Doch an den Grund wollte er sich nicht erinnern. Stattdessen startete er einen neuen Versuch, sich von den lästigen Schnallen loszureißen, was ihm doch eigentlich mit Leichtigkeit gelingen sollte. Doch warum jetzt nicht mehr? Was war auf einmal los? Warum war er so schwach? Zudem bemerkte er, dass irgendwas an seinen Schläfen klebte. Nicht nur dort. Auch an anderen Stellen seines Körpers schien etwas zu kleben, das ihn mithilfe von dünnen Kabeln mit einem Gerät verband, welches er in dieser Position nicht sehen konnte. „Sind das… Elektroden…?“, fragte er sich begleitet von einem eiskalten Schauer über den Rücken, obwohl er die Antwort bereits wusste. Denn er lag hier nicht zum ersten Mal. Sie hatten dieses Horrorspiel schon mehrmals mit ihm gespielt. Auch wenn man es nicht wirklich als ein Spiel bezeichnen konnte. Es war viel mehr eine Strafe. Eine ganz besondere Strafe, in deren Genuss nur er kommen durfte. „Du kennst die Regeln.“, sagte plötzlich jemand. Ja. Das stimmte. Er kannte die Regeln. Aber sie waren ihm allesamt egal. „Doch wenn du sie jedes Mal mutwillig brichst, musst du die Konsequenzen tragen.“, fügte die Stimme mit einem bedrohlichen Unterton hinzu. Im Augenwinkel sah Rye, wie eine verschwommene Gestalt neben dem Tisch herlief, bevor sie wieder aus seinem Sichtfeld verschwand. Die Befürchtung, was jeden Moment auf ihn zukommen würde, versetzte ihn mehr und mehr in Panik. Doch warum? Warum hatte er solche Angst? Diese Menschen konnten ihm doch gar nichts anhaben. Sie konnten ihm keine physischen Schmerzen zufügen. Niemand konnte das. „Irgendwas stimmt hier nicht…“, wurde Rye klar. Und als er kurz darauf seinen Puls wahrnehmen konnte, welcher ihm bis in die Fingerspitzen schlug, realisierte er auch, was das war: Er war selbst ein Mensch. Das hier war nur ein Traum. „Aber wann bin ich eingeschlafen…?“ Er wusste es nicht mehr. Doch wenn er wirklich gerade schlief, dann war das erst der Anfang. Seine Albträume schickten ihn meist immer hierher zurück. Zurück nach Eclipse. Und all die Qualen, die er in dieser Organisation hatte durchleben müssen, würden sich trotz des Traums unweigerlich real anfühlen. Dazu zählten auch die Schmerzen, die ihn gleich ereilen würden. „Bitte nicht…“, flüsterte er mit zittriger Stimme. Er wollte das nicht. Er wollte nicht hier sein. Er wollte wieder aufwachen. Die Stromschläge taten immer so unerträglich weh, dass er sie schon lange nicht mehr aushalten konnte und oft am Ende das Bewusstsein verlor. Hinzu kam, dass diese Schweine auch noch jedes Mal die Voltzahl erhöhten. Wie lange er das wohl noch überlebte? „Hast du jetzt etwa Angst? Dabei warst du doch vorhin noch so übermütig.“, sprach die Stimme ihn erneut in einem schadenfrohen Tonfall an. Er sah, wie eine fremde Hand sich seinem Mund näherte, um ihm scheinbar eine Art Mullbinde einzuführen. Instinktiv riss Rye den Kopf zur Seite und presste die Lippen fest zusammen. Er wollte nicht, dass diese widerlichen Kerle ihm in den Mund fassten. Doch er konnte es wohl nicht verhindern, da plötzlich zwei andere Hände seinen Kopf gewaltsam wieder in die richtige Position brachten, bevor jemand die Finger von Außen zwischen sein Gebiss drückte, sodass sich sein Mund automatisch wieder öffnete. „Sei schön brav, wir wollen doch nicht, dass du dir versehentlich deine freche Zunge ausbeißt.“, kommentierte die Stimme seinen kläglichen Widerstand belustigt. Rye würde ihm am liebsten eine reinhauen. Vielleicht könnte er das später auch noch, wenn sich der Traum ausnahmsweise zu seinen Gunsten fortsetzen würde. Jedoch bezweifelte er das. Denn diese Träume existierten lediglich, um ihn zu foltern und ihm nebenher Erinnerungen an die Vergangenheit aufzuzwingen, die er einfach für immer vergessen wollte. Beides würde er nicht kampflos zulassen. Inzwischen war die Mullbinde fest zwischen seinen Kiefer geklemmt. Obwohl er die Gesichter der Gestalten um sich herum nicht erkennen konnte, glaubte er dennoch, ihr niederträchtiges Grinsen sehen zu können. Rye warf ihnen einen finsteren Blick zu. Doch im nächsten Moment wurde all sein Hass nebensächlich, als qualvolle Schmerzen seinen Körper ohne Vorwarnung überrollten. Seine Muskeln verkrampften sich durch die Wirkung des Stroms und er fing an, wie wild zu zittern, während sich sein Gesicht verzog und er einen gedämpften Schrei ausstieß. Sein Sichtfeld verschwamm und wurde letzten Endes schwarz. Sobald Rye die Augen erneut aufschlug, stellte er fest, dass er sich längst in einer anderen, lebhafteren Räumlichkeit befand. Auch dieser Ort kam ihm bekannt vor. „Ist dir etwa kalt oder warum zitterst du so?“ Rye wandte erschrocken den Blick zur Seite, woraufhin er eine weitere, verschwommene Traumgestalt erblickte. Der Größe und der hellen Stimme nach zu urteilen, schien es sich um ein kleines Mädchen zu handeln. Er wollte ihr gerade antworten, als sich plötzlich noch jemand anderes in das Gespräch einmischte. „Du siehst auch ganz blass aus. Nicht, dass du uns noch krank wirst. Sollen wir lieber zurück aufs Zimmer gehen?“ Die Stimme war männlich, weich und ganz warmherzig. Die Person selbst schien auch eine angenehm ruhige Warmherzigkeit auszustrahlen, sodass sich Rye in ihrer Nähe automatisch sicherer und geborgen fühlte. Obwohl er nicht mal wusste, wer diese Person überhaupt war, die ihn scheinbar gut kannte und ihm nun besorgt auf die Schulter fasste. „Was ist los, 12?“, wollte die Person wissen. Rye fühlte sich auf wundersame Weise zu ihr hingezogen. Warum übermannte ihn auf einmal ein unüberwindbares Verlangen, herauszufinden, welches Gesicht sich hinter dieser schönen Stimme verbarg? Er war drauf und dran, die Erinnerung zuzulassen… dieser Person eine Bedeutung zu geben und ihrem Gesicht einen Namen zuzuordnen… Doch bevor das passieren konnte, stand Rye ruckartig auf und meinte abweisend: „Nichts. Mir geht es gut.“ Anschließend entfernte er sich von den beiden Gestalten und ging zur Tür. Als er sie öffnen wollte und sich noch einmal umdrehte, sah er, wie plötzlich mehrere dunkle Schatten am Tisch saßen, die ihn alle anzustarren schienen. Rye riss schnell die Tür auf, verließ den Saal und schlug sie hinter sich zu. Draußen im Gang waren sämtliche Wärme und Vertrautheit mit einem Mal verschwunden, als wären sie nie da gewesen. Der Traum nahm wieder seine altgewohnte, düstere Form an, die drückend auf Rye wirkte und ihm Angst einjagte. Prüfend ließ er seinen Blick durch die Dunkelheit wandern, darauf wartend, welche Gefahr ihn als Nächstes heimsuchen würde. Doch nichts geschah. Es blieb totenstill. Allmählich fing Rye an, den Sinn dieses Traums zu hinterfragen. „Vielleicht sollte ich in mein Zimmer gehen…“, überlegte er. Ob der Traum genau das bezwecken wollte? „Es ist ohnehin nirgends sicher…“ Vorsichtig tastete er sich durch die Finsternis. Zwar hatte er keine Ahnung, wo sich sein Zimmer befand, jedoch hoffte er auf dem richtigen Weg zu sein. Nach einer Weile fiel ihm auf, dass seine Schritte nicht die Einzigen im Gang waren. Rye erstarrte und blieb auf der Stelle stehen. Es war nichts zu hören. Er drehte langsam den Kopf nach hinten, woraufhin ihn ein Schock durchfuhr. Am anderen Ende des Gangs standen mehrere Schatten von Personen. Rye beobachtete sie für ein paar Sekunden, doch sie regten sich nicht. „Was wollt ihr?!“, schrie er dann. Wieder Stille. Nichts passierte. Er verengte misstrauisch die Augen. Da fingen die Schatten auf einmal an zu rennen. Rye machte augenblicklich auf dem Absatz kehrt und lief so schnell er konnte davon. Auch solch eine Situation war ihm nicht neu. Er wurde schon öfters verfolgt. Mal hatten sie ihn erwischt, mal konnte er ihnen entkommen. Wie es wohl heute ausgehen würde? In den Kurven rutschte Rye beinahe aus und musste sich an den Wänden abfangen. Zwischenzeitlich versuchte er ein paar Türen, an denen er vorbeilief, aufzureißen, um sich ein mögliches Versteck suchen zu können. Bisher jedoch erfolglos. Die Türen waren alle verschlossen und je mehr er versuchte zu öffnen, desto dichter waren ihm die Schatten auf den Fersen. Erst bei der letzten Tür im Gang hatte er zum Glück Erfolg. Er stürmte in den Raum dahinter und presste sich mit aller Kraft gegen die Tür, damit die Schatten nicht hereinkommen konnten. Während er verzweifelt seine Atmung wieder beruhigte, rüttelte die Tür hinter ihm mehrere Male. Dabei hielt er die Augen geschlossen und betete gedanklich, dass seine Kraft ausreichen würde. Als das Rütteln irgendwann stoppte, entfernte er sich vorsichtig von der Tür und behielt diese wachsam im Blick. Erst dann sah er sich genauer in dem kleinen, hohen Raum um, bei welchem es sich um ein schlichtes Schlafzimmer mit einem Hochbett handelte, sodass höchstens zwei Personen hier Platz zum Schlafen fanden. Der Rest der Einrichtung bestand lediglich aus einem Tisch mit zwei Stühlen, einem Waschbecken und einem Kleiderschrank. Ganz oben, sodass man einen der Stühle auf den Tisch stellen müsste, um hinaussehen zu können, befand sich ein kleines Fenster. Rye glaubte sich zu erinnern, dass sich die Fenster nur anklappen ließen. Er hatte öfters versucht, sie komplett zu öffnen und beim ersten Mal wäre er fast vom Stuhl gefallen. Generell hasste er dieses Zimmer, obwohl er wahrscheinlich sehr viel Zeit hier drin verbracht hatte. Mit seinem unbekannten Mitbewohner, welcher stets oben im Bett geschlafen hatte, da es Rye zu umständlich gewesen war, jedes Mal die dünne Leiter benutzen zu müssen. Doch der Schlafplatz unten war auch mit einem Nachteil verbunden gewesen. Rye setzte sich auf die Matratze und musste den Oberkörper leicht krümmen, damit er sich nicht den Kopf stieß. Genau das war ihm nämlich hin und wieder nach dem Aufwachen passiert. „Und dann hat er sich immer über das Geländer gebeugt und mich ausgelacht…“, fiel es Rye dann auch wieder ein. Ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. Doch wer war er? Etwa die Person von vorhin, die so vertraut mit ihm geredet hatte? Rye schüttelte hastig den Kopf. Wieder versuchte dieser verdammte Traum, ihn auf die Probe zu stellen. „Ich will mich nicht erinnern.“, redete er sich ein und wiederholte den Satz mehrere Male, bis plötzlich ein Klopfen seinen Gedankenfluss unterbrach. Rye schaute unsicher zur Tür. Würde jemand, der ihm etwas zuleide tun wollte, vorher anklopfen? Bestimmt nicht. Oder das war gerade der Trick. Im nächsten Moment klopfte es erneut. Rye schluckte, bevor er sich überwand und „Herein“ rief. Er kniff die Augen zusammen, als die Tür begleitet von einem Knarksen geöffnet und danach geschlossen wurde. „Hier bist du also.“, sprach jemand. Schon wieder eine neue, männliche Stimme, die Rye irgendwoher kannte. „Ich hab mir schon Sorgen gemacht.“ Scheinbar hatte die Person nicht vor, ihm Schaden zuzufügen, weshalb Rye die Augen langsam öffnete. Wie erwartet war auch dieses Gesicht verschwommen und er konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Doch dieser Mann schien einen langen, weißen Kittel zu tragen. Seine Gestalt war komplett weiß. Selbst seine Haare besaßen eine weiße oder graue Farbe. Rye würde es für ungewöhnlich halten, wenn er nicht wüsste, dass Gins Haare die gleiche Farbe hatten. Aber das hier war nicht Gin. „Ich wurde verfolgt.“, erwiderte Rye. Warum er dieser Person das erzählte, wusste er selbst nicht genau. Doch der Mann schien es zu verstehen. Er kam näher. „Dachte ich mir. Was hast du diesmal angestellt?“, fragte er. Rye drehte den Kopf zur Seite und zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht…“ Daraufhin musste der Mann leise lachen, bevor er heiter entgegnete: „Du machst wirklich nichts als Ärger.“ Ryes Augen wurden groß. Doch er sah den Mann nicht an. Diesen Satz hatte er eben nicht zum ersten Mal gehört. Meistens hatte genau dieser Mann das zu ihm gesagt, welcher plötzlich direkt vor ihm stand und ihm ein paar Strähnen hinters Ohr strich. „Mein Schöner…“, flüsterte er verträumt, während er seine Wange entlang strich und dann sein Kinn anhob, um ihn zu… „Lass mich in Ruhe!“, schrie Rye ihn an und wollte unmittelbar zurückweichen, wobei er mit dem Hinterkopf an das Gestell des Bettes knallte. Die stechenden Schmerzen ignorierend, rutschte er bis zur Wand und funkelte die Person von dort aus wütend an. Allerdings schien diese über die abweisende Reaktion überrascht zu sein. „Was hast du denn?“ Traurigkeit und Enttäuschung lagen in der Stimme des Mannes. Rye ließ sich davon nicht täuschen. Wenn der Kerl ihm nochmal zu nah kommen würde, dann… „Hey, Rye…“, fügte die Stimme besorgt hinzu. Gins Stimme. Das vor ihm war Gin. Ryes Augen weiteten sich. Wie war das möglich? „Gin…?“, hakte er verunsichert nach, woraufhin sich sein Geliebter zu ihm auf das Bett gesellte. Rye atmete erleichtert auf. Auch wenn er es noch immer nicht verstand. „Hab ich dir irgendwas getan?“, fragte Gin mit gehobener Augenbraue. Der Schwarzhaarige schüttelte schnell den Kopf und ergriff Gins Handgelenk. „Nein, natürlich nicht… tut mir leid…“ Jetzt bereute er es, zuvor so abweisend reagiert zu haben. Er rückte noch näher an seinen Geliebten heran und legte seinen Kopf auf dessen Schulter ab. „Ich verstehe nur nicht, warum du hier bist…“ Gin streichelte ihm über den Haaransatz. „Das solltest du dich am besten selbst fragen.“, meinte er leise. „Stimmt… Es ist immerhin mein Traum…“ Rye schmiegte sich fester an Gin, während er schweigend nach einer Erklärung suchte. Er hatte ihn seit einer Woche nicht mehr gesehen. Die Zeit ohne ihn war ihm so schrecklich lang vorgekommen. Voller Leere und Einsamkeit. Doch es musste sein. Zu wissen, dass sein Geliebter noch lebte und auf dem Weg der Besserung war, genügte ihm. Er durfte Gins Leben unter keinen Umständen nochmal in Gefahr bringen, was nur möglich war, wenn er ihm fernblieb. Aber dennoch… „Ich vermisse dich…“, murmelte Rye. Es war kaum auszuhalten. „Dann komm wieder zurück.“ Selbst im Traum schien Gin die Dinge einfacher zu sehen, als sie es eigentlich waren. Oder er vermisste ihn in Wahrheit noch viel mehr, dass ihm alles andere egal war. Doch wieso nur? Wie konnte Gin ihn nach allem, was passiert war, immer noch lieben? Wie konnte er ihm überhaupt noch in die Augen schauen, ohne dabei nicht das Monster zu sehen, welches Rye in Wirklichkeit war? „Das kann ich nicht.“, antwortete er. „Warum?“ „Du weißt, warum…“ „Etwa, weil du mich umgebracht hast?“ Rye erschrak. Nein. Das war nicht wahr. Gin ging es besser. Der Krankenwagen war noch rechtzeitig gekommen… „Nein, nein, das hab ich nicht…!“, behauptete Rye im aufbrausenden Tonfall, erstarrte jedoch, als er plötzlich eine Bisswunde an Gins Hals entdeckte, die unaufhörlich blutete. Der Silberhaarige starrte ihn emotionslos an und erwiderte: „Doch, hast du.“ Seine Stimme klang wie ein Echo. Als Rye zitternd eine Hand ausstreckte und ihm widersprechen wollte, wurde plötzlich alles ringsherum schwarz. Sein Blick schoss panisch in verschiedene Richtungen und zuletzt nach unten, wo er seinen Geliebten blutüberströmt am Boden wiederfand. „Gin!“ Rye fiel auf die Knie. Er drehte Gin auf den Rücken und wich unmittelbar darauf verstört zurück, als er dessen blasses, erkaltetes Gesicht sah. Wie das einer… „Nein, er ist nicht…“, dachte er kopfschüttelnd, bevor er begann, Gin an den Schultern zu rütteln. Doch dieser blieb trotz aller Bemühungen Ryes reglos. „Bitte wach auf! Ich wollte das nicht! Verzeih mir!“, schrie er verzweifelt. Aber seine Worte erreichten Gin nicht mehr. Es war zu spät. Er war tot. Seinetwegen. Rye verharrte und verkrampfte seine Hände in Gins Schultern. Sie hätten sich niemals kennenlernen dürfen. Damals, in der Bar, hätte er einfach den Blick von ihm abwenden und stattdessen einen anderen Partner auswählen sollen. Doch obwohl Rye wusste, dass Gin schon immer besser ohne ihn dran gewesen wäre, so wollte er die Ereignisse dennoch nicht rückgängig machen. Selbst dann nicht, wenn er es könnte. Dafür liebte er ihn viel zu sehr. Rye beugte sich zu Gin herunter und vergrub sein Gesicht in dessen Brust. „Lass mich nicht allein…“, flehte er wimmernd.   …   „Hey, Sie! Was machen Sie hier?!“ Rye wurde von einer wütenden, kratzigen Männerstimme geweckt, die seine ohnehin schon schlechte Laune noch mehr in den Keller sinken ließ. Er öffnete die Augen und erblickte einen alten Greis mit Latzhose und Bart über sich. „Können Sie nicht lesen?! Das hier ist Privatgelände!“, fuhr dieser ihn erneut wütend an, sobald er zu merken schien, dass Rye wach war. Seine große Gestalt wurde von der hellen Nachmittagssonne umrandet und warf einen Schatten auf den Schwarzhaarigen, welcher auf einer löchrigen Plane neben einigen Blechtonnen lag. Er stützte sich auf den Händen ab und blinzelte den alten Mann unbeeindruckt an. „Anscheinend ist dieser Industriepark doch nicht so verlassen.“, stellte er fest. Er hatte gehofft, hier seine Ruhe zu haben. Allerdings hatte diese Ruhe nur noch mehr dazu beigetragen, dass er wohl versehentlich eingeschlafen war. Müde war er definitiv nicht gewesen. Nur, wenn man fast zwei Stunden am selben Fleck verbrachte und es nichts gab, womit man sich die Zeit vertreiben konnte, dann konnten einem vor Langeweile auch mal die Augen zufallen. Womöglich begleitet von der Annahme, der Tag würde so schneller vergehen. „Verschwinden Sie gefälligst oder ich ruf die Polizei!“ Offensichtlich schien Ryes Schweigen den Greis nur noch mehr zu provozieren. Er seufzte und richtete sich auf. „Ist ja gut.“, meinte er genervt im Vorbeigehen. Dann musste er sich eben ein neues, stilles Plätzchen suchen. Als er dem alten Mann den Rücken zukehrte, hörte er von diesem noch gereizt in leiserer Tonlage: „Lästiges Obdachlosengesindel…“ Rye blieb stehen und ballte die Hände zu Fäusten. Irgendwie war er heute auch sehr leicht zu provozieren. Es schien sonst niemand weiter in der Nähe zu sein und der Kerl machte nicht den Eindruck, als würde es jemanden in seinem familiären Umfeld geben, der ihn vermissen würde, wenn er verschwand… Rye schüttelte den Kopf und versuchte seinen Zorn zu vertreiben. „Der ist es nicht wert…“, dachte er, bevor er davon sauste und das Gelände verließ. Anschließend ging er zurück in die Innenstadt und schlenderte dort ziellos durch die Straßen, wie er es an den vorherigen Tagen auch getan hatte. Je nachdem, wie ihm gerade zumute war, hielt er sich an unterschiedlichen Orten auf. Beispielsweise auf Dächern von Hochhäusern, in Parks, in unbewohnten Gebäuden oder auch in der Kanalisation. Eigentlich spielte es keine Rolle, wo genau er sich herumtrieb. Wichtig war nur, dass er weit genug von Gin entfernt war, um ihm nicht wehtun zu können. Allerdings auch nicht zu weit weg, damit er ihm im Ernstfall noch zur Hilfe eilen konnte. Denn Gefahren lauerten an jeder Ecke, weshalb der Schwarzhaarige lieber auf Nummer Sicher gehen wollte. Doch solange Gin ihm noch SMS schickte oder versuchte, ihn anzurufen, brauchte sich Rye keine Sorgen zu machen. Auch wenn es ihm zunehmend schwerer fiel, die Anrufe seines Geliebten zu ignorieren. Besonders die hinterlassenen Nachrichten auf der Mailbox ließen ihn schwach werden. Aber sie machten ihn auch ein bisschen wütend, weil Gin die ganze Zeit versuchte, das Geschehene herunterzuspielen und dabei so tat, als sei alles wieder in Ordnung. Doch dem war überhaupt nicht so. Rye hätte ihn um ein Haar getötet. Er würde Gins Anblick von jenem Morgen niemals vergessen: Regungslos, kreidebleich, blutüberströmt und von blauen Flecken übersät. Zu oft war es so geendet, dass Rye frühs neben einem Toten aufgewacht war. Es hatte nahezu an ein Wunder gegrenzt, dass Gin noch geatmet hatte. Wenn auch nur sehr schwach. Nichtsdestotrotz hatte Rye eine ganze Weile benötigt, um zu realisieren, was er getan hatte. Dass er für Gins lebensbedrohlichen Zustand verantwortlich gewesen war. Dass die Bisswunde an dessen Hals wirklich von ihm gestammt hatte. Doch spätestens als er das getrocknete Blut an seinen Händen und um seinem Mund bemerkt hatte, war es ihm klar geworden: Er hatte von Gins Blut getrunken. Dessen erregender Geschmack war noch immer so stark in seinen Kopf eingebrannt, dass er allein bei der bloßen Erinnerung sofort wieder durstig wurde. Nur zu gern hätte er jeden Tropfen für sich beansprucht. Dieser Rausch war anders als die Vorherigen gewesen. Tiefer und viel mehr von Lust erfüllt. Er hatte sich noch nie so vollkommen gefühlt. Und genau für diese Empfindungen würde sich Rye am liebsten in Stücke reißen. Warum musste sich ausgerechnet Gins Blut von das all der anderen Menschen so sehr unterscheiden? Warum musste es besser schmecken? Wobei das noch untertrieben war. Der Geschmack war nahezu einzigartig. Zudem wurde Rye das seltsame Gefühl nicht los, dass sich seither irgendwas in ihm verändert hatte. Aber das war vermutlich nur eine Einbildung oder gar ein Streich, den sein Verlangen nach Blut ihm spielte, um ihn dazu zu bringen, noch mehr von Gins verlockendem Blut zu kosten. Als sei es beim letzten Mal nicht genug gewesen… „Genug jetzt. Denk an was anderes.“, ermahnte sich Rye in Gedanken und biss vor Wut die Zähne fest zusammen. Aber wie sollte er an etwas anderes denken? Alles, woran er dachte, bereitete ihm irgendwie nur Schmerzen, Kummer und Sorgen. Es gab keine Ablenkung, die lang genug anhielt. „Wie spät ist es überhaupt… Es ist schon eine Weile her, seit sich Gin das letzte Mal gemeldet hat…“ Rye suchte in den Jackentaschen nach seinem Handy, um die Uhrzeit und seine Nachrichten zu überprüfen. Da er nicht sofort fündig wurde, blieb er kurz auf dem Gehweg stehen und kramte alle Taschen intensiver durch. Nichts. „Das kann nicht sein…“ Wieso war es nicht mehr da? Hatte es ihm etwa jemand gestohlen? Eigentlich spürte Rye meist sofort, wenn ein Mensch ihm zu nah kam oder ihn gar berührte. Selbst im Schlaf gelang es niemandem, sich unbemerkt an ihn heranzuschleichen. Also fiel die Option schon mal weg. „Wahrscheinlich hab ich es irgendwo liegen lassen…“ Rye schlug sich gegen die Stirn. Das könnte zum Problem werden. Er musste sein Handy so schnell wie möglich wiederfinden, bevor es in die Finger einer fremden Person geraten konnte. „Heute Morgen war es definitiv noch da gewesen, da Gin mich kurz vor Mittag zuletzt angerufen hat… danach habe ich es glaube nicht mehr benutzt…“, überlegte er gründlich. Er ging gedanklich alle Orte durch, wo er heute Morgen gewesen war oder sich länger aufgehalten hatte. Auf Anhieb fiel ihm sofort der Sumida Park ein, wo er am gleichnamigen Fluss einen kurzen Spaziergang gemacht und zwischenzeitlich mehrere Minuten auf einer der Bänke dort verweilt hatte. Er erinnerte sich, dass er von seinem Platz aus den Skytree hatte beobachten können. „Wenn ich es wirklich da vergessen habe, ist die Chance wohl leider sehr gering, dass es noch dort liegt.“, dachte Rye frustriert. Aber es schadete auch nicht, sich zumindest zu vergewissern und nachsehen zu gehen. Zur Not musste er eben die Fundbüros in der Nähe abklappern.   Im Park angekommen, suchte Rye nach der Bank, auf welcher er gesessen hatte. Sonderlich leicht war das nicht, da sich viele Umgebungen sehr ähnlich sahen und es ihm ein paar Mal so vorkam, als würde er manche Stellen doppelt und dreifach absuchen. Während er unter den inzwischen halb verblühten Kirschbäumen entlang ging, behielt er den Skytree zur Orientierung stets im Blick. Heute Morgen waren weit weniger Menschen hier gewesen, womöglich aus dem Grund, weil die meisten erst jetzt von der Arbeit kamen. Doch das beeinträchtigte Rye nicht wirklich bei der Suche. Nur wuchs damit die Wahrscheinlichkeit, dass jemand das Handy vor ihm fand und mitnahm. Allerdings glaubte der Schwarzhaarige im nächsten Moment, tatsächlich ein Smartphone auf einer leeren Bank liegen zu sehen, die sich etwas abseits befand. „Seltsam…“, schoss es ihm durch den Kopf, bevor er gezielten Schrittes auf die Bank zuging und das Smartphone in seine Hand nahm. „Es liegt bestimmt schon seit mehreren Stunden hier, warum hat es noch niemand mitgenommen…?“ Er starrte das Gerät ungläubig an, als würde es ihm nicht gehören. Doch es war zweifellos seins. Er wischte mit dem Finger über den Bildschirm, sodass sich das Handy entsperrte und ihm kurz darauf sein Hintergrundbild von Gin zeigte, welches er heimlich mal im Einkaufszentrum von diesem gemacht hatte. Abgesehen davon, dass der Akku etwas weniger geworden war, hatte sich nichts verändert. Neue Anrufe oder SMS hatte er auch nicht bekommen. Rye runzelte misstrauisch die Stirn. Wie selten kam es vor, dass er in seinem Dasein mal Glück hatte? Da ging eindeutig etwas nicht mit rechten Dingen zu. „Ich sollte aufhören, mir schon wieder so viel unnötige Gedanken zu machen und es einfach so hinnehmen, wie es ist…“ Seufzend steckte er das Handy zurück in seine Jackentasche. Von jetzt an würde er besser darauf aufpassen. Der Sache auf den Grund gehen konnte er ohnehin nicht mehr. Er sollte sich viel lieber auf seine nächste Mahlzeit konzentrieren und sich danach eine geeignete, von Menschen befreite Bleibe für die Nacht auswählen. Wie viel Zeit noch vergehen musste, bis ihn seine Beine letzten Endes wieder zurück zu Gin trugen, konnte er noch nicht genau sagen. Bis dahin wusste er hoffentlich, wie er ihm am besten gegenübertreten sollte, ohne dass er gleich darauf den Boden unter seinen Füßen verlor. Kapitel 40: Von Raubtieren umgeben ---------------------------------- Es war schon fast dunkel als Gin bei seiner alten Oberschule ankam und vor dem grünen Gittertor stehen blieb, welches ihn noch von dem dahinterliegenden Schulhof trennte. Es wirkte viel größer und bedrohlicher, als Gin es in Erinnerung hatte. Fast wie der Eingang zu einem Gefängnis. Und eigentlich stimmte das auch. Für Gin war dieser Ort schon immer so etwas wie ein Gefängnis gewesen. Fünf Tage in der Woche von frühmorgens bis nachmittags mit einem Haufen pubertärer Teenager zusammen zu sein, hatte sich so angefühlt, als säße er mit unzähligen hungrigen Hyänen in einer Zelle. Und diese Hyänen hatten sich stets daran ergötzt, ihn auf die verschiedensten Arten zu quälen und ihm dann beim Leiden zuzusehen. Niemand hatte je versucht, ihn aus der Zelle zu befreien. Schon gar nicht die Gefängniswärter, die sogenannten Lehrer, die nur ab und zu mit abgewandtem Blick vorbeigekommen waren, ohne irgendwas an den Gegebenheiten zu ändern. Gin hatte sie alle gehasst. Jedoch nicht so sehr, dass er damals schon an so etwas wie Mord gedacht hätte. Daran hatte er erst angefangen zu denken, als drei bestimmte Personen in sein Leben eingedrungen waren und ihn gezielt terrorisiert hatten. Ein Mädchen und zwei Jungen aus der Parallelklasse. Gin legte seine Hand um den Türknauf des Tors. Es wunderte ihn nicht, dass dieses trotz der späten Uhrzeit nicht verschlossen war. Nur noch wenige Minuten bis neun. Er ließ seinen Blick prüfend über den Schulhof wandern, wobei ihm seltsamerweise nichts Verdächtiges auffiel. Nirgends brannte Licht. Schatten von Personen waren auch nicht zu erkennen. Das metallische Quietschen beim Öffnen des Tors war das einzige Geräusch, welches die Stille unterbrach. Das Tor fiel hinter Gin zu, sobald er stehen blieb. Die Umgebung hatte sich nicht wirklich viel verändert. Ein paar Meter neben ihm befand sich ein extra abgezäunter Bereich, wo die Schüler ihre Fahrräder abstellen konnten. Früher hatte davor noch ein altes, unbenutztes Gebäude gestanden, welches aber inzwischen abgerissen worden war. Eines der noch stehenden Schulgebäude sah genauso alt aus, jedoch wurde im Inneren wohl erst vor nicht allzu langer Zeit renoviert. Dieses Gebäude trug einfach nur den Spitznamen Altbau. Aus dem Grund, weil ein paar Jahrzehnte nach der Eröffnung gegenüber noch ein sehr modernes Blockgebäude, genannt Neubau, errichtet wurde. Beide Schulgebäude waren mit einem Korridor verbunden, in welchem vorn und hinten jeweils eine große Doppeltür aus Glas eingebaut war. Generell bestand gut die Hälfte der Wände des Neubaus aus Glas. Es gab dort sogar einen Musikraum, dessen Wände zur Hälfte aus Glas waren. Gin konnte den Raum von hier aus sehen. Die Glaswände hatten unter anderem auch Türen, sodass man auch vom Schulhof aus hinein gelangen konnte. Aber die waren früher nicht oft verwendet worden. Gin hatte nie gern Musik in diesem Raum gehabt, da er sich dort drin immer besonders beobachtet gefühlt hatte. Das war allgemein der Nachteil des Neubaus. Von den Fenstern des Altbaus aus konnte man genau sehen, wenn jemand durch die Flure des Neubaus ging, weil die Fenster im Letzteren größer und vor allem breiter waren. Im ersten Stock gingen sie sogar bis zum Boden. Gin überlegte, welche der Türen er am besten benutzen sollte. Oder ob er überhaupt irgendeine benutzen sollte. Wenn er wenigstens wüsste, wo genau sich die Kerle mit ihm treffen wollten. Gerade wirkte es nicht so, als würde er hier von jemandem erwartet werden. Wahrscheinlich war das Absicht. Gin wählte schließlich die Tür des Verbindungsgebäudes aus. Vielleicht könnte er im Inneren ein paar Räume durchsuchen, auch wenn er nicht glaubte, dass er bei einem davon das Glück haben würde Rye tatsächlich zu finden. Während er über den Schulhof ging hatte er das Gefühl, durch tiefen Schlamm zu laufen. Jeder Schritt fiel ihm schwer. Er fühlte sich ausgeliefert, irgendwie entblößt, und plötzlich wünschte er sich nichts weiter, als zu Hause auf der Couch in Ryes Armen liegen zu können. Während sein Geliebter ihm sanft über den Kopf streichelte und fest an seinen kalten, steinernen Körper drückte. Gin würde sich der angenehmen Ruhe hingeben und die Nähe zu Rye vollends genießen. Sie hätten nichts zu befürchten. Alles wäre perfekt. Nur sie beide. Allein. Für den Rest ihres Lebens unzertrennbar. Aber das war lediglich eine Illusion, die nie mehr Wirklichkeit werden würde. Weil Eclipse sie unweigerlich voneinander trennen würde. Egal, auf welche Weise. Gin ging an einem Brunnen vorbei, der sich ungefähr in der Mitte des Schulhofs befand. Normalerweise setzten sich die Schüler meist auf die davor stehenden Bänke, um miteinander zu erzählen oder um in aller Stille zu lernen. Doch Gin hatte sich früher nicht mal in die Nähe des Brunnens getraut. Nicht mehr, seit mal jemand seinen Kopf so lange unter Wasser gedrückt hatte, dass er dabei fast ertrunken wäre. Die Person hatte das mehrmals hintereinander getan und dabei schallend gelacht. Sein Freund und das Mädchen hatten zugesehen. Gin hatte ihm danach mit der Faust ins Gesicht geschlagen und es war wie so oft zu einer Prügelei gekommen, für die er im Nachhinein hatte nachsitzen müssen. Der Sieger dieser Auseinandersetzungen waren meist die beiden Typen gewesen. Und das Mädchen, dessen Namen und Gesicht er mittlerweile erfolgreich verdrängt hatte, war immer die ganze Zeit über im Hintergrund geblieben. Gin hatte sie bis zu ihrem Todestag nie angerührt. Aber genau das war das Problem dieses Mädchens gewesen. Tief innerlich hatte sie gewollt, dass er sie anrührte und hatte anfangs oft alles getan, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie hatte ihn gefragt, ob er mit ihr zusammen sein wollte und gesagt, dass sie sich in ihn verliebt habe. Gin hatte sich nichts dabei gedacht, als er ihr eine Abfuhr erteilte. Er war davon ausgegangen, dass sie ihn einfach in Ruhe lassen würde. Doch da hatte er sich gewaltig getäuscht. Zusammen mit den beiden Kerlen, die wahrscheinlich in sie verknallt gewesen waren, hatte sie daraufhin angefangen, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Irgendwann, nach langer Qual, hatte Gin entschieden, dem ein Ende zu setzen. Er hatte das Mädchen zu sich nach Hause eingeladen und ihr gegenüber behauptet, er wolle doch etwas mit ihr anfangen. Natürlich hatte sie die Einladung angenommen. Und zu Hause hatte er sie dafür von der Treppe gestoßen, sodass ihr Genick beim Aufprall brach. Die beiden Typen hatte er sich danach vorgenommen. Von da an hatte er bis heute nicht aufgehört, Menschen das Leben zu nehmen. Als er Vater damals die Morde beichtete, hatte dieser anders als erwartet reagiert. Ihr Verhältnis zueinander war seither nicht mehr ganz so fremd. Gin erinnerte sich noch genau daran, wie unendlich froh er gewesen war, als Vater nach und nach angefangen hatte, ihn zu respektieren. Später nach der Schule hatte dieser ihn dann sogar professionell für mehrere Jahre ausbilden lassen, bevor er ihn am Ende in die Organisation aufgenommen hatte. Auf diese Weise war es Gin zumindest ein bisschen gelungen, diesem Mann näherzukommen und ein paar seiner Geheimnisse zu erfahren. Auch wenn er am liebsten alles über ihn wissen wollte. Alles über diesen Mann, der ihm immerzu eingebläut hatte, er dürfte ihn niemals als seinen Vater bezeichnen, doch zu dem Gin trotz aller Konsequenzen immer wie zu einem Vater aufsehen würde. Egal, wie kalt und abweisend er ihn behandelte. Gin wusste nicht, warum er sich gerade jetzt über diese längst vergangenen Zeiten Gedanken machte. Dieser Ort brachte ihn durcheinander. Alles hier war ihm so vertraut und weckte gleichzeitig grausame Erinnerungen in ihm, die er glaubte, restlos ausgelöscht zu haben. An der Tür angekommen, zwang er sich wieder zur Vernunft und holte tief Luft, bevor er das Schulgebäude betrat. Drinnen war es komplett still. Zumindest in den ersten paar Sekunden. Dann erfüllte plötzlich ein lauter Schmerzensschrei die Gänge. Gins Warnsignale leuchteten sofort rot, als er Ryes Stimme erkannte. Sie kam aus Richtung der beiden Musikräume. Seine Beine rannten wie von selbst los und noch während sie ihn durch den Flur trugen, folgten weitere Schreie, die sein Herz allesamt wie scharfe Messer durchbohrten. Da er vorhin im zweiten Musikraum niemanden hatte sehen können, riss Gin einfach die Tür des Ersten auf und stürmte ungehalten in den Raum. Er wirbelte herum, bemerkte dabei einen Lichtstrahl, und als seine Augen diesen folgten, entdeckte er Rye. An der Wand. Auf einem Bild. Projiziert von einem Beamer, der etwas seitlich im Raum stand. Gin blieb wie festgefroren auf der Stelle stehen. Starr vor Schock war sein Verstand urplötzlich nicht mehr in der Lage zu realisieren, dass es sich um eine Falle handelte und er so schnell wie möglich von hier verschwinden sollte. Nichts drang mehr zu ihm durch. Als wäre sein Blick an das Video gefesselt, welches vor ihm an der Wand abgespielt wurde. Es zeigte ihm Rye, festgeschnallt an einem Tisch und umringt von irgendwelchen Leuten, die wie Ärzte angezogen waren. Ihre Gesichter waren sowohl von großem Interesse als auch von Argwohn gezeichnet, während Rye unentwegt schrie, als sei er von etwas besessen und nebenher versuchte, sich von den Schnallen loszureißen. Seine Stimme dröhnte aus einem riesigen Lautsprecher, der neben dem Beamer zu stehen schien. Gin fiel auf, dass das Videomaterial etwas beschädigt war. Das Bild rauschte und ein paar Bewegungen wirkten abgehakt oder unpassend zusammengeschnitten. „02. Februar 2020. Versuch Nummer 12. Objekt ist männlich, 29 Jahre alt, bei vollständiger Gesundheit. Das Serum wurde nun in den Körper eingeführt.“, sprach eine männliche Person, die nicht im Bild zu sehen war. Allmählich begann Gin zu begreifen, was genau in diesem Video passierte. Das schien der Tag zu sein, an dem Rye zu einem Vampir geworden war. Es waren seine letzten Minuten als Mensch. Gins Atem blieb automatisch stehen. Mit jedem Herzschlag durchbebte ihn ein eiskalter Schauer. Er konnte das nicht ansehen. Und doch wollte sein Blick sich einfach nicht abwenden. Sein innerster Drang, Rye von diesen Schnallen zu befreien und ihn da rauszuholen, war so unermesslich groß, dass er es kaum aushielt, tatenlos am Fleck zu verharren. „Objekt scheint starke Schmerzen zu haben. Bis jetzt keine Wirkung erkennbar.“, fuhr die Stimme leise fort. Irgendwie klang sie gebrochen. Aber das änderte nichts daran, dass die Worte eine unbeschreiblich große Wut in Gin auslösten. Er ballte seine Hände zitternd zu Fäusten. Für diese Leute war Rye scheinbar nichts weiter als eins von vielen Testobjekten gewesen. Wäre er an diesem Tag gestorben, hätte es sie einen Dreck gekümmert. Gerade sah es wirklich so aus, als würde Rye jeden Moment sterben. Dessen Schreie hatten sich zwar zu einem starken Husten umgewandelt, aber dafür schwappten gewaltige Mengen an Blut aus seinem Mund, während sein Körper hin und her zuckte und sich verkrampfte. Irgendwann ließen die Bewegungen komplett nach und seine Stimme wurde immer leiser, bis sie schließlich verstummte. Obwohl Gin wusste, dass Rye in Wirklichkeit nicht tot war, übermannte ihn dennoch ein schmerzhaftes Gefühl von Verlust. Er starrte weiter auf das Bild an der Wand, welches dann plötzlich blau wurde. Im darauffolgenden Moment vernahm Gin ein Lachen. Er drehte sich langsam zur Tür, wo eine weiße, männliche Gestalt so bewegungslos da stand, dass der Silberhaarige ihn womöglich nie bemerkt hätte. Der Mann sah nicht aus wie ein Mensch. Eher wie ein Geisterwesen aus einem Fantasy-Roman. Er war jung, bildschön und strahlte eine seltsame Gelassenheit und Freundlichkeit aus, dass es schon unheimlich wirkte. Seine Augen schimmerten dunkelblau und seine braunen, leicht welligen Haare gingen ihm bis zum Kinn. Kaum zu glauben, dass sich hinter solch einer schönen Fassade ein Monster mit teuflischen Absichten verbarg. Für einen kurzen Moment wurde Gins Wut und die Angst, die in ihm herrschte, von so etwas wie Faszination überlagert. Er hatte noch nie einen anderen Vampir außer Rye gesehen. Und er hätte nie gedacht, dass sie sich trotz des unterschiedlichen Aussehens doch so sehr ähneln konnten. Als der Mann ihn allerdings anlächelte und auf ihn zukam, wurde sich Gin dem Ernst der Lage umgehend wieder bewusst. Seine Warnsignale schrien ihm zu, dass er davonlaufen sollte, aber aus irgendeinem Grund war er so erstarrt, dass er nicht mal mehr einen Schritt zurückweichen konnte. „Hat dir der Film gefallen?“, wollte der Mann wissen, in dessen heller Stimme Gin die gleiche Person erkannte, mit der er das Telefonat geführt hatte. „Tut mir leid, dass ich ihn an der Stelle beenden musste, aber so ist das Ende viel schöner. Findest du nicht auch?“ „Er ist nicht hier.“, antwortete Gin. Obwohl er darüber erleichtert sein sollte, dass Rye somit in Sicherheit war, so mischte sich dennoch ein verbitterter Unterton in seine Stimme. Verbitterung darüber, dass er hereingelegt worden war. „Nein. Bedaure, aber ich muss gestehen, dass es uns noch nicht gelungen ist, 12s Stärke genau abzuschätzen. Zwar hatten wir in den vergangenen Tagen oft genug die Gelegenheit dazu, doch wo bliebe denn da der Spaß?“ Gins Augen wurden groß. Die Worte verrieten, dass sie wussten, dass Rye allein unterwegs war. „Ihr… habt ihn beobachtet?“ „Euch beide. Schon die ganze Zeit über. Eure Romanze war wirklich interessant anzusehen. Der kleine Zwischenfall kam zwar etwas überraschend, doch bot sich somit die perfekte Gelegenheit, unseren Plan in die Tat umzusetzen.“, erwiderte der Mann amüsiert, wobei es Gin kalt den Rücken herunterlief. Die Vorstellung, dass Eclipse tatsächlich über seine Beziehung zu Rye Bescheid wusste… dass sie alles wussten… und es wohl auch gesehen hatten… Gin versuchte ruhig zu bleiben. „Was für einen Plan?“, fragte er mit fester Stimme. „An dich ranzukommen, ohne dass er es sofort bemerkt.“ Gins Miene verzog sich vor Verwirrung. Zwar war ihm bereits klar, dass das hier tatsächlich überwiegend ein Spiel war, dennoch verstand er nicht, welchen Nutzen dieses Spiel erfüllen sollte. Ihm schossen zu viele Fragen durch den Kopf, die schlichtweg keinen Sinn ergaben. „Und was bringt euch das? Wenn ihr was von mir wollt, hättet ihr es euch einfach holen können! Warum zieht ihr stattdessen diese Nummer ab und bestellt mich extra hierher?!“, verlangte er zu wissen. Er war über den plötzlichen Hochmut selbst überrascht, doch dieser verließ ihn sogleich wieder, als der Vampir ruckartig näherkam. „Du verstehst offensichtlich gar nichts…“, meinte er. „Unser Boss wollte euch beiden eine Chance geben, die Angelegenheiten friedlich zu beenden. Es war nicht seine Absicht, dich gewaltsam zu etwas zu zwingen. Du hattest die freie Wahl, ob du dich auf eine Verhandlung mit uns einlässt, um das Leben von 12 zu retten oder ob du ihn fallen lässt, weil er dir vielleicht in Wirklichkeit vollkommen egal ist.“ „Ich werde aber nicht mit euch verhandeln, wenn sein Leben gar nicht in Gefahr ist.“, schoss Gin zurück. Es entzog sich seinem Verständnis, was er überhaupt an diesem Ort sollte und warum diese Leute dachten, er würde noch mit dem Boss sprechen wollen, wenn Rye in Wirklichkeit gar nicht hier war. Jedoch könnte es auch sein, dass seine Anwesenheit einen anderen Nutzen erfüllen sollte… Das bewies zumindest das Lachen, welches der Mann im folgenden Moment ausstieß. „Denkst du wirklich, dass er außer Gefahr ist und wir ihn davonkommen lassen, nur weil er jetzt nicht hier ist? Er wird kommen. Aus eigenem Willen.“ Nein. Natürlich hatte Gin das nicht gedacht. Nicht einmal für den Hauch einer Sekunde. Jedoch… „Warum sollte er das tun?“ „Weil du hier bist.“ „Aber er weiß nicht, dass ich hier bin.“ „Noch nicht.“ Ein finsteres Grinsen zeichnete sich in dem Gesicht des Mannes ab und offenbarte zugleich strahlend weiße, scharfe Zähne. Gin wollte einfach nur wegrennen. So weit weg wie möglich. Aber er bezweifelte, dass er so leicht an dem Kerl vorbeikommen würde. Jedenfalls nicht unbeschadet. „Ich gebe zu, es gab so viele Möglichkeiten, 12s Gefangenschaft zu planen. Aber unser Boss liebt dramatische Enden. Er dachte, es wäre einfach herzzerreißend mit anzusehen, wie der edle Ritter seinem geliebten Menschen zu Hilfe eilt und alles dafür tut, um ihn zu retten, nur um dann letztlich kläglich zu scheitern.“, redete der Mann in einer begeisterten Tonlage, als würde er von einem tragischen Theaterspiel sprechen. Was Gin umso wütender machte. Angst und Wut war wirklich eine seltsame Mischung. Er fühlte sich hin und her gerissen. Wusste nicht, welchem Gefühl er sich mehr hingeben sollte. Auf welches Gefühl es richtig wäre zu hören. „Er wird nicht hierher kommen.“, stellte Gin klar. Diesen Erfolg würde er ihnen niemals gönnen. Wieso sollte sich Rye auch an diesen Ort locken lassen? „Aber wie könnte er anders, wenn das Leben des Mannes auf dem Spiel steht, den er so sehr liebt? Du bist doch schließlich auch hierher gekommen.“ Gin blieb stumm. Er hatte beinahe vergessen, dass er selbst so dumm gewesen war, sich hierher locken zu lassen. Weil er geglaubt hatte, dass Ryes Leben in Gefahr gewesen war. Das Leben des Mannes, den er so sehr liebte. Allmählich bekam er eine schlimme Vorahnung, wie der Kerl Rye dazu bringen wollte, sich an diesen Ort zu begeben. Und etwas sagte ihm, dass er ihm dafür wehtun würde. Er merkte nicht, dass er die Angst versehentlich in sein Gesicht ließ. Erst dann, als der Vampir ihm noch näher kam und beschwichtigend auf ihn einredete: „Keine Angst, wir haben eigentlich nicht vor, dich zu töten. Außer natürlich, du gibst uns einen Grund dazu.“ Gin wich instinktiv zurück. Es lag klar auf der Hand, was das für ein Grund war. Sie würden ihn töten, wenn er die Rolle, die sie in diesem Spiel für ihn vorgesehen hatten, nicht länger spielen würde. Der Mann weitete kurz seine Augen, dann lächelte er wieder und neues Interesse blitzte in seinem Gesicht auf. Er fing an, Gin mit langsamen Schritten zu umkreisen. Wie ein Kunstliebhaber, der in die Betrachtung eines außergewöhnlich schönen Gemäldes versunken war. Der Silberhaarige folgte ihm misstrauisch mit den Augen. „Es ist schon irgendwie faszinierend, dass 12 gerade dich ausgewählt hat…“, sprach er mehr zu sich selbst, während er Gin weiter umkreiste und anschließend direkt vor ihm stehen blieb. „Aber wenn ich dich so ansehe, und dann auch noch dein Geruch… da kann ich es schon nachvollziehen…“ Die Worte waren für Gin in Rätseln gesprochen. Doch er konnte sie sich nicht durch den Kopf gehen lassen, da der Mann auf einmal eine seiner Haarsträhnen zwischen die Finger nahm und genießerisch dran roch. Gin traute sich nicht, diese kalte, steinharte Hand wegzuschlagen, die womöglich viel stärker als er war. Er konnte nur bewegungslos verharren. Kurz darauf spürte er kühle Fingerspitzen an seiner Haut. Wie sie über sein Kinn glitten und der Mann mit dem Daumen einmal über seine Wange strich. Gin wurde übel. Er hatte gedacht, er sei die eiskalten Berührungen einer solchen Kreatur bereits gewohnt. Doch die Jetzigen fühlten sich völlig anders an, als die sanften, liebevollen von Rye. Sie waren so fremd und Gin kam es so vor, als könnte er die perversen Absichten hinter ihnen deutlich spüren. Er versuchte sich zusammenzureißen. Irgendwie musste er den Kerl ablenken, welcher anscheinend genauso sehr von seinem Geruch angetan war wie Rye. Nur warum? „Ich wüsste nicht, was daran besonders sein sollte.“, sagte er, während er unauffällig seine Hand in seine innere Jackentasche wandern ließ, um die Spritze mit Curare fest zu umschließen. Könnte er das so einfach tun? Wäre er schnell genug? Und vor allem: Würde die Nadel überhaupt die Haut dieser Kreatur durchdringen können? „Du würdest es wissen, wenn du dich selbst riechen könntest.“ Begehren mischte sich in die Tonlage des Mannes. Er krallte die Finger leicht in Gins Rollkragen und zog diesen etwas herunter. „Scheinbar konnte er dir auch nicht widerstehen.“, kommentierte er amüsiert den Verband, der sich dahinter verbarg. Als Gin einen kühlen Atem an seinem Hals spürte, wurde es ihm endgültig zu viel. Er warf all seine Zweifel über Bord, zückte blitzschnell die Spritze und rammte sie in den Nacken des Mannes, welcher daraufhin einen dumpfen, erschrockenen Laut von sich gab. Gin beobachtete verwundert, wie der Kerl zu Boden sank. „Ich hab es… geschafft?“ Die Nadel steckte tatsächlich in der Haut. Aber wie war das möglich? Die Haut eines Vampirs müsste doch viel zu hart sein. Rye konnte auch nie durch scharfe oder spitze Gegenstände verletzt werden. Nicht einmal Pistolenkugeln hatten ihm etwas anhaben können. Und die Haut des Wesens dort am Boden war doch genauso hart wie Ryes. Gin schüttelte den Kopf. Er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Er musste schleunigst hier weg. Während er aus dem Raum rannte, beschlich ihn das Gefühl eines kleinen Erfolges. Ihm als Mensch war es wirklich gelungen, einem Vampir die Bewegungsfähigkeit zu rauben. Vielleicht war es doch ein wenig von Vorteil, dass der Geruch seines Bluts so intensiv war, dass er zugleich auch ablenkend wirkte. Aber das konnte auch nur Glück gewesen sein. Gin griff sofort nach der Glastür, die sich links vom Raum befand und ihn eigentlich neben der Treppe nach draußen führen sollte. Doch sie war verschlossen. Als sich Gin umdrehte, um zurück zum Verbindungsgebäude zu rennen, bremste er abrupt ab, als er mehrere Gestalten im Gang erblickte, die ihm den Weg versperrten. Es waren vier. Vier weitere Vampire. Gin blieb vor Schock der Atem weg. „Scheinbar wollen sie Rye hier wirklich fangen… nur meinetwegen sind es bestimmt nicht so viele…“, wurde ihm bewusst. Was nun? Was hatten sie mit ihm vor? Welche Rolle musste er in diesem Spiel spielen? „Wohin denn so eilig?“, fragte einer von ihnen belustigt. Sie musterten ihn wie ein gefundenes Fressen. Gin fiel auf, dass niemand von ihnen eine Nummer am Hals tätowiert hatte. Scheinbar besaßen sie eine andere, wahrscheinlich höhere Stellung in Eclipse als Rye. Einer hatte ebenso braune Haare, aber ein viel kantigeres Gesicht und fast schwarze Augen. Die anderen drei wirkten etwas älter. Zwei waren blond und der letzte, der sich eher im Hintergrund aufhielt, hatte pechschwarzes, zerzaustes Haar. Alle schienen ausländischer Herkunft zu sein. Zumindest sah niemand auf den ersten Blick so aus, als sei er Japaner. Gin überlegte, was er jetzt am besten tun könnte. Sich in die Enge treiben zu lassen kam nicht infrage. Aber er würde es genauso wenig schaffen, an den Kerlen vorbei zu rennen. Und trotzdem versuchte er es. Weil es keine andere Möglichkeit gab. Wie befürchtet waren sie viel zu schnell. Gin sah nicht, ob es eine Hand oder ein Fuß war - er spürte nur, wie er einen harten Schlag auf die Brust bekam und rückwärts durch den Gang flog. Noch bevor der Schmerz vollständig zu ihm durchdringen konnte, knallte er mit dem Kopf gegen die Glastür und fiel zu Boden. „Bleib doch lieber noch ein bisschen. Sonst verpasst du das große Finale.“ Gin konnte nicht sehen, von wem die Stimme stammte. Alles war verschwommen. Sein Kopf dröhnte vor stechenden Schmerzen. Er vernahm nur, wie jemand auf ihn zukam und dann plötzlich stehen blieb. Einen Moment herrschte Stille. Als sich Gins Sicht allmählich wieder klärte, sah er, wie einer der Männer verdutzt in den offenen Musikraum starrte, aus dem er zuvor gestürmt war. „Was hast du gemacht?!“, fauchte der Mann ihn wütend an. Scheinbar hatte er den bewegungslosen Körper seines Mitstreiters am Boden entdeckt. Gin schwieg. Kaum eine Sekunde später wurde er ruckartig am Kragen gepackt und hochgezogen. „Ich hab dich was gefragt!“, schrie der Mann erneut, bevor er ihn mit voller Wucht zu Boden schleuderte. Schmerz durchfuhr Gins Schulter. Er biss die Zähne zusammen und unterdrückte ein Keuchen. „Beruhige dich, Samuel.“ Eine andere Stimme mischte sich ein, die der Silberhaarige bisher noch nicht gehört hatte. Er blickte auf und sah, wie einer der blondhaarigen Männer näherkam. „Beruhigen? Schau dir das an!“ Dieser Samuel verwies mit dem Finger auf den Musikraum, woraufhin sein Partner einen Blick hinein warf. „Und? Nicht unser Problem, wenn er nicht aufpassen kann.“, entgegnete dieser schulterzuckend. Samuel schaute ihn fassungslos an. „Aber-“ „Halt den Mund. Du weißt, was der Boss gesagt hat.“, unterbrach der Blonde ihn streng, woraufhin er missmutig den Kopf senkte. „Ja.“, gab er sich schließlich geschlagen. Sein Partner drehte sich zufrieden von ihm weg und ließ seinen Blick mit einem Lächeln auf den Lippen über Gin wandern. „Unser Freund hier scheint ganz schön gerissen zu sein.“, sagte er, während er langsam auf den Silberhaarigen zuging, welcher sich gerade auf alle viere hochkämpfen wollte, jedoch gleich darauf einen starken Tritt in die Seite erhielt. „Aber auch viel zu übermütig…“, fügte der Mann amüsiert hinzu und beobachtete, wie Gin vor Schmerz am Boden kauerte. „Was wollt ihr von mir?“, brachte er mit schwacher Stimme hervor. Am liebsten würde er sich in Luft auflösen. Auf anderem Wege schien er hier wohl tatsächlich nicht mehr rauszukommen. Aber warum wollten diese Typen ihn hier festhalten und aus welchem Grund taten sie ihm das an? Wollten sie Rye auf diese Weise etwa Schaden zufügen? „Das wirst du schon noch vom Boss erfahren.“ Gin wusste nicht, ob er dem Boss von Eclipse wirklich begegnen wollte. Bestimmt war dieser noch weitaus brutaler und furchterregender… „Da fällt mir ein… wir sollten langsam mal anfangen. Sonst wird er noch ungeduldig.“ Die Worte ließen Angst in Gin aufsteigen. Anfangen mit was? Würden sie ihn jetzt foltern? So, wie Raubtiere mit ihrer Beute spielten, kurz bevor sie sie in Stücke zerrissen? Bei der Vorstellung fing sein Körper automatisch an zu zittern. Er hatte sich noch nie so hilflos ausgeliefert gefühlt. Gegen Menschen hätte er sich wenigstens wehren können. Doch in dieser Lage, umringt von Vampiren, schien auf einmal alles so zwecklos zu sein. Gin beobachtete angespannt, wie die drei anderen dem Blonden zunickten. Kurz darauf trat der schwarzhaarige Kerl, der sich bisher noch komplett aus der Sache herausgehalten hatte, mit langsamen Schritten hervor. Seinen Blick wie gebannt auf Gin gerichtet, bat er: „Darf ich…?“ Die versessene Tonlage ließ den Silberhaarigen erschaudern. „Irgendwas stimmt nicht mit dem…“, erkannte er. Diese Haltung erinnerte ihn nahezu an einen Psychopathen. Nur den Grund dafür konnte sich Gin nicht erklären. Der Kerl betrachtete ihn nicht wie die anderen. Eher so, als seien sie Bekannte, die sich eine lange Zeit nicht gesehen hatten. Und dieses Wiedersehen schien ihm unverschämtes Vergnügen zu bereiten. „Kannst du dich denn auch beherrschen, Pierre?“, wollte der Blonde wissen. Der Mann mit diesem Namen schaute ihn nicht einmal an, als er abwesend darauf antwortete: „Selbstverständlich.“ Gin war sich nicht sicher, ob er die Frage überhaupt gehört hatte. Der Kerl schien einzig und allein auf ihn fixiert zu sein. Gin hoffte gedanklich, dass der Blonde – was auch immer dieser Pierre vorhatte – es ablehnen und ihn nicht durchlassen würde. Doch er tat das genaue Gegenteil. „Meinetwegen.“, sagte er und trat zur Seite, sodass Pierre sich dem Silberhaarigen weiter nähern konnte. Lautlos und langsam. Wie ein Löwe, der seine Beute auf keinen Fall erschrecken wollte. Gin spürte, wie sich etwas in seinem Magen umdrehte. Er wich automatisch am Boden zurück, jedoch befand sich Pierre urplötzlich vor ihm und hielt unerbittlich seine Handgelenke fest. Die eisige Kälte dieser Hände war so durchdringend wie der gierige Blick, der ununterbrochen an ihm heftete und ließ das Blut in seinen Adern förmlich gefrieren. Gin durchlief ein weiterer Schauer, als ein breites Lächeln auf Pierres Gesicht erschien. Dieses kranke Lächeln lähmte ihn. Er konnte seinen Gegenüber nur mit großen, schreckgeweiteten Augen anstarren. „Wo hast du dein Handy?“ Gin brauchte einen Moment, um die Frage zu verstehen. Trotzdem antwortete er nicht und schaute Pierre lediglich finster an. Er konnte sich schon denken, wofür sie sein Handy brauchten. Anders konnten sie schließlich nicht mit Rye Kontakt aufnehmen. „Gibst du es mir freiwillig oder soll ich es suchen?“, fragte Piere eindringlich. Da Gin beide Varianten nicht gefielen und er vor allem nicht wollte, dass dieser Kerl ihn noch an anderen Stellen seines Körpers berührte, versuchte er sich schnell von ihm wegzudrehen. Allerdings nutzte Gin das überhaupt nichts, weil Pierre ihn sofort wieder zu sich zog und die Hände in seinen Mantel krallte. Schweigend durchkramte er die Innentaschen, wobei er zuerst Gins Beretta und dann dessen Smartphone herausnahm. Während er die Beretta achtlos wegwarf, tippte er hastig auf dem Display des Smartphones herum, bis er ein genervtes Stöhnen ausstieß. Gin ahnte, was Pierre zu stören schien. Und darüber war er wirklich erleichtert. Auch wenn sich das Blatt womöglich gleich wieder wenden würde. „Entsperr es.“, befahl Pierre im nächsten Moment auch schon und hielt ihm ungeduldig das Handy vor die Nase. Um dieses zu entsperren, war Gins Fingerabdruck vonnöten. „Vergiss es.“, dachte er abfällig, sprach es aber lieber nicht aus und starrte Pierre nur an, welcher sich aber nicht von seinem Vorhaben abhalten ließ. Wütend packte er Gins Handgelenk und hielt es nach oben. „Ich wiederhole mich nur ungern: Entsperr es oder ich werde dafür sorgen, dass du es tust.“, sprach er in düsterer Tonlage, während er seinen Griff immer weiter verstärkte. Gin presste die Zähne so fest zusammen, dass sie beinahe zersplitterten. Er hatte keine Kraft mehr. Es tat so weh. Pierre führte seine Hand zum Handy und drückte seinen Daumen fest auf den Bildschirm, sodass sich die Sperre aufhob. Als er dann endlich zufrieden von Gin abließ, blieb in dessen Handgelenk ein schmerzhaftes Pochen zurück. Einige Sekunden verstrichen, in denen Pierre auf dem Bildschirm hin und her wischte und Gin dabei nicht beachtete. „Hmm… welcher Kontakt ist es wohl… wahrscheinlich der, den du in den letzten Tagen am häufigsten angerufen hast… Rye, nicht wahr? Ein wirklich interessanter, neuer Name für ihn.“, redete er belustigt vor sich hin. Gin verengte die Augen. „Es ist egal, wie oft ihr ihn anruft. Er wird nicht ran gehen.“, sagte er. Der Kerl fing leise an zu lachen, bevor er mit einem niederträchtigen Lächeln auf den Lippen antwortete: „Wer sagt denn, dass wir ihn anrufen?“ Erst verstand Gin nicht, was er damit meinte. Doch als Pierre das Handy in einer bestimmten Position auf ihn richtete, wurde es ihm klar. Der erschreckenden Erkenntnis folgend, drehte er schnell den Kopf zur Seite. Auch wenn das leider nicht viel half. Doch würde er sich anderweitig vom Fleck rühren, würde man ihn in null Komma nichts ohnehin wieder zurück auf den Boden befördern. „Es wäre noch viel schöner, wenn du lächeln würdest. Dabei hast du doch allen Grund, dich zu freuen, wenn dein edler Ritter dir bald zur Rettung eilen wird und du ihn dann endlich wiedersehen kannst.“, sprach Pierre in amüsierter Tonlage und Gin bemerkte an dem Blitzlicht, dass er ein Foto zu machen schien, um es Rye dann höchstwahrscheinlich zuzusenden. Er fühlte sich so gedemütigt und gleichzeitig kochte er vor Wut. Wenn diese Kerle nur Menschen wären, könnte er sie wenigstens dafür büßen lassen. Doch so war er gezwungen, das alles über sich ergehen zu lassen. „Er kommt nicht.“, murmelte er. Es war eher eine Hoffnung, die sich wohl als leer entpuppen würde. Und das schien Pierre auch zu wissen. „Natürlich wird er das. Er kann nicht anders. Er muss sich immer überall einmischen und anderen helfen…“ Während er dies erwiderte, nahm seine Stimme einen immer finstereren Tonfall an. „Dieser kleine Dreckskerl…“ Zum Schluss waren seine Worte nur noch ein leises, zorniges Flüstern, sodass Gin es kaum verstehen konnte. Ihm fiel nach und nach auf, dass Pierre einen persönlichen Hass gegen Rye zu hegen schien. In welchem Verhältnis sie in Eclipse wohl zueinander standen? Hatte sich Rye etwa schon damals Feinde gemacht? Während er darüber rätselte, registrierte er nur beiläufig, dass Pierre ihn fortlaufend beobachtete. Bis dessen Augen auf einmal anfingen zu leuchten, als wäre ihm gerade eine Idee gekommen. Erneut bekam Gin es mit der Angst zu tun. Da wandte sich Pierre den anderen zu und sprach: „Wie wäre es, wenn wir 12 einen kleinen Denkzettel verpassen? Vielleicht würde ihn das ein wenig anspornen…“ Danach richtete er seinen Blick wieder auf Gin, welchem bei den Worten der Atem stockte. Der Kerl schien es kaum erwarten zu können, ihn auf die verschiedensten Weisen zu quälen. Jede Faser seines Körpers sehnte sich geradezu danach, endlich das in die Tat umzusetzen, was sich wahrscheinlich schon die ganze Zeit über in seinem Kopf abspielte. „Schon vergessen? Der Boss hat gesagt, wir sollen ihn nicht anrühren.“ Die Antwort seines Mitstreiters enttäuschte ihn bitterlich. Er verzog sein Gesicht zu einer gereizten Grimasse. „Nicht töten.“, verbesserte er ihn in beherrschter Tonlage. „Alles andere ist erlaubt.“ Das schien zum Glück niemand von den anderen zu überzeugen. „Pierre.“, wurde er tonlos ermahnt. Doch es kümmerte ihn nicht und er sprach weiter: „Und überlegt doch mal, wie oft 12 uns alle an der Nase herumgeführt hat. Ihr hasst ihn doch genauso. Es würde ihm nur recht geschehen.“ Jetzt schienen sie tatsächlich zu überlegen. An dem Ausdruck in ihren Augen erkannte Gin, dass sie Pierre innerlich zustimmten. „Außerdem… sieht er aus wie Toichi…“, fuhr dieser nun fort. Da war sie wieder. Diese versessene Tonlage, die Gin einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. „Toichi?“ Als er nachfragen wollte, wer diese Person war, blieben ihm die Worte allerdings im Hals stecken. Der rot aufleuchtende Punkt unter der Handykamera verriet ihm, dass Pierre soeben eine Videoaufnahme gestartet hatte. „Er sieht aus… wie Toichi…“, wiederholte er mit leiserer Stimme. Niemand hielt ihn auf, als er den Abstand zu Gin langsam verringerte. „Wer ist das?“, entwich es diesem jetzt doch. Vielleicht könnte er den Kerl mit Worten ablenken oder wenigstens etwas hinhalten. Aber es funktionierte nicht. Pierre ging weiter auf ihn zu und tat so, als hätte er die Frage gar nicht gehört. Gins Körper reagierte automatisch und rappelte sich mühselig auf, sodass er ein paar Schritte zurückweichen konnte, bis er jedoch die Klinke der Glastür in seinem Rücken spürte. Es wunderte ihn, dass Pierre ihn schon so weit hatte kommen lassen. „Sag schon.“, versuchte er diesen erneut zu erreichen. Doch anstelle von einer Antwort erhielt er einen harten Schlag in die Magengrube. Sofort stieg eine Mischung aus Übelkeit und Schmerz in ihm auf. Er unterdrückte ein Keuchen und krümmte sich. Jedoch krallte sich kaum einen Augenblick später eine kalte Hand in seinen Hals, die ihn zurück an die Glastür drückte. „Hab ich dir erlaubt, Fragen zu stellen?“, zischte Pierre. Seine Augen durchbohrten Gin förmlich mit ihrem gnadenlosen Blick. Der Silberhaarige bekam keine Luft mehr. Zudem drückten sich die kalten Finger direkt in seine Wunde, sodass ihm kurz schwarz vor Augen wurde. Verzweifelt versuchte er die Finger von seinem Hals zu lösen. Doch erfolglos. Er wollte nicht wissen, wie armselig er gerade aussehen musste. Irgendwie versuchte er die Tatsache zu verdrängen, dass jede verstreichende Sekunde mit seinem Smartphone aufgenommen wurde. Hoffentlich würde Rye das Video niemals zu sehen bekommen. Das durfte er einfach nicht. Da ließ der Griff um seinen Hals auf einmal etwas nach, wobei er umgehend nach Luft schnappte. Zwischen seinen hastigen Atemzügen überhörte er fast Pierres übel gesinnte Stimme. „Aber du kannst deine Lippen gern für was anderes benutzen.“ Ehe die Worte vollständig zu Gin durch drangen und er den Schock in sein Gesicht lassen konnte, pressten sich bereits kalte, steinharte Lippen gegen seine eigenen, die nahezu drohten ihn zu verschlingen. Gins Augen weiteten sich. Sein Verstand war nicht in der Lage zu realisieren, was gerade passierte. Dieser widerliche Blutsauger küsste ihn. „Warum?“, schoss es ihm durch den Kopf. Hatte das etwas mit diesem Toichi zu tun? Oder mit Rye? Was wollte er damit bezwecken? Während diese Fragen in ihm aufkamen, wurde ihm von Sekunde zu Sekunde übler. Im Augenwinkel sah er, wie die Kamera direkt auf ihre Gesichter gerichtet war. Gin wollte den Kopf zur Seite reißen, doch der Druck war zu stark. Ein Gefühl von Abneigung und Ekel brachten ihn automatisch dazu, den Kerl von sich wegzudrücken und auf ihn einzutreten. Beides vergeblich. Es kam ihm vor, als würde er gegen eine harte Felswand drücken, die sich einfach keinen Millimeter bewegen wollte. Sobald Pierre endlich seine Lippen vom ihm gelöst hatte, konnte sich Gin nicht länger beherrschen und er schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Ein stechender Schmerz fuhr durch seine Hand. Kurz darauf kassierte er selbst eine schallende Backpfeife, sodass er wieder zu Boden fiel. Schwarz-bunte Flecken tanzten vor seinen Augen und er glaubte, dass sein Kiefer sich soeben verrenkt hatte. Das hatte zwar höchstens halb so sehr weh getan wie der Schlag von Rye damals, doch die Schmerzen fühlten sich trotzdem genauso elend an. Inzwischen tat ihm fast alles weh und er wusste nicht, welcher Schmerz am schlimmsten war. Es war kaum noch auszuhalten. „Mieser Scheißkerl, was glaubst du, wer du bist?“, fuhr Pierre ihn wütend an. Gin ignorierte ihn und fasste sich an die Wange. Allerdings wurde ihm unvermittelt in die Schulter getreten, sodass sein Körper auf dem Rücken landete. Schwer atmend starrte Gin zur Decke, die immer mal wieder verschwamm. Dann auf das Handy, welches ihn nach wie vor filmte. Und dann zu Pierre, der mit einem amüsierten Grinsen im Gesicht auf ihn herabblickte. „Fahr zur Hölle.“, hauchte Gin mit schwacher Stimme. Mittlerweile war ihm alles egal. Er befand sich ohnehin auf verlorenem Posten und es gab rein gar nichts, was die Situation für ihn noch zum Guten wenden konnte. Nicht einmal Ryes Erscheinen. Das würde womöglich alles nur noch schlimmer machen. „Da kommen wir doch am Ende sowieso alle hin.“, entgegnete Pierre, während er über den Silberhaarigen stieg und links und rechts jeweils neben ihm ein Bein platzierte. „Sag ihm, dass er dich retten kommen soll.“, befahl er. Gin presste die Lippen fest zusammen. Niemals würde er so etwas sagen. „Fleh ihn an und sag ihm, wie sehr du ihn liebst.“ Pierre redete weiter auf ihn ein. Seine Stimme wurde lauter. Fordernder. Gin dagegen blieb stumm. Nichts auf der Welt würde ihn dazu bringen, Rye auf solche Weise anzuflehen. Den letzten kleinen Rest seiner Würde wollte er nicht auch noch verlieren. Er warf Pierre nur einen verächtlichen Blick zu, welcher allerdings noch nicht aufzugeben schien. Ohne Vorwarnung trat er mit voller Wucht auf Gins rechtes Unterbein. Dieser hörte zuerst nur das abscheuliche Knacken seiner Knochen, doch dann spürte er auch den Schmerz und konnte einen Schrei nicht mehr länger zurückhalten. „Ja! Das ist noch viel besser!“, schrie Pierre vor freudiger Erregung. „Gib mir mehr davon!“ Kaum ausgesprochen, hörte Gin seine Knochen ein zweites Mal knacken. Diesmal war es das Fußgelenk des gleichen Beins gewesen. Er schrie. Tränen traten ihm in die Augen. Sein Atem entwich ihm nur noch in abgehakten Stößen. Alles tat so höllisch weh. Die Schmerzen überlagerten den Rest seiner Wahrnehmung. „Pierre, das reicht jetzt!“, vernahm er am Rande die Stimme einer anderen Person, dessen Befehl Pierre jedoch ignorierte. „Warum? Ich bringe ihn doch nicht um. Bevor ich das tue, gibt es noch unzählige Knochen, die ich ihm brechen kann. Wie wäre es als Nächstes mit ein paar Rippen?“ Den Worten folgend, platzierte er sein Bein auf Gins Brust. Er legte seinen Kopf schräg und lächelte den Silberhaarigen hämisch an. „Willst du ihm nicht doch sagen, dass er dich retten soll?“, fragte er in lieblicher Tonlage. Gin blendete es aus. Die Schmerzen fingen allmählich an seine Sinne zu betäuben. Er bezweifelte, dass er den nächsten Knochenbruch überleben würde. Auch jetzt dachte er nicht daran, Rye um Rettung zu bitten. Er sollte so weit weg wie möglich von diesem Ort bleiben. Irgendwo dort, wo er in Sicherheit war und die Kerle ihn hoffentlich niemals finden würden. Dennoch hätte Gin ihn zu gern wenigstens noch einmal gesehen. Seine Stimme gehört. Ihn berührt. Vielleicht würden sie sich im Jenseits eines Tages wiedertreffen. „Leb wohl, Rye.“, formten seine Lippen ganz leise. Während seine Augenlider immer schwerer wurden, spürte er, wie sich der Druck auf seiner Brust verstärkte. Gleich war es vorbei. Nur noch ein letzter Schmerz und er würde gar nichts mehr spüren…   Doch der erwartete Schmerz ereilte ihn nie.   Gin riss die Augen weit auf, als sein Peiniger plötzlich seitlich von einem pfeilschnellen, starken Gewicht weggestoßen wurde. Ein Knurren ertönte. Wütend. Bestialisch. Und doch kam es ihm nur allzu vertraut vor. „Nein… du… musst von hier verschwinden…“ Er versuchte den Kopf zu heben, woraufhin er ein verschwommenes Wirbeln in der Luft erblickte, das hin und wieder an den Wänden abprallte. Bis jemand fortgeschleudert wurde und mit hoher Geschwindigkeit durch den Gang rutschte, sodass wegen der Reibung am Boden ein lang gezogenes Quietschen zu hören war. „Rye!“, versuchte Gin zu schreien, als sein Geliebter zum Stehen kam und die anderen Kreaturen ihn umzingelten. Kapitel 41: Der Wert eines Lebens --------------------------------- „Das wurde auch mal langsam Zeit, 12.“ Rye ging in Angriffsstellung und bleckte die Zähne. Er musterte jeden der Typen genau und versuchte sie dabei alle gleichzeitig im Blick zu behalten. Leider versperrten sie ihm gerade die Sicht zu Gin. Wohl mit Absicht. So war es ihm nicht möglich, dessen Verletzungen richtig einzuschätzen. Auf dem Foto schien das Ausmaß dieser noch nicht so schlimm gewesen zu sein, doch das hatte sich in der Zwischenzeit offensichtlich geändert. Zwar sah Rye kein Blut, aber ein leichter Geruch der verführerischen Flüssigkeit hing bereits in der Luft. Diese Mistkerle mussten Gin an weniger auffälligen Stellen verletzt haben. Mindestens ein Knochen seines rechten Beins war jedenfalls schon gebrochen. Wenn er nur den Hauch einer Sekunde später gekommen wäre… „Ganz ruhig. Wir können das hier durchaus friedlich miteinander klären.“, sprach einer. Rye konnte seine Wut kaum noch im Zaun halten. Doch er war auch innerlich erschüttert. Fast glaubte er, dass er sich gerade wieder mal in einem seiner Albträume befand. Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass das hier wirklich die Realität war. Dass Eclipse ihn gefunden hatte und er gerade von seinesgleichen umgeben war. „Ich hätte es wissen sollen… von Anfang an war es so voraussichtlich gewesen, dass dieser Tag kommt… und nur weil ich die Möglichkeit, dass sie mich finden, stets verdrängt habe, konnte ich nicht rechtzeitig reagieren und habe Gin wieder einmal in Lebensgefahr gebracht… Wie soll ich uns beide nur heil wieder aus dieser Situation rausbringen? Was soll ich tun?“ Verzweifelt suchte Rye nach einer Lösung, während er äußerlich den Unnahbaren mimte und nur seine Wut offen zeigte. „Dafür ist es zu spät.“, stieß er hervor. Das war es schon seit sie sich dazu entschlossen hatten, Gin zu benutzen, um ihn aus der Reserve zu locken. Niemals würde Rye ihnen das verzeihen. Er würde sie alle in Stücke reißen. Sie sollten brennen und elendig in der Hölle schmoren. „Ach so? Sag nicht, du bist sauer wegen deiner süßen Prinzessin? Das kann dir doch eigentlich auch egal sein. Schließlich hast du-“ „Schnauze!“, unterbrach Rye den Kerl mit zornentbrannter Stimme. „Er hat nichts damit zu tun!“ Dieser sah ihn daraufhin nur unbeeindruckt an, bevor er erwiderte: „Damit liegst du nicht ganz richtig. Du konntest dir doch denken, dass dein kleiner Ausflug in die Freiheit nicht von langer Dauer sein wird. Trotzdem hast du dich ihm genähert und ihn in unser kleines Geheimnis eingeweiht. Indem du die ganze Zeit über bei ihm gewesen bist, hast du ihn automatisch der Gefahr ausgesetzt, dass wir euch eines Tages zusammen finden werden. Und natürlich machen wir uns deinen verwundbarsten Punkt zunutze. Alles andere wäre nicht sonderlich effektiv, um dir bewusst zu machen, was du angerichtet hast und was du dir vor allem selbst zuzuschreiben hast. Dein Verrat muss und wird entsprechend bestraft werden.“ Nach dieser Erklärung ließ er seinen Blick kurz zu Gin schweifen und fügte in amüsierter Tonlage hinzu: „Ich muss schon sagen, du hast wirklich einen sehr speziellen Männergeschmack.“ Rye wusste nicht, was er sagen oder wie er reagieren sollte. Schock und Entsetzen schlugen nahezu mit der Wucht einer Flutwelle über ihm zusammen. Er wollte den Worten widersprechen. Es abstreiten. Doch er konnte nicht. Denn sie waren wahr. All das Leid und die Schmerzen, die Gin hatte erfahren müssen, waren einzig und allein ihm verschuldet. Er war die Ursache aller Probleme. „Wenn ich mich damals von ihm ferngehalten hätte, wäre Eclipse niemals auf ihn aufmerksam geworden. Ich habe ihm immer nur Unglück gebracht. Und wenn das so weiter geht, werde ich ihn irgendwann noch ins Verderben stürzen…“ Sein totes Herz zerbrach bei dieser Erkenntnis. Plötzlich verloren seine gemeinsamen Erinnerungen mit Gin restlos an Bedeutung. Seine Liebe zu ihm verlor an Bedeutung. Es hätte niemals so sein dürfen… „Ich hab sein Leben ruiniert… ihn mehrmals fast getötet… ich verdiene es nicht länger an seiner Seite zu sein… nie wieder…“ Seine Lippen bebten stumm. Ihm wurde kalt. So unerträglich doll kalt. Er konnte sich kaum noch auf das Gespräch konzentrieren, welches der blonde Kerl nun von selbst fortführte. „Um zurück zum eigentlichen Thema zu leiten… Ich frage dich geradeheraus: Bist du willig mit uns zurückzukommen, 12?“ Rye versuchte sich aus dem Dunst der Verzweiflung zu befreien und antwortete noch leicht abwesend: „Warum sollte ich?“ Es gab keinerlei Gründe, warum er zurückkehren sollte. Eclipse hatte ihm alles genommen. Sein Leben. Seine Persönlichkeit. Seine Erinnerungen. Sogar seinen Namen hatten sie ihm gestohlen und durch eine bedeutungslose Nummer ersetzt. Und jetzt wollten sie ihm auch noch den letzten Sinn seiner Existenz wegnehmen. Auf keinen Fall würde er nochmal einen Fuß in diese Organisation setzten. Wie auch immer das beim ersten Mal hatte passieren können. „Weil du zu uns gehörst. Dein Platz ist in Eclipse. Das hast du dir selbst ausgesucht.“, antwortete der Mann tonlos. Rye glaubte ihm nicht und schüttelte den Kopf. Das war gelogen. Kompletter Unsinn. Niemals hätte er das selbst so für sich entschieden. „Hab ich nicht…“, bestritt er leise. „Natürlich hast du das. Der Boss ist sicherlich bereit dazu, über deinen Verrat hinwegzusehen, wenn du ihn aufrichtig um Vergebung bittest und ihm von Neuem deine Loyalität schwörst. Ich gebe das nur ungern zu, doch du scheinst dir offenbar nicht darüber im Klaren zu sein, wie kostbar du für uns bist. Du bist eine Sensation. Der erste Erfolg von jahrzehntelangen Forschungen. Dieses Privileg steht sonst niemandem außer dir zu. Du solltest es wertschätzen.“ „Wertschätzen?“ Rye wurde umgehend erneut von einer Wutwelle erfasst. „Ihr habt ein Monster aus mir gemacht!“ Der Kerl schien nicht nachvollziehen zu können, wie er das gemeint hatte und legte verwirrt den Kopf schräg. „Monster? Nein. Wir haben aus dir ein übergeordnetes Wesen gemacht, welches dem Menschen mit all seinen Fähigkeiten um Längen voraus ist. Das ist der Höhepunkt der Evolution, 12. Der Anfang einer neuen, besseren Welt. Das Tier mit dem Namen Mensch wird nicht länger an der Spitze der Nahrungskette existieren. Komm mit uns zurück und erlebe, wie diese Welt in all ihren Farben aufblühen wird.“ Rye hörte dem Gerede aufmerksam zu, wobei der Zorn in seinem Inneren immer größer wurde und er sich kaum noch beherrschen konnte, ruhig zu bleiben. Nie würde er das, was er war, aus dem gleichen Blickwinkel betrachten, wie diese Kerle es scheinbar taten. Eine Welt voll von Vampiren war für ihn keine neue, bessere Welt. Es war eine Schreckensvision, die unter keinen Umständen wahr werden durfte. Er würde das mit allen Mitteln zu verhindern suchen. „Ich scheiß auf diese neue Welt! Ich komme nicht mit euch zurück, niemals, verstanden?! Und ich werde euren Boss auch nicht um Vergebung bitten!“, sprudelte es unkontrolliert aus ihm heraus. Seine Grenze war überschritten. Er wollte das hier einfach nur noch beenden und die Existenz dieser elendigen Biester restlos auslöschen, bevor er mit Gin von diesem Ort verschwinden würde. Die Atmosphäre im Gang schien sich mit seinem letzten Wort schlagartig zu verändern. Eine Weile herrschte eine drückende, angespannte Stille. Die Gesichter seiner Gegner wurden ernster. Er konnte den Hass auf sich deutlich in ihren kalten Augen spüren. Den Willen, ihn ebenso zu zerstören. Schließlich sprach der Blonde im bedauernden Tonfall: „Verstehe, wenn das so ist… müssen wir dich leider beseitigen.“ In der nächsten Sekunde gingen sie auf Rye los. Sie waren schnell. So viel schneller als Menschen. Doch er konnte jede ihrer Bewegungen haargenau abschätzen. Jeden ihrer Schritte mit den Augen verfolgen. Und so auch rechtzeitig reagieren und einen von ihnen mitten im Sprung rammen, bevor er den Kerl packte und zur Seite warf, sodass er aus dem Kreis ausbrechen konnte und den Rücken wieder frei hatte. Kaum stand er wieder, griffen sie ihn erneut an. Rye versuchte auszuweichen, jedoch schnitt ihm jemand den Weg ab und trat mit voller Wucht gegen seinen Rücken. Er verlor den Halt und rollte über den Boden, bis er an eine Glastür am anderen Ende des Flurs knallte. Blitzschnell richtete er sich auf. Allerdings nicht schnell genug. Einer der Kerle schaffte es, seinen Hals zu ergreifen und ihn mehrmals mit dem Kopf gegen die Tür zu schlagen, wobei er das knackende Geräusch von Glas hinter sich vernehmen konnte. Zwar fühlte er keinen Schmerz, bemerkte jedoch, dass sein Kopf immer mehr nach oben gedrückt wurde, als würde man diesen von seinem Hals trennen wollen. Rye spreizte seinen Mittel- und Zeigefinger zu einer Schere und versuchte seinem Gegenüber die Augen auszustechen. Dieser kniff rechtzeitig die Augen zu, war aber von dem Angriff ausreichend abgelenkt, dass Rye ihn von sich wegstoßen konnte. Nur um daraufhin von zwei anderen den Weg versperrt zu bekommen. Doch es waren insgesamt nur drei. Es müssten vier sein. Er hatte den Vierten aus den Augen verloren. Rye versuchte die Wegsperre zu durchbrechen, woraufhin er erschrocken feststellen musste, dass der vierte Kerl mit den schwarzen Haaren noch am gegenüberliegenden Ende des Gangs war. Bei Gin. Kurz davor, ihn zu… „Nein!!“, brüllte Rye, während er durch den Gang stürmte und dem Kerl von hinten in die Schultern krallte, um ihn anschließend von Gin wegzuschleudern. Gerade noch im richtigen Moment. Er bemerkte, dass das derselbe Mann war, der seinen Geliebten schon bei seiner Ankunft gequält hatte. Plötzlich fixierte sich Ryes Wut nur noch auf genau diesen Mann. Er blendete alles um sich herum aus und griff ihn an. Packte seinen Hals und ließ seinen Körper auf den Boden krachen. Er wollte ihn zuerst töten. Aber wie? Konnten sich Vampire überhaupt gegenseitig töten oder würde sich dieser erbitterte Kampf für immer ohne Ergebnis fortsetzen? „Ich muss es versuchen… irgendwie wird es möglich sein…“, beschloss Rye. Doch bevor er diesen Entschluss in die Tat umsetzen konnte, wurde er von jemandem brutal in die Seite getreten und er flog gegen die Wand, welche von dem starken Aufprall einige Risse bekam. Es war einfach zu mühselig, sich auf vier Gegner gleichzeitig zu konzentrieren. Zudem schienen sie allmählich zu begreifen, dass er leichter abzulenken war, wenn sie Gin in die Sache mit einbezogen. Gerade täuschte wieder jemand einen Angriff auf seinen Geliebten vor. Und weil sich Rye nicht sicher sein konnte, ob es wirklich nur eine Täuschung war, musste er es so schnell wie möglich verhindern. So konnte das nicht weitergehen. Auf diese Weise wäre er immer im Nachteil und Gin in dauerhafter Lebensgefahr. Was, wenn er wirklich mal zu langsam reagierte und sie es schafften, den Silberhaarigen tödlich zu verletzen? „Vielleicht wäre es klüger, ihn erst mal von hier wegzubringen und zu fliehen… später, wenn ich ihn in Sicherheit gebracht habe, kann ich mich diesen Typen immer noch stellen…“, überlegte Rye im Bruchteil einer Sekunde. Das wäre womöglich die beste Entscheidung. Aber dafür musste er die Gelegenheit für eine Flucht zuerst bekommen. Im Moment sah es schlecht aus. Seinen Gegnern gelang es immer wieder, Lücken in seiner Verteidigung zu finden und ihn zu Fall zu bringen.   Gin beobachtete stillschweigend und mit anhaltenden Sorgen, wie Rye und die anderen vier Vampire miteinander kämpften. Zumindest versuchte er es. Denn das meiste konnte er nicht sehen, weil die Bewegungen viel zu schnell für das menschliche Auge waren. Etwas anderes, als an der verschlossenen Tür zu lehnen und sein gebrochenes Bein mit beiden Händen zu umklammern, blieb ihm leider nicht übrig. Sich in den Kampf einzumischen wäre Selbstmord und in seinem Zustand konnte er ohnehin nichts ausrichten. Dabei wollte er Rye so gern irgendwie helfen, welcher sich die ganze Zeit schon im Nachteil befand. Allein schon, weil die Kerle in der Überzahl waren. „Wenn ich nicht hier wäre, hätte er es mit Sicherheit leichter… so muss er ständig auf mich achten…“ Einerseits fühlte sich Gin hilflos und wie eine Last für Rye, doch andererseits würde er es nicht ertragen können, unwissend an einem anderen Ort zu sein, während seinem Geliebten in jeder Sekunde etwas zustoßen könnte. „Aber… können sie sich wirklich gegenseitig umbringen?“ Diese Frage hatte er sich in den vergangenen Minuten immer wieder gestellt. Auch wenn er währenddessen mehrere Male um Ryes Leben gefürchtet hatte, war bisher noch niemand zu Schaden gekommen. Egal, wie unerbittlich und heftig der Kampf an manchen Stellen gewesen war. Ein wenig erinnerte es Gin an eine Art Tanz. Wie ein erbarmungsloses Ballett. Sie bewegten sich rasend schnell und elegant, doch zugleich waren einige Angriffe so brutal, dass es so wirkte, als würden wilde Raubtiere miteinander kämpfen. Und jedes Mal aufs Neue wurde Gin von einem gewaltigen Schauer der Angst übermannt, sobald eines dieser Raubtiere ihm zu nah kam. Wenn auch nur mit der Absicht, Rye aus dem Konzept zu bringen. Dessen Konzentration hatte aus diesem Grund immer mehr nachgelassen, sodass es Pierre gelang, ihn von hinten in den Schwitzkasten zu nehmen und seinen Kopf gewaltsam nach hinten zu reißen. Beinahe glaubte Gin, soeben ein hartes Knacken gehört zu haben. So, als würde Gestein zerbrechen. Sofort stieg eine neue Angst vor Verlust in ihm auf. Rye versuchte sich mitsamt seiner Kraft aus der Mangel zu befreien. Doch er schaffte es einfach nicht. Die Kerle hielten ihn fest. Von Panik übernommen sah sich Gin hastig im Flur um. Irgendwas musste er tun. Irgendwas, um die anderen Vampire abzulenken. Sein Blick blieb an seiner Beretta hängen, welche ein paar Meter vor ihm auf dem Boden lag. Ohne weiter nachzudenken, beugte sich Gin nach vorn und kroch möglichst schnell und geräuschlos zu seiner Waffe. Dabei versuchte er zwar, sein Körpergewicht nicht auf seine gebrochenen Knochen zu lagern, allerdings durchfluteten ihn dennoch dutzend stechende Schmerzen, die er irgendwie ignorieren musste. Er setzte sich vorsichtig hin, zog sein gebrochenes Bein nach vorn und nahm die Waffe in die Hand, bevor er sie auf Pierre richtete und schoss. Natürlich durchbohrte die Kugel nicht dessen Kopf, sondern prallte lediglich an seiner steinharten Haut ab. Doch danach verharrten alle wie Statuen. Gin hielt den Atem an. Sein Herz begann zu hämmern, als würde es die Aufmerksamkeit der Kerle nur zusätzlich auf sich lenken wollen. Er ließ langsam seine Hand sinken und steckte die Waffe weg, sobald sie ihre Blicke auf ihn gerichtet hatten. Aber das war Gin jetzt auch egal. Denn im folgenden Moment geschah genau das, was er hatte bezwecken wollen: Pierre ließ Rye los, um stattdessen in seine Richtung zu sausen. Gin kniff automatisch die Augen zu und bereitete sich innerlich in den letzten Bruchteilen der Sekunde auf den gnadenlosen Biss dieser scharfen Fangzähne vor, die ihn unweigerlich ins Jenseits befördern würden. Doch es verging mehr als eine Sekunde. Zwei. Drei. Vier. Lediglich ein tiefes Knurren war zu hören, welches sich mit einem anderen vermischte. Dann das Quietschen des Bodens. Das zerbröckelnde Geräusch der Wände. Und plötzlich zerbrach etwas mit einem entsetzlichen, metallischen Krachen. Gin öffnete die Augen und weitete diese vor Schock, als er den schweren weißen Klumpen erblickte, welchen Rye an schwarzen Haaren in seiner Hand festhielt. Pierres Kopf. Getrennt von seinem Körper. Rye schien es selbst kaum wahrhaben zu können, was er soeben getan hatte. Die anderen wirkten wie versteinert, während sie ihn entsetzt anstarrten. Mehrere Sekunden vergingen in Stille, bis Rye auf einmal anfing, laut zu lachen. „Verstehe…“, sagte er erheitert. „So einfach war das also die ganze Zeit…“ Doch seine Tonlage klang nicht so, als sei er darüber erfreut, dem Leben von einem anderen Vampir ein Ende bereitet zu haben. Sondern eher darüber, dass er herausgefunden hatte, wie er seinem eigenen Leben ein Ende bereiten konnte. Die Sehnsucht nach dem Tod war in seiner Stimme nicht zu überhören. „Du bist tot, 12! Du bist verdammt nochmal so gut wie tot!“, brüllte einer der Blondhaarigen mit hasserfüllter Stimme. „Das wirst du bereuen!!!“ Doch Rye lachte weiter. Er schmiss ihnen den Kopf achtlos vor die Füße. „Ich bitte darum.“, erwiderte er, während er die Arme ausstreckte und die Augen schloss. „Bereitet meinem Dasein endlich ein Ende.“ Dieses plötzlich veränderte Verhalten brachte die restlichen drei Kerle zum Zögern. Gin hingegen wurde erfüllt von panischer Bestürzung und einem tiefen Herzschmerz. Das war ernst gemeint gewesen. Rye wollte sterben. Er wollte nichts mehr als das. „Nein…“, hörte Gin seine fassungslose Stimme in Gedanken. Am liebsten würde er schreien, doch es wich kein einziges Wort über seine Lippen. Wollte Rye ihn wirklich auf diese Weise verlassen? Hatte er damals etwa gelogen, als er sagte, er würde für immer bei ihm bleiben? Wie konnte er… Gin blieb keine Zeit, die Situation vollständig zu verarbeiten. Ehe er überhaupt nach Antworten auf die Fragen in seinem Kopf suchen konnte, waren die Kerle längst losgestürmt. Es geschah alles so unbeschreiblich schnell. Er sah sie nicht mehr. Nur Rye konnte er noch sehen. Wie dieser sehnlichst auf sie wartete und sie mit offenen Armen empfing. Doch kaum einen Augenblick später war auch er verschwunden. Das Krachen der Decke verriet Gin, dass sein Geliebter womöglich hoch in die Luft gesprungen war, bevor seine Feinde ihn hatten erreichen können. Fast zeitgleich flogen drei verschwommene Kreaturen nacheinander weit durch den Gang. Den ersten hatte Rye vermutlich sogar noch im Sprung weggetreten. So genau hatte es Gin nicht erkennen können. Noch bevor die Szene vor seinen Augen wieder scharf wurde, stand Rye urplötzlich vor ihm. Gin blickte erschrocken in sein gekränktes Gesicht. „Es tut mir so leid…“, flüsterte er mit gebrochener Stimme, die dem Silberhaarigen ein Stich durchs Herz jagte. Rye schob einen Arm unter Gins Beine und hob ihn vorsichtig hoch. „Alles wird wieder gut, ich versprech‘s…“ Gin klammerte sich so fest an ihn, wie er konnte und wie es seine Schmerzen erlaubten. Es war so ein erleichterndes Gefühl, endlich wieder so nah bei Rye zu sein. Er glaubte dessen Worten und fühlte sich umgehend sicherer. Nie wieder wollte er ihn loslassen. Egal, wohin sie jetzt gehen würden. Egal, was danach alles passieren würde. Solange sie zusammen waren, nahm Gin jedes kommende Ereignis in Kauf. Denn gemeinsam konnten sie alles überwinden. Es gab immer Wege. Auswege, die in die Freiheit führten. In ein Leben mit einem guten Ende. Keinesfalls so einem wie diesem hier. Heute war nicht der richtige Tag, um zu sterben. Und schon gar nicht wegen Eclipse. Das hoffte Gin zumindest in diesem winzig kleinen Moment, in welchem Rye ihn durch den Flur nach draußen tragen wollte. Doch bis dahin kamen sie nicht mehr. „Ihr wollt uns doch nicht etwa schon verlassen?“, hörte Gin eine Stimme, von der er nicht wusste, woher genau sie kam. Ihm konnte die Bedeutung dieser Frage erst gar nicht bewusst werden. Dass sie zu langsam gewesen waren. Es verging nicht mal eine Sekunde, bis Gin spürte, wie sie seitlich von etwas mit sehr hoher Geschwindigkeit gerammt wurden und Rye anschließend plötzlich in eine andere Richtung rannte. Nein. Falsch. Rye rannte nicht mehr. Sie flogen. Sie flogen durch das große Fenster, welches klirrend zerbrach. Die Scherben regneten zu Boden, auf dem sie unmittelbar darauf landeten. Gin konnte nichts von all dem verarbeiten. Da war nur die Kälte von Ryes Körper. Und Schmerz. So viel Schmerz, dass der Silberhaarige auch den letzten Rest seiner Wahrnehmung verlor. Er spürte wie sich Glassplitter in seine Haut bohrten. Eine warme Nässe breitete sich in seinem Haar aus und lief an seinem Kopf hinab. Die Sicht eines seiner Augen wurde rot und fing an zu brennen. Abwesend wischte er sich mit der Hand das Blut aus dem Gesicht, während sein anderes Auge gerade noch so erkennen konnte, wie Rye scheinbar von hinten angegriffen wurde. Seinem Geliebten gelang es aber im letzten Moment den Angriff abzuwehren. Dann war er verschwunden. Gin versuchte sich zu bewegen, bemerkte dabei allerdings, dass die in seinem Körper steckenden Glasscherben seine Schmerzen mit jeder Bewegung um ein Vielfaches verschlimmerten. Er rollte sich auf dem Bauch und ließ seine Hand zitternd zu seinem rechten Oberarm wandern. In dem Vorhaben, eine Scherbe herauszuziehen. Doch er schaffte es nicht. Seine Gliedmaßen erschlafften nahezu wie von selbst, sodass er völlig reglos auf dem Boden verweilte. Nicht wissend, was um ihn herum geschah und ob mit Rye noch alles in Ordnung war. Gin fielen die Augen zu. In seinen Ohren rauschte es. Alles drehte sich. War nicht länger ein Teil der Realität, sondern viel mehr von einer Welt, die sich irgendwo im Hintergrund seiner Wahrnehmung abspielte und in diesem Moment unerreichbar für ihn war. Er fühlte sich wortwörtlich tot. Und er zweifelte nicht im geringsten daran, dass er das auch bald sein würde. Irgendwie musste er gegen dieses Gefühl ankämpfen. Er durfte sich nicht von der einkehrenden Bewusstlosigkeit mitreißen lassen. Noch waren seine letzten Sekunden nicht gezählt. Noch hatten sie vielleicht eine Chance. Rye konnte es schaffen. Er war stark genug, um die restlichen Kerle zu besiegen. Eclipse würde ihn niemals in die Knie zwingen. Gin blinzelte benommen und hob vorsichtig den Kopf. Seine Sicht war noch immer rot-verschwommen. In den kurzen Zeitspannen, in denen er auf einem seiner Augen klar sehen konnte, registrierte er, dass sich der Kampf unerbittlich fortsetzte. Wer am gewinnen oder verlieren war, wusste Gin nicht. Er hörte lediglich ab und zu ein hartes Knacken oder Krachen, immer dann, wenn einer von ihnen einen Fehler zu machen schien. Doch solange der Kampf nicht unterbrach, handelte es sich wohl bloß um kleine Fehler. Gerade als es Gin gelang, sich wenigstens ein bisschen auf die Bewegungen der Vampire zu konzentrieren, erregte auf einmal ein anderes Geräusch seine Aufmerksamkeit. Schritte. Langsame Schritte. Die Glasscherben knacksten unter den Fußsohlen der unbekannten Person, die immer näher auf ihn zu kam. Gin wollte den Kopf zur Seite drehen, doch da stand die Person bereits vor ihm. Ein paar Meter entfernt konnte er ein schwarzes Paar Schuhe erkennen. Es gehörte einem Mann. Gins Blick wanderte nach oben. „Wer ist das…?“, schwirrte es ihm durch den Kopf. Ungefähr Anfang 50. Autoritärer Kleidungsstil. Weiße, nach hinten gekämmte, kurze Haare. Betonte Wangenknochen. Blaue, von Kälte gezeichnete Augen. Gin hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen. Doch ihm fiel nach und nach auf, dass dessen Aussehen keinesfalls dem eines Vampirs glich, sondern… „Das ist ein Mensch…“, wurde ihm überrascht bewusst. Sofort setzte sein Verstand wieder ein und er ignorierte alle Beschwerden seines Körpers, um nach seiner Waffe zu greifen und diese auf den Fremden zu richten. „Oh je. Sie haben dich ja ganz schön zugerichtet… dabei habe ich Ihnen extra gesagt, sie sollen nicht so streng mit dir umgehen. Aber was soll man machen… diesen Wesen mangelt es leider noch ein wenig an Beherrschung. Wie ich sehe, nimmst du mir ihr grobes Verhalten sehr übel.“, sprach der Mann in einer rauen, beschwichtigenden Tonlage, von der sich Gin jedoch nicht täuschen ließ. Er warf dem Mann einen abschätzigen Blick zu und senkte seine Waffe weiter nach unten, als dieser sich zu ihm herunterbeugte. „Die Umstände tun mir wirklich leid. Du musst wissen, es war nie meine Absicht, dass du verletzt wirst.“ Gin ignorierte das Geschwafel. Er hatte bereits eine Vermutung, wer diese Person war. Und trotzdem wollte er es nicht wahrhaben. Nie hätte er gedacht hier wirklich auf diese Person zu treffen. „Wer sind Sie?“ Er würde es erst glauben, wenn der Mann es mit eigenen Worten selbst bestätigte. Doch das passierte nicht sofort. „Nimm zuerst das Ding runter, dann können wir uns unterhalten.“, wich er vorerst aus. Gin hörte nicht auf ihn, was dazu führte, dass sein Arm irgendwann anfing zu zittern, weil seine Muskelkraft ihn nach und nach verließ. Das schien auch der Mann zu bemerken und er legte seine Hand auf den Lauf der Pistole, bevor er sie langsam herunterführte. Warum Gin das einfach so zuließ, konnte er sich nicht erklären. Es war, als wäre sein Finger am Abzug schlichtweg gelähmt. „Das überanstrengt dich doch nur.“, kommentierte der Mann die Geste mit besorgter Stimme. Eine Weile konnte Gin ihn nur schweigend anstarren, wobei er jetzt wieder hörte, wie Rye und die anderen nach wie vor im Hintergrund kämpften. Und obwohl dies eigentlich seine vollständige Aufmerksamkeit erfordern sollte, konnte er sich einzig und allein bloß noch auf den Mann vor ihm fixieren, welcher ihn nun anlächelte und begann, sich vorzustellen: „Mein Name ist Geffrey Connor. Ich leite seit einigen Jahren jene Organisation, die du unter dem Namen Eclipse kennst. Es freut mich außerordentlich, dich endlich persönlich kennenzulernen, mein lieber Jin Kurosawa.“ Die Worte ließen irgendwas in Gin gefrieren. Dieser Mann war tatsächlich der Anführer von Eclipse. Aber woher wusste auch er seinen Namen? „Diese Freude kann ich leider nicht teilen.“, antwortete Gin mit schwacher Stimme. Sogar das Sprechen strengte ihn zu sehr an. Dem Boss entwich ein leises Lachen. „Wie schade.“ Er nahm Gins Gesicht in seine Hände und musterte ihn für mehrere Sekunden mit wachsendem Interesse in den Augen. „Wirklich verblüffend, wie ähnlich du ihm siehst…“ Der Silberhaarige wollte sich den fremden Händen entreißen, doch er war zu schwach und die Schmerzen hielten ihn davon ab. Je mehr Versuche er startete, umso weiter verließen ihn auch seine letzten Kräfte. Schon nach kurzer Zeit waren die Hände des Bosses eher zu einer Stütze für seinen Kopf geworden, da er ihn sonst nicht mehr aufrecht halten könnte. Erst nachdem er aufgegeben hatte, fiel Gin auf, dass sich der Boss dem Geschehen hinter ihnen gewidmet hatte. Doch es war plötzlich so still geworden, was den Silberhaarigen stutzig werden ließ. Ging es Rye gut? War er verletzt? Oder vielleicht etwa… „Das wurde auch mal langsam Zeit.“, sagte der Boss zufrieden. Als Gin ihn lediglich fragend anschaute, lächelte Connor ihn im Augenwinkel an und fuhr fort: „Die Nummer 12 besitzt in der Tat eine sehr beeindruckende Stärke. Aber diese Stärke reicht bedauerlicherweise nicht aus… Schau selbst.“ Er lenkte Gins Kopf vorsichtig in Ryes Richtung. Dieser kniete auf dem Boden, während seine Arme und Beine von zwei Kerlen festgehalten wurden. Der Dritte hatte die Hände um seinen Kopf gelegt. Jeder Zeit bereit, ihn zu enthaupten… Gin fing an zu zittern. Er traute seinen Augen nicht. Das konnte unmöglich passiert sein. Wie? Wie nur? Wie war es ihnen gelungen, Rye in solch eine ausweglose Situation zu bringen? Sie würden ihn töten. Seine Existenz auslöschen. Gin würde ihn für immer verlieren. Der Schock dieser erschütternden Erkenntnis war weitaus größer als alle Schmerzen, die seinen Körper quälten. „Was für eine Verschwendung. Doch wenn er sich uns nicht anschließen will, muss er eben die Konsequenzen tragen.“ „N-Nein…“, brachte Gin über die Lippen. Allerdings wurde seiner Stimme keine Beachtung geschenkt. Stattdessen nickte der Boss seinen Untergebenen zu, woraufhin der dritte Kerl anfing, Ryes Kopf gewaltsam nach hinten zu reißen. Gins Atem setzte auf der Stelle aus. Seine Augen weiteten sich so sehr, dass er glaubte, sie würden ihm herausfallen. Er wollte aufstehen und die Kerle aufhalten. Doch seine Hände und Füße scharrten lediglich kraftlos über den Boden und wollten ihm einfach nicht gehorchen. Hilflos musste Gin mit ansehen, was seinem Geliebten angetan wurde und wie dessen Hals nach und nach Risse bekam, welche sich immer weiter über die steinerne Haut zogen… „Nein, nein, bitte nicht, hört auf!!“, flehte er. Seine Stimme schallte durch die Stille. Niemand reagierte. Ryes Hände verkrampften sich und er zitterte am ganzen Leib, während die Risse bereits sein Kinn erreichten. Gin bekam das Gefühl sich zu verlieren. „AUFHÖREN!!“, krächzte er. Tränen wichen ihm aus den Augen. Er konnte nicht mehr. Am liebsten würde er sein Leben einfach gegen das von Rye tauschen. In einer Welt ohne ihn hätte sowieso rein gar nichts mehr einen Sinn… Da hob der Boss auf einmal die Hand, woraufhin seine Untergebenen zum Glück verharrten und der Griff um Ryes Kopf etwas gelockert wurde. Gin fiel umgehend ein Stein vom Herzen. Mit einem Lächeln auf den Lippen wandte sich der Boss ihm zu und fragte: „Du liebst ihn wirklich sehr, nicht wahr?“ Diese Tatsache schien ihn zu amüsieren. „So sehr, dass du alles dafür tun würdest, damit sein Leben verschont bleibt?“ Gin nickte vorsichtig, ahnte aber innerlich, dass Connor diese Reaktion von Anfang hatte bezwecken wollen, um eines seiner eigentlichen Motive in die Tat umsetzen zu können. Der vorgetäuschte Anruf. Das Treffen. Ryes Gefangennahme und dessen vermeintliche Hinrichtung. All das war Teil eines Plans gewesen. Und Gin blieb nichts anderes übrig, als sich an diesen Plan zu halten. Denn tat er das nicht, würde Rye unweigerlich mit seinem Leben dafür bezahlen. „Wirklich alles?“ Gin nickte ein zweites Mal, was allerdings nicht zu genügen schien. „Sag es mir.“, verlangte der Boss mit einem bedrohlichen Klang in der Stimme, der den Silberhaarigen erschaudern ließ. „Ich tue alles… nur bitte… lasst ihn in Ruhe…“, wimmerte er. „Ein Leben erfordert ein gleichwertiges Tauschangebot, verstehst du?“ Noch immer war es Gin ein Rätsel, was um alles in der Welt Eclipse von ihm wollte oder was er ihnen geben könnte. Er besaß nichts, was wertvoller als Ryes Leben war. Das glaubte er zumindest. Denn wenn der Boss derselben Ansicht wäre, hätte er Rye längst umbringen lassen. „Was wollt ihr im Gegenzug für sein Leben?“, fragte Gin. Seine Bereitwilligkeit brachte Connors Augen vor Freude zum Leuchten. Seine Finger strichen liebevoll Gins Wangen entlang, bevor er im geheimnisvollen Tonfall erwiderte: „Es gibt da tatsächlich etwas, was du uns geben kannst…“ „Das wäre?“, hakte Gin nach. Der darauffolgende Moment, wie sich der Boss weiter zu ihm herunterbeugte und ihm dabei tief in die Augen blickte, zog sich für den Silberhaarigen beinahe wie eine Ewigkeit in die Länge. „Ich möchte von dir…“, begann Connor schließlich. „Das Elixier des ewigen Lebens. Die letzte fehlende Zutat für die Vervollständigung unserer Rasse.“ Verwirrung breitete sich in Gin aus. Mit dieser Forderung konnte er nichts anfangen. Das ewige Leben? Wie? Woher? „Das… geht nicht… so etwas hab ich nicht!“, gestand er. Bis jetzt hatte er sogar bezweifelt, dass es dieses Elixier überhaupt noch gab. Wie konnte der Boss ausgerechnet das von ihm wollen? Er hatte doch gar nichts damit zu tun. „Du vielleicht nicht. Aber dein törichter Vater hat es.“ Gin erstarrte. Sein Verstand setzte urplötzlich aus. Vater? Er hatte keinen Vater. Er hatte noch nie einen Vater gehabt. Da gab es nur… „Nein… das… kann unmöglich sein…“ Auf keinen Fall hatte der Boss damit diese Person gemeint… „Was denn? Hat er dir etwa nicht erzählt, dass er dein leiblicher Vater ist und er deine Mutter damals in den Selbstmord getrieben hat?“, fragte dieser nun verwundert. Gin konnte nicht fassen, was er da hörte. Das war eine Lüge. Irgendein Trick, um ihn in die Irre zu führen. Dieser Kerl konnte seine Eltern doch gar nicht kennen. Woher sollte er also irgendwas über sie wissen? Renya Karasuma war mit Sicherheit nicht sein leiblicher Vater. Warum hätte dieser ihn all die Jahre lang anlügen sollen? „Wenn er wirklich mein Vater wäre, dann hätte er mich nie so herablassend behandelt, oder…? Und warum hätte er meine Mutter…“ Gin betete in Gedanken so fest er konnte, dass das alles nicht der Wahrheit entsprach. Doch umso länger er über seine Kindheit, seine Jugend und weitere Abschnitte seines Lebens nachdachte, desto mehr fing er aus unerklärlichen Gründen an, dem Boss von Eclipse Glauben zu schenken. Es fühlte sich so verletzend an. Eigentlich hatte sich die eiskalte, abweisende Art von Renya Karasuma schon immer verletzend angefühlt. Wie oft war er seinetwegen als Kind am Boden zerstört gewesen? Hatte geweint. Sich Vorwürfe gemacht. Die Fehler bei sich selbst gesucht. All das nur wegen eines vermeintlich fremden Mannes, der ihn lediglich aus reiner Gutmütigkeit bei sich aufgenommen hatte. Doch wenn genau dieser Mann tatsächlich sein Vater war, bekamen sämtliche Konflikte und Demütigungen eine vollkommen andere Bedeutung. Insbesondere der Hass, den Renya Karasuma anfangs gegenüber ihm empfunden hatte. Dann wäre Gin nicht von einem Fremden gehasst worden, sondern von seinem eigenen Vater… Sein entsetztes Schweigen beantwortete die Frage des Bosses, die er mittlerweile fast vergessen hatte, scheinbar von selbst. „Dachte ich mir. Das passt zu ihm.“, meinte Connor, bevor er wieder zum eigentlichen Thema überleitete: „Jedenfalls möchte ich, dass du uns das Elixier von ihm besorgst. Da du ihm so nah stehst, sollte dir das doch bestimmt nicht schwerfallen, oder?“ „Ich steh ihm nicht nah…“, entgegnete Gin tonlos. Er hatte sich noch nie zuvor weiter entfernt von diesem Mann gefühlt. „Und dennoch wird es dir nicht schwerfallen, korrekt?“ Die strengere Tonlage des Bosses ließ den Silberhaarigen plötzlich wieder bewusst werden, worum es gerade eigentlich ging. Was auf dem Spiel stand und was er in jedem Moment verlieren könnte… „Nein, Gin! Du darfst es ihm nicht geben! Niemals, hast du verstanden?!“, schrie Rye im Hintergrund. Damit lag er richtig. Eclipse durfte das Elixier des ewigen Lebens nicht in die Hände bekommen. Doch als Ryes Kopf erneut ruckartig nach hinten gerissen wurde, erinnerte sich Gin schnell daran, dass dies im Augenblick keine Rolle spielte. Sein Geliebter war wichtiger als irgendein dummes Elixier. „Hör nicht auf ihn.“, riet der Boss ihm. „Du willst doch, dass er am Leben bleibt, nicht wahr?“ Natürlich. Es gab nichts, was Gin mehr wollte. Er beantwortete die Frage mit einem stillen Nicken, woraufhin sein Gegenüber vorschlug: „Dann lass uns zusammen eine Abmachung treffen. Ich verspreche, dass ich das Leben der Nummer 12 verschonen werde, wenn du mir im Austausch dafür das Elixier des ewigen Lebens gibst. Einverstanden?“ Gin zögerte. Zwar hörte sich das nach einem relativ fairen Tausch an, doch bei Leuten von Eclipse konnte man wohl nie vorsichtig genug sein. An der Abmachung gab es bestimmt irgendeinen Haken oder mehrere Interpretationsmöglichkeiten. „Glaub mir, ich bin ein Mensch, der seine Versprechen hält. Ich habe noch nie ein Versprechen gebrochen.“, fügte der Boss mit Nachdruck in der Stimme hinzu. Vielleicht sagte er die Wahrheit. Vielleicht schätzte Gin ihn trotz seiner abartigen Ansichten und Motive völlig falsch ein. Doch das würde er nie zu hundert Prozent wissen können. Nur leider blieb ihm keine andere Wahl. Er konnte die Bedienungen der Abmachung höchstens etwas präzisieren. „Er bleibt bei mir.“, stellte Gin klar, um sichergehen zu können, dass sie Rye nicht trotzdem von ihm trennen würden. „Das lässt sich einrichten.“ Die Antwort des Bosses wirkte so, als hätte er bereits Pläne, was ihre zukünftige Zweisamkeit betraf. Aber es schien ihm nichts auszumachen, diese Pläne ein wenig zu ändern. Auch wenn Gin das nur sehr ungern tat und er eine Falle witterte, beschloss er, auf die Worte zu vertrauen. „Dann… ja…“, willigte er schließlich ein. „Was ja?“ „Ich verspreche es…“ „Sehr gut. Dann ist es endgültig.“ Somit gab es kein Zurück mehr. Das Versprechen war in Stein gemeißelt und galt von nun an solange, bis einer von ihnen den Stein zerbrach, um die Bedienungen darauf zu vernichten. Oder bis andere, äußere Faktoren diesen Stein zerbrechen würden. So wie Rye es jetzt tat, indem es ihm wie durch ein Wunder gelang, sich aus den festen Griffen der drei Kerle zu befreien. Einen riss er noch im gleichen Moment zuerst die Hände und kurz darauf den Kopf ab, bevor mit den restlichen beiden ein neuer Kampf entflammte. Doch der Boss blieb trotz dieser überraschenden Wendung ruhig und beobachtete schweigend, wie Rye begann die zwei Untergebenen über das Schulgelände zu jagen. Etwas schien ihm neuen Ansporn gegeben zu haben. Er bewegte sich viel geschickter und ließ den anderen gar keine Möglichkeit mehr, ihn noch anzugreifen. „Das habe ich nicht erwartet...“, kommentierte Connor das unübersichtliche Geschehen in verblüffter Tonlage, jedoch nach wie vor gelassen. Selbst als Rye den einen Kerl erwischte, verzog er keine einzige Miene. Stattdessen pfiff er seinen letzten Untergebenen zu sich und meinte dann zu diesem: „Lassen wir es gut sein. 12 ist viel stärker als vermutet. Aber das macht nichts. Da ich nun ein Bild von ihm habe, kann ich beim nächsten Mal die nötigen Vorkehrungen treffen.“ Gin konnte das Gesagte nicht ganz realisieren. Wollten sie sich wirklich zurückziehen? Hatte Rye es geschafft? Völlig überwältigt von Erleichterung, verdrängte Gin bewusst, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit wirklich ein nächstes Mal geben würde. Doch dann wären hoffentlich auch Rye und er besser vorbereitet, um es mit Eclipse aufnehmen zu können. Noch einmal würden sie gewiss nicht auf ihr falsches Spiel hereinfallen. „Für heute muss ich mich leider verabschieden. Aber wir sehen uns bestimmt bald wieder, Jin Kurosawa. Ich werde unser Versprechen in Erinnerung behalten.“ Noch bevor die Worte vollständig ausgesprochen waren, ließ der Boss von Gin ab und richtete sich wieder auf, sodass der Silberhaarige durch den plötzlich fehlenden Halt endgültig zusammenbrach. Sein Kopf landete begleitet von einem dumpfen Schmerz auf das harte Gestein und seine Sicht verschwamm. Zwischen dem dröhnenden Pochen in seinem Kopf hörte Gin, wie sich etwas in hoher Geschwindigkeit von ihm entfernte. Dann kam etwas in der gleichen Geschwindigkeit auf ihn zu und blieb ruckartig neben ihm stehen. Gin spürte, wie er von einer vertrauten Aura eingehüllt wurde. Er drehte den Kopf leicht nach oben und glaubte über sich Ryes verschwommene Gestalt zu erkennen. In einer derart angespannten Haltung, die verriet, dass er innerlich mit sich selbst um eine Entscheidung rang. Wahrscheinlich fragte er sich gerade: Verfolgen oder hierbleiben? Gin wollte ihm die Entscheidung abnehmen. Er streckte langsam eine Hand aus und krallte sie mit letzter Kraft in Ryes Hosenbein. „Geh nicht…“, flüsterte er, bevor die Bewusstlosigkeit ihn schließlich einholte. Kapitel 42: Hinter der Fassade des Bosses ----------------------------------------- Am nächsten Tag   „Du hast ja Nerven, dich hier noch Blicken zu lassen.“, wurde Rye entgegen geschleudert, kurz nachdem er das Büro des Bosses betreten hatte. Nie hätte er gedacht, dass er mal freiwillig hierherkommen würde. Doch wegen des letzten Ereignisses fühlte er sich irgendwie dazu gezwungen. Es gab so vieles, was er dem Älteren zu sagen hatte. So vieles, was er ihm erklären musste und was er noch erfahren wollte, bevor er sich für immer verabschieden würde. „Wenn Sie mich auf diese Weise begrüßen, scheinen Sie über das, was passiert ist, wohl schon bestens informiert zu sein.“, erwiderte er, ein wenig erleichtert darüber, nicht mehr selbst alles beichten zu müssen. Wie üblich hatte der Boss überall seine Quellen. Doch wenn er deshalb bereits Bescheid wusste, warum hatte er dann noch nichts unternommen? „In der Tat.“, bestätigte er Ryes Vermutung tonlos. „Wussten Sie auch von Eclipses Plan?“ „Nein. Zwar konnte ich mir denken, dass sie dich früher oder später zurückholen wollen, wenn du damals wirklich geflohen bist… aber, dass sie Gin da mit reingezogen haben, kam auch für mich etwas unerwartet.“ Rye wusste nicht, ob er das wirklich glauben sollte. Aber noch mehr störte ihn diese unbekümmerte Tonlage, die deutlich signalisierte, dass sich der Boss kein bisschen um Gins Zustand scherte. „Er ist so ein… abscheulicher Mensch…“ Rye fing unbewusst an, dem Älteren einen kleinen Teil seiner Schuld zuzuschieben. „Wäre es nicht Ihre Aufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass er in Sicherheit bleibt?“, konfrontierte er ihn direkt. Schließlich war dieser Kerl Gins Vater. Und was das betraf, zweifelte Rye nicht im geringsten an Connors Aussage. Denn nun konnte er sich endlich erklären, warum er beim Anblick des Bosses so oft das Gefühl verspürt hatte, seinem Geliebten anzusehen. Sie ähnelten einander sehr, auch wenn beide es jeweils bis aufs Blut bestreiten würden. Sein Gegenüber verengte verbittert die Augen, bevor er mit strenger Stimme entgegnete: „Wäre es nicht deine Aufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass so etwas gar nicht erst notwendig ist? Wage es nicht, mir zu erzählen, was ich hätte tun können, noch bevor ich es überhaupt wusste. Du hingegen hast gewusst, dass Eclipse dir höchstwahrscheinlich auf den Fersen ist und hättest rechtzeitig Vorkehrungen treffen können. Du hättest dich von Gin fernhalten und einfach verschwinden sollen, wo du noch die Chance dazu hattest. Aber so naiv und selbstsüchtig wie du bist, hast du rein gar nichts unternommen und ihn mit deinem hoffnungslosen Liebesgeschwätz ständig einer tödlichen Gefahr ausgesetzt.“ Im ersten Moment klang das für Rye lediglich wie eine Ausrede, um sich nicht rechtfertigen zu müssen. Doch dann wurde er sich dem wahren Kern in den Worten nach und nach bewusst. Dieser war allerdings nicht der Grund, warum ihn plötzlich vor Schock ein Schauer durchbebte. „Liebesgeschwätz? Bedeutet das etwa…“, begann er gedanklich seine aufkeimende Befürchtung. „Woher wissen Sie…“ „Hältst du mich etwa für blind? Ich kenne Gin gut und lange genug, um zu merken, wenn sich irgendwas in ihm verändert und er sich plötzlich in manchen Situationen komplett anders verhält, als ich es eigentlich von ihm gewohnt bin. Du hast all seine Prinzipien und das, wofür er bisher gelebt hat, vollkommen zunichte gemacht, indem du ihn dazu gebracht hast, sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Gefühle, die einzig und allein erst durch dich entstanden sind. Und genau auf diese Weise hast du ihn regelrecht zerstört.“, erklärte der Boss, während sein eindringlicher Blick ununterbrochen auf Rye gerichtet war. Dieser fühlte sich zuerst von den kalten Augen eingeschüchtert, bis das letzte Wort jedoch mit einem Schlag Wut und Entsetzen in ihm auslöste. „Zerstört?“, wiederholte er völlig entrüstet. „Nur weil er meinetwegen nach und nach angefangen hat, Gefühle offen zu zeigen, habe ich ihn noch lange nicht zerstört! Im Gegenteil, ich habe einen richtigen Menschen aus ihm gemacht! Denn Gefühle sind das, was Menschen überhaupt erst ausmachen! Was ist also falsch daran, welche für jemanden zu entwickeln?!“ Natürlich war Rye inzwischen der Meinung, dass Gin niemals hätte Gefühle für ihn entwickeln dürfen. Doch Gefühle im Allgemeinen spielten sehr wohl eine wichtige Rolle, denn Menschen ohne Gefühle waren nicht mehr als leblose Marionetten. Und bevor er Gin kennengelernt hatte, war dieser genau das gewesen. Eine Marionette, dessen Fäden der Boss stets fest in seinen Händen gehabt hatte. „Du verstehst offenbar nicht, worauf ich hinauswollte.“ Nach dieser ungewöhnlich ruhigen Antwort runzelte Rye verwirrt die Stirn, bevor sein Gegenüber nach einigen Sekunden begann zu erklären: „Gin ist ohne jegliche Zuneigung und Liebe aufgewachsen. Unter anderem, weil ich es so wollte. Er konnte sich darunter nie etwas vorstellen. Doch du hast ihm in einer sehr geringen Zeitspanne nahezu alles mit der Wucht einer Flutwelle entgegen geschleudert, sodass er sich die Bedeutung seiner Gefühle gar nicht richtig bewusst werden und folglich auch nicht lernen konnte, wie er mit ihnen umgehen soll.“ Das klang zugegebenermaßen ein wenig einleuchtend, jedoch würde Rye diese Erklärung trotzdem nicht einfach so hinnehmen. Denn so war es nicht richtig. Es stimmte nicht, dass er die alleinige Schuld für Gins seelischen Zustand trug. „Versuchen Sie gerade, die Fehler Ihrer Erziehung auf mich abzuwälzen?“, fragte er in bedrohlich leiser Tonlage. Dieser machtgierige, alte Mann war zweifellos der Ursprung des Problems. Nur seinetwegen war es Gin so schwergefallen, sich seine Gefühle vollkommen einzugestehen. „Allerdings würde es mich schon interessieren, was zwischen uns passiert wäre, wenn Gin anfangs nicht so kalt und abweisend gewesen wäre…“ Das würde Rye in diesem Universum wohl nicht mehr erfahren. Vielleicht wäre sogar alles viel, viel schlimmer ausgegangen. „Erziehung ist etwas Individuelles. Jeder tut dies auf seine eigene Weise.“, meinte der Boss tonlos. Ryes Miene verfinsterte sich. „Was aber nicht bedeutet, dass es richtig sein muss.“, konterte er. „Ansichtssache.“ Der Ältere zuckte mit den Schultern. „Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es bei weitem einfacher ist, sich distanziert zu seinen Mitmenschen zu verhalten. Solche Gefühle wie Liebe bringen nichts als Schmerz und Kummer. Ich wollte Gin dieses unnötige Leid ersparen, welches er deinetwegen letztlich dann doch durchleben musste.“ Allmählich staute sich so viel Wut in Rye an, dass er sie kaum noch unterdrücken konnte. Noch nie war er einem so egozentrischen Menschen begegnet. Dieses Verhalten widerte ihn nahezu an. „Du wolltest ihm unnötiges Leid ersparen? Warum hast du ihn dann jahrelang wie einen Leibeigenen behandelt und ihn ständig auf lebensgefährliche Missionen geschickt?!“, hätte er am liebsten geantwortet, doch er schluckte die Worte herunter und sagte stattdessen: „Liebe ist kompliziert. So kompliziert, dass Schmerz und Kummer nicht ausreichen, um sie vollends zu definieren. Sie hat auch eine Menge gute Eigenschaften an sich.“ Der Boss lehnte sich in seinem Stuhl etwas nach hinten und musterte ihn mit einem abschätzigen Ausdruck in den Augen. „Nur weil Sie keine guten Erfahrungen gemacht haben, bedeutet das nicht, dass es für alle Menschen so sein muss. Sie hätten Gin deswegen niemals Ihre Prinzipien aufdrängen sollen!“, fuhr Rye unkontrolliert fort. Er konnte seine Wut nicht länger im Zaun halten, welche sich wegen der darauffolgenden Antwort noch um ein Vielfaches vergrößerte: „Doch. Ich weiß, was gut für ihn ist.“ Rye spürte förmlich, wie sich jeder Muskel seines Gesichts vor Zorn verzog und sich seine Hände zitternd zu Fäusten ballten. Während er abrupt einen Schritt nach vorn setzte, erwiderte er: „Achja? Woher wollen Sie das wissen? Etwa nur, weil Sie sein Vater sind, sich aber nie wie einer verhalten und Gin immer von oben herab behandelt haben?!“ Zugleich benutzte er diesen Vorwurf als eine Art Test. Auch wenn er Connors Worten Glauben schenkte, wollte er die Wahrheit noch einmal aus dem Mund seines Gegenübers hören. Ein niederträchtiges Lächeln stahl sich innerlich auf seine Lippen, als sich deutlich sichtbarer Schock in der Miene des Bosses abzeichnete und dieser kurz darauf mit einem Ruck aufstand. „Halt den Mund!“, schrie er und schlug dabei die Hände schallend auf den Tisch. „Das geht dich nichts an und du als dahergelaufenes Häufchen Elend hast schon gar nicht das Recht dazu, dich in diese Angelegenheiten einzumischen! Du weißt nicht das Geringste!“ Plötzlich wirkte sein Gesicht doch ziemlich alt. So, wie es sich wegen des kleinen Wutanfalls in Dutzend tiefe Falten verzog und ein paar Äderchen an seinen Schläfen hervortraten. Rye starrte zu Boden. „Also ist es wahr, was dieser Connor zu Gin gesagt hat. Sie sind tatsächlich sein leiblicher Vater…“ Es nochmals vom Boss bestätigt zu bekommen, erzeugte aus unerklärlichen Gründen eine vollkommen neue Wirkung. Auf einmal konnte er es doch nicht mehr glauben. „Du…“, setzte der Ältere fassungslos an. Er schien den Trick durchschaut zu haben, jedoch kümmerte Rye das nicht. „Ich habe nichts mehr zu verlieren.“, meinte er und warf dem Boss ein Lächeln zu. „Mag sein, dass ich nur ein dahergelaufenes Häufchen Elend bin und nicht von Anfang an mit dabei gewesen war, um mir über euer Verhältnis ein Urteil bilden zu können… doch ich habe eine sehr gute Beobachtungsgabe. Mittlerweile kann ich Gin gut genug einschätzen und weiß, wie er über Sie denkt. Leider sind Sie dagegen schwerer zu durchschauen. Ich weiß nicht, was Sie in Wirklichkeit fühlen. Doch das, was ich bisher gesehen habe, macht mich wütend. Besonders jetzt, wo ich die Wahrheit kenne. Ein Vater sollte nicht so mit seinem Kind umgehen.“ „Wie ich bereits sagte: das geht dich nichts an.“ Die Stimme des Bosses nahm einen scharfen, düsteren Tonfall an. Er schien sich von den Worten nicht beeinflussen lassen zu wollen, womit Rye ihn aber nicht so leicht davonkommen ließ. Auf keinen Fall würde er sich aus der Sache heraushalten, wenn er stets hatte mit ansehen müssen, wie Gin unter dem Verhältnis zu seinem Vater litt. „Gin geht mich sehr wohl was an.“, widersprach er deshalb. „Aber nicht mehr lange.“ Die kalten Worte versetzten Rye einen Stich. Sofort erinnerte er sich wieder an einen der Gründe, warum er eigentlich hier war. „Das stimmt allerdings…“ Er hörte die tiefe Trauer in seiner eigenen Tonlage. Den Funken Widerstand, sich gegen sein Vorhaben zu wehren. Doch das ging nicht. Der Boss starrte ihn mit geweiteten Augen an. „Mir ist klar, dass Sie vorhaben, mich rauszuschmeißen. Schließlich habe ich mein Versprechen gebrochen, dass keines Ihrer Mitglieder je wieder durch mich zu Schaden kommen wird.“, fuhr Rye fort, wohl wissend, dass er bald noch all seine Versprechen an Gin brechen würde. „Aber Sie müssen mich nicht rausschmeißen. Denn mein Entschluss steht bereits fest: Ich werde freiwillig gehen.“ Damit schien der Boss niemals gerechnet zu haben. „Woher kommt das denn so plötzlich?“, wollte er wissen. „Ich glaube, so ist es besser für alle Beteiligten. So sehr ich Sie auch verachte… mit der Behauptung damals, dass ich nichts als Chaos anrichte, liegen Sie zweifellos richtig. Ich hätte schon viel früher gehen sollen.“ Irgendwie fühlte es sich für Rye ein wenig befreiend an, seinen Hass gegenüber diesem Mann zum ersten Mal offen auszusprechen. Auch wenn das für beide keine Überraschung mehr war. „Im Unterschied zu Gin hat er mich schon immer als das Monster gesehen, was ich in Wirklichkeit bin. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn Gin das auch von Anfang an getan hätte. Doch selbst wenn er das gewollt hätte, hätte ich das nie akzeptiert… weil ich… immer nur an mich selbst denke und mir meine eigenen Bedürfnisse wichtiger waren als Gins Sicherheit…“, dachte Rye verzweifelt, während er kurz darauf bemerkte, dass die Reaktion des Bosses nicht seinen Erwartungen entsprach: Keinesfalls erfreut, sondern nachdenklich in Schweigen versunken. „Freut Sie das nicht?“, hakte Rye verdutzt nach. „Es geht dabei nicht um mich.“ Der Boss fuchtelte verneinend mit einer Hand in der Luft. „Zwar will ich dich liebend gern loswerden, doch ich habe trotzdem ein paar Bedenken. Gin war schon immer so gewesen, dass er sich an etwas festklammern musste, um zurechtzukommen. Jetzt erscheint es mir so, als hätte er sich an dich festgeklammert. Demzufolge kannst du dir sicher denken, was höchstwahrscheinlich passieren wird, wenn du verschwindest.“ Rye konnte sich das nicht nur denken, er war sich sogar zu hundert Prozent sicher, was sein Verschwinden in Gin auslösen würde. Und dieses Wissen bereitete ihm noch viel mehr Schmerzen, als der Gedanke, für immer von seinem Geliebten getrennt zu sein. Damals hätte es sich Rye nicht mal erträumen können, dass er Gin jemals etwas bedeuten würde. Doch nun, nach all den Monaten, die sie gemeinsam miteinander verbracht haben, schien dieser nicht mehr ohne ihn leben zu wollen. „Meine Abwesenheit in der letzten Woche hat ihn völlig fertig gemacht. Das habe ich zunehmend an den Nachrichten bemerkt, die er mir geschickt hatte… Letztlich war er sogar dafür bereit gewesen, sein Leben für mich zu opfern und hat alles getan, was Eclipse von ihm verlangt hatte…“ Er würde Gins verzweifeltes Flehen in jenem Moment niemals vergessen. Dessen Angst, ihn zu verlieren, war in seiner Stimme so erschreckend greifbar gewesen, dass Rye sogar jetzt noch das Gefühl hatte, sie klar und deutlich zu hören. Er wollte den Silberhaarigen nicht allein zurücklassen. Doch er wollte ebenso wenig, dass dessen Leben seinetwegen durch Dunkelheit getrübt wurde. Dunkelheit, in welcher Dutzend tödliche Bedrohungen lauerten. „Damit wird er zurechtkommen müssen. Sein Leben geht auch ohne mich weiter. Aber nicht in der Organisation.“, spielte Rye es herunter, mit dem Wunsch, dass Gin auch ohne ihn irgendwann sein Glück finden würde. Er sollte nicht für immer mit einem gebrochenen Herzen weiterleben. „Anders als ich…“ „Bitte?“, entwich es dem Boss empört. „Das ist meine Bedingung.“, stellte Rye daraufhin klar. „Sie werden Gin aus der Organisation nehmen und ihm eine Chance auf ein normales Leben ermöglichen. Ein Leben ohne Morde, Verbrechen und anderen gefährlichen Geschäften. Er soll mit solchen Sachen nichts mehr zu tun haben. Außerdem werden Sie für seine Sicherheit sorgen. Wenn Sie meine Bedingung nicht erfüllen können, werde ich Gin mit mir nehmen. Ob Sie das wollen oder nicht.“ Er ließ es viel mehr wie eine Drohung klingen. Denn schließlich würde dieser alte Mann auf keinen Fall zulassen, dass er Gin einfach mitnahm. Genau deshalb hatte er das gesagt. Um sichergehen zu können, dass seinem Geliebten nichts zustoßen würde, sobald er nicht mehr an dessen Seite wäre. „Vage Worte. Deine Entschlossenheit überrascht mich. Aber ich werde deine Bedingung akzeptieren.“, antwortete der Boss zu Ryes Erleichterung. Letzten Endes schien Gin ihm vielleicht doch nicht vollkommen egal zu sein. „Eines Tages wird auch seine Fassade zusammenfallen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Irgendwo tief in seinem gefrorenen Herzen muss auch er einen verwundbaren Punkt haben. Bleibt bloß offen, wer oder was diesen Punkt treffen wird…“, dachte Rye fest überzeugt, bevor er sagte: „Ich hoffe, Sie halten Ihr Wort.“ „Solange du deins auch hältst.“ „Sicher. Sobald Gin aus dem Krankenhaus entlassen ist, werden Sie mich nie wieder sehen.“ Rye wollte noch gar nicht an diesen Tag denken. Doch er würde unweigerlich kommen. Schneller, als ihm lieb war. Von da an wäre er wieder allein. Ohne Liebe und Wärme. Nur er und all den unermesslichen Hass, welchen er auf sich selbst verspürte. Der Teufelskreis würde von Neuem beginnen und alles wäre wieder so hoffnungslos und leer wie vor seiner Begegnung mit Gin. Eben so, wie er es verdient hatte. Inzwischen hatte sich Stille im Raum ausgebreitet, die dazu beitrug, dass Rye immer weiter von seinen negativen Gedanken eingehüllt wurde. Fast kam es ihm so vor, als wäre er längst nicht mehr hier und bereits wieder auf sich allein gestellt. Irgendwo mitten im Nirgendwo, wo es stockfinster und sein größter Feind sein Verlangen nach Blut war. Rye versuchte sich wieder auf seinen Gegenüber zu konzentrieren. „Darf ich Sie noch etwas fragen?“, begann er leise. Jetzt hatte er noch die Chance, so viel Informationen wie möglich über Gin zu erlangen. Wenn er ihn schon verlassen musste, dann nicht ohne ihn wirklich gekannt zu haben. Er wollte alles wissen. Alles, was der Boss ihm sagen konnte. Insofern dieser sich nicht querstellte, was zum Glück noch nicht der Fall zu sein schien. „Jetzt brauchst du auch nicht mehr förmlich zu sein. Frag einfach.“, forderte er. Rye zögerte einige Augenblicke, bevor er es wagte, die Frage zu stellen: „Was ist mit Gins Mutter passiert?“ Das Gesicht des Bosses verzog sich, als würde jemand ihm ein Messer in den Bauch rammen. Für den Hauch einer Sekunde wirkte er wie versteinert. Das schien er zu sein; sein verwundbarer Punkt. „Was glaubst du denn?“ Mühsame Beherrschung lag in seiner Stimme. „Dieser Connor sagte, Sie haben sie in den Selbstmord getrieben…“, murmelte Rye. Irgendwie konnte er sich das nicht vorstellen. Zwar war dieser Mann zweifellos ein furchtbarer Mensch, doch war er auch wirklich so furchtbar? „Damit hat er recht.“, erwiderte er kühl. Rye rang kurz um seine Fassung. Nein. Das durfte einfach nicht wahr sein. „Wie konnte er Gin so etwas antun…?“ Diese Frage füllte seinen ganzen Kopf. Spätestens jetzt hatte er auch seine letzte Hoffnung aufgegeben, dass noch ein winziger Funken Gutes in diesem Kerl steckte. Er hatte Gins Leben vollkommen ruiniert. Ihm seine Familie genommen. Die Chance auf eine unbeschwerte Kindheit. Auf ein normales Leben. Das war unverzeihlich. „Er verdient den Tod…“, wurde Rye schließlich bewusst. Sein Körper nahm automatisch eine feindselige Haltung an. Drauf und dran, seinen Gedanken in die Tat umzusetzen und den Boss zu… „Sie war eine Prostituierte.“, fügte dieser plötzlich begleitet von einem Seufzen hinzu. „Diese Arbeit war ihre Hauptgeldquelle. Sonst hatte sie nichts. Sie lebte sozusagen in ständiger Armut und konnte sich ihren Lebensunterhalt kaum finanzieren. Als sie dann schwanger wurde, hat sie das vermutlich überfordert.“ In seiner Stimme schwangen keinerlei Gefühle mit. Zumindest dem Anschein nach. Denn während sich Rye nach und nach wieder beruhigte, erkannte er schlussendlich auch die Maske, die das wahre Empfinden des Älteren verbarg. Auf einmal verspürte er ein dringliches Verlangen, ihm diese Maske herunterzureißen. „So jemand wie Sie kann doch bestimmt jede Frau der Welt haben. Warum also ausgerechnet eine Prostituierte? Ich bezweifle, dass Sie so etwas nötig hatten.“, sagte Rye mit dem Ziel, dem Boss mehr Informationen zu entlocken. „Mag sein. Aber ich wollte keine Frau haben. Das wollte ich nie. Genauso wenig, wie ich ein Kind wollte.“ Allmählich schien die harte Schale Risse zu bekommen. Die Stimme des Bosses klang nicht länger so kalt und unbeteiligt. Eher gequält. Gequält von einem Ereignis, das bestimmt schon 30 Jahre zurücklag. Ryes Interesse wurde immer größer. „Das müssen Sie mir genauer erklären.“, meinte er, woraufhin der Boss seine Absichten allerdings zu erkennen schien. „Muss ich das?“, hakte er in eindringlicher Tonlage nach, während seine Miene wieder ausdruckslos und unnahbar wirkte. Doch Rye wollte noch nicht aufgeben. „Ich bitte darum.“ Erstaunt beobachtete er, wie sich der Boss nach diesen Worten an die Stirn fasste und hoffnungslos den Kopf schüttelte, bevor er entgegnete: „Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Betrachte diese kleine Geschichte einfach als mein Abschiedsgeschenk für dich.“ Ryes Augen begannen zu leuchten. Aufmerksam hörte er zu, was Renya Karasuma ihm zu erzählen hatte…   Auch wenn es mittlerweile schon über 30 Jahre her ist, sind die Erinnerungen noch so greifbar nah für mich, als sei es gestern gewesen. Damals hatte ich noch die Angewohnheit, mindestens drei Mal die Woche einen Abendspaziergang in den stillen Gegenden der Stadt zu machen. An jenem Tag hatte es plötzlich angefangen, in Strömen zu regnen. Da ich keinen Schirm bei mir trug und der Weg nach Hause noch zu weit gewesen war, musste ich mich spontan unter einem Baum unterstellen. Das Warten störte mich nicht sonderlich, da ich es irgendwie als seltsam beruhigend empfand, einfach nur still dazustehen und dem Regen zu lauschen. Ich hatte nicht einmal gemerkt, wie schnell oder langsam die Zeit eigentlich verging. Bis zu dem Moment, als eine gewisse Frau aus unerklärlichen Gründen meine Aufmerksamkeit weckte. Ich hätte mir bis dahin niemals erträumt, dass sie es sein würde, die alles verändert. Ihr Bild von jenem Abend habe ich noch ganz genau vor meinen Augen. Trotz des schlechten Wetters war sie sehr freizügig gekleidet gewesen. Und nachdem ich sie ein paar Minuten beobachtet hatte, war mir auch aufgefallen, warum. Ich hatte sie schon öfters um diese Uhrzeit in der Gegend herumlaufen sehen. Selbst bei Regen suchte sie scheinbar verzweifelt nach Freiern. Wie ein hilfloses Hundewelpen wanderte ihr Blick in alle Richtungen, bis ihre großen, himmelblauen Augen mich schließlich entdeckten. Ich hätte gehen, ihr einfach den Rücken zukehren sollen, solange ich noch die Möglichkeit dazu hatte. Aber ich tat es nicht. Obwohl ich Leute wie sie zutiefst verachtete, war ein kleiner Teil von mir doch ein wenig neugierig gewesen, ob sie wirklich den Mut hätte, mich anzusprechen. Tatsächlich kam sie mit langsamen Schritten in meine Richtung. Ihre langen, silbernen Haare glänzten im Regen. Ihr Gesicht war von Güte und Feinfühligkeit gezeichnet. Sie lächelte mich an. Ich wandte den Blick von ihr ab. Hoffend, dass sie es sich noch anders überlegen würde. Jedoch registrierte ich, wie sie wenige Meter neben mir im nassen Gras verharrte. Schweigend blieb sie auf Sicherheitsabstand, da sie wohl dachte, ich könnte ihr gefährlich werden. Ich spürte ihren unsicheren Blick auf mich. Sie traute sich nicht einmal bis unter den Baum. Und das war auch gut so, da ich nach kurzer Zeit anfing, mich von ihrer Anwesenheit genervt zu fühlen. „Geh weiter. Ich habe kein Geld für dich. Keinen einzigen Yen.“, wies ich sie ab. Doch sie regte sich nicht und erwiderte nur leise: „Es regnet.“, worauf ich ihr antwortete: „Dann stell dich woanders unter.“ Sie gehorchte meinem Befehl nicht. Blieb wie angewurzelt stehen. Nach kurzer Zeit bemerkte ich, wie sie näherkam und sich neben mir an den Baumstamm lehnte. Sie fror am ganzen Leib. Während ich ihr Zittern wahrnahm, fragte ich mich gedanklich, warum sie nicht einfach aufgab und nach Hause ging. Wo auch immer das war. „Wenn Sie noch länger hier stehen, erkälten Sie sich noch. In einem Hotel-“, begann sie zögernd, doch ich ließ sie erst gar nicht ausreden. „Das kann dir egal sein. Mit mir ist kein Geschäft zu machen, hast du verstanden?“, wies ich sie ein zweites Mal ab und fügte hinzu: „Du bist mir auch zu hässlich. Krumme Beine.“ Das sagte ich nur, weil ich dachte, ich würde sie nach einer Beleidigung endlich loswerden. Aber das geschah nicht. Sie rührte sich immer noch nicht vom Fleck. „Sie schauen mich doch gar nicht an.“ Erst nach diesen Worten drehte ich meinen Kopf wieder in ihre Richtung. Sie war in der Tat nicht hässlich, wurde mir bewusst. Eher ungewöhnlich schön. Aber das habe ich ihr bis zu ihrem Tod niemals gesagt. „Ich bin immer noch derselben Meinung.“, beharrte ich. Sie schaute mich wehmütig an und entgegnete: „Das ist nicht wahr.“ Scheinbar hatte sie mir das vom Gesicht ablesen können. Es war mir letztlich auch egal und ich ließ ihre Worte unerwidert. Für eine Weile lauschten wir dem Rauschen der Regentropfen. Ihr Zittern nahm nicht ab und sie fing an von einem Fuß auf dem anderen zu treten. „Ich wollte Sie nicht wirklich anwerben. Ich dachte mir nur, dass Sie sehr einsam wirken.“, brachte sie irgendwann hervor. Zwar lag sie damit richtig und ich war mein ganzes Leben lang schon einsam gewesen, doch ich hatte das nie als etwas Negatives betrachtet. Mit der Zeit war mir klar geworden, dass sie auch einsam gewesen war. Anders als ich hatte sie das allerdings wohl nicht ertragen können. „Mag sein, was aber nicht bedeutet, dass ich Gesellschaft benötige. Und von einer wie dir schon gar nicht.“ Ich versuchte so unfreundlich wie möglich zu sein. Doch auf diese Weise schien ich sie nicht loszuwerden. „Einer wie mir?“, tat sie unwissend, obwohl sie in Wirklichkeit genau wusste, wie ich das gemeint hatte. „Stell dich nicht dumm.“, sagte ich im schroffen Ton. „Sie haben doch bloß Angst, dass es Ihrem Image schaden könnte.“ Ihre plötzliche Direktheit überraschte mich. Diesmal war ihre Annahme jedoch falsch, weshalb ich ihr antwortete: „Nein. Ich verabscheue nur Menschen, die so wenig Selbstwertgefühl haben, dass sie ihren Körper für Geld verkaufen müssen.“ Prostitution war mir in meinen über 200 Jahren schon oft genug begegnet. Womöglich handelte es sich um die älteste Arbeit auf Erden. Aber ich habe bis heute nicht verstanden, warum Menschen dazu neigen, so etwas zu tun, wenn sie in Geldnot sind. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mich bisher nie in einer solchen Lage befanden habe und ich es daher nicht nachempfinden kann. Meine Worte schienen ihr einen Schauer über den Rücken zu jagen. Sie gab mir erst nach mehreren Sekunden eine Antwort, die lautete: „Am Tage arbeite ich in einem Café. Dem Kohikan in der Nähe des Asakusa-Schreins. Aber der Lohn reicht nicht aus.“ Mein Gefühl sagte mir, dass sie wollte, dass ich sie eines Tages dort besuchen komme. Warum hätte sie mir sonst den Namen des Cafés verraten? Natürlich war ich nie dort gewesen. Solche Orte waren schlichtweg nichts für mich, auch wenn ich damals die Öffentlichkeit noch nicht allzu sehr gemieden habe, wie ich es heute tue. Ich musterte sie schweigend für einen kurzen Moment, wobei mir auf einmal die dunklen Schatten unter ihren Augen auffielen, welche eindeutig auf Schlafmangel hinwiesen. Wieso machte sie sich scheinbar selbst so sehr fertig? „Schon mal daran gedacht, dir eine vernünftige Arbeit zu suchen?“, fragte ich. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie für nichts zu gebrauchen war. Ein gequältes Lächeln erschien in ihrem Gesicht. „Das habe ich versucht. Doch ich scheitere meistens schon an den Vorstellungsgesprächen. Abgesehen von meinem Körper… habe ich nicht viel zu bieten, schätze ich…“ Ihre Stimme klang niedergeschlagen. Ich musste mich zurückhalten, sie für diese törichten Worte nicht ordentlich zurechtzuweisen. „Das ist völliger Unsinn.“, meinte ich nur. „Finden Sie?“ „Jeder Mensch hat irgendwelche Fähigkeiten zu bieten. Vielleicht musst du noch herausfinden, in was du… sonst noch gut bist. Vor allem aber ist es wichtig, stets selbstbewusst vor anderen aufzutreten und sich in schweren Situationen nicht unterkriegen zu lassen. Man muss den Leuten zeigen, wer man ist und für was man steht. Du wirst nie vorankommen, wenn du immer nur an dir selbst zweifelst.“ Das war lediglich ein Ratschlag von mir, den sie sich zu Herzen nehmen, aber genauso gut auch vergessen konnte. Hätte sie Ersteres getan, wäre sie heute vermutlich noch am Leben. Ich weiß es nicht. Ich weiß noch nicht einmal, wie die Welt dann für mich aussehen würde und was sich dann alles verändert hätte. Ihre blauen Augen funkelten mich an. Ich glaubte, so etwas wie Bewunderung in ihnen zu erkennen. „Sie haben womöglich recht. Ich werde darüber nachdenken.“, erwiderte sie etwas fröhlicher. Ich nickte, woraufhin sie die einkehrende Stille nach kurzer Zeit unterbrach. „Sie scheinen wohl doch ein guter Mensch zu sein, auch wenn es auf dem ersten Blick nicht so aussieht.“, gestand sie kichernd. Warum dachte sie das plötzlich? „Ich bin keinesfalls ein guter Mensch, merk dir das.“, entgegnete ich. Und obwohl das mein voller Ernst gewesen war, hatte sie bis zum bitteren Schluss an das Gute in mir festgehalten. Egal, wie oft ich ihr das Gegenteil bewiesen habe. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich selbst davon überzeugen möchte?“ Mir entging der aufreizende Unterton in ihrer Stimme nicht. „Mach, was du willst. Aber bedenke, dass wir uns nie wieder begegnen werden, sobald der Regen aufgehört hat.“ Davon bin ich in diesem Moment noch fest ausgegangen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich ihr noch viele, viele Male begegnen würde. Und dass es mir irgendwann sogar ein kaum merkliches Lächeln auf den Lippen zaubern würde, sie zu sehen. „Das glaube ich nicht.“ Sie hingegen hatte es scheinbar schon gewusst. „Man sieht sich immer zwei Mal im Leben.“ Ich musste zwar ein Schmunzeln unterdrücken, aber darauf eingehen tat ich nicht. „Dürfte ich Ihren Namen erfahren?“, erkundigte sie sich nach einer Weile leise. Es war so vorhersehbar gewesen, dass diese Frage kommen würde. „Wenn wir uns ein zweites Mal im Leben begegnen.“, wich ich ihr vorerst aus. Eigentlich wollte ich ihr meinen Namen nie sagen, da ich sie auch nicht kennen wollte. Doch das Schicksal, wenn es so etwas wirklich gab, schien andere Pläne für mich zu gehabt zu haben. Sie zog einen Schmollmund, bevor sie erwiderte: „Na schön. Meinen verrate ich Ihnen trotzdem schon.“ Sie streckte ihre Hand aus. „Ich bin Alice. Alice Kinoshita, was so viel wie ‚unter dem Baum‘ bedeutet. Ein komischer Zufall, nicht wahr?“ Sie schien nach und nach offener zu werden. Meine Hand zuckte, doch ballte sich kurz darauf zur Faust. Mir war der Gedanke noch zuwider, sie anzufassen. Auch wenn ihre Hände sehr glatt und weich aussahen. Ihr Name bestätigte meine Vermutung, dass sie zur Hälfte Ausländerin war. Daher kam wohl auch ihr ungewöhnliches Aussehen. Höchstwahrscheinlich fiel es ihr nicht sonderlich schwer, neue Freier für sich zu gewinnen. „Sagst du diesen albernen Spruch zu jedem, den du unter einem Baum kennenlernst?“, fragte ich etwas unbeeindruckt mit hochgezogener Augenbraue, um ihr nicht die Hand geben zu müssen. Sie lachte. Es war ein helles, sehr schönes Lachen. „Es kommt leider nicht so oft vor, dass ich attraktive Männer wie Sie unter einem Baum bei Regen kennenlerne.“, erwiderte sie anschließend. Ich zuckte unbemerkt zusammen. Komplimente war ich überhaupt nicht gewohnt. Und mir fiel auf, dass ich keine leiden konnte. Ich verzog mein Gesicht und drehte mich leicht von ihr weg, womit ich sie wohl verletzte. „Oh, Entschuldigung… ich wollte Ihnen nicht zu nah treten.“, hörte ich ihre Worte hinter meinem Rücken. „Schon gut.“, sagte ich. Da bemerkte ich, dass der Regen allmählich nachgelassen hatte und ich somit endlich von dieser Begegnung erlöst war. „Der Regen hat aufgehört. Du solltest jetzt nach Hause gehen.“ Das hätte sie schon viel früher tun sollen. Womöglich würde sie sich nun erkälten. Aber das hatte mich nicht weiter zu interessieren. „Das sollte ich wohl… Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“ Dass sie das einfach so zugab, verwunderte mich. Ich ertappte mich, wie ich das auch ein klein wenig hoffte. Aus welchen idiotischen Gründen auch immer. Ich antwortete nichts mehr und ließ sie gehen, ohne mich nochmal zu ihr umzudrehen. Schließlich machte ich mich ebenso auf den Nachhauseweg. Es vergingen mehrere Tage, an denen sie mir einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte. Ständig dachte ich an ihre Erscheinung. Ständig sprach ich ihren Namen in Gedanken aus und verfluchte mich selbst dafür unzählige Male. Ich glaubte sogar fast, dass ich anfing, krank zu werden. Noch nie hatte ich mich so seltsam gefühlt. An einem kühlen Nachmittag konnte ich es nicht lassen, zumindest den Schrein zu besuchen, welchen sie erwähnt hatte. Er befand sich direkt neben dem buddhistischen Tempel Sensō-ji. Vor Ort erfuhr ich, dass traditionell viele Feste im Schrein ausgerichtet werden. Darunter auch das Sanja-Matsuri, welches jedes Jahr über einen Zeitraum von drei bis vier Tagen an einem Wochenende im Mai stattfindet. Ich war froh gewesen, dass ich in keines dieser Feste geraten war und an diesem Tag eher wenig Menschen unterwegs waren. Umso schneller bemerkte meine wachsame Persönlichkeit, dass sich eine gewisse Frau ebenso vor Ort befand und stets ein paar Meter entfernt hinter mir her lief. Als ich mich zu ihr umdrehte, senkte sie peinlich berührt den Blick. Dieses Verhalten, was nahezu dem eines schüchternen Schulmädchens glich, amüsierte mich trotz der Tatsache, dass es eigentlich vollkommen infantil war. Ich blieb stehen und starrte sie so lange an, bis sie sich letztlich doch traute, mir ein paar Schritte näherzukommen. Diesmal war sie glücklicherweise wettergemäß gekleidet. Der Rollkragenpullover und die braune Strickweste standen ihr gut. Dazu trug sie einen leuchtend roten Schal und offene Handschuhe, die ihre zarten Finger mehr zur Geltung brachten. „Hallo. Ich hätte nicht gedacht, Sie hier zufällig zu treffen.“, begrüßte sie mich. Ich nickte streng und erwiderte: „Zufällig? Wen willst du hier veralbern?“ Ein leichter Rosa Hauch breitete sich auf ihre Wangen aus. „Naja… wenn ich ehrlich sein soll… meine Schicht war gerade vorüber und ich habe Sie von Weitem wiedererkannt. Da habe ich spontan beschlossen, Ihnen nachzugehen…“, gestand sie und plötzlich kam ich mir vor wie in irgend so einem amerikanischen Highschool-Film, die zu der Zeit gerade beliebt gewesen waren. „Verstehe.“, antwortete ich begleitet von einem Seufzen. „Warum haben Sie mir nicht geglaubt?“, hakte sie nach. War das nicht offensichtlich genug? „Es ergab keinen Sinn für mich, dass du ausgerechnet heute hier sein würdest.“ „Aber Sie sind doch auch hier.“ Sie hatte recht. Diese zweite Begegnung hatte nur stattfinden können, weil ich den Schrein besuchen wollte. Und ich hätte ihn wahrscheinlich nie besuchen wollen, wenn ich sie zuvor nicht getroffen hätte. Schon seit meiner Ankunft habe ich gewusst, dass das ziemlich dumm von mir gewesen war. Warum hatte ich mich überhaupt dazu entschieden? Noch nie war mir mein eigenes Verhalten so sehr ein Rätsel gewesen. „Das… ist wiederum wirklich nur Zufall.“, redete ich mich raus. Aber ich konnte ihr wohl nichts vormachen. „Und ich dachte schon, Sie haben gehofft, mich hier wiederzusehen.“, erwiderte sie leicht enttäuscht. Meine Augen weiteten sich und ich merkte, wie sich mein Gesicht automatisch verzog. Ich kannte es nicht, dass jemand seine Gedanken einfach so offen aussprach. Und ich hätte sie eigentlich auch nicht so eingeschätzt. „Entschuldigung. Ich hab es schon wieder getan… blöde Angewohnheit…“ Sie schaute verlegen zur Seite. Von ihren anderen Angewohnheiten wollte ich am liebsten gar nicht erst erfahren. Ich schwieg, wodurch sie sich nach wenigen Sekunden unwohl zu fühlen schien. „Das letztes Mal tut mir auch wirklich leid. Sie mögen wohl keine Komplimente…“, fuhr sie nachdenklich fort. „Gut erkannt.“, antwortete ich, bevor sie versprach: „Dann werde ich so etwas in Zukunft für mich behalten.“ In Zukunft? Dachte sie etwa, ich würde noch mehr Zeit mit ihr verbringen wollen? Aber noch viel wichtiger… „Warum machst du dir die Mühe?“, fragte ich. „Einfach so. Ich will nur höflich sein.“ Sie lächelte mich an und zuckte mit den Schultern. „Verraten Sie mir nun Ihren Namen? Meinen haben Sie wahrscheinlich schon vergessen.“ Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Dieses alberne Wortspiel war leider schwer zu vergessen, Alice.“ Es fühlte sich irgendwie schön an, ihren Namen auszusprechen. Mir fiel auf, dass mir der Name tatsächlich gefiel. Wieder etwas, wofür ich mich innerlich verfluchte. Ihre Wangen färbten sich rot und sie fing an zu kichern. „Dann war es immerhin nicht umsonst.“, sagte sie anschließend. Danach wartete sie gespannt auf meine Antwort, jedoch schaute ich sie lediglich wortlos an. Ich konnte mich noch immer nicht damit anfreunden, ihr meinen Namen zu verraten. Aber da ich es ihr beim letzten Mal sozusagen versprochen hatte, blieb mir wohl nichts anderes übrig. „Mein Name ist Renya Karasuma. Der Vorname genügt.“, sprach ich, woraufhin ihre Augen groß wurden. „Renya Karasuma…“, wiederholte sie leise für sich. „Ein recht ungewöhnlicher Name. Aber er gefällt mir. Vielen Dank.“ Ich nickte. „Es ist lediglich ein älterer Name.“ „Verstehe…“, antwortete sie, während sie den Blick durch die Gegend schweifen ließ und mich anschließend unsicher ansah. Etwas schien sie noch auf dem Herzen zu haben. Doch sie traute sich nicht, es auszusprechen. „Ist was?“, gab ich ihr einen kleinen Anstoß, woraufhin sie sofort nach unten auf ihre Füße starrte. „Ich habe mich nur gefragt, ob Sie vielleicht Lust auf einen Spaziergang hätten.“, murmelte sie nach einer Weile beschämt. „Warum?“, bohrte ich. Mir fiel kein plausibler Grund ein. Immerhin passten wir nicht zusammen. Weder ich zu ihr noch sie zu mir. Und trotzdem lag in diesem Moment irgendeine seltsame Anziehungskraft in der Luft, die mich dazu gebracht hatte, nicht auf der Stelle abzulehnen. „Warum nicht? Wir könnten auch zusammen in ein Café gehen und uns ein wenig unterhalten…“, schlug sie vor. Der Gedanke daran schien die Röte in ihrem Gesicht intensiver werden zu lassen. Mir dagegen wurde unwohl. „Für so etwas bin ich nicht zu haben.“, entgegnete ich deshalb. Ich hätte am liebsten hinzugefügt, dass ich keine Sekunde länger mit ihr verbringen wollte, jedoch entwich mir kein weiteres Wort aus dem Mund. Was wohl daran lag, dass mich die plötzlich tiefe Entschlossenheit in ihren Augen faszinierte. Mein Gefühl sagte mir, dass sie kein Nein akzeptieren würde. „Sie machen doch gerade auch nur einen Spaziergang. Also können wir doch auch zusammen gehen.“, brachte sie als Argument. „Können wir nicht. Ich hasse Gesellschaft.“ Nach diesen Worten kehrte ich ihr den Rücken zu und ging. Allerdings klang ihre folgende Antwort immer noch so nah, als würde sie direkt neben mir stehen. Weil sie mir wieder hinterherlief, wie ich kurz darauf feststellen musste. „Das dachte ich mir schon. Aber wissen Sie was? Menschen, die keine Gesellschaft mögen, wissen meist gar nicht, dass sie sie eigentlich am meisten brauchen.“, meinte sie in einem belehrenden Tonfall. Ich schüttelte den Kopf. „Und wie kommst du darauf, dass ich gerade dich brauche?“, fragte ich spottend. Es fiel ihr überraschend leicht, mit meinem zügigen Tempo mitzuhalten. „Nur so eine Vermutung. Wie ich schon sagte, Sie wissen es bloß noch nicht.“ In ihre Stimme mischte sich plötzlich ein etwas selbstgefälliger Unterton, der mich nur zu einem weiteren Kopfschütteln brachte. „Träum weiter.“, wies ich sie ab. Ein klein wenig amüsierte mich ihr Verhalten, auch wenn ich mich größtenteils davon genervt fühlte. Zudem wollte ich es nicht ganz wahrhaben, dass ich gerade tatsächlich von einer Frau verfolgt wurde. Sie selbst schien das auch sehr amüsant zu finden und hielt noch immer taff mit meinem Schritttempo mit. „Laufen Sie jetzt etwa vor mir davon?“, fragte sie lachend, wobei mich ein Schock durchlief. Ich war noch nie vor etwas davongelaufen. Und das sollte sich in Zukunft auch nicht ändern, weshalb ich beschloss, zu einem anderen Plan überzugehen, welchen ich jedoch nicht mehr umsetzen konnte, da diese Frau ihn wortwörtlich durchkreuzte. Mit dem eigentlichen Vorhaben, sich mir in den Weg zu stellen, knickte sie unerwartet mit ihren hochhackigen Stiefeln um und landete vor meinen Füßen. Dabei glitt der rote Schal von ihren Schultern. Ich blieb wie angewurzelt vor ihr stehen, noch verärgert darüber, dass ich beinahe über sie drüber gefallen wäre. Während sie sich über den eintretenden Schmerz beschwerte, blinzelten mich ihre hellblauen Augen hilflos an. Dann verzog sie die Lippen zu einem beschämten Lächeln. „Verzeihung…“, sagte sie kaum hörbar. „Wir kennen uns insgesamt noch nicht mal eine halbe Stunde und du musstest dich bereits drei Mal bei mir entschuldigen. Ein paar Male zu viel, meinst du nicht?“ Ich hockte mich zu ihr herunter, hob zuerst den Schal auf und hielt ihn ihr anschließend hin. Doch anstatt ihn sich selbst wieder umzubinden, griff sie danach und legte ihn mir um die Schulter. Ich erstarrte und konnte sie lediglich verdutzt anstarren. „Ich verspreche, dass ich mich bessern werde.“, erwiderte sie lächelnd. „Der Schal steht Ihnen besser als mir. Er passt zu Ihrer Haarfarbe.“ Meine Hand wanderte zu dem langen Stoff, doch verharrte letztlich mitten in der Luft. Der Schal trug ihren Geruch. Wahrscheinlich irgendein Billigparfüm. „Sie können ihn gern behalten, wenn Sie wollen.“, kommentierte sie meine unvollständige Geste. Warum sollte ich das wollen, schwirrte es mir durch den Kopf. Doch bevor ich ihr eine Antwort geben konnte, startete sie einen halbherzigen Versuch, sich wieder aufzurappeln. Sie schien überhaupt keine Kraft in den Beinen zu haben. Seufzend hielt ich ihr meine Hand hin und half ihr auf. „Danke.“, meinte sie und musterte mich anschließend mit einem warmherzigen Ausdruck in den Augen, bevor sie fröhlich hinzufügte: „Kommen Sie, ich habe mir sagen lassen, dass die Takoyaki dort hinten besonders gut schmecken sollen. Die würde ich gern mal probieren.“ „Bestimmt sind sie dafür auch besonders teuer.“, entgegnete ich unbeeindruckt, während ich mich fragte, wie sie überhaupt urplötzlich auf die Idee kam, dass ich mit ihr gemeinsam etwas essen wollte. „Macht nichts. Wenn ich für den Rest des Monats sparsam bin, reicht es noch. Ich rechne mir das immer genau aus, damit ich auch wirklich nicht zu viel ausgebe.“, erklärte sie in stolzer Tonlage. Irgendwie fand ich das lächerlich und traurig zugleich. „Na dann.“ Ich ließ mich von ihr zu dem betreffenden Imbiss-Stand führen, wo wir uns zwei Portionen von diesen Takoyakis bestellten, die ihr wohl wirklich sehr zu schmecken schienen. Zugegebenermaßen verbrachte ich mehr Zeit damit, ihr dabei zuzusehen, wie sie sich an den Geschmack des Essens erfreute, als selbst meine Portion zu verzehren. Letzten Endes schob ich ihr den Rest davon auch noch zu, wofür ich ein strahlendes Lächeln von ihr zurückbekam, das mich auf eine unbeschreibliche Weise erwärmte. Ich konnte mir nicht erklären, was auf einmal mit mir los war und warum ich den Tag fast bis zum Ende mit ihr verbrachte, ohne dabei den Drang zu verspüren, sie einfach stehenzulassen und nach Hause zu gehen. Vielleicht gab es da über mir irgendeine höhere Gewalt, die mich dazu zwingen wollte, stets in der Nähe dieser Frau zu bleiben. Ich würde es nie mit Sicherheit wissen können. Aber ich beschloss fürs Erste, diese Gewalt über mich entscheiden zu lassen. Und so kam es, dass ich mich von da an immer öfters mit Alice traf. Wobei sie sich mir überwiegend selbst aufgehalst hat, was mir aber irgendwann nichts mehr ausgemacht hatte. Auch nicht dann, als sie mir eines Tages mal heimlich bis zu meinem früheren Anwesen gefolgt war, woraufhin sie erst dann vollständig realisiert hatte, wie viel Vermögen ich in Wirklichkeit besaß. Überraschenderweise hatte sich ihre Haltung mir gegenüber deshalb nie verändert, auch wenn ich mir oft genug eingebildet hatte, sie würde mich wegen meines Geldes nur ausnutzen wollen. Bis heute verstehe ich nicht, warum ich ihr das hin und wieder vorgeworfen habe, obwohl sie mich nie direkt um Geld gebeten hatte. Nicht einmal, nachdem sie mir erzählt hatte, dass ihre Arbeit als Prostituierte aufgegeben hatte. Das habe ich bis zum Schluss angezweifelt. Doch es war die Wahrheit gewesen. Sie hatte mich nie angelogen. Nie. Und dennoch habe ich ihr so vieles nicht geglaubt. Sie falsch eingeschätzt und sie zu Unrecht für Dinge beschuldigt, die sie nie getan hatte. Ich wünschte wirklich, ich hätte sie besser behandelt. Umso mehr kränkt es mich, dass sie mich trotz aller Strapazen immer bedingungslos geliebt hatte. Ich bin mir über ihre Liebe nur sehr langsam im Klaren geworden. Und selbst als ich es längst wusste, habe ich ihre Gefühle für mich bis zu ihrem Tod verleugnet. Eigentlich hatte ich mir von Anfang an geschworen, mich nie von solchen Gefühlen mitreißen zu lassen, da ich es schlichtweg ablehne, zu lieben und geliebt zu werden. Aber umso länger und öfter sie in meiner Nähe war und je intensiver sie mir ihre Gefühle verdeutlichen wollte, desto schwächer wurde ich. Bis letztlich der Tag kam, an dem alle Dämme brachen. Ich erinnere mich daran, wie sie mich an einem Abend im Sommer besucht hatte, um wie die vielen Male zuvor ein gemeinsames Essen für uns zuzubereiten. Da ich ihre Kochkünste schon nach sehr kurzer Zeit zu schätzen gelernt hatte, hatte ich dagegen auch nichts einzuwenden. Immer, wenn sie sah, dass mir ihr Essen schmeckte, schien sie das unbeschreiblich glücklich zu machen. Auch an diesem Tag. Die Temperaturen hatten nahezu ihre Höchstgrenze erreicht, sodass ich es vermieden hatte, auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen. Sie hingegen hatte sich passend zum heißen Wetter ein leichtes Kleid angezogen, welches ihr gerade mal bis zu den Knien gegangen war. Es hat ihr sehr gut gestanden. Und sie wusste, dass ich dieser Meinung gewesen war. Ich hätte das nie, niemals tun dürfen. Doch das Gefühl ihrer weichen Lippen auf meine, während ihre zarten Hände meine fest umschlossen hielten, hatte mir einfach restlos den Verstand geraubt. Ich konnte mich nicht widersetzen, als ihre schöne Stimme meinen Namen flüsterte und sie mich kurz darauf zum Schlafzimmer führte. In dieser Nacht war mir bewusst geworden, dass sie die Einzige war, die ich jemals gewollt hatte. Die Einzige, für die ich jemals so etwas wie Liebe empfinden würde. Und doch erkannte ich bereits am nächsten Morgen, dass es niemals so sein durfte. Ich hatte einen schwerwiegenden Fehler begangen und stellte mir verzweifelt die Frage, wie ich mich bloß von einer Frau hatte in die Irre führen lassen können. Von einer Frau, die ich niemals haben könnte. Denn zusammen mit einer Frau glücklich zu werden und sie bis zum Ende meiner Tage aufrichtig zu lieben, ist nicht die für mein Leben bestimmte Aufgabe. Alice durfte kein Teil meines Lebens sein. Mit diesem Entschluss versuchte ich die folgenden Wochen auf Abstand zu bleiben und den Kontakt zu ihr bestmöglich gering zu halten, bis ich ihn schlussendlich irgendwann komplett abbrechen würde. Aber wen machte ich eigentlich was vor? Hatte ich wirklich geglaubt, sie nach allem einfach abweisen zu können, ohne dass sie sich nicht dagegen widersetzen würde? Vermutlich nicht. Meine distanzierte Art schien sie zuerst etwas zu verunsichern und sie wusste nicht, wie sie mit mir umgehen sollte. Ich habe ihr angemerkt, dass sie mich nicht verlieren wollte, weshalb sie sich wohl dazu entschied, mir etwas Zeit zu geben. Zeit, die mir nicht ausreichte und die ihr zu lang andauerte. Schließlich kam der entscheidende Tag, an dem sie alles auf eine Karte hatte setzen wollen. Gegen meinen Willen besuchte sie mich und stellte mich zur Rede. „Was ist nur los mit dir? Ich mache mir schon die ganze Zeit Sorgen, dass ich irgendwas falsch gemacht habe…“, waren ihre Worte, während ich in meinem Arbeitszimmer stillschweigend auf die Tischplatte starrte. Es überraschte mich nicht, dass sie wieder einmal die Fehler bei sich suchte. Ich hatte ihr ja auch stets allen Grund dazu gegeben. „Wenn es wegen dieser Nacht ist-“, setzte sie an, doch ich unterbrach sie sofort, da ich nicht über dieses Thema sprechen wollte. „Ist es nicht.“ Ihre Augen verengten sich und sie presste die Lippen fest zusammen, bevor sie in mit aufbrausender Stimme erwiderte: „Natürlich! Genau seitdem meidest du mich. Du siehst mich nicht einmal mehr an…“ Der letzte Satz war lediglich ein leises Flüstern. Es stimmte, dass ich sie nicht mehr ansah. Weil ich ihren Anblick nicht mehr ertragen konnte. Ich hörte, wie sie langsam auf mich zukam und sich anschließend mit den Händen auf den Schreibtisch abstützte. „Renya, bitte, sieh mich an…“, wimmerte sie, während ihr ein paar silberne Haarsträhnen über die Schultern fielen und sie vergebens meinen Blick suchte. „Du flehst wegen Nichtigkeiten.“, antwortete ich und erhob mich von meinem Stuhl, um ihr nicht mehr so nah sein zu müssen. Ich spürte, wie ihre Augen mir zum Fenster folgten und sie weiterhin an der Stelle stehen blieb. „Nein. Ich will wissen, warum du so zu mir bist… Mochtest du es nicht? Ist es das?“ Ich schüttelte den Kopf. Genau da lag das Problem: Ich mochte es. „Was dann? Sag es mir doch…“, drängte sie, woraufhin ich mir doch eine Antwort zurechtlegte: „Ich weiß einfach nicht, ob es richtig war.“ „Für mich war es das.“ Ihre Stimme klang aufrichtig. Näher. „Für dich…“, entgegnete ich leise. Kurz darauf zuckte ich innerlich zusammen, als sie plötzlich nach meiner Hand griff und hinter mir verharrte. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, seit sie mich das letzte Mal berührt hatte. Ein Gefühl wie Sehnsucht baute sich in mir auf. Aber ich ging nicht weiter drauf ein. „Weißt du, ich bin eigentlich hierhergekommen, weil ich dir etwas erzählen wollte… aber wenn ich dich jetzt so ansehe, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das wirklich noch will…“, begann sie nach einer Weile zögernd. Ein wenig neugierig war ich schon, worum es sich handeln könnte. „Sag es, damit dein Weg nicht umsonst war.“ Meine Haltung wurde automatisch wachsamer, als ihre Hand auf einmal anfing zu zittern. Also war es wohl keine gute Neuigkeit. „Ich…“ Ihre Stimme versagte. Ich entschied mich doch dazu, den Kopf zu ihr zu drehen. Mit einem ernsten Blick in den Augen hakte ich nach: „Ja?“ Jetzt war sie diejenige, die mich nicht ansehen wollte. Ihr ganzer Körper spannte sich an, bevor sie schließlich fortfuhr: „…bin schwanger…“ Der Schock erfasste mich nahezu wie eine gewaltige Schneelawine. Meine Augen weiteten sich. Plötzlich begann ich, an der Realität zu zweifeln. „Schwanger?“, wiederholte ich möglichst gefasst. „Von wem?“ Die Antwort lag klar auf der Hand. Jedoch wollte ich es einfach nicht wahrhaben. Sie verzog ihr Gesicht vor Schmerz und Entsetzen. „Soll das ein Witz sein? Von dir natürlich…!“ Ich schluckte. Versuchte, ruhig zu bleiben. Ein Teil in mir weigerte sich noch immer, es zu akzeptieren. Und ich ließ zu, dass dieser Teil die Oberhand gewann. Ein ironisches Lächeln bildete sich auf meine Lippen und ich gab ein weiteres Kopfschütteln von mir, was sie zu kränken schien. „Warum glaubst du mir nicht? Wie oft habe ich dir bereits gesagt, dass ich nicht mehr zum Bordell gehe? Ich habe mit niemanden außer dir geschlafen…“, versuchte sie mich zu überzeugen, obwohl sie das keinesfalls musste, da ich ihr in Wirklichkeit glaubte. Trotzdem warf ich ihr vor: „Du lügst.“ Dabei war es eher mein egoistischer Wille, der sich wünschte, sie würde lügen. Tränen fingen an über ihre Wangen zu laufen. „Bitte sag sowas nicht…“, flehte sie mit gebrochener Stimme. Es tat mir weh, sie so zu sehen. Aber mir blieb keine andere Wahl, wenn ich ihre reine Seele nicht beschmutzen wollte. Sie war ohne mich besser dran. „Wieso? Denkst du, ich falle darauf rein? Bestimmt war das von Anfang an dein Plan gewesen.“, behauptete ich. „Plan…?“ Sie wusste nicht, wovon ich sprach. Natürlich nicht. Denn es gab immerhin keinen Plan. Nur den Plan, der gerade in meinem Kopf Gestalt annahm. „Erst machst du dich an mich ran, drängst dich mir förmlich auf und jetzt willst du mir auch noch ein Kind aufhalsen, damit ich dich gar nicht mehr loswerde und mir bloß die Wahl bleibt, ob ich dir jeden Monat Geld überweise oder dich gleich bei mir einziehen lasse? Das kannst du dir sofort wieder aus dem Kopf streichen. Diese Masche ist mir zuwider.“ Nach meinen Worten war sie wie erwartet völlig erschüttert. Ihr ganzer Körper zitterte. Ihr Gesicht war von Schock gezeichnet und versteinert, während ihr weiterhin Tränen aus den Augen wichen. „Nein, das… stimmt nicht… wie kannst du so etwas behaupten…“, war alles, was sie dazu sagen konnte. „Wenn es nicht wegen meines Geldes war, warum solltest du dann die ganze Zeit über nie von meiner Seite gewichen sein und am Ende mit mir geschlafen haben? Du willst mir nicht erzählen, dass du so jemanden wie mich-“ „Dass ich so jemanden wie dich lieben könnte?! Doch, genau das tue ich!“, fiel sie mir schluchzend ins Wort. Ich erstarrte. „Verstehst du denn nicht? Ich will nicht dein Geld, sondern dich! Mir ist dein Vermögen vollkommen egal!“, schrie sie hastig, während sie die Arme um mich legte und sich an meinen Rücken schmiegte. „Ich will doch nur… für immer bei dir sein… und eine Familie mit dir…“ Ich stellte mir dieses Szenario unweigerlich vor. Ihre Worte berührten mich so sehr, dass ich kurz davor war, einfach nachzugeben. Doch tief im Inneren wusste ich, dass das, was sie sich vom ganzen Herzen wünschte, niemals möglich sein würde. Ich könnte sie nie vollends glücklich machen. Wäre sowohl ein miserabler Vater als auch Ehemann. Sie sollte so jemanden wie mich nicht lieben. Sie brauchte mich nicht und konnte ohne mich ein viel sichereres Leben führen. Ein Leben, das irgendwann vorbei wäre, noch bevor ich überhaupt einen Fuß in den Sarg gesetzt hätte. Sie und das Kind würden älter werden. Ich dagegen nicht. Schon allein aus diesem Grund würde es niemals funktionieren. Und so beschloss ich, dass es das Beste für alle wäre, wenn ich sie endgültig abwies. „Ich empfinde… gar nichts für dich. Nicht das Geringste.“, sprach ich. Daraufhin glitten ihre Arme von meinem Körper. Ein zittriger Atemzug entwich ihr. Ich konnte förmlich sehen, wie ihr Herz in Tausende Scherben zerbrach und sie folglich fast den Halt unter den Füßen verlor. „Das ist nicht wahr…“, erwiderte sie und schüttelte energisch den Kopf. „Doch, ist es.“, beharrte ich. „Ich will dich nicht in meinem Leben haben.“ Es vergingen ein paar Sekunden in Stille, in der sie verzweifelt versuchte, meine Worte zu verarbeiten. „Verstehe…“ Sie zwang sich ein Lächeln voller Schmerz auf. „Letztlich wäre ich wohl nie gut genug für dich gewesen, was?“ „Korrekt.“, bestätigte ich. Das war das, was sie meinetwegen glauben sollte. Ich schaute sie eine Weile schweigend an. Beobachtete, wie die Tränen unaufhörlich über ihre Wangen strömten und fragte mich, was um aller Welt ich angerichtet hatte. Ich glaubte, dass sogar ein Mord nichts im Vergleich zu dem war, was mein Verhalten und meine Worte soeben in ihr ausgelöst hatten. Sie sollte mich am besten so schnell wie möglich vergessen. „Geh jetzt. Und komm nie wieder her.“, riet ich ihr und ließ es wie einen Befehl klingen. „Okay…“, antwortete sie heiser. Ihre Miene war vollkommen leer, als sie sich von mir wegdrehte und bis zur Tür ging. Dort angekommen sagte sie zu mir: „Mir war seit unserer ersten Begegnung klar gewesen, dass du ein besonderer, vielleicht auch etwas komplizierter Mensch bist… und ich daher deinen Ansprüchen niemals gerecht werden könnte, egal wie sehr ich mich bemüht hätte. Ich habe gewusst, dass ich mich besser nicht in dich verlieben sollte. Dass du mich ablehnen würdest, weil du schon immer eine kaltherzige Seite an dir hattest, mit der ich manchmal nicht zurechtgekommen bin… Aber ich hatte Hoffnung. Hoffnung, dass du meine Liebe vielleicht doch erwidern würdest. Und auch wenn du das jetzt noch nicht kannst, wünsche ich mir dennoch, dass dieser Tag kommen wird und du anfängst du begreifen, wie wichtig du mir wirklich warst. Leb wohl…“ Danach ging sie fort. Das war das letzte Mal, dass ich sie lebend gesehen habe. Und hätte ich das in diesem Moment gewusst, hätte ich sie womöglich aufgehalten. Monatelang hörte ich nichts von ihr. Lebte mein Leben, als hätte es sie nie gegeben, während ich zugleich hoffte, dass sie dasselbe tat. Ich ahnte nicht, wie sehr ich mich diesbezüglich irrte und dass die bittere Strafe für meine Entscheidung schon so gut wie in meiner Tür stand. Wortwörtlich. Denn als ich eines Morgens nach draußen gehen wollte, stand vor meinen Füßen plötzlich ein geflochtener Korb, versehen mit ihrem roten Schal und drinnen befand sich ein schlafender Säugling. Ich traute meinen eigenen Augen nicht. Den beigelegten Brief las ich erst gar nicht, sondern stellte den Korb vorerst in den Flur und machte mich sofort auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Aber ich kam zu spät. Von Weitem sah ich, dass direkt vor ihrem Wohnblock eine größere Menschenmasse versammelt war und jeder von ihnen auf dieselbe Stelle zu starren schien. Stutzig näherte ich mich dem Geschehen, wobei ich schockierte Worte wie: „Sie ist tot!“ und „Ist sie etwa von da oben runtergesprungen? Wie schrecklich!“ erhaschte. Mir wurde schwindelig. Ich hielt das Ganze für einen Albtraum. Bahnte mir einen Weg durch die Menschenmasse, bis ich sie schließlich liegend auf dem Bürgersteig erblickte. Zweifellos tot. Ihre silbernen Haare waren blutgetränkt. Sie trug eines ihrer Lieblingskleider, welches längst zu groß für ihren abgemagerten Körper wirkte. Das war nicht mehr die Alice, die ich gekannt hatte. Erst da realisierte ich vollständig, wie sehr ich ihr wirklich weh getan hatte. Dass das vor meinen Augen nur meinetwegen passiert war. Und dass ich es hätte verhindern können, wenn ich rechtzeitig den Weg zu ihr zurück gesucht oder sie gar nicht erst abgewiesen hätte. Mein Mund öffnete sich. Ich wollte schreien. Aber mir entwich kein einziger Ton. Ich stand nur reglos am Fleck, während ich innerlich darauf wartete, dass das Bild vor meinen Augen verschwand und ich aufwachte. Doch nichts änderte sich. „Kennen Sie diese Frau?“, fragte mich jemand. Die fremde Stimme holte mich langsam wieder zurück in die Realität. Ich entspannte meine Haltung und antwortete tonlos mit einem „Nein.“, bevor ich mich umdrehte und ging. Zuhause angekommen stellte ich fest, dass der Säugling aufgewacht war und schrie, als würde er es bereits wissen. Ich stand mindestens eine Stunde reglos im Flur und suchte in Gedanken nach einer Lösung, was ich mit diesem Kind anstellen sollte. Auf dem beigelegten Brief stand unter anderem, dass es den Namen Jin trug. Mir kam als Erstes in den Sinn, dass ich es einfach in ein Waisenhaus oder an einen ähnlichen Ort bringen könnte. Doch da drängte sich der idiotische Gedanke in meinen Kopf, dass ich Alice somit auch im Jenseits noch ein zweites Mal das Herz brechen würde. Offensichtlich hatte sie gewollt, dass das Kind bei mir blieb. Und daher beschloss ich, ihr zumindest diesen letzten Willen zu erfüllen. Auch wenn ich dieses Kind nicht wollte und es in gewissermaßen als eine Strafe betrachtete, mit der ich nun im Leben zurechtkommen musste, weil ich Alices Leben auf dem Gewissen hatte. Umso älter das Kind wurde, desto mehr realisierte ich, wie sehr ich es wirklich nicht wollte. Ich konnte ihm nicht mal in die Augen schauen. Weil es meine eigenen Augen waren, die mich jedes Mal wieder hilflos angeschaut und sich nach meiner Aufmerksamkeit gesehnt hatten. Egal, wie oft ich ihm erzählt habe, dass seine echten Eltern tot sind, redete er mich dennoch ständig mit ‚Vater‘ an, wofür ich ihn immer wieder anschrie und zum Weinen brachte. Sogar einen anderen Nachnamen habe ich ihm gegeben, um zu verhindern, dass er später Nachforschungen über seine Herkunft anstellen könnte. Die Erziehung habe ich weitestgehend einer alten Bekannten von mir überlassen. Sharon Vineyard, eine sehr berühmte Schauspielerin, die ihre Karriere nur sehr ungern wegen eines fremden Kindes unterbrochen hatte. Sie tat es nur aus dem Grund, weil ich ihr im Gegenzug einen kleinen Teil des ewigen Lebens versprochen hatte, damit sie ihre verlorenen Jahre wieder aufholen könnte. In Wirklichkeit gab ich ihr nur eine Billigkopie aus meinem Labor, welches den Körper lediglich einmal verjüngert und den Fluss der Zeit nicht vollständig anhält. Aber das hat sie nie herausfinden können, da sie schließlich erst vor Kurzem das Zeitliche segnete. Dank ihrer Hilfe war es mir möglich, mich die meiste Zeit über von dem Kind fernzuhalten, auch wenn das nicht immer funktionierte und es ab und zu danach verlangte, mich zu sehen. Abgesehen davon machte Sharon ihre Aufgabe sehr gut. Schon nach kurzer Zeit liebte sie Jin wie einen eigenen Sohn. Doch je älter er wurde, desto mehr wuchs diese Liebe weit über die einer normalen Mutter-Sohn-Beziehung hinaus. Ich habe es ignoriert, da Jin sie nie wirklich als seine Mutter betrachtet hatte. Er hat sie nicht einmal mit ‚Mutter‘ angesprochen und sich meist mit ihr gestritten, wodurch ich recht schnell mitbekam, dass er sie eigentlich überhaupt nicht ausstehen konnte. Das änderte sich auch nicht, als Sharon ihre Identität auswechselte und als ihre „Tochter“ namens Chris zurückkam, nachdem ich ihr wie versprochen die Billigkopie des Elixiers gegeben hatte. In der Schule war Jin größtenteils allein. Ich kann mich zumindest nicht daran erinnern, dass er jemals einen Freund oder eine Freundin mitgebracht hat. Auch Sharon hat mir nie so etwas erzählt. Sie beschwerte sich nur oft über sein stures Verhalten und meinte einmal zu mir, dass er weitaus weniger anstrengend wäre, wenn ich mehr Zeit mit ihm verbringen würde. Aber das nahm ich mir anfangs nicht zu Herzen, sondern fing erst sehr viel später mit kurzen Gesprächen an, um mich langsam an ihn zu gewöhnen. Ich habe stets darauf geachtet, nie eine enge Beziehung zu ihm aufzubauen. Das wollte ich nicht. Er sollte nie die Wahrheit erfahren. Doch letztlich konnte ich es nicht ewig vor ihm geheim halten. Sharon hatte damals wohl recht gehabt, als sie einst zu mir sagte: „Du kannst es zwar weiterhin leugnen, doch er spürt es trotzdem. Er spürt diese ganz persönliche Bindung zu dir. Eine Bindung, die nur Vater und Sohn zueinander haben können. Glaub mir, er wird es eines Tages herausfinden und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst.“   Nach diesen Worten verstummte Renya Karasuma. Rye schwieg ebenso noch für eine Weile, während er das Erzählte auf sich wirken ließ und den Boss nachdenklich betrachtete. Nie hätte er gedacht, dass er in einer kurzen Zeit je so viel über ihn erfahren würde. Und das als Einziger. Zwar war Rye über dieses Privileg erfreut, doch die Geschichte an sich löste eher gemischte Gefühle in ihm aus. Ein wenig konnte er das Verhalten und die Entscheidung des Mannes nachvollziehen. Aber da gab es auch einiges, was er nicht verstand oder einfach für unverzeihlich hielt. Er fühlte einen Schmerz in der Brust, wenn er an Gins Mutter zurückdachte, welche so ein Ende niemals verdient hatte. Sie war noch so jung gewesen, als sie ihrer Liebe zu diesem kaltherzigen Menschen zum Opfer gefallen war. Hatte nie miterleben können, wie ihr eigener Sohn heranwuchs und was letzten Endes aus ihm wurde. Wobei sich Rye sicher war, dass Gin nicht derselbe wäre wie jetzt, wenn seine Mutter ihn nicht allein gelassen hätte. Gewiss war das nicht ihre Absicht gewesen. Wahrscheinlich war es so, wie der Boss gesagt hatte: Sie hatte sich wohl einfach überfordert gefühlt. Ein Kind allein großzuziehen und das ohne ausreichendes Einkommen war schon eine Herausforderung, die nicht jeder allein bewältigen konnte. Noch dazu hatte der Liebeskummer vielleicht dazu beigetragen, dass es ihrer Psyche noch schlimmer ergangen war. Rye würde es deswegen keinesfalls wagen, sie für irgendwas zu verurteilen. Diese Frau namens Sharon allerdings schon, bei welcher es sich zweifellos um Vermouth handeln musste. Das würde auch erklären, warum sie damals so seltsam reagiert hatte, als Rye in Erfahrung bringen wollte, ob sie und Gin Kindheitsfreunde seien. Sie hatte den Silberhaarigen offensichtlich nicht deshalb so gut gekannt, sondern weil sie so etwas wie seine Ersatzmutter gewesen war. Allerdings schien Gin keinen blassen Schimmer zu haben, dass es sich bei Vermouth und Sharon um dieselbe Person handelte. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass Vermouth die Tochter von Sharon war und den Namen Chris trug. Denn würde er es wissen, hätte er damals nie mit ihr geschlafen. Inzwischen kam Rye die Vorstellung noch widerlicher vor und plötzlich wünschte er sich, diese Frau noch ein zweites Mal umbringen zu können. Auf eine noch brutalere Weise, wie sie es für ihre Tat verdient hätte. Seinen Ärger ließ sich Rye vor dem Boss nicht anmerken. Gedanklich versuchte er sich passende Worte zurechtzulegen, doch es gelang ihm nicht. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll…“, begann er schließlich. Der Ältere warf ihm ein ironisches Lächeln zu. „Es ist egal, was du sagst. Es ändert nichts mehr.“, antwortete er kalt, wobei Rye ihm nicht zustimmte. Für manche Dinge war es noch nicht zu spät, etwas zu ändern. Besonders, was das Verhältnis zwischen dem Boss und Gin betraf. „Sobald Gin nicht mehr in der Organisation ist, wird sich ihr Verhältnis ohnehin verändern. Dann kann der Alte ihm theoretisch keine Befehle mehr erteilen, weil Gin dann nicht mehr für ihn arbeitet. Vielleicht könnten sie wenigstens versuchen, wie Vater und Sohn zueinander zu stehen. Aber die Chance, dass das passiert, ist wohl sehr gering… dieser sture, alte Mann würde das nie wollen…“, verfiel Rye in Überlegungen. Doch auch wenn die Chancen schlecht standen, wollte er zumindest versuchen, den Boss zu überzeugen. „Sie sollten Gin im Krankenhaus besuchen. Er braucht jemanden an seiner Seite, wenn er wieder bei Bewusstsein ist.“, schlug er vor, woraufhin sein Gegenüber ihn zuerst ungläubig ansah, bevor er mit einem gequälten Gesichtsausdruck auf seine Hände schaute. „Ich glaube nicht, dass er mich noch sehen will.“ „Sie sind sein Vater.“, erinnerte der Schwarzhaarige ihn. Aber es war zwecklos. „Kinder können ihre Väter auch hassen. Und er hat allen Grund dazu.“ „Deswegen sollten Sie mit ihm reden.“ Stille. Rye bekam keine Antwort mehr darauf. Er konnte auch nicht erkennen, ob der Boss es wirklich tun würde oder nicht. Letztlich lag die Entscheidung bei ihm. Und auch bei Gin, ob er seinem Vater wirklich verzeihen würde, wenn dieser ihn darum bat. Vermutlich würde weder das eine noch das andere passieren. Nichtsdestotrotz war es langsam an der Zeit, das Thema zu wechseln. „Im Übrigen gibt es da noch etwas, was Sie wissen sollten.“, sagte Rye. Der Boss hob seinen Blick wieder. „Das wäre?“ „Eclipse wollte von Gin dieses Elixier des ewigen Lebens. Ich weiß nicht, ob…“ Rye ließ den Satz in der Luft hängen. Die Forderung von diesem Connor bereitete ihm große Sorgen. Zwar hoffte er, dass Eclipse Gin in Ruhe lassen würde, wenn er ihn verließ, aber eine Garantie gab es dafür nicht. Und bevor er die nicht hatte, konnte er seinen Geliebten nicht sich selbst überlassen und somit riskieren, dass ihm erneut etwas zustieß. „Warum von ihm?“, hakte der Boss skeptisch nach. „Dieser Connor hat gesagt, Gin könnte es von Ihnen besorgen. Weil ihr euch doch so nah steht.“ Der Sarkasmus in Ryes Stimme war nicht zu überhören, was der Boss mit einem abfälligen Lächeln erwiderte. „Dieser Schuft. Ihm fällt auch immer wieder irgendwas Neues ein.“ „Ich habe Angst, dass sie Gin diesbezüglich nochmal belästigen werden…“, äußerte Rye seine Befürchtung. Scheinbar war dieser Connor sehr kreativ, wenn es darum ging, das Elixier des ewigen Lebens in seine Hände zu bekommen. Zum Glück war alles bisher erfolglos gewesen. „Das brauchst du nicht. Ich kümmere mich zeitnah darum.“, meinte der Boss beschwichtigend, womit er Ryes Zweifel nicht komplett vertreiben konnte. „Sind Sie sich sicher? Was, wenn Eclipse ihn als Druckmittel verwenden wird?“, fragte er, auch wenn er bereits ahnte, dass eine solche Methode dem Boss nichts ausmachen würde. Das bestätigte vor allem dessen Antwort. „Connor geht davon aus, dass das Elixier für mich oberste Priorität hat. Außerdem habe ich dir doch bereits gesagt, dass ich mich nicht erpressen lasse.“ „Aber-“ „Ich weiß deine Sorgen zu schätzen. Doch du kannst das ruhig mir überlassen. Gin passiert schon nichts mehr.“, versprach er. Wie er dieses Versprechen allerdings plante umzusetzen, war Rye ein Rätsel. „Ich würde mir auch keine Sorgen machen, wenn sie nicht dazu in der Lage wären, genügend andere Kreaturen wie mich zu erschaffen… Zwar habe ich fast alle, die mir in die Quere gekommen sind, vernichtet… doch was hält sie davon ab, nicht noch mehr zu erschaffen?“ Die Antwort war in seinen Augen ganz einfach: Nichts. Rein gar nichts würde Eclipse davon abhalten. Wenn sie wollten, könnten sie in wenigen Tagen eine ganze Invasion von Vampiren auf die Menschheit loslassen. Doch der Boss schien sich über solch ein Szenario keinerlei Gedanken zu machen. Er wirkte noch immer vollkommen gelassen. „Das ist nicht ihr Ziel. Sie wollen vollkommene, unsterbliche Vampire. Und um die zu erschaffen, brauchen sie das Elixier. Wahrscheinlich haben sie das Gift nur an andere Mitglieder getestet, um genügend Leute zu haben, die es mit dir aufnehmen können. Genau aus diesem Grund solltest du dich in Zukunft lieber im Hintergrund halten und nichts tun, was ihre Aufmerksamkeit erneut auf dich ziehen könnte. Es ist wichtig, dass du dich auf keinen Fall nochmal von ihnen finden lässt, geschweige denn ihnen einen Hinweis auf deinen Aufenthaltsort gibst. Verstehst du das?“, erklärte er mit einem warnenden Unterton in der Stimme, was für Rye zwar halbwegs einleuchtend klang, jedoch dessen Sorgen nicht fortspülte. „Ich kann mein Bestes versuchen. Dennoch ist diese Organisation eine zu große Bedrohung, um sie weiterhin bestehen zu lassen. Sie sollten vernichtet werden, zusammen mit allen Aufzeichnungen, die über dieses seltsame Gift existieren.“, schlug er vor. Doch wer wäre dazu imstande? Wahrscheinlich niemand. Auch nicht Renya Karasuma, denn sonst wäre das wohl schon längst geschehen. „Du könntest es tun.“, meinte dieser plötzlich. Das konnte unmöglich sein Ernst sein. So sehr Rye Eclipse auch auslöschen wollte, wäre er dazu schlichtweg nicht in der Lage. Er hatte schon mit vier Vampiren Probleme gehabt. Mehr wären definitiv zu viel für ihn. Zumal er nicht einschätzen konnte, welche Art von Waffen Eclipse noch besitzen könnte. Vielleicht waren sie noch furchterregender, als es sich Rye in seinen Albträumen je vorgestellt hatte. „Dafür bin ich wirklich nicht stark genug…“, gestand er. Für den Boss schien das eine billige Ausrede zu sein. „Das kannst du sagen, nachdem du gescheitert bist.“ Die Worte sollten Rye womöglich Mut zusprechen, allerdings brachten sie ihn eher auf den Gedanken, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nichts mehr sagen könnte, wenn er scheiterte. Da er dann wahrscheinlich nicht mehr existieren würde. „Ich weiß nicht mal, wo sich ihr Stützpunkt befindet.“, fiel ihm zudem ein. Zwar waren ihn einige Räumlichkeiten von der Einrichtung bekannt, aber deswegen wusste er noch lange nicht, wie er überhaupt zu Eclipse gelangen sollte. Und ein Gefühl verriet ihm, dass er das auch vor seinem Gedächtnisverlust nicht gewusst hatte. „Ich war… verloren…“ Ein Grinsen erschien im Gesicht des Bosses, bevor er entgegnete: „Es ist auch nahezu unmöglich, diese Insel zu finden. Sie ist in keiner Karte eingezeichnet und besitzt nicht einmal Koordinaten. Faktisch gesehen könnte man davon ausgehen, dass sie gar nicht erst existiert. Und selbst wenn du es schaffen würdest, in die Nähe zu gelangen, würden sie dein Fortbewegungsmittel innerhalb weniger Sekunden auslöschen.“ „Und wenn ich-“ „Auch ohne würden sie dich sehr schnell bemerken.“, fiel er Rye ins Wort und machte somit dessen Idee zunichte, bevor er sie überhaupt hatte aussprechen können. Er runzelte verwirrt die Stirn. „Und wie soll ich es dann je mit ihnen aufnehmen können?“, wollte er wissen. Wenn er sie nicht finden konnte, sondern zuerst von ihnen gefunden werden musste, wäre wirklich alles vollkommen hoffnungslos und zu spät. „Indem du dich klüger anstellst und dir eine andere Möglichkeit ausdenkst, auf diese Insel zu kommen.“, schoss der Boss in strenger Tonlage zurück. Rye schwieg eine Weile und ließ sich das Ganze durch den Kopf gehen. Klüger? Wie? Und welche anderen Möglichkeiten gab es? Während er nach Antworten suchte, wurde ihm schon nach kurzer Zeit klar, dass es keine Rolle spielte. Denn selbst wenn er eine Möglichkeit fand, würde er sie niemals umsetzen, weil… „Aber das willst du nicht, hab ich recht? Du läufst lieber davon. Weil du Angst vor dem hast, was vor deinem Gedächtnisverlust passiert ist. Du hast Angst vor den Fehlern, die du gemacht haben könntest.“ Ein eiskalter Schauer kroch über Ryes Rücken. Es war die Wahrheit. Er hatte eine furchtbare Angst vor dem, was vor seinem Gedächtnisverlust passiert war. Bestimmt hatte er viele Menschen im Stich gelassen. Er musste an die beiden Gestalten aus seinem letzten Traum denken, die wahrscheinlich noch immer in Eclipse gefangen oder längst tot waren. Ein Teil in ihm wollte diese Menschen retten, doch ein anderer Teil weigerte sich auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden. Denn da hatte es nicht nur Menschen gegeben, die ihm wichtig gewesen waren. Sondern auch Menschen, die ihm Schaden zugefügt hatten. Folter. Schikane. Intrige. Seine Albträume hatten ihm genug Hinweise darauf geliefert, was er schon alles hatte durchleiden müssen. Tagtäglich. So vieles war verboten gewesen. So viele Regeln hatte er gebrochen. So viele Strafen hatte er ertragen müssen. Ryes Kopf fing an, schmerzhaft zu pochen. „Ich… werde niemals dorthin zurückkehren können…“, sagte er leise und fasste sich an die Stirn. Es war besser, wenn er die Erinnerungen nicht weiter heraufbeschwor. Sie sollten für immer in ferner Dunkelheit in Vergessenheit bleiben. „Deine Entscheidung.“, antwortete der Boss schulterzuckend. Dessen Gleichgültigkeit verstand Rye nicht. Vielleicht war er es inzwischen nicht anders gewohnt und hatte gelernt, mit Eclipses Machtaufstieg zu leben. Doch warum schaute er nur zu? „Und was ist mit Ihnen? Können Sie nichts tun?“, fragte Rye. „Mein Labor ist nicht in die Richtung ausgestattet, irgendwelche Mittel zu entwickeln, die Menschen in übernatürliche Wesen verwandeln. Ich habe das bewusst immer abgelehnt, weil ich Eclipses Ideologie zutiefst verabscheue. Selbst als Menschen sind die Leute, die dort arbeiten, nicht zu unterschätzen.“ Die Stimme des Bosses war voller Abscheu. Doch das Gesagte weckte neues Interesse in Rye. „Was für Leute denn?“, hakte er nach. „Unterschiedlich. Die meisten klugen Köpfe haben sie sich mit hohen Geldsummen erkauft. Bei ihren Wissenschaftlern handelt es sich oftmals um Menschen, die von ihrer Forschungsgesellschaft ausgegrenzt und verspottet wurden. Finanziert wird das Ganze größtenteils von einflussreichen Personen, die ebenfalls von ihrer Ideologie überzeugt sind und ihre Projekte dementsprechend unterstützen wollen. In der Öffentlichkeit selbstverständlich unter einem anderen Vorwand.“, erklärte der Boss, wobei Ryes Augen vor Erstaunen groß wurden. Das waren tatsächlich interessante Informationen. Scheinbar steckte noch viel mehr dahinter, als er gedacht hatte. „In der Öffentlichkeit? Eclipse ist doch soweit ich weiß nur in der Unterwelt bekannt.“ Zumindest hatte Rye sonst noch nie etwas außerhalb der Unterwelt von Eclipse gehört. Der Boss nickte ihm zu und erwiderte tonlos: „Das stimmt. Die Öffentlichkeit kennt Eclipse jedoch unter dem Namen Liva Jaula. Ein Hilfswerk, welches es sich zur Aufgabe gemacht hat, Waisenkindern und Obdachlosen ein Zuhause zu geben und sie nach langer Vorbereitung wieder in die Arbeitswelt einzugliedern.“ Unmittelbar darauf durchfuhr Rye ein Stich und seine Kopfschmerzen verschlimmerten sich. Irgendwie war ihm auf einmal so, als hätte er diese Information nicht zum ersten Mal gehört. „Liva Jaula… schützender Käfig… es war… wie ein Gefängnis…“, kreisten seine Gedanken. Er kniff die Augen zusammen. „Schätze, du hast wohl zu einer der beiden Gruppen gehört. Diese in ihren Augen minderwertigen Menschen benutzen sie für ihre Forschungsprojekte. Wie genau das aber abläuft, weiß ich nicht.“, fuhr der Boss fort. Rye versuchte die Worte auszublenden. Er durfte nicht weiter nachhaken. Noch mehr und die Erinnerungen würden womöglich auf ihn einstürzen. „Verstehe. Trotzdem danke für die Informationen.“ „Würdest du dich erinnern, wären diese Informationen nicht neu für dich.“ „Vermutlich…“, stimmte Rye dem Älteren zu. „Aber ich werde mich nicht erinnern. Nie mehr.“ Sein Leben in Eclipse war Geschichte. Eine Geschichte, dessen Buch zu Ende geschrieben war und dessen Seiten er verbrannt hatte. Er sollte nicht weiter in der verbliebenen Asche wühlen. „Bevor ich das auch noch vergesse… könnten Sie das hier Gin bitte zurückgeben, wenn Sie ihn im Krankenhaus besuchen?“ Er trat an den Schreibtisch des Bosses und überreichte ihm Gins beschädigtes Smartphone. Eigentlich hätte Rye es ihm selbst zurückgeben können, aber dann würde der alte Mann keinen Grund haben, dem Silberhaarigen einen Besuch abzustatten. Der Boss musterte das Gerät ein paar Sekunden, bevor er nachdenklich die Augen verengte und es beiseitelegte. „Vielleicht.“ Rye lächelte ihn schelmisch an. Er war gespannt, ob sein Gegenüber Gin wirklich besuchen und mit ihm reden würde. Vielleicht würde er das noch erfahren, bevor er ging. „Ich schätze, das ist dann wohl das letzte Mal gewesen, dass wir uns sehen.“, meinte er im gespielt bedauerlichen Tonfall. Der Boss warf ihm ebenfalls ein kurzes Lächeln zu und antwortete: „Und das ist auch gut so.“ „Finde ich auch.“ Wahrscheinlich würden sie einander niemals vermissen. Aber dennoch wollte Rye mit seinem Abschied noch etwas Wichtiges loswerden: „Leben Sie wohl, Renya Karasuma. Ich möchte Ihnen für alles danken, was Sie trotz Ihrer Abneigung gegen Vampire für mich getan haben. Ich werde die Zeit in Ihrer Organisation für den Rest meines Daseins in guter Erinnerung behalten.“ Das war vollkommen ehrlich gemeint. Er würde seine Erlebnisse in dieser Organisation niemals vergessen. Vor allem würde er Gin niemals vergessen. Seine Liebe zu ihm würde bis zu seinem endgültigen Todestag bestehen. Egal, wie weit sie voneinander entfernt wären. „Es ist ein bisschen zu spät für solche Schmeicheleien, meinst du nicht?“, erwiderte der Boss zwar im ironischen Ton, doch Rye sah ihm an, dass er den Worten Glauben schenkte. „Schon, aber besser spät als nie.“ Rye entfernte sich vom Schreibtisch und ging zur Tür. Dort angekommen, drehte er sich ein letztes Mal um und fügte hinzu: „Bitte halten Sie Ihr Versprechen ein.“ „Natürlich.“, schwor der Boss, bevor auch er sich verabschiedete: „Leb wohl, Rye. Ich bin gespannt, wo dein neuer Weg dich hinführen wird.“ „Ich auch…“, flüsterte Rye kaum hörbar, während er die Klinke herunterdrückte und das Büro von Renya Karasuma für immer verließ. Kapitel 43: Erwachen -------------------- Bilder in Scherben. Längst vergangene Zeiten. Verschwommene Gesichter in nie endender Dunkelheit. Unerreichbare Personen in weiter Ferne. Wie ein Film im Schnelldurchlauf rauschten Szenen aus seinem Leben vorbei. Er sah Vater, der ihn beim Abendessen aus dem Augenwinkel kaum merklich anlächelte. Tante Sharon hinter ihm im Spiegel, wie sie mühevoll versuchte, seinem viel jüngeren Ich das Haar zu kämmen. Regentropfen, die im Wasser landeten, als er gedankenverloren in eine Quelle im Park starrte. Das Sonnenlicht, wie es ihn an einen frühen Morgen am Fenster blendete, nachdem er die Vorhänge zur Seite geschoben hatte. Er konnte diese Erinnerungen nicht erfassen. Nicht einfangen oder festhalten. Ebenso wenig war es ihm möglich seine Arme, geschweige denn seine Finger zu spüren. Selbst seine eigene Atmung war nicht wahrnehmbar und schien zusammen mit dem dafür notwendigen Körper in der Dunkelheit verloren gegangen zu sein. Eine Dunkelheit, die langsam einem warmen Licht wich, welches ihn wie eine Umarmung umschloss und willkommen hieß. „Nein… ich muss… leben…“ Von irgendwoher konnte er eine vertraute Stimme hören. Sie klang erschöpft. Kraftlos. Er wollte zu ihr gelangen, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte. Er war einfach zu schwach. Schließlich war er nur ein Mensch und hatte nur menschliche Kräfte. „Mensch… richtig, ich bin ein Mensch… wer… bin ich?“ Er erkannte, dass die Stimme, welche er zuvor gehört hatte, seine eigene war. „Was ist passiert…?“ Erneut tauchten Bilder auf und füllten die farblose Leere um ihn herum mit Leben. Gesichter, deren Namen er auf einmal nicht mehr nennen konnte. Eines der Gesichter tauchte besonders oft auf. Es war schön. So wunderschön und vollkommen. Schwarze, lange Strähnen umrandeten eine bleiche Haut. Grüne Augen funkelten wie zwei Smaragde. Sie gehörten zu… Rye. Irgendwann fiel ihm dieser Name wieder ein. „Stimmt, ich wollte mit ihm leben…“ Dabei war es für einen Menschen unmöglich in einer Welt von Vampiren zu überleben. „Letztlich hab ich ihn doch allein lassen müssen…“ Eigentlich sollte er das so akzeptieren, da es ohnehin zu spät war und es nichts mehr gab, was sich daran noch ändern ließ. Doch aus irgendeinem Grund konnte er das nicht glauben. Das Gesicht des Schwarzhaarigen schlich sich immer wieder in seine Gedanken. Er wollte ihn sehen. Wenigstens noch ein einziges Mal. Doch egal als wie stark sich dieser Wille entpuppte: Rye schien schlichtweg unerreichbar für ihn zu sein. Nein. So leicht durfte er nicht aufgeben. Das passte nicht zu ihm. Entschlossen machte er sich auf die Suche. Auf die Suche nach irgendwelchen Zeichen, die ihm verrieten, dass er noch etwas bewirken konnte und dass noch nicht alles verloren war. Erneut breitete sich Dunkelheit aus und die Bilder wurden klarer. Das Licht sammelte sich und bildete eine Gestalt, die nahezu noch viel heller leuchtete als das Sonnenlicht und deren strahlendes Lächeln einem Engel glich. „Alles ist gut.“, sprach Rye mit seidenweicher Stimme. „Du musst keine Angst mehr haben. Von nun an bleibe ich bei dir. Versprochen.“ Wie von selbst streckte Gin eine Hand nach ihm aus. Und plötzlich konnte er allmählich doch etwas fühlen. Obwohl das Bild vor ihm verblasste, wurde die Dunkelheit kurz darauf von einem tiefen Rot abgelöst. Nun konnte er seinen Körper wieder wahrnehmen, über welchen er schrittweise die Beherrschung zurückgewann. Er spürte das gleichmäßige Klopfen seines Herzens immer deutlicher. Spürte seine Atmung und Finger, die kurz zuckten und über etwas Weiches strichen. Nach und nach tauchten neue Geräusche um ihn herum auf. Unter anderem konnte er leise, regelmäßige Atemzüge irgendwo dicht neben sich zählen. War etwa jemand bei ihm? Gin blinzelte und öffnete seine Augen. Das Licht blendete ihn. Noch konnte er nicht sagen, wo genau er sich befand. Er wusste nur, dass er in einem Bett lag und verkabelt war. Da übermannte ihn das Gefühl eines Déjà-vus. Begleitet von einem erschöpften Stöhnen drehte er den Kopf langsam zur Seite, woraufhin er den Umriss einer Person erkennen konnte, welche neben seinem Bett auf einem Stuhl zu sitzen schien. Für einen kurzen Moment vermischten sich Gins Wunschdenken und seine Erinnerungen an die letzten Ereignisse mit der Realität, sodass es ihm wehmütig über die Lippen wich: „Rye…“ Doch dann klärte sich das Bild und sein Verstand schaltete sich wieder ein. Das neben ihm konnte nicht Rye sein. Dieser würde weder atmen, noch sich in einem Krankenhaus in seine Nähe wagen. Aber wer… „Tut mir leid, deine Erwartungen enttäuschen zu müssen.“ Beim Erklingen dieser strengen, kalten Stimme wurde Gins Körper umgehend von einer Schockwelle erfasst, die ihn erst jetzt spüren ließ, wie viele Dutzend Verletzungen er scheinbar überlebt hatte. Allein sein Bein fühlte sich an wie ein einzig dicker Klumpen. Zudem gab es kaum eine Stelle oder ein Körperteil, welches nicht von Schmerzen geplagt war. Insbesondere sein Kopf drohte beinahe zu platzen. Doch das alles versuchte er irgendwie zu ignorieren, um stattdessen der Person neben sich eine Frage zu stellen: „Wieso bist du hier?“ Gin hätte es nicht einmal im Traum für möglich gehalten, dass ausgerechnet dieser Mann ihn hier besuchen würde. Wie hatte er überhaupt so schnell davon erfahren können? „Vielleicht hat Rye es ihm erzählt…“, vermutete Gin. „Ich weiß gar nicht, wie lange ich eigentlich bewusstlos war…“ Zwar war ihm die Zeitspanne nur wie ein kurzer Wimpernschlag vorgekommen, doch das bedeutete nicht, dass er nicht auch tagelang geschlafen haben könnte. Fragen wollte er den Boss dies aber nicht, welcher ihn mit einer Mischung aus Reue und Erbitterung in den Augen musterte. Der Ausdruck verlieh seinem Gesicht eine fremde, ungewohnte Wirkung, die Gin etwas überraschte, jedoch nicht dessen inneren Groll vertrieb. Denn während sich seine Gedanken allmählich wieder ordneten, fielen ihm auch wieder die Worte von Connor ein. Und diese Worte sorgten dafür, dass er in seinem Gegenüber gerade nichts anderes als ein Monster sehen konnte. Ein Monster, dass ihn jahrzehntelang belogen und ausgenutzt hatte. „Weil du mein Sohn bist… und nun mal zu mir gehörst.“, lautete die tonlose Antwort. Fast Gin hätte angefangen zu lachen. Vor Entsetzen. „Also weiß er schon, dass ich es erfahren habe.“, wurde ihm klar. „Andernfalls hätte er das nie so gesagt.“ Trotzdem löste dieser Satz etwas Undefinierbares in ihm aus. Sowohl Schock und Traurigkeit, als auch unbeschreibliche Wut und Schmerz. Die Wahrheit tat mehr weh als all seine Verletzungen zusammen. „Ist etwas spät, um einen auf fürsorglichen Vater zu machen, meinst du nicht?“, schleuderte Gin ihm in derselben emotionslosen Tonlage entgegen. Nach etlichen Sekunden Stille entwich Renya Karasuma ein Seufzen. „Es tut mir leid.“, sagte er. Gins Augen weiteten sich. Was war das eben? Hatte sich dieser Mann gerade wirklich entschuldigt? Und das, obwohl selbst tausend Entschuldigungen noch genauso wertlos wären wie die Erste? Es würde nichts mehr ändern. Gin würde ihm niemals verzeihen. Er konnte ihm nicht mal mehr in die Augen schauen, weshalb er den Kopf wieder vorsichtig zur anderen Seite drehte. „30 Jahre.“, meinte er dann trocken. „30 verdammte Jahre und du hast es nicht für nötig gehalten, mir die Wahrheit zu erzählen? Ich habe nie etwas von dir verlangt!“ Je lauter er wurde, desto schwerer fiel ihm das Sprechen. Seine Stimme klang nach wie vor heiser und ausgelaugt. Abgesehen davon wurden sowohl sein Herzschlag als auch seine Atmung mit jedem Wort hastiger, was ihn zusätzlich erschöpfte. Aber das versuchte er so gut es ging zu überspielen. „Ich hielt es für besser, wenn du es nicht weißt. Ich war kein geeigneter Vater für dich.“, erwiderte der Boss. Es wirkte wie eine billige Ausrede. „Das kannst du nicht wissen, weil du es nie versucht hast.“, konterte Gin und fügte nach einer kurzen Sprechpause hinzu: „Aber das wolltest du auch nicht. Weil du mich hasst, nicht wahr? Du hast mich schon immer gehasst. Ich hab es in deinen Augen gesehen. Jedes Mal wieder…“ Er vermied es, sich an diese Momente zurückzuerinnern. Versuchte die Gefühle, die in ihm erwachten, zu ersticken. Zu lange hatte er sein Leben von diesem Mann abhängig gemacht und ihn über sich entscheiden lassen. Das musste jetzt endlich aufhören. Nie wieder würde er seinetwegen auch nur eine einzige Träne vergießen, was er als Kind bereits viel zu oft getan hatte. Während Gin diesen Entschluss für sich fasste, schien der Boss in Überlegungen versunken zu sein. Womöglich feilte er gerade an der nächsten Ausrede. Oder er hatte vor, überhaupt nicht mehr zu antworten. „Ich hasse dich… nicht mehr.“, hörte Gin schließlich doch eine leise Antwort hinter seinem Rücken. Nachdem sich sein Herz von dem durch die drei ersten Worte ausgelösten Stich erholt hatte, hakte er nach: „Seit wann? Etwa seit ich gelernt habe, keine Fragen mehr zu stellen und nach deiner Pfeife zu tanzen?“ Die Antwort erfolgte diesmal schneller als erwartet. „Nein. Seit ich irgendwann realisiert habe, dass ich dir nicht die Schuld für meinen Fehler geben kann.“ „Der Fehler, dass ich geboren wurde?“ „Dass ich mich auf deine Mutter eingelassen habe.“ „Läuft auf dasselbe hinaus.“ Gin wollte selbst nicht wahrhaben, wie sehr diese Worte ihn kränkten. Auch wenn er seine Mutter nie gekannt hatte, tat sie ihm auf einmal leid. Sie musste vor ihrem Tod furchtbar unter diesem Kerl gelitten haben. „Es ging nie wirklich um dich. Ich konnte mir einfach nie verzeihen, was damals passiert ist.“ „Also fühlst du dich verantwortlich für Mutters Tod?“, fragte Gin. Zwar wusste er bereits von Connor, dass Renya Karasuma Schuld an dem Tod seiner Mutter trug, jedoch interessierte es ihn, ob dieser derselben Ansicht war und sich tatsächlich auch schuldig fühlte. „Ich bin für ihren Tod verantwortlich.“, gestand er schließlich in kalter Tonlage, was Gin einen Schauer über den Rücken jagte. „Und darum hast du mich bei dir aufgenommen. Aus Reue…“ „Ja.“ Daraufhin verstummten beide für ein paar Minuten. Gin war sich nicht sicher, ob es gut wäre, noch weiter in der Vergangenheit nachzuforschen. Einerseits wollte er endlich die ganze Wahrheit herausfinden und mehr über seine Mutter erfahren. Andererseits wusste er nicht, ob er imstande wäre, diese Wahrheit zu verkraften. Da in ihm ohnehin schon ein Chaos an Gefühlen herrschte und es auf ein größeres Ausmaß nun auch nicht mehr ankam, wagte er es schließlich doch, das Gespräch fortzuführen: „Wie ist sie gestorben?“ Er drehte den Kopf ein wenig nach hinten und sah, wie der Boss unbewusst die Lippen zusammenpresste. In seinem mühsam beherrschten Blick lag eine winzige Spur von Schock. „Sie hat sich von einem Hochhaus gestürzt.“, verriet er. „Warum? Was hast du getan?“ „Ich habe ihr gesagt, dass ich sie nicht liebe und kein Kind mit ihr möchte.“ „Und meintest du das ernst?“ Inzwischen konnte Gin seinen Gegenüber nicht mehr richtig einschätzen. Aufgrund der Reue, die dieser wirklich zu empfinden schien, hegte der Silberhaarige einen Funken Hoffnung, dass Vaters abweisende Haltung ihm gegenüber früher vielleicht andere Gründe hatte, die er nur noch nicht kannte. Vielleicht waren er und Mutter ihm doch nicht komplett egal. Doch das immer länger anhaltende Schweigen sprach gegen diese Hoffnung. „Meintest du das ernst?“, wiederholte Gin im lauteren Ton. Der Boss musterte ihn lediglich mit ausdrucksloser Leere in den Augen, bevor er entgegnete: „Meinte ich.“ Gins Gesicht verzog sich fast automatisch vor Hass und Verachtung. Also war es doch die beste Entscheidung, sich von diesem Mann abzuwenden. Gin schuldete ihm rein gar nichts mehr. Im Gegenteil. Er wollte seine Mutter zurück. Oder dafür sorgen, dass sie diesen selbstsüchtigen Kerl niemals kennengelernt hätte. „Du solltest ihr nicht nachtrauern. Selbst wenn ich nicht der Vater gewesen wäre, hätte sie dich vermutlich weggegeben. Sie war eine Prostituierte. Sie hätte dir nichts bieten können, weil sie weder Geld noch-“ „Ach hör doch auf!“, fiel Gin dem Boss aufgebracht ins Wort, wobei sein Körper augenblicklich von einer Schmerzenswelle erfasst wurde. Er biss die Zähne zusammen und fuhr dann fort: „Das ist mal wieder so typisch für dich. Menschen haben für dich automatisch keinen Wert mehr, wenn sie nicht genügend Geld besitzen! Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass Geld nicht das Wichtigste ist, was man im Leben braucht?! Ich wäre lieber bei einer Prostituierten aufgewachsen anstatt dich und dein machtversessenes Verhalten ertragen zu müssen!“ Er hätte noch viel mehr hinzugefügt, wenn seine Stimme danach nicht in einem keuchenden Husten untergegangen wäre. Erst nebenbei bemerkte er, dass das Piepen neben ihm, erzeugt von einem Monitor, immer schneller geworden war. Sein Herz hämmerte wild gegen seine Rippen. Atmen war plötzlich so gut wie unmöglich, während weitere Wellen des Schmerzes seinen Körper durchrollten. Er versuchte sich auf den Rücken zu drehen und wollte eine Hand auf seine Stirn ablegen, stellte dabei jedoch fest, dass die linke verkabelt war, weshalb er die andere Hand benutzen musste. „Du solltest dich lieber beruhigen und stattdessen etwas ausruhen.“, riet der Boss ihm. Als sich Gins Atmung wieder einigermaßen normalisiert hatte, antwortete er im erschöpften Ton: „Ahja? Kann dir doch egal sein. Wenn ich krepiere, hast du eine Sorge weniger.“ „Jin…“ Auf einmal klang Vaters Stimme so anders. War das etwa… Verzweiflung? „Ich wollte-“ „Nein.“, unterbrach Gin ihn ungeachtet dessen erneut. „Behalt es für dich und verschwinde einfach. Ich kann dich nicht mehr ertragen.“ Er hätte nie gedacht, jemals so mit seinem Boss zu sprechen. Bis vor dem Zusammentreffen mit Eclipse hätte er sich das nie gewagt. Doch nun waren ihm die möglichen Folgen vollkommen egal. Denn er betrachtete Renya Karasuma nicht mehr länger als seinen Boss oder Vorgesetzten. Und schon gar nicht mehr als eine Person, dessen Befehle er befolgen musste. Gin schloss die Augen und lauschte. Eine Weile blieb es still und es erfolgte keine Reaktion. Bis er glaubte, einen sehr leichten Luftzug über seinen Kopf wahrzunehmen. Doch er traute sich nicht, die Augen wieder zu öffnen. Kurz darauf hörte er, wie sich Renya Karasuma vom Stuhl erhob. „Wie du willst.“, meinte dieser und schien etwas auf den Tisch zu legen. „Dein Handy.“, kommentierte er die Geste und entfernte sich mit lautlosen Schritten vom Bett. „Rye hat es mir gegeben. Das Video habe ich gelöscht. Ich konnte es nicht ertragen, dich so zu sehen. Und was er aus dir gemacht hat.“ Nach diesen Worten verließ er das Zimmer. Gin schaute ihm nicht nach. Alles, was in seinem Gesicht zurückblieb, war ein entsetzlich tiefer Schock. Das Video. Dieser Pierre hatte ihn gefilmt, während er ihn zugerichtet hatte. Allerdings müsste die Aufnahme in dem Moment gestoppt haben, als Rye dazwischen gegangen war und den Kerl mitsamt dem Handy weggestoßen hatte. Gin hätte eigentlich vermutet, dass das Teil dabei kaputt gegangen war. Doch so viel Glück hatte er scheinbar nicht gehabt. „Ob Rye… es auch gesehen hat?“, kam es Gin in den Sinn. Ihm wurde schlecht. Jeder hätte es seinetwegen sehen können. Wirklich jeder. Aber nicht Rye, welcher sich wahrscheinlich längst schon genug Vorwürfe für die letzten Geschehnisse machte. Sofort kam in Gin die altbekannte Angst auf, sein Geliebter würde erneut tagelang verschwunden bleiben. Oder diesmal gar nicht mehr zurückkommen. Mit Mühe und etlichen Schmerzensbeschwerden gelang es Gin, sein Smartphone vom Tisch zu angeln. Seine verkabelte Hand zitterte, als er auf den mit Kratzern und Rissen übersäten Bildschirm schaute. Offensichtlich hatte das Teil mindestens genauso stark gelitten wie er. Überraschenderweise funktionierte es noch, auch wenn der Akku fast leer war. Für einen Anruf müsste es jedoch noch reichen. Gins Herz schlug automatisch höher, sobald er Ryes Nummer gewählt hatte. Die Befürchtung, der Schwarzhaarige würde nicht ran gehen, war einfach zu groß. Doch da meldete sich nach einigen Sekunden eine sanfte, vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung: „Gin? Bist du etwa aufgewacht?“ In Ryes Stimme lag eine gewisse Vorsicht. Dennoch war Gin unendlich froh, sie wieder hören zu können. Zuletzt hatte er noch gedacht, dass ihm das nie wieder vergönnt sein würde. „Ja, bin ich.“, antwortete er zufrieden. „Das ist gut… Wie geht es dir denn?“, hakte Rye nun mit Sorge in der Stimme nach. „Schätze, den Umständen entsprechend. Es würde mir besser gehen, wenn du hier wärst.“ Gin wollte Rye damit indirekt auffordern, dass er zu ihm kommen sollte. Doch sein Geliebter schwieg nach dieser Antwort nur, weshalb er hinzufügte: „Wo bist du?“ „Nah genug, um notfalls rechtzeitig bei dir sein zu können. Aber auch weit genug weg, um dir nicht schaden zu können.“ Wieso überraschte Gin eine solche Aussage nicht? Auf keinen Fall würde er das so einfach akzeptieren. „Willst du jetzt echt immer noch so weitermachen? Das ist doch lächerlich.“ „Lächerlich? Hast du überhaupt eine Ahnung, was da gestern passiert ist? Und kannst du dir vorstellen, was noch auf uns zukommen wird, wenn wir nicht voneinander Abstand halten? Reicht es dir nicht, dass du fast gestorben wärst und ich dich für immer verloren hätte?“ Ryes Tonfall klang vorwurfsvoll, während er das sagte. Aber auch irgendwie überfordert, als wäre es ihm selbst noch nicht richtig gelungen, den Vorfall zu verarbeiten. Eigentlich bedurfte es diesbezüglich eine Menge Redebedarf, was Gin jedoch keinesfalls alles am Telefon klären wollte. Zumal sein Akku dabei wohl auch nicht mitspielen würde. „Mag sein, dass mein Zustand gerade nicht der Beste ist, aber ich erinnere mich schon wieder sehr gut an das, was passiert ist. Doch darum geht es mir nicht. Denn wenn du vorhast, mir weiterhin fernzubleiben, dann fühlt es sich dagegen für mich so an, als hätte ich dich für immer verloren.“, versuchte er Rye umzustimmen. Dieser schlug daraufhin zumindest einen ruhigeren Tonfall an. „Hast du aber nicht…“ „Dann beweis es mir und komm her.“, erwiderte Gin mit fester Stimme, woraufhin er ein Seufzen von seinem Geliebten vernahm. „Na gut.“, gab er sich letztlich geschlagen. „Ich bin gleich da.“ Nach diesen Worten legte Gin auf und ließ seinen Arm wieder auf die Matratze sinken. Es überraschte ihn, dass es dieses Mal so einfach gewesen war. Doch wer wusste schon, wie Rye gestimmt war, wenn er hier auftauchte. Nur weil er gleich herkommen würde, hieß das nicht, dass er deswegen seine Meinung über das Fortbestehen ihrer Beziehung geändert hatte. Welcher Meinung Rye darüber allerdings genau war, wollte Gin am besten gar nicht erst erfahren. Es dauerte kaum fünf Minuten, bis es an der Tür klopfte. Zu Gins Enttäuschung handelte es sich aber lediglich um eine Krankenschwester, die ihm Wasser brachte und etwas gegen die Schmerzen verabreichte. Im Anschluss informierte sie ihn, dass der Arzt ihm in einer Stunde einen Besuch abstatten würde. Gin nahm das nickend so hin, bevor die Schwester den Raum auch schon wieder verließ. Weitere Minuten vergingen. Schließlich klopfte es ein zweites Mal an der Tür. Viel langsamer als das andere Mal öffnete sie sich und vorsichtig trat Rye in den Raum. „Du bist hier.“, sagte Gin erleichtert und atmete innerlich auf. Es war schon zu lange her, seit er seinen Geliebten zuletzt gesehen hatte, ohne dabei befürchten zu müssen, dass einer von ihnen jeden Moment sterben könnte. Ryes Erscheinung wies keine äußerlichen Verletzungen auf und sein Aussehen war wie immer makellos. Es schien ihm gut zu gehen. Abgesehen davon, dass seine Haltung sehr unsicher wirkte und er den Blick abgewandt hielt. Seine folgenden Worte waren lediglich gemurmelt und nur schwer zu verstehen: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie leid mir das alles tut…“ Natürlich war das Erste, was Gin von ihm zu hören bekam, eine Entschuldigung. Wie hätte es auch anders sein können? „Muss es aber nicht. Du trägst keine Schuld.“, wies er Rye sogleich im ruhigen Ton zurecht. Als er sah, dass dieser widersprechen wollte, ergänzte er: „Ich wurde reingelegt.“ Rye schaute ihn überrascht an. „Reingelegt…? Wie?“ „Ich bekam einen Anruf von deiner Nummer. Ich hab dich schreien gehört, weshalb ich dachte, sie hätten dich erwischt…“ „Aber das hatten sie nicht.“, beendete Rye die Aussage tonlos. Ein ironisches Lächeln bildete sich auf Gins Lippen und er fuhr fort: „Nein. Sie sagten, wenn ich mich mit ihnen treffe und verhandele, verschonen sie dein Leben. Aber als ich am Treffpunkt angekommen war, musste ich feststellen, dass deine Stimme nur von irgendeinem Video gestammt hatte. Sie haben es im Musikraum an die Wand projiziert. Ich hab es mir angesehen… und danach war es auch schon zu spät.“ „Was war das für ein Video?“ „Es waren… naja… sozusagen deine letzten Minuten als Mensch.“ Kurz darauf trat ein dunkler Schatten in Ryes Gesicht und es verzog sich, als hätte er Schmerzen. „Du hättest nicht so leichtsinnig sein dürfen.“, brachte er zwischen den Zähnen hervor. „Was hätte ich denn tun sollen? Da du schon seit Tagen weg warst, erschien es mir nicht abwegig, dass sie dich gefangen genommen haben. Ich war mir dessen bewusst, was ich für ein Risiko eingehe, wenn ich das Treffen annehme. Aber ich wäre so oder so hingegangen, weil ich dich niemals im Stich lassen würde.“, entgegnete Gin, nicht in der Hoffnung, dass Rye irgendetwas davon zu schätzen wusste. Das bewies vor allem dessen folgende Antwort: „Selbst wenn es wahr gewesen wäre, hättest du nicht kommen dürfen.“ Auch wenn ihn Ryes Ansichten nicht mehr überraschten und er mittlerweile wusste, dass es seinem Geliebten hauptsächlich um seine Sicherheit ging, so raubte es Gin doch jedes Mal aufs Neue die Fassung, wenn er solche Worte von ihm zu hören bekam. „Und was sonst? Hätte ich etwa Zuhause bleiben und am Telefon zuhören sollen, wie sie dich quälen?“ „Ja.“, war alles, was Rye in einer trockenen, kalten Tonlage erwiderte. Dieses eine Wort durchbohrte Gins Brust nahezu wie ein scharfes Messer. „Das konnte ich nicht.“, gestand er, woraufhin seine Stimme immer leise wurde: „Nichts ist schlimmer, als ohne dich leben zu müssen…“ „Aber deshalb musst du dein Leben nicht gegen meins eintauschen oder gar meinetwegen wegwerfen.“ Rye schien es nicht begreifen zu wollen. Nicht begreifen zu wollen, wie unendlich wichtig er dem Silberhaarigen war. Sonst hatte er immer so viel wert darauf gelegt. Doch jetzt schien sich etwas in ihm verändert zu haben. Und daran waren genau zwei Ereignisse der letzten Woche schuld. Eines davon wollte Gin bewusst nie wieder ansprechen. „Du würdest doch dasselbe tun.“, meinte er fest überzeugt. Zwar lag er damit richtig, doch für Rye schienen das zwei völlig unterschiedliche Dinge zu sein. „Ich kann nicht sterben.“, konterte er. Das entsprach nicht mehr der Wahrheit. „Du hast dort auch drei umgebracht.“ „Du als Mensch bist aber verwundbarer als ich.“ „Hab ich gesehen, wie unverwundbar du bist.“ Mit einem Mal sahen beide den Moment wieder vor sich: Rye, wie er am Boden kniete, während zwei andere Vampire ihn festhielten und ein Dritter seinen Kopf von seinem Hals trennen wollte. Die Risse zogen sich immer weiter durch Ryes weiße, steinerne Haut. Bis plötzlich Gins bebende Stimme das Vorhaben unterbrach. Der Schwarzhaarige schien sie gedanklich zu hören, da seine Miene leicht schockiert und wehmütig wirkte. Doch er lenkte auf eine andere Angelegenheit ein: „Dieses Elixier… du weißt, dass sie das niemals in die Hände bekommen dürfen, oder?“ Selbstverständlich wusste Gin das. Allerdings war das für ihn nicht von allzu hoher Bedeutung. Es gab immerhin Wichtigeres. Viel Wichtigeres… „Wenn es das ist, was sie wollen, tausche ich es gern gegen dich ein.“ Daraufhin warf Rye ihm einen entsetzten Blick zu. „Es wird sowieso nicht dazu kommen, weil so etwas wie gestern nie wieder passieren wird. Noch einmal falle ich nicht auf deren Spielchen rein.“, fuhr Gin fort. Er würde dieses Elixier des ewigen Lebens einfach getrost vergessen. Sollte dieser Connor es sich doch vom Boss holen. „Das hoffe ich.“, erwiderte Rye, bevor Gin ihm riet: „Du musst in Zukunft auch vorsichtiger sein.“ Aber wie immer nahm sich sein Geliebter solche Worte nicht weiter zu Herzen. „Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“ „Mache ich aber. Ständig. Und jetzt, wo ich weiß, was sie dir antun können, besonders.“ „Sie werden mir nichts mehr antun. Und dir auch nicht. Dafür sorge ich.“ Für Gin klang das zu schön und leicht, um wahr zu sein. Er schaute Rye skeptisch an, welcher dann mit Nachdruck in der Stimme hinzufügte: „Vertrau mir.“ Das war nicht das Problem. „Ich vertraue dir, aber vertraust du mir?“, wollte Gin wissen. Ryes Antwort erfolgte so schnell wie ein Pistolenschuss: „Ich vertraue dir-“ „Aber du traust mir nichts zu.“, unterbrach er ihn. Als Rye etwas sagen wollte, ignorierte Gin es und redete weiter: „Ich habe schon mein ganzes Leben mit ähnlichen Organisationen wie Eclipse zu tun. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mit dieser bescheuerten Beschützer-Masche aufhören sollst?“ „Das ist keine Masche-“ „Ich weiß, dass es dir ernst ist, aber mir auch. Das kommt bei dir nur nicht an.“ „Doch. Ich möchte nur nicht, dass dir etwas passiert…“, entgegnete Rye leise und senkte reumütig den Blick, als hätte er, was das betraf, schon zu oft versagt. Gin verdrehte die Augen. „Das geb ich dir glatt zurück.“ „Gin…“ „Meinst du, wir bekommen das irgendwie noch hin?“ Rye beantwortete die Frage nicht. Stattdessen kam er langsam näher, wobei Gins Augen mit jedem Schritt größer wurden. Jedoch nahm Rye lediglich das Handy, welches nach wie vor auf dem Bett lag, und packte es zurück auf den Tisch. „Scheinbar hat der Alte dich doch besucht.“, meinte er scherzhaft. „War ja klar, dass er bei solchen Dingen wieder das Thema wechselt…“ Gin zog missmutig die Augenbrauen zusammen. „Also hast du das so eingefädelt?“ „Schon.“, gab Rye zu. „Ich wollte, dass ihr miteinander redet.“ „Aha.“ „Wie ist es denn gelaufen?“ Gin hörte längst nur noch mit halbem Ohr zu. Er wollte nicht darüber reden und schwieg, was Rye dementsprechend interpretierte: „Verstehe… das wollte ich nicht.“ Dessen niedergeschlagene Tonlage ließ Gin wieder aufmerksam werden. „Ist doch egal. Ich brauche ihn nicht.“, spielte er das Ganze herunter. Auch wenn es jetzt noch weh tat, würde er früher oder später darüber hinwegkommen. Schließlich war er es bereits gewohnt, kein gutes Verhältnis zu seinem Vater zu haben. „Nicht…?“, hakte Rye verwundert nach. „Nein. Du bist der Einzige, den ich brauche.“ Gin schenkte seinem Geliebten ein warmherziges Lächeln. Doch dieser überging die Aussage. „Also hasst du ihn jetzt?“, fragte er stattdessen. „Ja.“ Gin beobachtete, wie Rye nachdenklich zu Boden starrte. Dessen fehlendes Entgegenkommen machte ihn zunehmend unzufrieden. Es war, als wäre Ryes Liebe vollständig von Sorgen und Schuldgefühlen überlagert. Gin wollte ihm beides restlos austreiben und das Geschehene einfach hinter sich lassen. Er streckte zitternd eine Hand nach Rye aus und bat: „Komm her.“ Nur zögernd griff dieser nach seiner Hand und nahm auf der Bettkante Platz. Die kühle Berührung fühlte sich so angenehm an. Von starker Sehnsucht übermannt, verfestigte Gin seinen Griff und zog Rye weiter zu sich herunter. „Du hast mir gefehlt…“, hauchte Gin, während er seine Hand in Ryes Nacken legte und mit seinem anderen Arm vorsichtig dessen Rücken umschlang. Rye sagte die ganze Zeit über kein einziges Wort. Allerdings schien die Mauer, die er in den letzten Tagen um sich herum errichtet hatte, endlich nach und nach einzubrechen. Sehnsucht und Kummer traten in seine smaragdgrünen Augen und sein Gesicht verzog sich, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. „Du mir auch.“, schluchzte er leise, bevor er sich langsam zu Gin herunterbeugte und ihre Lippen miteinander versiegelte. In dessen Körper breitete sich umgehend ein Kribbeln aus und ihm wurde wärmer. Allerdings wehrten diese Empfindungen nicht lang. Denn der Kuss war nicht von der sonstigen Liebe und Leidenschaft erfüllt, sondern von Traurigkeit und Schmerz. Es löste ein melancholisches Gefühl in Gin aus. Während er reglos verweilte und sich Rye etwas fester an ihn schmiegte, konnte er von dessen Körper ein leichtes Zittern wahrnehmen. „Ihm geht es wirklich sehr schlecht…“, dachte Gin verzweifelt. Als sein Geliebter sich von ihm löste, drückte er ihn wieder zu sich herunter, sodass Rye den Kopf auf seine Brust ablegte. Der Silberhaarige strich ihm sanft über den Haaransatz. „Ich verstehe einfach nicht, wie du mich noch lieben kannst… nach allem, was ich dir angetan habe…“, begann Rye nach einer Weile. Gin durchlief ein Schauer, wobei der Schwarzhaarige den Kopf hob und ihn bedrückt ansah. „Das alles war aber nicht deine Absicht. Ist schon okay, ich lebe ja noch. Dank dir.“, wollte Gin seinen Geliebten beschwichtigen, welcher ihn danach allerdings nur verständnislos anstarrte. „Du hast doch beide Male den Krankenwagen gerufen, oder nicht?“, erklärte Gin und vermied es, genauer auf die gemeinten Ereignisse einzugehen. Jedoch blieb Rye weiterhin still, weshalb Gin mit einem zaghaften Lächeln auf den Lippen seine Erklärung fortsetzte: „Du hast immer versucht mich letzten Endes zu retten, egal, was zuvor geschehen ist und wie es dazu kommen konnte. Weil du mich liebst… und dafür bin ich dir sehr dankbar. Wie sollte ich dich hassen, obwohl du mir nie wirklich weh tun wolltest? Allein die Reue, die du seither empfindest, beweist das doch.“ Natürlich konnte man es auch von dieser Seite betrachten, wenn man bewusst ignorierte, weshalb beide Vorfälle erst zustande gekommen waren. Oder besser gesagt: wenn man bewusst verdrängte, wer in jener gemeinsamen Nacht die Kontrolle verloren hatte und warum Eclipse auf Gin aufmerksam geworden war. Rye schien dies allerdings mehr als deutlich vor Augen zu sehen – die für ihn bittere, unbestreitbare Wahrheit, dass er an allem Schuld trug und die Ursache aller Probleme war. Es grenzte nahezu ans Unmögliche, ihm das auszureden. „Das mag zwar stimmen, doch es ändert nichts an der Tatsache, dass du wegen mir schon etliche Male fast gestorben wärst. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob ich versuche, dich zu retten oder nicht. Was, wenn ich es irgendwann mal nicht schaffe?“, erwiderte Rye in verbissener Tonlage, während er dem Silberhaarigen eindringlich in die Augen schaute. Nach einer kurzen, angespannten Pause fragte er noch: „Wenn dir jemand mit voller Wucht ein Messer in den Bauch rammt und danach einen Krankenwagen für dich ruft, würdest du demjenigen dann auch verzeihen?“ Gin starrte Rye mit flackerndem Blick an. Die Frage verwirrte ihn. „Du hast doch aber nichts von all dem mit Absicht-“, setzte er an, doch Rye fiel ihm aufbrausend ins Wort: „Ich hab es nicht mit Absicht getan? Was macht dich da so sicher? Du hast doch selbst gesagt, da ist nichts in mir, was mich kontrolliert und dass ich mir das nur eingeredet habe, um mich nicht für meine Handlungen verantwortlich fühlen zu müssen. Wenn ich es nicht war, wer denn sonst? Sogar dass Eclipse dich da mit reinzieht, hätte ich verhindern können, wenn ich rechtzeitig abgehauen wäre. Aber nicht mal das hab ich getan, weil ich so verdammt egoistisch war. Letztlich hab ich immer nachgegeben, um mein Verlangen zu zügeln. Obwohl ich genau wusste, wie sehr ich dein Leben gefährde. Auch in dieser Nacht…“ Gin spürte, wie sich etwas in seinem Magen verkrampfte und sein Gesicht immer bleicher wurde. Er hätte nicht damit gerechnet, dass Rye ihm seine Worte von damals sogar jetzt noch im Mund verdrehen würde, um recht zu behalten. Es schien zwecklos zu sein, ihn von seiner Meinung abzubringen. Ryes Miene war so unnachgiebig. Und seine Worte wurden immer verletzender. Gin wusste nicht mehr, was er darauf noch antworten sollte, ohne sich selbst im Anschluss ins eigene Fleisch zu schneiden. Plötzlich legten sich zwei kühle Hände auf sein Gesicht und der Blick in Ryes Augen wandelte sich in Sorge um. „Versteh doch… du kannst an meiner Seite nicht überleben. Wir sollten das Schicksal wirklich nicht länger herausfordern…“, sprach er, während er bekümmert Gins Gesicht streichelte. Dieser kapierte zuerst nicht, wie Rye das gemeint hatte. Dann, als er ihn weiter anstarrte, fügten sich seine Worte zusammen, eins zum anderen, und ergaben einen furchtbaren Sinn. „Du willst… mich verlassen?“, fragte Gin vorsichtig. Die bloße Vorstellung brachte sein Herz zum rasen. Er sah, wie Rye kurz darauf zusammenzuckte – wahrscheinlich hätte er das selbst nie so direkt formuliert – doch der gequälte Blick wich nicht aus seinen Augen. Es stimmte. „Nein, das geht nicht. Das darfst du nicht!“, widersprach Gin der stummen Antwort. „Warum nicht? Ohne mich könntest du wieder in Frieden leben und deinen früheren Tätigkeiten nachgehen. Ich glaube, dein Leben wäre bei weitem ungefährlicher, wenn wir uns nie getroffen hätten und ich damals in Eclipse einfach gestorben wäre. Und ich hätte sterben sollen…“ Gin blieb vorerst still und musterte argwöhnisch Ryes Gesicht, während ein anderer Schmerz, der unendlich viel schlimmer war und rein gar nichts mit seinen gebrochenen Knochen zu tun hatte, ihn zu ersticken drohte. Nein. Niemals. Das konnte Rye nicht ernst meinen. „Hör auf mit dem Unsinn. Ich würde ganz sicher nicht in Frieden leben, wenn du nicht mehr da wärst. Du hast gesagt, du liebst mich und dass du mich nie verlassen könntest! Du hast es so oft gesagt!“ Gin wusste, es wäre besser ruhig zu bleiben, wenn er seinem gesundheitlichen Zustand nicht noch mehr schaden wollte. Doch es ging nicht. Irgendwie musste er Rye diese Entscheidung ausreden. „Ja, habe ich… und das war auch nicht gelogen. Ich könnte dich niemals verlassen. Aber können und müssen sind zwei unterschiedliche Sachen. Weißt du, wie weh es mir tut, dich in diesem Zustand zu sehen? Und dann auch noch mit dem Wissen, dass ich dafür verantwortlich bin…? Ich geh kaputt an meinen Schuldgefühlen…“, entgegnete Rye, während er nach unten blickte und Gins Hände fest in seine nahm. „Dann gib dir nicht für alles die Schuld. Mein Zustand wird vorüber gehen und dann ist alles wieder gut. Wir finden schon eine Lösung. Aber keine, die beinhaltet, dass du mich verlassen musst. Verstanden?“ Gin glaubte, endlich die Kurve zu kriegen. Zumindest machte Rye nicht den Eindruck, widersprechen zu wollen. Er sah auf und ein Schmunzeln erschien auf seinen Lippen. Es war ein trauriges Schmunzeln. Schließlich führte er eine von Gins Händen zu seinem Mund und küsste sanft dessen Handrücken. Dabei murmelte er etwas, was der Silberhaarige zwischen seinen unruhigen Atemzügen und den Kopfschmerzen nicht verstand. „Wir reden darüber nochmal, wenn es dir besser geht.“, meinte Rye nun deutlicher. „Darüber brauchen wir nicht nochmal zu reden. Du wirst mich nicht verlassen. Das steht fest.“ Ein leichter Befehlston mischte sich in Gins Stimme, was seinem Geliebten ein weiteres Schmunzeln entlockte. „Ruh dich jetzt aus.“, riet dieser ihm. Aber das konnte Gin nicht. Er hatte Angst, die Augen zu schließen. Was, wenn Rye danach fort wäre und er ihn nie wieder sehen würde? Es gab keine Garantie, dass Gin es geschafft hatte, ihn zum Bleiben zu überzeugen. Auch lieferten ihm weder Ryes Worte noch dessen Verhalten irgendwelche Hinweise darauf. Sekundenlang ruhte sein misstrauischer Blick auf dem Gesicht des Schwarzhaarigen, welcher begann vorsichtig seine Wange entlang zu streichen. „Ich kann hier nicht bleiben. Und ich werde dich auch nicht nochmal besuchen können. Du weißt, dass ich Krankenhäuser nicht ausstehen kann und sie lieber meide…“, erklärte Rye in beruhigender Tonlage. „Aber ich werde da sein, wenn du entlassen wirst. Versprochen.“ Anschließend beugte er sich zu Gin herunter und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich.“ Gin schaute Rye wehmütig hinterher, als dieser sich wieder vom Bett erhob. Seine Worte hatten die Angst zwar nicht gänzlich vertreiben können, jedoch beschloss der Silberhaarige, ihnen Glauben zu schenken. Eine andere Wahl hatte er immerhin nicht. „Ich dich auch…“, sagte er leise, was Rye mit einem weichen Lächeln erwiderte. An der Tür angekommen, verabschiedete er sich: „Bis dann. Bitte tu mir den Gefallen und erhol dich gut.“ Gin nickte. Nachdem Rye aus seinem Blickfeld verschwunden war und sich die Zimmertür schloss, fielen ihm langsam die Augen zu. Jetzt, wo außer von den monotonen Geräuschen der Geräte wieder Stille einkehrte, spürte er seine Schmerzen trotz des Morphiums wieder viel intensiver. Diesmal würde es wohl länger dauern, bis er hier wieder raus käme. Und selbst nach seiner Entlassung würde es noch mehrere Wochen dauern, bis sein gebrochenes Bein endgültig verheilt wäre. Gin wollte noch gar nicht daran denken. Auch nicht daran, ob Rye sein Versprechen wirklich einhielt. Die unbeschreibliche Angst, dass er seinen Geliebten trotz dessen heute zum letzten Mal gesehen hatte, würde ihm auch in den kommenden Tagen schlaflose Nächte bereiten. Kapitel 44: Das letzte Versprechen ---------------------------------- Eine Woche später   Entgegen Gins Befürchtungen hatte Rye sein Wort gehalten. Am Tag der Entlassung parkte dessen Chevrolet vor dem Krankenhaus, um den Silberhaarigen abzuholen. Es war ein friedlicher Mittag. Die Sonne stand bereits im Zenit und strahlte eine angenehme Wärme aus. Gin fühlte sich nur geringfügig besser. Ein paar der Schmerzen waren mittlerweile auszuhalten, jedoch glich sein gebrochenes Bein besonders in aufrechter Körperhaltung eher einer unbrauchbaren Last. Zudem konnte er sich nur schwer an die Krücken gewöhnen, die Rye ihm besorgt hatte. Dieser ging schweigend auf dem Parkplatz neben ihn her und versuchte sich dem langsamen, bedürftigen Schritttempo von Gin anzupassen. „Geht es oder soll ich dich bis zum Auto tragen?“, fragte Rye ihn nach kurzer Zeit, allerdings ohne den gewohnten neckenden Tonfall. „Nein. Ich muss sowieso lernen, erst mal damit klarzukommen.“, lehnte Gin ab, woraufhin der Schwarzhaarige nur still nickte. Dessen Miene war unergründlich. Gin war sich nicht sicher, ob er sich Sorgen machen sollte. Etwas an Ryes Ausstrahlung wirkte anders als sonst. So trüb und distanziert. Wie vor einer Woche bei seinem kurzen Besuch. Vielleicht quälten die vergangenen Ereignisse ihn noch immer und er hatte sich in der letzten Woche viele Gedanken darüber gemacht. Ob er am Ende zu einem Entschluss gekommen war und um welchen es sich handelte, mochte Gin lieber nicht erfahren. „Wenn er mich hätte verlassen wollen, wäre er jetzt nicht hier, sondern längst fort…“, beruhigte er sich gedanklich. Von jetzt an würde bestimmt alles besser werden. Sie könnten aus ihren Fehlern lernen und in einen neuen Lebensabschnitt starten. Allein, irgendwohin weit weg von hier, wo Eclipse ihnen nie wieder auf die Schliche kommen würde und wo es egal wäre, wenn der Rest der Welt in Chaos unterging. Gin wäre alles recht, solange er an Ryes Seite bleiben durfte. „Warte, ich helfe dir.“, kam es von diesem plötzlich, wobei der Silberhaarige realisierte, dass sie am Auto angekommen waren. Rye öffnete die Beifahrertür, schob seine Arme ungefragt unter Gins Körper und hob ihn vorsichtig auf den Sitz. Die Krücken platzierte er an der Seite, bevor er die Tür schwungvoll wieder schloss und selbst in den Wagen stieg. Gin beobachtete seinen Geliebten dabei mit Misstrauen in den Augen. Irgendwas stimmte nicht. Fast jede von Ryes Handlungen wirkte auf eine seltsame Weise unbeteiligt und mechanisch. Auch sein Gesicht zeigte keinerlei Gefühle. Während er den Motor startete und losfuhr, hakte Gin zögerlich nach: „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Rye blickte starr geradeaus. „Warum?“ „Keine Ahnung… es… wirkt nur so, als wäre was…“, antwortete Gin leise. Er richtete den Blick ebenso nach vorn, weil er die Leere in Ryes Augen nicht länger sehen wollte. „Nein, nichts.“, versicherte der Schwarzhaarige ihm. „Ich bin froh, dass du entlassen wurdest.“, fügte er hinzu. Doch es klang überhaupt nicht, als wäre er froh darüber. Seine Stimme war erfüllt von einer kalten Leblosigkeit. Gin versuchte es zu ignorieren und lehnte sich im Sitz zurück. Er fühlte sich zunehmend unwohler und um zu vermeiden, dass sich dieses Gefühl noch mehr verstärkte, beschloss er, Rye fürs Erste nicht mehr anzusprechen. Daraufhin verlief die ganze Fahrt in Schweigen. Minuten verstrichen, in denen keiner der beiden den jeweils anderen eines Blickes würdigte. Als befände sich zwischen ihnen eine dicke Wand. Gin schaute aus dem Fenster, aber erkennen konnte er nichts. Die Welt außerhalb des Wagens schien nicht mehr existent zu sein und alles wirkte irgendwie belanglos. Er wusste nicht einmal, wo genau sie eigentlich hinfuhren. Nur am Rande bemerkte er nach einer Weile, dass das weder der Weg zu seiner noch zu Ryes Wohnung war. Die Gegend kam ihm nicht wirklich bekannt vor. „Was wird das?“, fragte er sich im Stillen. Am liebsten hätte er Rye einfach gefragt, wohin sie gerade fuhren und aus welchem Grund. Doch er schaffte es nicht, sich selbst dazu zu überreden und verharrte stattdessen weiterhin wortlos auf dem Sitz, bis der Wagen irgendwann am Straßenrand zum Stehen kam. Erst als Gin dann von Weitem den Skytree durch die Frontscheibe entdeckte, wurde er sich allmählich darüber im Klaren, wo sie sich ungefähr befanden. Aber was sein Geliebter ausgerechnet hier wollte, blieb ihm nach wie vor ein Rätsel. Dieser saß noch immer reglos wie eine Statue hinter dem Steuer. „Warum hältst du hier an?“, erkundigte sich Gin schließlich doch. Im folgenden Moment drehte Rye endlich seinen Kopf wieder zu ihm. Allerdings gab er keine sonderlich aussagekräftige Antwort. „Ich will dir etwas zeigen. Komm, wir gehen ein Stück.“, meinte er tonlos und löste nebenher von beiden jeweils den Gurt. Gin verfolgte die Handlung lediglich mit gerunzelter Stirn und einem irritierten Blick in den Augen. „Und was?“, wollte er wissen. Wieder bekam er keine klare Antwort von Rye. „Das wirst du dann schon sehen.“ Danach stieg er ohne ein weiteres Wort aus dem Wagen. In der kurzen Zeitspanne, in welcher der Schwarzhaarige zur Beifahrertür eilte, spürte Gin, wie sich sein Körper in rasender Geschwindigkeit anspannte. Auf einmal schlug sein Herz ihm bis in die Fingerspitzen und alle Schmerzen wurden intensiver. Als die Tür neben ihn geöffnet wurde, zuckte er innerlich zusammen und sah Rye mit geweiteten Augen an. Die Hand, die dieser ihm dann ausgestreckt hinhielt, ignorierte er. „Mir ist jetzt nicht nach Laufen.“, sagte er, jedoch nicht in der Annahme, dass ihm eine Wahl blieb. „Keine Sorge, es dauert nicht lange.“, erwiderte Rye beschwichtigend, was Gin nicht im geringsten ermutigte, aus diesem Auto zu steigen. Er wusste nicht, was genau es war – doch etwas an dieser Situation lief eindeutig falsch. Nichts von Ryes Verhalten, geschweige denn von dessen Worten, ergab für ihn einen Sinn. Er traute dem weichen Lächeln nicht, welches sein Geliebter nun aufsetzte und musterte ihn argwöhnisch. „Gin…“, sprach Rye mit plötzlich veränderter, melancholischer Stimme. „Ich bitte dich.“ Nahezu drängend beugte er sich tiefer herunter und hielt Gin weiterhin seine Hand hin. „Ich versteh es nicht… was ist bloß los mit ihm? Was hat er vor?“ Während dem Silberhaarigen diese Fragen durch den Kopf schwirrten, nahm er die Krücken und ließ sich letztlich von Rye auf die Beine helfen. Er hätte ohnehin früher oder später nachgeben müssen. Obwohl sein Geliebter bisher die ganze Zeit unnahbar und distanziert gewirkt hatte, schien ihn doch etwas zu quälen. Als hätte er wie beim letzten Mal im Krankenhaus versucht, eine solide Mauer um sich herum zu errichten, die jetzt nach und nach wieder Risse bekam. Wann würde sie wohl diesmal einstürzen? Und noch viel wichtiger: Was hielt Rye hinter ihr verborgen? Gin folgte ihm so zügig wie möglich. Schon nach wenigen Metern wurde er von Erschöpfung eingeholt, was vermutlich aber eher weniger mit fehlender Kraft zu tun hatte. Rye nahm nur bedingt Rücksicht auf ihn. Auch eine Verhaltensweise, die nicht zu ihm passte und Gin umso stutziger machte. Gemeinsam betraten sie kurz darauf eine Brücke. Als Gin seinen Blick zum Skytree schweifen ließ, fiel ihm auch deren Name wieder ein: Es handelte sich um die Kototoi-Brücke, welche über den Sumida-Fluss verlief. Wollte Rye ihm etwa hier etwas zeigen oder war das Ziel ihres Spaziergangs noch weiter entfernt? Ungefähr in der Mitte der Brücke blieb sein Geliebter langsam stehen, bevor er sich mit den Händen auf das Geländer abstütze und in die Tiefe starrte. Gin verharrte ein paar Schritte entfernt und musterte ihn mit aufkeimender Sorge. „Und, was ist nun? Was wolltest du mir zeigen?“, fragte er, jedoch reagierte Rye nicht sofort. Mehrere Sekunden vergingen, in denen hin und wieder ein Auto an ihnen vorbeirauschte. Als endlich für einen Moment Stille einkehrte, antwortete der Schwarzhaarige tonlos: „Nichts. Ich habe gelogen.“ Noch bevor Gin etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: „In Wahrheit wollte ich mit dir reden.“ Gins anfängliche Entgeisterung wurde von Verwirrtheit vertrieben. Nur reden? Und wozu dann das Ganze? „Das hätten wie doch die ganze Zeit schon. Warum ausgerechnet hier?“ Da sein Gegenüber vorerst erneut schwieg, ermahnte Gin ihn: „Verdammt, Rye! Jetzt sag schon, was los mit dir ist!“ „Ich… wollte dir ein letztes Mal sagen, was du mir bedeutest…“ Rye wandte sich ihm mit leerem Blick zu, bevor er tief Luft holte und mit gebrochener Stimme verdeutlichte: „Verstehst du? Das hier ist ein Abschied. Ein Abschied für immer…“ Im ersten Augenblick begriff Gin nicht, was Ryes blasse Lippen soeben für Worte geformt hatten. Als er sich ihnen jedoch nach und nach bewusst wurde, überkam ihn auf der Stelle die Übelkeit. Mechanisch schüttelte er seinen Kopf hin und her. „Du machst Witze, oder? Das meinst du nicht ernst…“, entwich es ihm. „Es tut mir leid… aber es muss sein.“, erwiderte Rye leise. Gin war dessen sinnlose Entschuldigen einfach nur noch leid. Dadurch wurde nichts besser. Gar nichts. Keine Entschuldigung der Welt würde ihm den Schmerz nehmen können, welchen er jetzt gerade empfand. „Sagt wer?!“ „Ich.“ Ein strenger Schatten trat in Ryes Gesicht, bevor seine Augen den Silberhaarigen eindringlich fixierten. „Du wirst mir das zwar jetzt noch nicht glauben, aber sei dir sicher, dass du ohne mich ein unbeschwerteres Leben führen wirst. Und genau das wünsche ich mir für dich. Ich will dir nicht länger schaden.“ Gin benötigte eine ganze Weile, um die Bedeutung der Worte zu erfassen. Doch selbst als ihm das gelang, konnte er Rye nur verständnislos anstarren. Alles Lügen. „Das werde ich dir nie glauben! Du schadest mir mehr, wenn du einfach gehst!“ „So etwas solltest du dir nicht einreden.“ „Einreden…?“, wiederholte Gin fassungslos. „Kapierst du nicht, dass ich dich brauche…?!“ Das sollte wütend klingen, aber es klang nur flehend. „Nein, du brauchst mich nicht. Du hast mich nie gebraucht. Ich bin lediglich in dein Leben eingedrungen und habe Chaos angerichtet.“ Die Überzeugung in Ryes Stimme ließ kein bisschen nach. Er schien sich von keinerlei Worten beeinflussen lassen zu wollen. Als hätte nichts mehr eine Bedeutung und als sei alles, was sie bisher zusammen erlebt hatten, ein Fehler gewesen. Doch Gin wollte diese Liebe nicht aufgeben. Denn er wusste, dass sich Rye lediglich hinter einer Maske der Abwehr versteckte, um sich vor seinen eigenen Gefühlen zu schützen. Und genau diese Maske musste wieder fallen. „Und dafür bin ich dankbar! Durch dich habe ich erkannt, dass es weitaus mehr gibt als dieses eintönige Leben in der Organisation, was mein Vater mir jahrelang vorgeschrieben hat. Deinetwegen habe ich endlich angefangen, mich lebendig zu fühlen. Ich konnte lernen, was es heißt, zu lieben – dich zu lieben!“ Gin sprach einfach alles aus, was ihm Tag für Tag an Ryes Seite klar geworden war. Nur hätte er nie gedacht, ihm das eines Tages ins Gesicht sagen zu müssen. Allerdings schaute ihn der Schwarzhaarige nur schweigend an, was Gin signalisierte, dass es noch nicht genug war. Also redete er weiter: „Du bedeutest mir alles. Ich kann nicht mehr ohne dich leben. Und ich weiß, dass du auch nicht ohne mich leben kannst! Also hör auf, dir was vorzumachen, nur weil du glaubst, dass du mich dadurch beschützen kannst, wenn du verschwindest!“ Er hoffte, wenigstens jetzt etwas in seinem Geliebten ausgelöst zu haben. Doch da war nichts. Rye verzog keine Miene. „Du hast recht. Ich kann nicht ohne dich leben. Aber ich werde es lernen müssen. Genau wie du von nun an lernen musst, ohne mich zu leben.“ Seine grünen Augen wirkten hart, klar und sehr tief. Egal, wie sehr Gin sie durchforstete, er fand nichts, was im Widerspruch zu den Worten stand. Hilflos ruhte sein Blick auf Rye. Wie festgefroren verweilte er am Fleck, während seine Arme allmählich zu zittern begannen. Würde er Rye nun wirklich verlieren? War dieser wirklich dazu bereit, sich in ewiger Einsamkeit zurückzuziehen, nur um ihn in Sicherheit wissen zu können? „Aber du liebst mich… wie kannst du…“, entgegnete Gin heiser, bis seine Stimme letztlich erstarb. Er senkte den Blick, wodurch einzelne Tränen seine Augen verließen und auf den Boden tropften. Da kam Rye plötzlich abrupt näher und umfasste sanft seine Wangen. „Ja, das tue ich! Ich liebe dich mehr als alles andere! So sehr, dass ich niemals in einer Welt leben könnte, in der du nicht mehr existierst… und das wird eines Tages unweigerlich passieren, wenn ich bei dir bleibe…“, redete er in weicher, trauriger Tonlage auf den Silberhaarigen ein und der nun deutlich sichtbare Schmerz in seinen Augen brannte sich mit überwältigender Intensität in dessen Blick. „Versteh doch… meine Welt ist nichts für dich. Ich unterscheide mich zu sehr von den Menschen, als dass ich auf Dauer in ihrer Nähe leben kann. Ich will damit nicht sagen, dass du schwach bist – denn das bist du keinesfalls, wenn man annimmt, dass es solche Kreaturen wie mich nicht gibt – doch es ist nun mal so… In meiner Welt bist du schwach. Und ich kann mein eigenes Versagen nicht länger ertragen. Ich bringe dich ständig in so viele Schwierigkeiten und schaffe es nicht einmal, dich vor Eclipse, geschweige denn dich vor mir selbst zu beschützen. Eclipse will eigentlich mir schaden und nicht dir. Du hast damit nichts zu tun. Wenn ich verschwinde, werden sie dich in Ruhe lassen und mich stattdessen weiter jagen.“, setzte Rye seine Erklärung fort. Doch auch wenn er sie noch so eindeutig formulierte, weigerte sich Gin, sie in irgendeiner Weise zu akzeptieren. Diese verschiedenen Welten, von denen Rye sprach, gab es für ihn nicht. Zudem würde er sich lieber freiwillig von Eclipse jagen lassen, als von dem Schwarzhaarigen getrennt zu sein. „Damals, nachdem du zum ersten Mal gegangen bist, hast du mir etwas versprochen… dass du mich nie mehr verlassen wirst. Doch du tust es trotzdem immer wieder… Sag, was war dein Versprechen letzten Endes wert? Genau wie alles andere, was du mir versprochen hast…“ Gin konzentrierte sich nur noch auf das Gefühl von Ryes kalten Fingern auf seinen Wangen. Am liebsten würde er sie greifen und nie wieder loslassen, wenn er seine Hände nicht dazu benötigen würde, sich mithilfe der Krücken zu stützen. „Schätze, in deiner Welt existieren Versprechen, um gebrochen zu werden.“ „Nein, so ist es nicht.“, beteuerte Rye. „Aber es gibt nun mal Versprechen, die nicht eingehalten werden können.“ „Dann solltest du sie erst gar nicht geben…“ Vielleicht wäre dieser sogenannte Abschied dann nicht ganz so schmerzhaft, wenn es nichts gäbe, woran sich Gin festklammern konnte. Doch die Bedeutung von allem, was sein Geliebter je zu ihm gesagt hatte, war inzwischen viel zu groß geworden. Gin hatte ihm jedes Versprechen blind geglaubt. Und nun bereute er es zutiefst. „Du hast recht, das hätte ich nicht tun sollen.“, stimmte Rye ihm zu. „Aber ein letztes Versprechen kann ich dir mit Gewissheit geben: Du hast mich heute zum letzten Mal gesehen. Ich werde nicht mehr zurückkommen. Nie wieder.“ Die deutlich hörbare Wahrheit in diesen Worten drang augenblicklich in Gins Bewusstsein und tröpfelte wie Säure durch seine Adern. Sein ganzer Körper wurde taub. Vom Hals an abwärts hatte er überhaupt kein Gefühl mehr. Da war nur noch Angst, Trauer und Schmerz in seinem Inneren. Hinzu kam die eisige Kälte von Ryes Fingern. Kälte, die er scheinbar heute zum letzten Mal spüren würde. Seine Knie fingen an zu zittern. „Bitte… tu das nicht…“, brachte er hervor. Es hörte sich an, als wäre ihm etwas im Hals stecken geblieben. Als würde er ersticken. Doch Rye ging nicht darauf ein. „Du sollst wissen, dass ich dich immer lieben werde. Ich werde dich nicht vergessen. Egal, wo ich bin und was auch geschieht.“, sagte er mit ehrlicher Stimme. Gin musste sich bemühen, ihn zu verstehen. Ihm war auf einmal so schwindelig. Er konnte jedoch noch registrieren, wie Rye den Abstand zwischen ihren Gesichtern verringerte, bevor er fortfuhr: „Versprich du mir bitte im Gegenzug, dass du gut auf dich aufpassen wirst.“ Gin war sich nicht bewusst, dass er die Bitte mit einem abgehackten Nicken erwiderte. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er wünschte sich nichts mehr, als dass es sich gerade nur um einen schlimmen Traum handelte. Doch der nahezu greifbare Schmerz in Ryes glitzernden Augen wirkte so täuschend echt. „Nein, nein… bitte… geh nicht…“ „Ich danke dir.“ Ryes Worte waren ein kühler Hauch an Gins Lippen. „Für alles.“ Kurz darauf folgte ein zärtlicher Druck, als der Schwarzhaarige einen Kuss begann. Gin presste die Augen zusammen. Das Gefühl zu wissen, dass er Ryes weiche Lippen nie wieder auf seinen eigenen spüren würde, raubte ihm sowohl Sinne als auch den Verstand. Der Kuss war einzig und allein von Schmerz erfüllt. Erst jetzt glaubte Gin zu fühlen, wie sehr Rye dieser Abschied ebenso weh tat. Er schien sich nicht mehr von ihm lösen zu wollen, weshalb der Kuss noch eine ganze Weile anhielt, bis sich der Silberhaarige fast vollständig in ihm verlor. Nach und nach kam es ihm wirklich so vor, als befände er sich lediglich in einem Traum. Aber dieser Traum zersprang in Scherben, als sich Rye plötzlich von ihm löste. „Leb wohl.“ Die geflüsterten Worte holten Gin zurück aus dem Dunst der Begierde. Noch im selben Moment spürte er einen leichten Windzug im Gesicht. Er riss die Augen auf. Wollte nach Rye greifen. Wollte nicht das verlieren, was er am meisten brauchte. Doch seine Hand fasste ins Leere, woraufhin er mitsamt den Krücken zu Boden stürzte. Rye war weg. Für immer. Gin zweifelte an der Realität. Die Welt schien sich ringsherum aufzulösen. Er fühlte sich mit einem Mal mehr tot als lebendig. Ein lähmendes Gefühl breitete sich in seinem Körper aus, als hätte jemand ihm ein riesiges Loch in die Brust geschlagen. Sein Kopf drehte sich. Sein Herz schlug wohl, doch er nahm keinen Puls mehr wahr. Schwer atmend schlang er die Arme um die Brust, als könnte er so zusammenhalten, was gerade in ihm zu zerbrechen schien. Aber es half nicht. Er konnte den schmerzhaften Verlust dennoch spüren, welcher von der Brust ausstrahlte, ihm in Wellen durch die Glieder jagte und in den Kopf schoss. Gin besaß keine Kraft mehr, um wieder aufzustehen. Abwesend tastete er mit einer Hand nach seinen Krücken. Als er fündig wurde, umklammerte er sie jedoch nur und blieb liegen. Alles schien so sinnlos. Warum konnte nicht einfach der Tod kommen, um ihn abzuholen? In diesem Moment vernahm Gin ein Hupen aus Richtung der Straße. Jemand stieg aus seinem Auto und eilte zu ihm. „Hey! Was ist passiert? Können Sie mich hören?“, fragte eine männliche Person im besorgten Ton. Nur widerwillig hob Gin den Kopf. Ein Fremder. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf.“ Dieser war schon dabei, seine Worte in die Tat umzusetzen. Gin ließ die ungewollte Hilfe einfach schweigend über sich ergehen. Es war ihm ohnehin egal. Alles war egal. Sobald er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, erkundigte sich der Mann: „Sind Sie Jin Kurosawa?“ Jetzt hatte er einen kleinen Teil von Gins Aufmerksamkeit geweckt. Er nickte. „Ein Freund von Ihnen hat mich beauftragt, Sie genau um diese Uhrzeit hier abzuholen und nach Hause zu fahren.“, erklärte sein Gegenüber. Kurz darauf fiel dem Silberhaarigen auch das Taxi am Straßenrand auf. Wie immer hatte Rye vorgesorgt. „Wann war das?“, wollte Gin wissen. Der Taxifahrer überlegte einen Moment, bevor er antwortete: „Letzte Woche. Er hat sich meinem Vorgesetzten am Telefon als Dai Moroboshi vorgestellt. Er ist doch ein Freund von Ihnen, oder nicht?“ Eine Schmerzenswelle durchbebte Gin. „War.“ „Oh.“, entwich es dem Mann überrascht. „Soll ich Sie trotzdem nach Hause bringen?“ Gin zuckte mit den Schultern. „Wenn er es so wollte, dann muss es wohl sein.“     …   Wie ferngesteuert und vollkommen durchnässt wanderte Rye ziellos durch die Straßen. Kurz nachdem er von der Brücke gesprungen und aus dem Sumida geklettert war, hatte sich seine Wahrnehmung von der Außenwelt verabschiedet. Die Menschen, die an ihm vorbeigingen, interessierten ihn nicht mehr. Rein gar nichts in seiner unmittelbaren Umgebung interessierte ihn noch. Er hatte seine Liebe zu Gin aufgeben müssen und somit den einzigen Sinn seiner Existenz verloren. Irgendwo im Hinterkopf beschwichtigte er sich immer noch mit der Begründung, dass dies nur zu Gins Besten gewesen war und dieser von nun an in Sicherheit leben würde. Aber nicht einmal das konnte Rye von der tiefen Trauer befreien, welche gerade fortwährend seine Sinne betäubte und durch seinen Körper strömte. Wie sollte er in Zukunft zurechtkommen? Wo sollte er leben? Sollte er etwa einfach wieder so weitermachen wie vor seiner Begegnung mit Gin? Sich einfach dem blutsaugenden Monster in seinem Inneren hingeben? Zu viele Fragen in seinem Kopf. Doch weder Lösungen noch Antworten konnte er finden. Er durfte nicht in alte Muster zurückfallen. Das wäre zu riskant. „Allerdings… jetzt habe ich nichts mehr zu verlieren…“ Und auch nichts mehr, wozu es sich zu kämpfen lohnte. Eigentlich könnte er aufgeben und so lange in der Welt umherirren, bis das Schicksal ihn eines Tages traf und bestrafte. Er hätte es verdient. Dafür, dass er Gin alles genommen und ihm am Ende das Herz gebrochen hatte. Hoffentlich würde der Silberhaarige ihn vergessen. Auch wenn ein Teil von Rye das nicht wollte, so würde diese Option Gin einiges an Leid ersparen. Leid, welches Rye bevorzugte allein zu erfahren. In den nächsten Jahren würde er genug Zeit haben, um sich selbst für all seine Taten leiden zu lassen. Etwas anderes wollte er nicht mehr erleben. Diese Welt konnte ihm zusammen mit allen Menschen gestohlen bleiben. Im nächsten Moment wurde Rye unerwartet aus seinen Gedanken gerissen, als er mit jemandem zusammenstieß. Er wusste nicht, woher die Frau plötzlich gekommen war, welche ein paar Schritte nach vorn stolperte und beinahe hingefallen wäre, wenn er sie nicht noch rechtzeitig am Arm gepackt hätte. Die Blonde drehte den Kopf zu ihm und wollte sich offensichtlich bedanken, doch als sich ihre Blicke trafen, weiteten sich hellblaue Augen hinter einer runden Brille vor Schock. „Shu!“, stieß die Frau hervor. Sie klang, als stände ein Geist vor ihr. Langsam hob sie eine Hand mit dem Vorhaben, Ryes Wange zu berühren. „Shu… du bist es wirklich…“ Erleichterung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Rye wich umgehend zurück. „Was? Wovon spricht sie?“ Ehe er die Situation vollständig erfassen konnte, kam die vermeintlich fremde Frau ihm sofort wieder näher und legte ihre beiden Hände auf seine Schultern. Tränen bildeten sich in ihren Augen, während sie mit sorgenvoller Stimme sprach: „Wo bist du nur die ganze Zeit gewesen?! Wir dachten alle, du seist gestorben!“ Rye verstand nicht, was sie damit meinte. War sie vielleicht verrückt? Verwirrt? Oder beides? Zumindest kam sie ihm überhaupt nicht bekannt vor. Auch ihr Gesicht wollte keine Erinnerung in ihm aufkommen lassen, was vermutlich auch besser so war. „Endlich hab ich dich gefunden…“, wimmerte sie. „Als James mir die Nachricht übermittelte, dass einer unserer Kollegen dich hier in Tokio gesehen hat, musste ich einfach hierherkommen und nach dir suchen! Aber sag, warum hast du dich nicht gemeldet? Wir hätten dich doch sofort zurückgeholt…! Das alles tut mir so furchtbar leid…“ Ihre Worte überforderten Rye. Was zum Teufel redete sie da? Wer war sie? Warum ließ sie ihn nicht einfach in Ruhe? Womöglich wäre es das Beste, sie abzuwimmeln. „Tut mir leid, aber Sie müssen mich mit jemandem verwechseln. Ich kenne niemanden mit dem Namen Shu.“ Epilog: Nummer 13 ----------------- Panisch stieß sie die Tür hinter sich zu. Ein kleines Hindernis, welches ihre Verfolger nicht lange aufhalten würde. Doch jeder Schritt zählte. Jede Sekunde könnte über ihr Schicksal entscheiden. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag eintreten würde. 12 war nicht zurückgekommen. Dabei hatte er es ihr versprochen. Wer weiß, was sie mit ihm gemacht hatten. Ob er überhaupt noch am Leben war. Sie hörte, wie weit hinter ihr die Tür gewaltsam aufgerissen wurde und sich ihre Verfolger wieder dichter an ihr hängen konnten. Mit letzter Kraft erhöhte sie ihr Schritttempo. Sie konnte nicht mehr. Ihr Herz raste. Tränen der Angst liefen ihr unaufhörlich über die Wangen. Am liebsten würde sie schreien, wenn das nicht so vollkommen nutzlos wäre. Wohin rannte sie eigentlich? Anders als 12 kannte sie sich im Gebäudekomplex nicht aus. Zwar suchte ihr Wille nach irgendeinem Ausgang oder Versteck, doch es war gut möglich, dass ihre Beine sie ganz woanders hintrugen. Vielleicht sogar in eine Falle... Als sie um eine Ecke bog, erblickte sie einen abzweigenden, kleineren Flur. Mit etwas Glück würde sie dort ein Versteck finden. Es war zumindest besser, als nur die Hauptflure zu nutzen. Also bog sie dort ab. Sie konnte gerade noch rechtzeitig bremsen, sodass sie nicht gegen die Wand stieß. Am Ende des kleinen Flurs befand sich eine schmale Doppeltür aus Glas. „Bitte lass sie nicht abgeschlossen sein!“, betete sie gedanklich – und ihre Bitte wurde im folgenden Moment erhört. Mit beiden Händen gelang es ihr, die Tür problemlos aufzustoßen, welche sich hinter ihr von selbst wieder schloss. Komplett außer Atem ließ sie sich kraftlos zu Boden fallen. Es würde ein paar Minuten dauern, bis sie sich wieder erholt und ausreichend Kraft gesammelt hatte. Dann könnte sie ihre Flucht fortsetzen. „Was mach... ich... mir eigentlich... vor... Niemand hat... es je... hier raus... geschafft...“, murmelte sie schwer atmend leise zu sich selbst und begann an einen kommenden Erfolg zu zweifeln. Angeblich sollte hier jeder von ihnen irgendwann wieder rauskommen. Das war zumindest das, was man ihnen erzählte. Mit der Zeit hatte sie auch diese Lüge begriffen. Spätestens als sich das Verhalten von 12 nach dem Verschwinden von 11 schlagartig – aber kaum merklich für andere – verändert hatte, waren ihre Hoffnungen immer weiter geschwunden. Und das, obwohl 12 versucht hatte, genau diese Hoffnungen mit aller Mühe aufrecht zu erhalten. Plötzlich erstarrte sie vor Schreck, als sie neben ihren eigenen Atemzügen auch die Atmung einer anderen Person wahrnehmen konnte. Sie war nicht allein in diesem Raum. „Du hast recht. Niemand schafft es hier raus. Und du auch nicht, 13.“, ertönte eine strenge, männliche Stimme. Ein schwarzes Paar Schuhe mit weißer Hose trat an ihr heran. Als das Mädchen sich vorsichtig aufrichtete, erkannte sie auch einen Laborkittel und daraufhin ein ihr bekanntes Gesicht. „Doktor...“, wich es ihr überrascht über die Lippen. Ihre Augen wurden groß. Der Doktor war ein enger Freund von 12. War er etwa hier, um ihr zu helfen? Wusste er möglicherweise etwas über den Verbleib von 12? „Du dummes Mädchen. Was glaubtest du, wie weit du gekommen wärst?“, fragte der Silberhaarige allerdings mit einer düsteren Tonlage, welche seine Stimme eine fremde Wirkung verlieh. Seine Brille spiegelte sich im schwachen Lichts des Raumes. „I-Ich versteh das nicht, warum tust du das?!“, schrie das Mädchen panisch, als der Doktor ihren Arm packte und sie unerbittlich festhielt. „Weil ich so bin, aber das wusstest du nur nicht.“, lautete die klare Antwort. Er hatte recht. So kannte sie ihn gar nicht. Zwar war sie ihm nicht oft begegnet und meistens hatte sie ihn mit 12 zusammen gesehen, doch er hatte bisher immer einen sehr warmherzigen Eindruck auf sie gemacht. Besonders sein Lächeln hatte immer freundlich und seine Art liebevoll gewirkt. Auch kümmerte er sich stets bei Krankheit oder anderen Sorgen um jeden von ihnen. War das alles nur eine Maske gewesen? „Aber ich dachte du und 12 wärt-“ „Halt den Mund!“, unterbrach er sie wütend. „12 ist weg, begreif das endlich!“ Ein Schauer lief dem Mädchen über den Rücken. Die Wahrheit so deutlich ausgesprochen zu hören tat weh. Und ein Gefühl in ihr verriet ihr, dass sie genauso enden würde wie er. „Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe mit dem Boss gesprochen und wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass du einen anderen Prototypen als deine Vorgänger bekommen wirst...“, meinte der Doktor und zog sie zu sich heran, bevor er ihr ein Tuch unter die Nase presste. Ein scharfer Geruch stieg in ihre Nase und begann ihre Sinne zu betäuben. Die Worte des Doktors konnten kaum noch zu ihr durchdringen, da ihr plötzlich schwindelig wurde und alles gedämpft in ihren Ohren klang. Im folgenden Moment färbte sich ihre Sicht schwarz und sie verlor das Bewusstsein. „Schließlich müssen wir 12 irgendwie wieder zurückbringen.“, fügte der Doktor hinzu, während er das am Boden liegende Mädchen betrachtete.       Fortsetzung folgt… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)