The Monster inside my Veins von ginakai ================================================================================ Kapitel 43: Erwachen -------------------- Bilder in Scherben. Längst vergangene Zeiten. Verschwommene Gesichter in nie endender Dunkelheit. Unerreichbare Personen in weiter Ferne. Wie ein Film im Schnelldurchlauf rauschten Szenen aus seinem Leben vorbei. Er sah Vater, der ihn beim Abendessen aus dem Augenwinkel kaum merklich anlächelte. Tante Sharon hinter ihm im Spiegel, wie sie mühevoll versuchte, seinem viel jüngeren Ich das Haar zu kämmen. Regentropfen, die im Wasser landeten, als er gedankenverloren in eine Quelle im Park starrte. Das Sonnenlicht, wie es ihn an einen frühen Morgen am Fenster blendete, nachdem er die Vorhänge zur Seite geschoben hatte. Er konnte diese Erinnerungen nicht erfassen. Nicht einfangen oder festhalten. Ebenso wenig war es ihm möglich seine Arme, geschweige denn seine Finger zu spüren. Selbst seine eigene Atmung war nicht wahrnehmbar und schien zusammen mit dem dafür notwendigen Körper in der Dunkelheit verloren gegangen zu sein. Eine Dunkelheit, die langsam einem warmen Licht wich, welches ihn wie eine Umarmung umschloss und willkommen hieß. „Nein… ich muss… leben…“ Von irgendwoher konnte er eine vertraute Stimme hören. Sie klang erschöpft. Kraftlos. Er wollte zu ihr gelangen, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte. Er war einfach zu schwach. Schließlich war er nur ein Mensch und hatte nur menschliche Kräfte. „Mensch… richtig, ich bin ein Mensch… wer… bin ich?“ Er erkannte, dass die Stimme, welche er zuvor gehört hatte, seine eigene war. „Was ist passiert…?“ Erneut tauchten Bilder auf und füllten die farblose Leere um ihn herum mit Leben. Gesichter, deren Namen er auf einmal nicht mehr nennen konnte. Eines der Gesichter tauchte besonders oft auf. Es war schön. So wunderschön und vollkommen. Schwarze, lange Strähnen umrandeten eine bleiche Haut. Grüne Augen funkelten wie zwei Smaragde. Sie gehörten zu… Rye. Irgendwann fiel ihm dieser Name wieder ein. „Stimmt, ich wollte mit ihm leben…“ Dabei war es für einen Menschen unmöglich in einer Welt von Vampiren zu überleben. „Letztlich hab ich ihn doch allein lassen müssen…“ Eigentlich sollte er das so akzeptieren, da es ohnehin zu spät war und es nichts mehr gab, was sich daran noch ändern ließ. Doch aus irgendeinem Grund konnte er das nicht glauben. Das Gesicht des Schwarzhaarigen schlich sich immer wieder in seine Gedanken. Er wollte ihn sehen. Wenigstens noch ein einziges Mal. Doch egal als wie stark sich dieser Wille entpuppte: Rye schien schlichtweg unerreichbar für ihn zu sein. Nein. So leicht durfte er nicht aufgeben. Das passte nicht zu ihm. Entschlossen machte er sich auf die Suche. Auf die Suche nach irgendwelchen Zeichen, die ihm verrieten, dass er noch etwas bewirken konnte und dass noch nicht alles verloren war. Erneut breitete sich Dunkelheit aus und die Bilder wurden klarer. Das Licht sammelte sich und bildete eine Gestalt, die nahezu noch viel heller leuchtete als das Sonnenlicht und deren strahlendes Lächeln einem Engel glich. „Alles ist gut.“, sprach Rye mit seidenweicher Stimme. „Du musst keine Angst mehr haben. Von nun an bleibe ich bei dir. Versprochen.“ Wie von selbst streckte Gin eine Hand nach ihm aus. Und plötzlich konnte er allmählich doch etwas fühlen. Obwohl das Bild vor ihm verblasste, wurde die Dunkelheit kurz darauf von einem tiefen Rot abgelöst. Nun konnte er seinen Körper wieder wahrnehmen, über welchen er schrittweise die Beherrschung zurückgewann. Er spürte das gleichmäßige Klopfen seines Herzens immer deutlicher. Spürte seine Atmung und Finger, die kurz zuckten und über etwas Weiches strichen. Nach und nach tauchten neue Geräusche um ihn herum auf. Unter anderem konnte er leise, regelmäßige Atemzüge irgendwo dicht neben sich zählen. War etwa jemand bei ihm? Gin blinzelte und öffnete seine Augen. Das Licht blendete ihn. Noch konnte er nicht sagen, wo genau er sich befand. Er wusste nur, dass er in einem Bett lag und verkabelt war. Da übermannte ihn das Gefühl eines Déjà-vus. Begleitet von einem erschöpften Stöhnen drehte er den Kopf langsam zur Seite, woraufhin er den Umriss einer Person erkennen konnte, welche neben seinem Bett auf einem Stuhl zu sitzen schien. Für einen kurzen Moment vermischten sich Gins Wunschdenken und seine Erinnerungen an die letzten Ereignisse mit der Realität, sodass es ihm wehmütig über die Lippen wich: „Rye…“ Doch dann klärte sich das Bild und sein Verstand schaltete sich wieder ein. Das neben ihm konnte nicht Rye sein. Dieser würde weder atmen, noch sich in einem Krankenhaus in seine Nähe wagen. Aber wer… „Tut mir leid, deine Erwartungen enttäuschen zu müssen.“ Beim Erklingen dieser strengen, kalten Stimme wurde Gins Körper umgehend von einer Schockwelle erfasst, die ihn erst jetzt spüren ließ, wie viele Dutzend Verletzungen er scheinbar überlebt hatte. Allein sein Bein fühlte sich an wie ein einzig dicker Klumpen. Zudem gab es kaum eine Stelle oder ein Körperteil, welches nicht von Schmerzen geplagt war. Insbesondere sein Kopf drohte beinahe zu platzen. Doch das alles versuchte er irgendwie zu ignorieren, um stattdessen der Person neben sich eine Frage zu stellen: „Wieso bist du hier?“ Gin hätte es nicht einmal im Traum für möglich gehalten, dass ausgerechnet dieser Mann ihn hier besuchen würde. Wie hatte er überhaupt so schnell davon erfahren können? „Vielleicht hat Rye es ihm erzählt…“, vermutete Gin. „Ich weiß gar nicht, wie lange ich eigentlich bewusstlos war…“ Zwar war ihm die Zeitspanne nur wie ein kurzer Wimpernschlag vorgekommen, doch das bedeutete nicht, dass er nicht auch tagelang geschlafen haben könnte. Fragen wollte er den Boss dies aber nicht, welcher ihn mit einer Mischung aus Reue und Erbitterung in den Augen musterte. Der Ausdruck verlieh seinem Gesicht eine fremde, ungewohnte Wirkung, die Gin etwas überraschte, jedoch nicht dessen inneren Groll vertrieb. Denn während sich seine Gedanken allmählich wieder ordneten, fielen ihm auch wieder die Worte von Connor ein. Und diese Worte sorgten dafür, dass er in seinem Gegenüber gerade nichts anderes als ein Monster sehen konnte. Ein Monster, dass ihn jahrzehntelang belogen und ausgenutzt hatte. „Weil du mein Sohn bist… und nun mal zu mir gehörst.“, lautete die tonlose Antwort. Fast Gin hätte angefangen zu lachen. Vor Entsetzen. „Also weiß er schon, dass ich es erfahren habe.“, wurde ihm klar. „Andernfalls hätte er das nie so gesagt.“ Trotzdem löste dieser Satz etwas Undefinierbares in ihm aus. Sowohl Schock und Traurigkeit, als auch unbeschreibliche Wut und Schmerz. Die Wahrheit tat mehr weh als all seine Verletzungen zusammen. „Ist etwas spät, um einen auf fürsorglichen Vater zu machen, meinst du nicht?“, schleuderte Gin ihm in derselben emotionslosen Tonlage entgegen. Nach etlichen Sekunden Stille entwich Renya Karasuma ein Seufzen. „Es tut mir leid.“, sagte er. Gins Augen weiteten sich. Was war das eben? Hatte sich dieser Mann gerade wirklich entschuldigt? Und das, obwohl selbst tausend Entschuldigungen noch genauso wertlos wären wie die Erste? Es würde nichts mehr ändern. Gin würde ihm niemals verzeihen. Er konnte ihm nicht mal mehr in die Augen schauen, weshalb er den Kopf wieder vorsichtig zur anderen Seite drehte. „30 Jahre.“, meinte er dann trocken. „30 verdammte Jahre und du hast es nicht für nötig gehalten, mir die Wahrheit zu erzählen? Ich habe nie etwas von dir verlangt!“ Je lauter er wurde, desto schwerer fiel ihm das Sprechen. Seine Stimme klang nach wie vor heiser und ausgelaugt. Abgesehen davon wurden sowohl sein Herzschlag als auch seine Atmung mit jedem Wort hastiger, was ihn zusätzlich erschöpfte. Aber das versuchte er so gut es ging zu überspielen. „Ich hielt es für besser, wenn du es nicht weißt. Ich war kein geeigneter Vater für dich.“, erwiderte der Boss. Es wirkte wie eine billige Ausrede. „Das kannst du nicht wissen, weil du es nie versucht hast.“, konterte Gin und fügte nach einer kurzen Sprechpause hinzu: „Aber das wolltest du auch nicht. Weil du mich hasst, nicht wahr? Du hast mich schon immer gehasst. Ich hab es in deinen Augen gesehen. Jedes Mal wieder…“ Er vermied es, sich an diese Momente zurückzuerinnern. Versuchte die Gefühle, die in ihm erwachten, zu ersticken. Zu lange hatte er sein Leben von diesem Mann abhängig gemacht und ihn über sich entscheiden lassen. Das musste jetzt endlich aufhören. Nie wieder würde er seinetwegen auch nur eine einzige Träne vergießen, was er als Kind bereits viel zu oft getan hatte. Während Gin diesen Entschluss für sich fasste, schien der Boss in Überlegungen versunken zu sein. Womöglich feilte er gerade an der nächsten Ausrede. Oder er hatte vor, überhaupt nicht mehr zu antworten. „Ich hasse dich… nicht mehr.“, hörte Gin schließlich doch eine leise Antwort hinter seinem Rücken. Nachdem sich sein Herz von dem durch die drei ersten Worte ausgelösten Stich erholt hatte, hakte er nach: „Seit wann? Etwa seit ich gelernt habe, keine Fragen mehr zu stellen und nach deiner Pfeife zu tanzen?“ Die Antwort erfolgte diesmal schneller als erwartet. „Nein. Seit ich irgendwann realisiert habe, dass ich dir nicht die Schuld für meinen Fehler geben kann.“ „Der Fehler, dass ich geboren wurde?“ „Dass ich mich auf deine Mutter eingelassen habe.“ „Läuft auf dasselbe hinaus.“ Gin wollte selbst nicht wahrhaben, wie sehr diese Worte ihn kränkten. Auch wenn er seine Mutter nie gekannt hatte, tat sie ihm auf einmal leid. Sie musste vor ihrem Tod furchtbar unter diesem Kerl gelitten haben. „Es ging nie wirklich um dich. Ich konnte mir einfach nie verzeihen, was damals passiert ist.“ „Also fühlst du dich verantwortlich für Mutters Tod?“, fragte Gin. Zwar wusste er bereits von Connor, dass Renya Karasuma Schuld an dem Tod seiner Mutter trug, jedoch interessierte es ihn, ob dieser derselben Ansicht war und sich tatsächlich auch schuldig fühlte. „Ich bin für ihren Tod verantwortlich.“, gestand er schließlich in kalter Tonlage, was Gin einen Schauer über den Rücken jagte. „Und darum hast du mich bei dir aufgenommen. Aus Reue…“ „Ja.“ Daraufhin verstummten beide für ein paar Minuten. Gin war sich nicht sicher, ob es gut wäre, noch weiter in der Vergangenheit nachzuforschen. Einerseits wollte er endlich die ganze Wahrheit herausfinden und mehr über seine Mutter erfahren. Andererseits wusste er nicht, ob er imstande wäre, diese Wahrheit zu verkraften. Da in ihm ohnehin schon ein Chaos an Gefühlen herrschte und es auf ein größeres Ausmaß nun auch nicht mehr ankam, wagte er es schließlich doch, das Gespräch fortzuführen: „Wie ist sie gestorben?“ Er drehte den Kopf ein wenig nach hinten und sah, wie der Boss unbewusst die Lippen zusammenpresste. In seinem mühsam beherrschten Blick lag eine winzige Spur von Schock. „Sie hat sich von einem Hochhaus gestürzt.“, verriet er. „Warum? Was hast du getan?“ „Ich habe ihr gesagt, dass ich sie nicht liebe und kein Kind mit ihr möchte.“ „Und meintest du das ernst?“ Inzwischen konnte Gin seinen Gegenüber nicht mehr richtig einschätzen. Aufgrund der Reue, die dieser wirklich zu empfinden schien, hegte der Silberhaarige einen Funken Hoffnung, dass Vaters abweisende Haltung ihm gegenüber früher vielleicht andere Gründe hatte, die er nur noch nicht kannte. Vielleicht waren er und Mutter ihm doch nicht komplett egal. Doch das immer länger anhaltende Schweigen sprach gegen diese Hoffnung. „Meintest du das ernst?“, wiederholte Gin im lauteren Ton. Der Boss musterte ihn lediglich mit ausdrucksloser Leere in den Augen, bevor er entgegnete: „Meinte ich.“ Gins Gesicht verzog sich fast automatisch vor Hass und Verachtung. Also war es doch die beste Entscheidung, sich von diesem Mann abzuwenden. Gin schuldete ihm rein gar nichts mehr. Im Gegenteil. Er wollte seine Mutter zurück. Oder dafür sorgen, dass sie diesen selbstsüchtigen Kerl niemals kennengelernt hätte. „Du solltest ihr nicht nachtrauern. Selbst wenn ich nicht der Vater gewesen wäre, hätte sie dich vermutlich weggegeben. Sie war eine Prostituierte. Sie hätte dir nichts bieten können, weil sie weder Geld noch-“ „Ach hör doch auf!“, fiel Gin dem Boss aufgebracht ins Wort, wobei sein Körper augenblicklich von einer Schmerzenswelle erfasst wurde. Er biss die Zähne zusammen und fuhr dann fort: „Das ist mal wieder so typisch für dich. Menschen haben für dich automatisch keinen Wert mehr, wenn sie nicht genügend Geld besitzen! Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass Geld nicht das Wichtigste ist, was man im Leben braucht?! Ich wäre lieber bei einer Prostituierten aufgewachsen anstatt dich und dein machtversessenes Verhalten ertragen zu müssen!“ Er hätte noch viel mehr hinzugefügt, wenn seine Stimme danach nicht in einem keuchenden Husten untergegangen wäre. Erst nebenbei bemerkte er, dass das Piepen neben ihm, erzeugt von einem Monitor, immer schneller geworden war. Sein Herz hämmerte wild gegen seine Rippen. Atmen war plötzlich so gut wie unmöglich, während weitere Wellen des Schmerzes seinen Körper durchrollten. Er versuchte sich auf den Rücken zu drehen und wollte eine Hand auf seine Stirn ablegen, stellte dabei jedoch fest, dass die linke verkabelt war, weshalb er die andere Hand benutzen musste. „Du solltest dich lieber beruhigen und stattdessen etwas ausruhen.“, riet der Boss ihm. Als sich Gins Atmung wieder einigermaßen normalisiert hatte, antwortete er im erschöpften Ton: „Ahja? Kann dir doch egal sein. Wenn ich krepiere, hast du eine Sorge weniger.“ „Jin…“ Auf einmal klang Vaters Stimme so anders. War das etwa… Verzweiflung? „Ich wollte-“ „Nein.“, unterbrach Gin ihn ungeachtet dessen erneut. „Behalt es für dich und verschwinde einfach. Ich kann dich nicht mehr ertragen.“ Er hätte nie gedacht, jemals so mit seinem Boss zu sprechen. Bis vor dem Zusammentreffen mit Eclipse hätte er sich das nie gewagt. Doch nun waren ihm die möglichen Folgen vollkommen egal. Denn er betrachtete Renya Karasuma nicht mehr länger als seinen Boss oder Vorgesetzten. Und schon gar nicht mehr als eine Person, dessen Befehle er befolgen musste. Gin schloss die Augen und lauschte. Eine Weile blieb es still und es erfolgte keine Reaktion. Bis er glaubte, einen sehr leichten Luftzug über seinen Kopf wahrzunehmen. Doch er traute sich nicht, die Augen wieder zu öffnen. Kurz darauf hörte er, wie sich Renya Karasuma vom Stuhl erhob. „Wie du willst.“, meinte dieser und schien etwas auf den Tisch zu legen. „Dein Handy.“, kommentierte er die Geste und entfernte sich mit lautlosen Schritten vom Bett. „Rye hat es mir gegeben. Das Video habe ich gelöscht. Ich konnte es nicht ertragen, dich so zu sehen. Und was er aus dir gemacht hat.“ Nach diesen Worten verließ er das Zimmer. Gin schaute ihm nicht nach. Alles, was in seinem Gesicht zurückblieb, war ein entsetzlich tiefer Schock. Das Video. Dieser Pierre hatte ihn gefilmt, während er ihn zugerichtet hatte. Allerdings müsste die Aufnahme in dem Moment gestoppt haben, als Rye dazwischen gegangen war und den Kerl mitsamt dem Handy weggestoßen hatte. Gin hätte eigentlich vermutet, dass das Teil dabei kaputt gegangen war. Doch so viel Glück hatte er scheinbar nicht gehabt. „Ob Rye… es auch gesehen hat?“, kam es Gin in den Sinn. Ihm wurde schlecht. Jeder hätte es seinetwegen sehen können. Wirklich jeder. Aber nicht Rye, welcher sich wahrscheinlich längst schon genug Vorwürfe für die letzten Geschehnisse machte. Sofort kam in Gin die altbekannte Angst auf, sein Geliebter würde erneut tagelang verschwunden bleiben. Oder diesmal gar nicht mehr zurückkommen. Mit Mühe und etlichen Schmerzensbeschwerden gelang es Gin, sein Smartphone vom Tisch zu angeln. Seine verkabelte Hand zitterte, als er auf den mit Kratzern und Rissen übersäten Bildschirm schaute. Offensichtlich hatte das Teil mindestens genauso stark gelitten wie er. Überraschenderweise funktionierte es noch, auch wenn der Akku fast leer war. Für einen Anruf müsste es jedoch noch reichen. Gins Herz schlug automatisch höher, sobald er Ryes Nummer gewählt hatte. Die Befürchtung, der Schwarzhaarige würde nicht ran gehen, war einfach zu groß. Doch da meldete sich nach einigen Sekunden eine sanfte, vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung: „Gin? Bist du etwa aufgewacht?“ In Ryes Stimme lag eine gewisse Vorsicht. Dennoch war Gin unendlich froh, sie wieder hören zu können. Zuletzt hatte er noch gedacht, dass ihm das nie wieder vergönnt sein würde. „Ja, bin ich.“, antwortete er zufrieden. „Das ist gut… Wie geht es dir denn?“, hakte Rye nun mit Sorge in der Stimme nach. „Schätze, den Umständen entsprechend. Es würde mir besser gehen, wenn du hier wärst.“ Gin wollte Rye damit indirekt auffordern, dass er zu ihm kommen sollte. Doch sein Geliebter schwieg nach dieser Antwort nur, weshalb er hinzufügte: „Wo bist du?“ „Nah genug, um notfalls rechtzeitig bei dir sein zu können. Aber auch weit genug weg, um dir nicht schaden zu können.“ Wieso überraschte Gin eine solche Aussage nicht? Auf keinen Fall würde er das so einfach akzeptieren. „Willst du jetzt echt immer noch so weitermachen? Das ist doch lächerlich.“ „Lächerlich? Hast du überhaupt eine Ahnung, was da gestern passiert ist? Und kannst du dir vorstellen, was noch auf uns zukommen wird, wenn wir nicht voneinander Abstand halten? Reicht es dir nicht, dass du fast gestorben wärst und ich dich für immer verloren hätte?“ Ryes Tonfall klang vorwurfsvoll, während er das sagte. Aber auch irgendwie überfordert, als wäre es ihm selbst noch nicht richtig gelungen, den Vorfall zu verarbeiten. Eigentlich bedurfte es diesbezüglich eine Menge Redebedarf, was Gin jedoch keinesfalls alles am Telefon klären wollte. Zumal sein Akku dabei wohl auch nicht mitspielen würde. „Mag sein, dass mein Zustand gerade nicht der Beste ist, aber ich erinnere mich schon wieder sehr gut an das, was passiert ist. Doch darum geht es mir nicht. Denn wenn du vorhast, mir weiterhin fernzubleiben, dann fühlt es sich dagegen für mich so an, als hätte ich dich für immer verloren.“, versuchte er Rye umzustimmen. Dieser schlug daraufhin zumindest einen ruhigeren Tonfall an. „Hast du aber nicht…“ „Dann beweis es mir und komm her.“, erwiderte Gin mit fester Stimme, woraufhin er ein Seufzen von seinem Geliebten vernahm. „Na gut.“, gab er sich letztlich geschlagen. „Ich bin gleich da.“ Nach diesen Worten legte Gin auf und ließ seinen Arm wieder auf die Matratze sinken. Es überraschte ihn, dass es dieses Mal so einfach gewesen war. Doch wer wusste schon, wie Rye gestimmt war, wenn er hier auftauchte. Nur weil er gleich herkommen würde, hieß das nicht, dass er deswegen seine Meinung über das Fortbestehen ihrer Beziehung geändert hatte. Welcher Meinung Rye darüber allerdings genau war, wollte Gin am besten gar nicht erst erfahren. Es dauerte kaum fünf Minuten, bis es an der Tür klopfte. Zu Gins Enttäuschung handelte es sich aber lediglich um eine Krankenschwester, die ihm Wasser brachte und etwas gegen die Schmerzen verabreichte. Im Anschluss informierte sie ihn, dass der Arzt ihm in einer Stunde einen Besuch abstatten würde. Gin nahm das nickend so hin, bevor die Schwester den Raum auch schon wieder verließ. Weitere Minuten vergingen. Schließlich klopfte es ein zweites Mal an der Tür. Viel langsamer als das andere Mal öffnete sie sich und vorsichtig trat Rye in den Raum. „Du bist hier.“, sagte Gin erleichtert und atmete innerlich auf. Es war schon zu lange her, seit er seinen Geliebten zuletzt gesehen hatte, ohne dabei befürchten zu müssen, dass einer von ihnen jeden Moment sterben könnte. Ryes Erscheinung wies keine äußerlichen Verletzungen auf und sein Aussehen war wie immer makellos. Es schien ihm gut zu gehen. Abgesehen davon, dass seine Haltung sehr unsicher wirkte und er den Blick abgewandt hielt. Seine folgenden Worte waren lediglich gemurmelt und nur schwer zu verstehen: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie leid mir das alles tut…“ Natürlich war das Erste, was Gin von ihm zu hören bekam, eine Entschuldigung. Wie hätte es auch anders sein können? „Muss es aber nicht. Du trägst keine Schuld.“, wies er Rye sogleich im ruhigen Ton zurecht. Als er sah, dass dieser widersprechen wollte, ergänzte er: „Ich wurde reingelegt.“ Rye schaute ihn überrascht an. „Reingelegt…? Wie?“ „Ich bekam einen Anruf von deiner Nummer. Ich hab dich schreien gehört, weshalb ich dachte, sie hätten dich erwischt…“ „Aber das hatten sie nicht.“, beendete Rye die Aussage tonlos. Ein ironisches Lächeln bildete sich auf Gins Lippen und er fuhr fort: „Nein. Sie sagten, wenn ich mich mit ihnen treffe und verhandele, verschonen sie dein Leben. Aber als ich am Treffpunkt angekommen war, musste ich feststellen, dass deine Stimme nur von irgendeinem Video gestammt hatte. Sie haben es im Musikraum an die Wand projiziert. Ich hab es mir angesehen… und danach war es auch schon zu spät.“ „Was war das für ein Video?“ „Es waren… naja… sozusagen deine letzten Minuten als Mensch.“ Kurz darauf trat ein dunkler Schatten in Ryes Gesicht und es verzog sich, als hätte er Schmerzen. „Du hättest nicht so leichtsinnig sein dürfen.“, brachte er zwischen den Zähnen hervor. „Was hätte ich denn tun sollen? Da du schon seit Tagen weg warst, erschien es mir nicht abwegig, dass sie dich gefangen genommen haben. Ich war mir dessen bewusst, was ich für ein Risiko eingehe, wenn ich das Treffen annehme. Aber ich wäre so oder so hingegangen, weil ich dich niemals im Stich lassen würde.“, entgegnete Gin, nicht in der Hoffnung, dass Rye irgendetwas davon zu schätzen wusste. Das bewies vor allem dessen folgende Antwort: „Selbst wenn es wahr gewesen wäre, hättest du nicht kommen dürfen.“ Auch wenn ihn Ryes Ansichten nicht mehr überraschten und er mittlerweile wusste, dass es seinem Geliebten hauptsächlich um seine Sicherheit ging, so raubte es Gin doch jedes Mal aufs Neue die Fassung, wenn er solche Worte von ihm zu hören bekam. „Und was sonst? Hätte ich etwa Zuhause bleiben und am Telefon zuhören sollen, wie sie dich quälen?“ „Ja.“, war alles, was Rye in einer trockenen, kalten Tonlage erwiderte. Dieses eine Wort durchbohrte Gins Brust nahezu wie ein scharfes Messer. „Das konnte ich nicht.“, gestand er, woraufhin seine Stimme immer leise wurde: „Nichts ist schlimmer, als ohne dich leben zu müssen…“ „Aber deshalb musst du dein Leben nicht gegen meins eintauschen oder gar meinetwegen wegwerfen.“ Rye schien es nicht begreifen zu wollen. Nicht begreifen zu wollen, wie unendlich wichtig er dem Silberhaarigen war. Sonst hatte er immer so viel wert darauf gelegt. Doch jetzt schien sich etwas in ihm verändert zu haben. Und daran waren genau zwei Ereignisse der letzten Woche schuld. Eines davon wollte Gin bewusst nie wieder ansprechen. „Du würdest doch dasselbe tun.“, meinte er fest überzeugt. Zwar lag er damit richtig, doch für Rye schienen das zwei völlig unterschiedliche Dinge zu sein. „Ich kann nicht sterben.“, konterte er. Das entsprach nicht mehr der Wahrheit. „Du hast dort auch drei umgebracht.“ „Du als Mensch bist aber verwundbarer als ich.“ „Hab ich gesehen, wie unverwundbar du bist.“ Mit einem Mal sahen beide den Moment wieder vor sich: Rye, wie er am Boden kniete, während zwei andere Vampire ihn festhielten und ein Dritter seinen Kopf von seinem Hals trennen wollte. Die Risse zogen sich immer weiter durch Ryes weiße, steinerne Haut. Bis plötzlich Gins bebende Stimme das Vorhaben unterbrach. Der Schwarzhaarige schien sie gedanklich zu hören, da seine Miene leicht schockiert und wehmütig wirkte. Doch er lenkte auf eine andere Angelegenheit ein: „Dieses Elixier… du weißt, dass sie das niemals in die Hände bekommen dürfen, oder?“ Selbstverständlich wusste Gin das. Allerdings war das für ihn nicht von allzu hoher Bedeutung. Es gab immerhin Wichtigeres. Viel Wichtigeres… „Wenn es das ist, was sie wollen, tausche ich es gern gegen dich ein.“ Daraufhin warf Rye ihm einen entsetzten Blick zu. „Es wird sowieso nicht dazu kommen, weil so etwas wie gestern nie wieder passieren wird. Noch einmal falle ich nicht auf deren Spielchen rein.“, fuhr Gin fort. Er würde dieses Elixier des ewigen Lebens einfach getrost vergessen. Sollte dieser Connor es sich doch vom Boss holen. „Das hoffe ich.“, erwiderte Rye, bevor Gin ihm riet: „Du musst in Zukunft auch vorsichtiger sein.“ Aber wie immer nahm sich sein Geliebter solche Worte nicht weiter zu Herzen. „Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“ „Mache ich aber. Ständig. Und jetzt, wo ich weiß, was sie dir antun können, besonders.“ „Sie werden mir nichts mehr antun. Und dir auch nicht. Dafür sorge ich.“ Für Gin klang das zu schön und leicht, um wahr zu sein. Er schaute Rye skeptisch an, welcher dann mit Nachdruck in der Stimme hinzufügte: „Vertrau mir.“ Das war nicht das Problem. „Ich vertraue dir, aber vertraust du mir?“, wollte Gin wissen. Ryes Antwort erfolgte so schnell wie ein Pistolenschuss: „Ich vertraue dir-“ „Aber du traust mir nichts zu.“, unterbrach er ihn. Als Rye etwas sagen wollte, ignorierte Gin es und redete weiter: „Ich habe schon mein ganzes Leben mit ähnlichen Organisationen wie Eclipse zu tun. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mit dieser bescheuerten Beschützer-Masche aufhören sollst?“ „Das ist keine Masche-“ „Ich weiß, dass es dir ernst ist, aber mir auch. Das kommt bei dir nur nicht an.“ „Doch. Ich möchte nur nicht, dass dir etwas passiert…“, entgegnete Rye leise und senkte reumütig den Blick, als hätte er, was das betraf, schon zu oft versagt. Gin verdrehte die Augen. „Das geb ich dir glatt zurück.“ „Gin…“ „Meinst du, wir bekommen das irgendwie noch hin?“ Rye beantwortete die Frage nicht. Stattdessen kam er langsam näher, wobei Gins Augen mit jedem Schritt größer wurden. Jedoch nahm Rye lediglich das Handy, welches nach wie vor auf dem Bett lag, und packte es zurück auf den Tisch. „Scheinbar hat der Alte dich doch besucht.“, meinte er scherzhaft. „War ja klar, dass er bei solchen Dingen wieder das Thema wechselt…“ Gin zog missmutig die Augenbrauen zusammen. „Also hast du das so eingefädelt?“ „Schon.“, gab Rye zu. „Ich wollte, dass ihr miteinander redet.“ „Aha.“ „Wie ist es denn gelaufen?“ Gin hörte längst nur noch mit halbem Ohr zu. Er wollte nicht darüber reden und schwieg, was Rye dementsprechend interpretierte: „Verstehe… das wollte ich nicht.“ Dessen niedergeschlagene Tonlage ließ Gin wieder aufmerksam werden. „Ist doch egal. Ich brauche ihn nicht.“, spielte er das Ganze herunter. Auch wenn es jetzt noch weh tat, würde er früher oder später darüber hinwegkommen. Schließlich war er es bereits gewohnt, kein gutes Verhältnis zu seinem Vater zu haben. „Nicht…?“, hakte Rye verwundert nach. „Nein. Du bist der Einzige, den ich brauche.“ Gin schenkte seinem Geliebten ein warmherziges Lächeln. Doch dieser überging die Aussage. „Also hasst du ihn jetzt?“, fragte er stattdessen. „Ja.“ Gin beobachtete, wie Rye nachdenklich zu Boden starrte. Dessen fehlendes Entgegenkommen machte ihn zunehmend unzufrieden. Es war, als wäre Ryes Liebe vollständig von Sorgen und Schuldgefühlen überlagert. Gin wollte ihm beides restlos austreiben und das Geschehene einfach hinter sich lassen. Er streckte zitternd eine Hand nach Rye aus und bat: „Komm her.“ Nur zögernd griff dieser nach seiner Hand und nahm auf der Bettkante Platz. Die kühle Berührung fühlte sich so angenehm an. Von starker Sehnsucht übermannt, verfestigte Gin seinen Griff und zog Rye weiter zu sich herunter. „Du hast mir gefehlt…“, hauchte Gin, während er seine Hand in Ryes Nacken legte und mit seinem anderen Arm vorsichtig dessen Rücken umschlang. Rye sagte die ganze Zeit über kein einziges Wort. Allerdings schien die Mauer, die er in den letzten Tagen um sich herum errichtet hatte, endlich nach und nach einzubrechen. Sehnsucht und Kummer traten in seine smaragdgrünen Augen und sein Gesicht verzog sich, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. „Du mir auch.“, schluchzte er leise, bevor er sich langsam zu Gin herunterbeugte und ihre Lippen miteinander versiegelte. In dessen Körper breitete sich umgehend ein Kribbeln aus und ihm wurde wärmer. Allerdings wehrten diese Empfindungen nicht lang. Denn der Kuss war nicht von der sonstigen Liebe und Leidenschaft erfüllt, sondern von Traurigkeit und Schmerz. Es löste ein melancholisches Gefühl in Gin aus. Während er reglos verweilte und sich Rye etwas fester an ihn schmiegte, konnte er von dessen Körper ein leichtes Zittern wahrnehmen. „Ihm geht es wirklich sehr schlecht…“, dachte Gin verzweifelt. Als sein Geliebter sich von ihm löste, drückte er ihn wieder zu sich herunter, sodass Rye den Kopf auf seine Brust ablegte. Der Silberhaarige strich ihm sanft über den Haaransatz. „Ich verstehe einfach nicht, wie du mich noch lieben kannst… nach allem, was ich dir angetan habe…“, begann Rye nach einer Weile. Gin durchlief ein Schauer, wobei der Schwarzhaarige den Kopf hob und ihn bedrückt ansah. „Das alles war aber nicht deine Absicht. Ist schon okay, ich lebe ja noch. Dank dir.“, wollte Gin seinen Geliebten beschwichtigen, welcher ihn danach allerdings nur verständnislos anstarrte. „Du hast doch beide Male den Krankenwagen gerufen, oder nicht?“, erklärte Gin und vermied es, genauer auf die gemeinten Ereignisse einzugehen. Jedoch blieb Rye weiterhin still, weshalb Gin mit einem zaghaften Lächeln auf den Lippen seine Erklärung fortsetzte: „Du hast immer versucht mich letzten Endes zu retten, egal, was zuvor geschehen ist und wie es dazu kommen konnte. Weil du mich liebst… und dafür bin ich dir sehr dankbar. Wie sollte ich dich hassen, obwohl du mir nie wirklich weh tun wolltest? Allein die Reue, die du seither empfindest, beweist das doch.“ Natürlich konnte man es auch von dieser Seite betrachten, wenn man bewusst ignorierte, weshalb beide Vorfälle erst zustande gekommen waren. Oder besser gesagt: wenn man bewusst verdrängte, wer in jener gemeinsamen Nacht die Kontrolle verloren hatte und warum Eclipse auf Gin aufmerksam geworden war. Rye schien dies allerdings mehr als deutlich vor Augen zu sehen – die für ihn bittere, unbestreitbare Wahrheit, dass er an allem Schuld trug und die Ursache aller Probleme war. Es grenzte nahezu ans Unmögliche, ihm das auszureden. „Das mag zwar stimmen, doch es ändert nichts an der Tatsache, dass du wegen mir schon etliche Male fast gestorben wärst. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob ich versuche, dich zu retten oder nicht. Was, wenn ich es irgendwann mal nicht schaffe?“, erwiderte Rye in verbissener Tonlage, während er dem Silberhaarigen eindringlich in die Augen schaute. Nach einer kurzen, angespannten Pause fragte er noch: „Wenn dir jemand mit voller Wucht ein Messer in den Bauch rammt und danach einen Krankenwagen für dich ruft, würdest du demjenigen dann auch verzeihen?“ Gin starrte Rye mit flackerndem Blick an. Die Frage verwirrte ihn. „Du hast doch aber nichts von all dem mit Absicht-“, setzte er an, doch Rye fiel ihm aufbrausend ins Wort: „Ich hab es nicht mit Absicht getan? Was macht dich da so sicher? Du hast doch selbst gesagt, da ist nichts in mir, was mich kontrolliert und dass ich mir das nur eingeredet habe, um mich nicht für meine Handlungen verantwortlich fühlen zu müssen. Wenn ich es nicht war, wer denn sonst? Sogar dass Eclipse dich da mit reinzieht, hätte ich verhindern können, wenn ich rechtzeitig abgehauen wäre. Aber nicht mal das hab ich getan, weil ich so verdammt egoistisch war. Letztlich hab ich immer nachgegeben, um mein Verlangen zu zügeln. Obwohl ich genau wusste, wie sehr ich dein Leben gefährde. Auch in dieser Nacht…“ Gin spürte, wie sich etwas in seinem Magen verkrampfte und sein Gesicht immer bleicher wurde. Er hätte nicht damit gerechnet, dass Rye ihm seine Worte von damals sogar jetzt noch im Mund verdrehen würde, um recht zu behalten. Es schien zwecklos zu sein, ihn von seiner Meinung abzubringen. Ryes Miene war so unnachgiebig. Und seine Worte wurden immer verletzender. Gin wusste nicht mehr, was er darauf noch antworten sollte, ohne sich selbst im Anschluss ins eigene Fleisch zu schneiden. Plötzlich legten sich zwei kühle Hände auf sein Gesicht und der Blick in Ryes Augen wandelte sich in Sorge um. „Versteh doch… du kannst an meiner Seite nicht überleben. Wir sollten das Schicksal wirklich nicht länger herausfordern…“, sprach er, während er bekümmert Gins Gesicht streichelte. Dieser kapierte zuerst nicht, wie Rye das gemeint hatte. Dann, als er ihn weiter anstarrte, fügten sich seine Worte zusammen, eins zum anderen, und ergaben einen furchtbaren Sinn. „Du willst… mich verlassen?“, fragte Gin vorsichtig. Die bloße Vorstellung brachte sein Herz zum rasen. Er sah, wie Rye kurz darauf zusammenzuckte – wahrscheinlich hätte er das selbst nie so direkt formuliert – doch der gequälte Blick wich nicht aus seinen Augen. Es stimmte. „Nein, das geht nicht. Das darfst du nicht!“, widersprach Gin der stummen Antwort. „Warum nicht? Ohne mich könntest du wieder in Frieden leben und deinen früheren Tätigkeiten nachgehen. Ich glaube, dein Leben wäre bei weitem ungefährlicher, wenn wir uns nie getroffen hätten und ich damals in Eclipse einfach gestorben wäre. Und ich hätte sterben sollen…“ Gin blieb vorerst still und musterte argwöhnisch Ryes Gesicht, während ein anderer Schmerz, der unendlich viel schlimmer war und rein gar nichts mit seinen gebrochenen Knochen zu tun hatte, ihn zu ersticken drohte. Nein. Niemals. Das konnte Rye nicht ernst meinen. „Hör auf mit dem Unsinn. Ich würde ganz sicher nicht in Frieden leben, wenn du nicht mehr da wärst. Du hast gesagt, du liebst mich und dass du mich nie verlassen könntest! Du hast es so oft gesagt!“ Gin wusste, es wäre besser ruhig zu bleiben, wenn er seinem gesundheitlichen Zustand nicht noch mehr schaden wollte. Doch es ging nicht. Irgendwie musste er Rye diese Entscheidung ausreden. „Ja, habe ich… und das war auch nicht gelogen. Ich könnte dich niemals verlassen. Aber können und müssen sind zwei unterschiedliche Sachen. Weißt du, wie weh es mir tut, dich in diesem Zustand zu sehen? Und dann auch noch mit dem Wissen, dass ich dafür verantwortlich bin…? Ich geh kaputt an meinen Schuldgefühlen…“, entgegnete Rye, während er nach unten blickte und Gins Hände fest in seine nahm. „Dann gib dir nicht für alles die Schuld. Mein Zustand wird vorüber gehen und dann ist alles wieder gut. Wir finden schon eine Lösung. Aber keine, die beinhaltet, dass du mich verlassen musst. Verstanden?“ Gin glaubte, endlich die Kurve zu kriegen. Zumindest machte Rye nicht den Eindruck, widersprechen zu wollen. Er sah auf und ein Schmunzeln erschien auf seinen Lippen. Es war ein trauriges Schmunzeln. Schließlich führte er eine von Gins Händen zu seinem Mund und küsste sanft dessen Handrücken. Dabei murmelte er etwas, was der Silberhaarige zwischen seinen unruhigen Atemzügen und den Kopfschmerzen nicht verstand. „Wir reden darüber nochmal, wenn es dir besser geht.“, meinte Rye nun deutlicher. „Darüber brauchen wir nicht nochmal zu reden. Du wirst mich nicht verlassen. Das steht fest.“ Ein leichter Befehlston mischte sich in Gins Stimme, was seinem Geliebten ein weiteres Schmunzeln entlockte. „Ruh dich jetzt aus.“, riet dieser ihm. Aber das konnte Gin nicht. Er hatte Angst, die Augen zu schließen. Was, wenn Rye danach fort wäre und er ihn nie wieder sehen würde? Es gab keine Garantie, dass Gin es geschafft hatte, ihn zum Bleiben zu überzeugen. Auch lieferten ihm weder Ryes Worte noch dessen Verhalten irgendwelche Hinweise darauf. Sekundenlang ruhte sein misstrauischer Blick auf dem Gesicht des Schwarzhaarigen, welcher begann vorsichtig seine Wange entlang zu streichen. „Ich kann hier nicht bleiben. Und ich werde dich auch nicht nochmal besuchen können. Du weißt, dass ich Krankenhäuser nicht ausstehen kann und sie lieber meide…“, erklärte Rye in beruhigender Tonlage. „Aber ich werde da sein, wenn du entlassen wirst. Versprochen.“ Anschließend beugte er sich zu Gin herunter und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich.“ Gin schaute Rye wehmütig hinterher, als dieser sich wieder vom Bett erhob. Seine Worte hatten die Angst zwar nicht gänzlich vertreiben können, jedoch beschloss der Silberhaarige, ihnen Glauben zu schenken. Eine andere Wahl hatte er immerhin nicht. „Ich dich auch…“, sagte er leise, was Rye mit einem weichen Lächeln erwiderte. An der Tür angekommen, verabschiedete er sich: „Bis dann. Bitte tu mir den Gefallen und erhol dich gut.“ Gin nickte. Nachdem Rye aus seinem Blickfeld verschwunden war und sich die Zimmertür schloss, fielen ihm langsam die Augen zu. Jetzt, wo außer von den monotonen Geräuschen der Geräte wieder Stille einkehrte, spürte er seine Schmerzen trotz des Morphiums wieder viel intensiver. Diesmal würde es wohl länger dauern, bis er hier wieder raus käme. Und selbst nach seiner Entlassung würde es noch mehrere Wochen dauern, bis sein gebrochenes Bein endgültig verheilt wäre. Gin wollte noch gar nicht daran denken. Auch nicht daran, ob Rye sein Versprechen wirklich einhielt. Die unbeschreibliche Angst, dass er seinen Geliebten trotz dessen heute zum letzten Mal gesehen hatte, würde ihm auch in den kommenden Tagen schlaflose Nächte bereiten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)