The Monster inside my Veins von ginakai ================================================================================ Kapitel 40: Von Raubtieren umgeben ---------------------------------- Es war schon fast dunkel als Gin bei seiner alten Oberschule ankam und vor dem grünen Gittertor stehen blieb, welches ihn noch von dem dahinterliegenden Schulhof trennte. Es wirkte viel größer und bedrohlicher, als Gin es in Erinnerung hatte. Fast wie der Eingang zu einem Gefängnis. Und eigentlich stimmte das auch. Für Gin war dieser Ort schon immer so etwas wie ein Gefängnis gewesen. Fünf Tage in der Woche von frühmorgens bis nachmittags mit einem Haufen pubertärer Teenager zusammen zu sein, hatte sich so angefühlt, als säße er mit unzähligen hungrigen Hyänen in einer Zelle. Und diese Hyänen hatten sich stets daran ergötzt, ihn auf die verschiedensten Arten zu quälen und ihm dann beim Leiden zuzusehen. Niemand hatte je versucht, ihn aus der Zelle zu befreien. Schon gar nicht die Gefängniswärter, die sogenannten Lehrer, die nur ab und zu mit abgewandtem Blick vorbeigekommen waren, ohne irgendwas an den Gegebenheiten zu ändern. Gin hatte sie alle gehasst. Jedoch nicht so sehr, dass er damals schon an so etwas wie Mord gedacht hätte. Daran hatte er erst angefangen zu denken, als drei bestimmte Personen in sein Leben eingedrungen waren und ihn gezielt terrorisiert hatten. Ein Mädchen und zwei Jungen aus der Parallelklasse. Gin legte seine Hand um den Türknauf des Tors. Es wunderte ihn nicht, dass dieses trotz der späten Uhrzeit nicht verschlossen war. Nur noch wenige Minuten bis neun. Er ließ seinen Blick prüfend über den Schulhof wandern, wobei ihm seltsamerweise nichts Verdächtiges auffiel. Nirgends brannte Licht. Schatten von Personen waren auch nicht zu erkennen. Das metallische Quietschen beim Öffnen des Tors war das einzige Geräusch, welches die Stille unterbrach. Das Tor fiel hinter Gin zu, sobald er stehen blieb. Die Umgebung hatte sich nicht wirklich viel verändert. Ein paar Meter neben ihm befand sich ein extra abgezäunter Bereich, wo die Schüler ihre Fahrräder abstellen konnten. Früher hatte davor noch ein altes, unbenutztes Gebäude gestanden, welches aber inzwischen abgerissen worden war. Eines der noch stehenden Schulgebäude sah genauso alt aus, jedoch wurde im Inneren wohl erst vor nicht allzu langer Zeit renoviert. Dieses Gebäude trug einfach nur den Spitznamen Altbau. Aus dem Grund, weil ein paar Jahrzehnte nach der Eröffnung gegenüber noch ein sehr modernes Blockgebäude, genannt Neubau, errichtet wurde. Beide Schulgebäude waren mit einem Korridor verbunden, in welchem vorn und hinten jeweils eine große Doppeltür aus Glas eingebaut war. Generell bestand gut die Hälfte der Wände des Neubaus aus Glas. Es gab dort sogar einen Musikraum, dessen Wände zur Hälfte aus Glas waren. Gin konnte den Raum von hier aus sehen. Die Glaswände hatten unter anderem auch Türen, sodass man auch vom Schulhof aus hinein gelangen konnte. Aber die waren früher nicht oft verwendet worden. Gin hatte nie gern Musik in diesem Raum gehabt, da er sich dort drin immer besonders beobachtet gefühlt hatte. Das war allgemein der Nachteil des Neubaus. Von den Fenstern des Altbaus aus konnte man genau sehen, wenn jemand durch die Flure des Neubaus ging, weil die Fenster im Letzteren größer und vor allem breiter waren. Im ersten Stock gingen sie sogar bis zum Boden. Gin überlegte, welche der Türen er am besten benutzen sollte. Oder ob er überhaupt irgendeine benutzen sollte. Wenn er wenigstens wüsste, wo genau sich die Kerle mit ihm treffen wollten. Gerade wirkte es nicht so, als würde er hier von jemandem erwartet werden. Wahrscheinlich war das Absicht. Gin wählte schließlich die Tür des Verbindungsgebäudes aus. Vielleicht könnte er im Inneren ein paar Räume durchsuchen, auch wenn er nicht glaubte, dass er bei einem davon das Glück haben würde Rye tatsächlich zu finden. Während er über den Schulhof ging hatte er das Gefühl, durch tiefen Schlamm zu laufen. Jeder Schritt fiel ihm schwer. Er fühlte sich ausgeliefert, irgendwie entblößt, und plötzlich wünschte er sich nichts weiter, als zu Hause auf der Couch in Ryes Armen liegen zu können. Während sein Geliebter ihm sanft über den Kopf streichelte und fest an seinen kalten, steinernen Körper drückte. Gin würde sich der angenehmen Ruhe hingeben und die Nähe zu Rye vollends genießen. Sie hätten nichts zu befürchten. Alles wäre perfekt. Nur sie beide. Allein. Für den Rest ihres Lebens unzertrennbar. Aber das war lediglich eine Illusion, die nie mehr Wirklichkeit werden würde. Weil Eclipse sie unweigerlich voneinander trennen würde. Egal, auf welche Weise. Gin ging an einem Brunnen vorbei, der sich ungefähr in der Mitte des Schulhofs befand. Normalerweise setzten sich die Schüler meist auf die davor stehenden Bänke, um miteinander zu erzählen oder um in aller Stille zu lernen. Doch Gin hatte sich früher nicht mal in die Nähe des Brunnens getraut. Nicht mehr, seit mal jemand seinen Kopf so lange unter Wasser gedrückt hatte, dass er dabei fast ertrunken wäre. Die Person hatte das mehrmals hintereinander getan und dabei schallend gelacht. Sein Freund und das Mädchen hatten zugesehen. Gin hatte ihm danach mit der Faust ins Gesicht geschlagen und es war wie so oft zu einer Prügelei gekommen, für die er im Nachhinein hatte nachsitzen müssen. Der Sieger dieser Auseinandersetzungen waren meist die beiden Typen gewesen. Und das Mädchen, dessen Namen und Gesicht er mittlerweile erfolgreich verdrängt hatte, war immer die ganze Zeit über im Hintergrund geblieben. Gin hatte sie bis zu ihrem Todestag nie angerührt. Aber genau das war das Problem dieses Mädchens gewesen. Tief innerlich hatte sie gewollt, dass er sie anrührte und hatte anfangs oft alles getan, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie hatte ihn gefragt, ob er mit ihr zusammen sein wollte und gesagt, dass sie sich in ihn verliebt habe. Gin hatte sich nichts dabei gedacht, als er ihr eine Abfuhr erteilte. Er war davon ausgegangen, dass sie ihn einfach in Ruhe lassen würde. Doch da hatte er sich gewaltig getäuscht. Zusammen mit den beiden Kerlen, die wahrscheinlich in sie verknallt gewesen waren, hatte sie daraufhin angefangen, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Irgendwann, nach langer Qual, hatte Gin entschieden, dem ein Ende zu setzen. Er hatte das Mädchen zu sich nach Hause eingeladen und ihr gegenüber behauptet, er wolle doch etwas mit ihr anfangen. Natürlich hatte sie die Einladung angenommen. Und zu Hause hatte er sie dafür von der Treppe gestoßen, sodass ihr Genick beim Aufprall brach. Die beiden Typen hatte er sich danach vorgenommen. Von da an hatte er bis heute nicht aufgehört, Menschen das Leben zu nehmen. Als er Vater damals die Morde beichtete, hatte dieser anders als erwartet reagiert. Ihr Verhältnis zueinander war seither nicht mehr ganz so fremd. Gin erinnerte sich noch genau daran, wie unendlich froh er gewesen war, als Vater nach und nach angefangen hatte, ihn zu respektieren. Später nach der Schule hatte dieser ihn dann sogar professionell für mehrere Jahre ausbilden lassen, bevor er ihn am Ende in die Organisation aufgenommen hatte. Auf diese Weise war es Gin zumindest ein bisschen gelungen, diesem Mann näherzukommen und ein paar seiner Geheimnisse zu erfahren. Auch wenn er am liebsten alles über ihn wissen wollte. Alles über diesen Mann, der ihm immerzu eingebläut hatte, er dürfte ihn niemals als seinen Vater bezeichnen, doch zu dem Gin trotz aller Konsequenzen immer wie zu einem Vater aufsehen würde. Egal, wie kalt und abweisend er ihn behandelte. Gin wusste nicht, warum er sich gerade jetzt über diese längst vergangenen Zeiten Gedanken machte. Dieser Ort brachte ihn durcheinander. Alles hier war ihm so vertraut und weckte gleichzeitig grausame Erinnerungen in ihm, die er glaubte, restlos ausgelöscht zu haben. An der Tür angekommen, zwang er sich wieder zur Vernunft und holte tief Luft, bevor er das Schulgebäude betrat. Drinnen war es komplett still. Zumindest in den ersten paar Sekunden. Dann erfüllte plötzlich ein lauter Schmerzensschrei die Gänge. Gins Warnsignale leuchteten sofort rot, als er Ryes Stimme erkannte. Sie kam aus Richtung der beiden Musikräume. Seine Beine rannten wie von selbst los und noch während sie ihn durch den Flur trugen, folgten weitere Schreie, die sein Herz allesamt wie scharfe Messer durchbohrten. Da er vorhin im zweiten Musikraum niemanden hatte sehen können, riss Gin einfach die Tür des Ersten auf und stürmte ungehalten in den Raum. Er wirbelte herum, bemerkte dabei einen Lichtstrahl, und als seine Augen diesen folgten, entdeckte er Rye. An der Wand. Auf einem Bild. Projiziert von einem Beamer, der etwas seitlich im Raum stand. Gin blieb wie festgefroren auf der Stelle stehen. Starr vor Schock war sein Verstand urplötzlich nicht mehr in der Lage zu realisieren, dass es sich um eine Falle handelte und er so schnell wie möglich von hier verschwinden sollte. Nichts drang mehr zu ihm durch. Als wäre sein Blick an das Video gefesselt, welches vor ihm an der Wand abgespielt wurde. Es zeigte ihm Rye, festgeschnallt an einem Tisch und umringt von irgendwelchen Leuten, die wie Ärzte angezogen waren. Ihre Gesichter waren sowohl von großem Interesse als auch von Argwohn gezeichnet, während Rye unentwegt schrie, als sei er von etwas besessen und nebenher versuchte, sich von den Schnallen loszureißen. Seine Stimme dröhnte aus einem riesigen Lautsprecher, der neben dem Beamer zu stehen schien. Gin fiel auf, dass das Videomaterial etwas beschädigt war. Das Bild rauschte und ein paar Bewegungen wirkten abgehakt oder unpassend zusammengeschnitten. „02. Februar 2020. Versuch Nummer 12. Objekt ist männlich, 29 Jahre alt, bei vollständiger Gesundheit. Das Serum wurde nun in den Körper eingeführt.“, sprach eine männliche Person, die nicht im Bild zu sehen war. Allmählich begann Gin zu begreifen, was genau in diesem Video passierte. Das schien der Tag zu sein, an dem Rye zu einem Vampir geworden war. Es waren seine letzten Minuten als Mensch. Gins Atem blieb automatisch stehen. Mit jedem Herzschlag durchbebte ihn ein eiskalter Schauer. Er konnte das nicht ansehen. Und doch wollte sein Blick sich einfach nicht abwenden. Sein innerster Drang, Rye von diesen Schnallen zu befreien und ihn da rauszuholen, war so unermesslich groß, dass er es kaum aushielt, tatenlos am Fleck zu verharren. „Objekt scheint starke Schmerzen zu haben. Bis jetzt keine Wirkung erkennbar.“, fuhr die Stimme leise fort. Irgendwie klang sie gebrochen. Aber das änderte nichts daran, dass die Worte eine unbeschreiblich große Wut in Gin auslösten. Er ballte seine Hände zitternd zu Fäusten. Für diese Leute war Rye scheinbar nichts weiter als eins von vielen Testobjekten gewesen. Wäre er an diesem Tag gestorben, hätte es sie einen Dreck gekümmert. Gerade sah es wirklich so aus, als würde Rye jeden Moment sterben. Dessen Schreie hatten sich zwar zu einem starken Husten umgewandelt, aber dafür schwappten gewaltige Mengen an Blut aus seinem Mund, während sein Körper hin und her zuckte und sich verkrampfte. Irgendwann ließen die Bewegungen komplett nach und seine Stimme wurde immer leiser, bis sie schließlich verstummte. Obwohl Gin wusste, dass Rye in Wirklichkeit nicht tot war, übermannte ihn dennoch ein schmerzhaftes Gefühl von Verlust. Er starrte weiter auf das Bild an der Wand, welches dann plötzlich blau wurde. Im darauffolgenden Moment vernahm Gin ein Lachen. Er drehte sich langsam zur Tür, wo eine weiße, männliche Gestalt so bewegungslos da stand, dass der Silberhaarige ihn womöglich nie bemerkt hätte. Der Mann sah nicht aus wie ein Mensch. Eher wie ein Geisterwesen aus einem Fantasy-Roman. Er war jung, bildschön und strahlte eine seltsame Gelassenheit und Freundlichkeit aus, dass es schon unheimlich wirkte. Seine Augen schimmerten dunkelblau und seine braunen, leicht welligen Haare gingen ihm bis zum Kinn. Kaum zu glauben, dass sich hinter solch einer schönen Fassade ein Monster mit teuflischen Absichten verbarg. Für einen kurzen Moment wurde Gins Wut und die Angst, die in ihm herrschte, von so etwas wie Faszination überlagert. Er hatte noch nie einen anderen Vampir außer Rye gesehen. Und er hätte nie gedacht, dass sie sich trotz des unterschiedlichen Aussehens doch so sehr ähneln konnten. Als der Mann ihn allerdings anlächelte und auf ihn zukam, wurde sich Gin dem Ernst der Lage umgehend wieder bewusst. Seine Warnsignale schrien ihm zu, dass er davonlaufen sollte, aber aus irgendeinem Grund war er so erstarrt, dass er nicht mal mehr einen Schritt zurückweichen konnte. „Hat dir der Film gefallen?“, wollte der Mann wissen, in dessen heller Stimme Gin die gleiche Person erkannte, mit der er das Telefonat geführt hatte. „Tut mir leid, dass ich ihn an der Stelle beenden musste, aber so ist das Ende viel schöner. Findest du nicht auch?“ „Er ist nicht hier.“, antwortete Gin. Obwohl er darüber erleichtert sein sollte, dass Rye somit in Sicherheit war, so mischte sich dennoch ein verbitterter Unterton in seine Stimme. Verbitterung darüber, dass er hereingelegt worden war. „Nein. Bedaure, aber ich muss gestehen, dass es uns noch nicht gelungen ist, 12s Stärke genau abzuschätzen. Zwar hatten wir in den vergangenen Tagen oft genug die Gelegenheit dazu, doch wo bliebe denn da der Spaß?“ Gins Augen wurden groß. Die Worte verrieten, dass sie wussten, dass Rye allein unterwegs war. „Ihr… habt ihn beobachtet?“ „Euch beide. Schon die ganze Zeit über. Eure Romanze war wirklich interessant anzusehen. Der kleine Zwischenfall kam zwar etwas überraschend, doch bot sich somit die perfekte Gelegenheit, unseren Plan in die Tat umzusetzen.“, erwiderte der Mann amüsiert, wobei es Gin kalt den Rücken herunterlief. Die Vorstellung, dass Eclipse tatsächlich über seine Beziehung zu Rye Bescheid wusste… dass sie alles wussten… und es wohl auch gesehen hatten… Gin versuchte ruhig zu bleiben. „Was für einen Plan?“, fragte er mit fester Stimme. „An dich ranzukommen, ohne dass er es sofort bemerkt.“ Gins Miene verzog sich vor Verwirrung. Zwar war ihm bereits klar, dass das hier tatsächlich überwiegend ein Spiel war, dennoch verstand er nicht, welchen Nutzen dieses Spiel erfüllen sollte. Ihm schossen zu viele Fragen durch den Kopf, die schlichtweg keinen Sinn ergaben. „Und was bringt euch das? Wenn ihr was von mir wollt, hättet ihr es euch einfach holen können! Warum zieht ihr stattdessen diese Nummer ab und bestellt mich extra hierher?!“, verlangte er zu wissen. Er war über den plötzlichen Hochmut selbst überrascht, doch dieser verließ ihn sogleich wieder, als der Vampir ruckartig näherkam. „Du verstehst offensichtlich gar nichts…“, meinte er. „Unser Boss wollte euch beiden eine Chance geben, die Angelegenheiten friedlich zu beenden. Es war nicht seine Absicht, dich gewaltsam zu etwas zu zwingen. Du hattest die freie Wahl, ob du dich auf eine Verhandlung mit uns einlässt, um das Leben von 12 zu retten oder ob du ihn fallen lässt, weil er dir vielleicht in Wirklichkeit vollkommen egal ist.“ „Ich werde aber nicht mit euch verhandeln, wenn sein Leben gar nicht in Gefahr ist.“, schoss Gin zurück. Es entzog sich seinem Verständnis, was er überhaupt an diesem Ort sollte und warum diese Leute dachten, er würde noch mit dem Boss sprechen wollen, wenn Rye in Wirklichkeit gar nicht hier war. Jedoch könnte es auch sein, dass seine Anwesenheit einen anderen Nutzen erfüllen sollte… Das bewies zumindest das Lachen, welches der Mann im folgenden Moment ausstieß. „Denkst du wirklich, dass er außer Gefahr ist und wir ihn davonkommen lassen, nur weil er jetzt nicht hier ist? Er wird kommen. Aus eigenem Willen.“ Nein. Natürlich hatte Gin das nicht gedacht. Nicht einmal für den Hauch einer Sekunde. Jedoch… „Warum sollte er das tun?“ „Weil du hier bist.“ „Aber er weiß nicht, dass ich hier bin.“ „Noch nicht.“ Ein finsteres Grinsen zeichnete sich in dem Gesicht des Mannes ab und offenbarte zugleich strahlend weiße, scharfe Zähne. Gin wollte einfach nur wegrennen. So weit weg wie möglich. Aber er bezweifelte, dass er so leicht an dem Kerl vorbeikommen würde. Jedenfalls nicht unbeschadet. „Ich gebe zu, es gab so viele Möglichkeiten, 12s Gefangenschaft zu planen. Aber unser Boss liebt dramatische Enden. Er dachte, es wäre einfach herzzerreißend mit anzusehen, wie der edle Ritter seinem geliebten Menschen zu Hilfe eilt und alles dafür tut, um ihn zu retten, nur um dann letztlich kläglich zu scheitern.“, redete der Mann in einer begeisterten Tonlage, als würde er von einem tragischen Theaterspiel sprechen. Was Gin umso wütender machte. Angst und Wut war wirklich eine seltsame Mischung. Er fühlte sich hin und her gerissen. Wusste nicht, welchem Gefühl er sich mehr hingeben sollte. Auf welches Gefühl es richtig wäre zu hören. „Er wird nicht hierher kommen.“, stellte Gin klar. Diesen Erfolg würde er ihnen niemals gönnen. Wieso sollte sich Rye auch an diesen Ort locken lassen? „Aber wie könnte er anders, wenn das Leben des Mannes auf dem Spiel steht, den er so sehr liebt? Du bist doch schließlich auch hierher gekommen.“ Gin blieb stumm. Er hatte beinahe vergessen, dass er selbst so dumm gewesen war, sich hierher locken zu lassen. Weil er geglaubt hatte, dass Ryes Leben in Gefahr gewesen war. Das Leben des Mannes, den er so sehr liebte. Allmählich bekam er eine schlimme Vorahnung, wie der Kerl Rye dazu bringen wollte, sich an diesen Ort zu begeben. Und etwas sagte ihm, dass er ihm dafür wehtun würde. Er merkte nicht, dass er die Angst versehentlich in sein Gesicht ließ. Erst dann, als der Vampir ihm noch näher kam und beschwichtigend auf ihn einredete: „Keine Angst, wir haben eigentlich nicht vor, dich zu töten. Außer natürlich, du gibst uns einen Grund dazu.“ Gin wich instinktiv zurück. Es lag klar auf der Hand, was das für ein Grund war. Sie würden ihn töten, wenn er die Rolle, die sie in diesem Spiel für ihn vorgesehen hatten, nicht länger spielen würde. Der Mann weitete kurz seine Augen, dann lächelte er wieder und neues Interesse blitzte in seinem Gesicht auf. Er fing an, Gin mit langsamen Schritten zu umkreisen. Wie ein Kunstliebhaber, der in die Betrachtung eines außergewöhnlich schönen Gemäldes versunken war. Der Silberhaarige folgte ihm misstrauisch mit den Augen. „Es ist schon irgendwie faszinierend, dass 12 gerade dich ausgewählt hat…“, sprach er mehr zu sich selbst, während er Gin weiter umkreiste und anschließend direkt vor ihm stehen blieb. „Aber wenn ich dich so ansehe, und dann auch noch dein Geruch… da kann ich es schon nachvollziehen…“ Die Worte waren für Gin in Rätseln gesprochen. Doch er konnte sie sich nicht durch den Kopf gehen lassen, da der Mann auf einmal eine seiner Haarsträhnen zwischen die Finger nahm und genießerisch dran roch. Gin traute sich nicht, diese kalte, steinharte Hand wegzuschlagen, die womöglich viel stärker als er war. Er konnte nur bewegungslos verharren. Kurz darauf spürte er kühle Fingerspitzen an seiner Haut. Wie sie über sein Kinn glitten und der Mann mit dem Daumen einmal über seine Wange strich. Gin wurde übel. Er hatte gedacht, er sei die eiskalten Berührungen einer solchen Kreatur bereits gewohnt. Doch die Jetzigen fühlten sich völlig anders an, als die sanften, liebevollen von Rye. Sie waren so fremd und Gin kam es so vor, als könnte er die perversen Absichten hinter ihnen deutlich spüren. Er versuchte sich zusammenzureißen. Irgendwie musste er den Kerl ablenken, welcher anscheinend genauso sehr von seinem Geruch angetan war wie Rye. Nur warum? „Ich wüsste nicht, was daran besonders sein sollte.“, sagte er, während er unauffällig seine Hand in seine innere Jackentasche wandern ließ, um die Spritze mit Curare fest zu umschließen. Könnte er das so einfach tun? Wäre er schnell genug? Und vor allem: Würde die Nadel überhaupt die Haut dieser Kreatur durchdringen können? „Du würdest es wissen, wenn du dich selbst riechen könntest.“ Begehren mischte sich in die Tonlage des Mannes. Er krallte die Finger leicht in Gins Rollkragen und zog diesen etwas herunter. „Scheinbar konnte er dir auch nicht widerstehen.“, kommentierte er amüsiert den Verband, der sich dahinter verbarg. Als Gin einen kühlen Atem an seinem Hals spürte, wurde es ihm endgültig zu viel. Er warf all seine Zweifel über Bord, zückte blitzschnell die Spritze und rammte sie in den Nacken des Mannes, welcher daraufhin einen dumpfen, erschrockenen Laut von sich gab. Gin beobachtete verwundert, wie der Kerl zu Boden sank. „Ich hab es… geschafft?“ Die Nadel steckte tatsächlich in der Haut. Aber wie war das möglich? Die Haut eines Vampirs müsste doch viel zu hart sein. Rye konnte auch nie durch scharfe oder spitze Gegenstände verletzt werden. Nicht einmal Pistolenkugeln hatten ihm etwas anhaben können. Und die Haut des Wesens dort am Boden war doch genauso hart wie Ryes. Gin schüttelte den Kopf. Er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Er musste schleunigst hier weg. Während er aus dem Raum rannte, beschlich ihn das Gefühl eines kleinen Erfolges. Ihm als Mensch war es wirklich gelungen, einem Vampir die Bewegungsfähigkeit zu rauben. Vielleicht war es doch ein wenig von Vorteil, dass der Geruch seines Bluts so intensiv war, dass er zugleich auch ablenkend wirkte. Aber das konnte auch nur Glück gewesen sein. Gin griff sofort nach der Glastür, die sich links vom Raum befand und ihn eigentlich neben der Treppe nach draußen führen sollte. Doch sie war verschlossen. Als sich Gin umdrehte, um zurück zum Verbindungsgebäude zu rennen, bremste er abrupt ab, als er mehrere Gestalten im Gang erblickte, die ihm den Weg versperrten. Es waren vier. Vier weitere Vampire. Gin blieb vor Schock der Atem weg. „Scheinbar wollen sie Rye hier wirklich fangen… nur meinetwegen sind es bestimmt nicht so viele…“, wurde ihm bewusst. Was nun? Was hatten sie mit ihm vor? Welche Rolle musste er in diesem Spiel spielen? „Wohin denn so eilig?“, fragte einer von ihnen belustigt. Sie musterten ihn wie ein gefundenes Fressen. Gin fiel auf, dass niemand von ihnen eine Nummer am Hals tätowiert hatte. Scheinbar besaßen sie eine andere, wahrscheinlich höhere Stellung in Eclipse als Rye. Einer hatte ebenso braune Haare, aber ein viel kantigeres Gesicht und fast schwarze Augen. Die anderen drei wirkten etwas älter. Zwei waren blond und der letzte, der sich eher im Hintergrund aufhielt, hatte pechschwarzes, zerzaustes Haar. Alle schienen ausländischer Herkunft zu sein. Zumindest sah niemand auf den ersten Blick so aus, als sei er Japaner. Gin überlegte, was er jetzt am besten tun könnte. Sich in die Enge treiben zu lassen kam nicht infrage. Aber er würde es genauso wenig schaffen, an den Kerlen vorbei zu rennen. Und trotzdem versuchte er es. Weil es keine andere Möglichkeit gab. Wie befürchtet waren sie viel zu schnell. Gin sah nicht, ob es eine Hand oder ein Fuß war - er spürte nur, wie er einen harten Schlag auf die Brust bekam und rückwärts durch den Gang flog. Noch bevor der Schmerz vollständig zu ihm durchdringen konnte, knallte er mit dem Kopf gegen die Glastür und fiel zu Boden. „Bleib doch lieber noch ein bisschen. Sonst verpasst du das große Finale.“ Gin konnte nicht sehen, von wem die Stimme stammte. Alles war verschwommen. Sein Kopf dröhnte vor stechenden Schmerzen. Er vernahm nur, wie jemand auf ihn zukam und dann plötzlich stehen blieb. Einen Moment herrschte Stille. Als sich Gins Sicht allmählich wieder klärte, sah er, wie einer der Männer verdutzt in den offenen Musikraum starrte, aus dem er zuvor gestürmt war. „Was hast du gemacht?!“, fauchte der Mann ihn wütend an. Scheinbar hatte er den bewegungslosen Körper seines Mitstreiters am Boden entdeckt. Gin schwieg. Kaum eine Sekunde später wurde er ruckartig am Kragen gepackt und hochgezogen. „Ich hab dich was gefragt!“, schrie der Mann erneut, bevor er ihn mit voller Wucht zu Boden schleuderte. Schmerz durchfuhr Gins Schulter. Er biss die Zähne zusammen und unterdrückte ein Keuchen. „Beruhige dich, Samuel.“ Eine andere Stimme mischte sich ein, die der Silberhaarige bisher noch nicht gehört hatte. Er blickte auf und sah, wie einer der blondhaarigen Männer näherkam. „Beruhigen? Schau dir das an!“ Dieser Samuel verwies mit dem Finger auf den Musikraum, woraufhin sein Partner einen Blick hinein warf. „Und? Nicht unser Problem, wenn er nicht aufpassen kann.“, entgegnete dieser schulterzuckend. Samuel schaute ihn fassungslos an. „Aber-“ „Halt den Mund. Du weißt, was der Boss gesagt hat.“, unterbrach der Blonde ihn streng, woraufhin er missmutig den Kopf senkte. „Ja.“, gab er sich schließlich geschlagen. Sein Partner drehte sich zufrieden von ihm weg und ließ seinen Blick mit einem Lächeln auf den Lippen über Gin wandern. „Unser Freund hier scheint ganz schön gerissen zu sein.“, sagte er, während er langsam auf den Silberhaarigen zuging, welcher sich gerade auf alle viere hochkämpfen wollte, jedoch gleich darauf einen starken Tritt in die Seite erhielt. „Aber auch viel zu übermütig…“, fügte der Mann amüsiert hinzu und beobachtete, wie Gin vor Schmerz am Boden kauerte. „Was wollt ihr von mir?“, brachte er mit schwacher Stimme hervor. Am liebsten würde er sich in Luft auflösen. Auf anderem Wege schien er hier wohl tatsächlich nicht mehr rauszukommen. Aber warum wollten diese Typen ihn hier festhalten und aus welchem Grund taten sie ihm das an? Wollten sie Rye auf diese Weise etwa Schaden zufügen? „Das wirst du schon noch vom Boss erfahren.“ Gin wusste nicht, ob er dem Boss von Eclipse wirklich begegnen wollte. Bestimmt war dieser noch weitaus brutaler und furchterregender… „Da fällt mir ein… wir sollten langsam mal anfangen. Sonst wird er noch ungeduldig.“ Die Worte ließen Angst in Gin aufsteigen. Anfangen mit was? Würden sie ihn jetzt foltern? So, wie Raubtiere mit ihrer Beute spielten, kurz bevor sie sie in Stücke zerrissen? Bei der Vorstellung fing sein Körper automatisch an zu zittern. Er hatte sich noch nie so hilflos ausgeliefert gefühlt. Gegen Menschen hätte er sich wenigstens wehren können. Doch in dieser Lage, umringt von Vampiren, schien auf einmal alles so zwecklos zu sein. Gin beobachtete angespannt, wie die drei anderen dem Blonden zunickten. Kurz darauf trat der schwarzhaarige Kerl, der sich bisher noch komplett aus der Sache herausgehalten hatte, mit langsamen Schritten hervor. Seinen Blick wie gebannt auf Gin gerichtet, bat er: „Darf ich…?“ Die versessene Tonlage ließ den Silberhaarigen erschaudern. „Irgendwas stimmt nicht mit dem…“, erkannte er. Diese Haltung erinnerte ihn nahezu an einen Psychopathen. Nur den Grund dafür konnte sich Gin nicht erklären. Der Kerl betrachtete ihn nicht wie die anderen. Eher so, als seien sie Bekannte, die sich eine lange Zeit nicht gesehen hatten. Und dieses Wiedersehen schien ihm unverschämtes Vergnügen zu bereiten. „Kannst du dich denn auch beherrschen, Pierre?“, wollte der Blonde wissen. Der Mann mit diesem Namen schaute ihn nicht einmal an, als er abwesend darauf antwortete: „Selbstverständlich.“ Gin war sich nicht sicher, ob er die Frage überhaupt gehört hatte. Der Kerl schien einzig und allein auf ihn fixiert zu sein. Gin hoffte gedanklich, dass der Blonde – was auch immer dieser Pierre vorhatte – es ablehnen und ihn nicht durchlassen würde. Doch er tat das genaue Gegenteil. „Meinetwegen.“, sagte er und trat zur Seite, sodass Pierre sich dem Silberhaarigen weiter nähern konnte. Lautlos und langsam. Wie ein Löwe, der seine Beute auf keinen Fall erschrecken wollte. Gin spürte, wie sich etwas in seinem Magen umdrehte. Er wich automatisch am Boden zurück, jedoch befand sich Pierre urplötzlich vor ihm und hielt unerbittlich seine Handgelenke fest. Die eisige Kälte dieser Hände war so durchdringend wie der gierige Blick, der ununterbrochen an ihm heftete und ließ das Blut in seinen Adern förmlich gefrieren. Gin durchlief ein weiterer Schauer, als ein breites Lächeln auf Pierres Gesicht erschien. Dieses kranke Lächeln lähmte ihn. Er konnte seinen Gegenüber nur mit großen, schreckgeweiteten Augen anstarren. „Wo hast du dein Handy?“ Gin brauchte einen Moment, um die Frage zu verstehen. Trotzdem antwortete er nicht und schaute Pierre lediglich finster an. Er konnte sich schon denken, wofür sie sein Handy brauchten. Anders konnten sie schließlich nicht mit Rye Kontakt aufnehmen. „Gibst du es mir freiwillig oder soll ich es suchen?“, fragte Piere eindringlich. Da Gin beide Varianten nicht gefielen und er vor allem nicht wollte, dass dieser Kerl ihn noch an anderen Stellen seines Körpers berührte, versuchte er sich schnell von ihm wegzudrehen. Allerdings nutzte Gin das überhaupt nichts, weil Pierre ihn sofort wieder zu sich zog und die Hände in seinen Mantel krallte. Schweigend durchkramte er die Innentaschen, wobei er zuerst Gins Beretta und dann dessen Smartphone herausnahm. Während er die Beretta achtlos wegwarf, tippte er hastig auf dem Display des Smartphones herum, bis er ein genervtes Stöhnen ausstieß. Gin ahnte, was Pierre zu stören schien. Und darüber war er wirklich erleichtert. Auch wenn sich das Blatt womöglich gleich wieder wenden würde. „Entsperr es.“, befahl Pierre im nächsten Moment auch schon und hielt ihm ungeduldig das Handy vor die Nase. Um dieses zu entsperren, war Gins Fingerabdruck vonnöten. „Vergiss es.“, dachte er abfällig, sprach es aber lieber nicht aus und starrte Pierre nur an, welcher sich aber nicht von seinem Vorhaben abhalten ließ. Wütend packte er Gins Handgelenk und hielt es nach oben. „Ich wiederhole mich nur ungern: Entsperr es oder ich werde dafür sorgen, dass du es tust.“, sprach er in düsterer Tonlage, während er seinen Griff immer weiter verstärkte. Gin presste die Zähne so fest zusammen, dass sie beinahe zersplitterten. Er hatte keine Kraft mehr. Es tat so weh. Pierre führte seine Hand zum Handy und drückte seinen Daumen fest auf den Bildschirm, sodass sich die Sperre aufhob. Als er dann endlich zufrieden von Gin abließ, blieb in dessen Handgelenk ein schmerzhaftes Pochen zurück. Einige Sekunden verstrichen, in denen Pierre auf dem Bildschirm hin und her wischte und Gin dabei nicht beachtete. „Hmm… welcher Kontakt ist es wohl… wahrscheinlich der, den du in den letzten Tagen am häufigsten angerufen hast… Rye, nicht wahr? Ein wirklich interessanter, neuer Name für ihn.“, redete er belustigt vor sich hin. Gin verengte die Augen. „Es ist egal, wie oft ihr ihn anruft. Er wird nicht ran gehen.“, sagte er. Der Kerl fing leise an zu lachen, bevor er mit einem niederträchtigen Lächeln auf den Lippen antwortete: „Wer sagt denn, dass wir ihn anrufen?“ Erst verstand Gin nicht, was er damit meinte. Doch als Pierre das Handy in einer bestimmten Position auf ihn richtete, wurde es ihm klar. Der erschreckenden Erkenntnis folgend, drehte er schnell den Kopf zur Seite. Auch wenn das leider nicht viel half. Doch würde er sich anderweitig vom Fleck rühren, würde man ihn in null Komma nichts ohnehin wieder zurück auf den Boden befördern. „Es wäre noch viel schöner, wenn du lächeln würdest. Dabei hast du doch allen Grund, dich zu freuen, wenn dein edler Ritter dir bald zur Rettung eilen wird und du ihn dann endlich wiedersehen kannst.“, sprach Pierre in amüsierter Tonlage und Gin bemerkte an dem Blitzlicht, dass er ein Foto zu machen schien, um es Rye dann höchstwahrscheinlich zuzusenden. Er fühlte sich so gedemütigt und gleichzeitig kochte er vor Wut. Wenn diese Kerle nur Menschen wären, könnte er sie wenigstens dafür büßen lassen. Doch so war er gezwungen, das alles über sich ergehen zu lassen. „Er kommt nicht.“, murmelte er. Es war eher eine Hoffnung, die sich wohl als leer entpuppen würde. Und das schien Pierre auch zu wissen. „Natürlich wird er das. Er kann nicht anders. Er muss sich immer überall einmischen und anderen helfen…“ Während er dies erwiderte, nahm seine Stimme einen immer finstereren Tonfall an. „Dieser kleine Dreckskerl…“ Zum Schluss waren seine Worte nur noch ein leises, zorniges Flüstern, sodass Gin es kaum verstehen konnte. Ihm fiel nach und nach auf, dass Pierre einen persönlichen Hass gegen Rye zu hegen schien. In welchem Verhältnis sie in Eclipse wohl zueinander standen? Hatte sich Rye etwa schon damals Feinde gemacht? Während er darüber rätselte, registrierte er nur beiläufig, dass Pierre ihn fortlaufend beobachtete. Bis dessen Augen auf einmal anfingen zu leuchten, als wäre ihm gerade eine Idee gekommen. Erneut bekam Gin es mit der Angst zu tun. Da wandte sich Pierre den anderen zu und sprach: „Wie wäre es, wenn wir 12 einen kleinen Denkzettel verpassen? Vielleicht würde ihn das ein wenig anspornen…“ Danach richtete er seinen Blick wieder auf Gin, welchem bei den Worten der Atem stockte. Der Kerl schien es kaum erwarten zu können, ihn auf die verschiedensten Weisen zu quälen. Jede Faser seines Körpers sehnte sich geradezu danach, endlich das in die Tat umzusetzen, was sich wahrscheinlich schon die ganze Zeit über in seinem Kopf abspielte. „Schon vergessen? Der Boss hat gesagt, wir sollen ihn nicht anrühren.“ Die Antwort seines Mitstreiters enttäuschte ihn bitterlich. Er verzog sein Gesicht zu einer gereizten Grimasse. „Nicht töten.“, verbesserte er ihn in beherrschter Tonlage. „Alles andere ist erlaubt.“ Das schien zum Glück niemand von den anderen zu überzeugen. „Pierre.“, wurde er tonlos ermahnt. Doch es kümmerte ihn nicht und er sprach weiter: „Und überlegt doch mal, wie oft 12 uns alle an der Nase herumgeführt hat. Ihr hasst ihn doch genauso. Es würde ihm nur recht geschehen.“ Jetzt schienen sie tatsächlich zu überlegen. An dem Ausdruck in ihren Augen erkannte Gin, dass sie Pierre innerlich zustimmten. „Außerdem… sieht er aus wie Toichi…“, fuhr dieser nun fort. Da war sie wieder. Diese versessene Tonlage, die Gin einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. „Toichi?“ Als er nachfragen wollte, wer diese Person war, blieben ihm die Worte allerdings im Hals stecken. Der rot aufleuchtende Punkt unter der Handykamera verriet ihm, dass Pierre soeben eine Videoaufnahme gestartet hatte. „Er sieht aus… wie Toichi…“, wiederholte er mit leiserer Stimme. Niemand hielt ihn auf, als er den Abstand zu Gin langsam verringerte. „Wer ist das?“, entwich es diesem jetzt doch. Vielleicht könnte er den Kerl mit Worten ablenken oder wenigstens etwas hinhalten. Aber es funktionierte nicht. Pierre ging weiter auf ihn zu und tat so, als hätte er die Frage gar nicht gehört. Gins Körper reagierte automatisch und rappelte sich mühselig auf, sodass er ein paar Schritte zurückweichen konnte, bis er jedoch die Klinke der Glastür in seinem Rücken spürte. Es wunderte ihn, dass Pierre ihn schon so weit hatte kommen lassen. „Sag schon.“, versuchte er diesen erneut zu erreichen. Doch anstelle von einer Antwort erhielt er einen harten Schlag in die Magengrube. Sofort stieg eine Mischung aus Übelkeit und Schmerz in ihm auf. Er unterdrückte ein Keuchen und krümmte sich. Jedoch krallte sich kaum einen Augenblick später eine kalte Hand in seinen Hals, die ihn zurück an die Glastür drückte. „Hab ich dir erlaubt, Fragen zu stellen?“, zischte Pierre. Seine Augen durchbohrten Gin förmlich mit ihrem gnadenlosen Blick. Der Silberhaarige bekam keine Luft mehr. Zudem drückten sich die kalten Finger direkt in seine Wunde, sodass ihm kurz schwarz vor Augen wurde. Verzweifelt versuchte er die Finger von seinem Hals zu lösen. Doch erfolglos. Er wollte nicht wissen, wie armselig er gerade aussehen musste. Irgendwie versuchte er die Tatsache zu verdrängen, dass jede verstreichende Sekunde mit seinem Smartphone aufgenommen wurde. Hoffentlich würde Rye das Video niemals zu sehen bekommen. Das durfte er einfach nicht. Da ließ der Griff um seinen Hals auf einmal etwas nach, wobei er umgehend nach Luft schnappte. Zwischen seinen hastigen Atemzügen überhörte er fast Pierres übel gesinnte Stimme. „Aber du kannst deine Lippen gern für was anderes benutzen.“ Ehe die Worte vollständig zu Gin durch drangen und er den Schock in sein Gesicht lassen konnte, pressten sich bereits kalte, steinharte Lippen gegen seine eigenen, die nahezu drohten ihn zu verschlingen. Gins Augen weiteten sich. Sein Verstand war nicht in der Lage zu realisieren, was gerade passierte. Dieser widerliche Blutsauger küsste ihn. „Warum?“, schoss es ihm durch den Kopf. Hatte das etwas mit diesem Toichi zu tun? Oder mit Rye? Was wollte er damit bezwecken? Während diese Fragen in ihm aufkamen, wurde ihm von Sekunde zu Sekunde übler. Im Augenwinkel sah er, wie die Kamera direkt auf ihre Gesichter gerichtet war. Gin wollte den Kopf zur Seite reißen, doch der Druck war zu stark. Ein Gefühl von Abneigung und Ekel brachten ihn automatisch dazu, den Kerl von sich wegzudrücken und auf ihn einzutreten. Beides vergeblich. Es kam ihm vor, als würde er gegen eine harte Felswand drücken, die sich einfach keinen Millimeter bewegen wollte. Sobald Pierre endlich seine Lippen vom ihm gelöst hatte, konnte sich Gin nicht länger beherrschen und er schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Ein stechender Schmerz fuhr durch seine Hand. Kurz darauf kassierte er selbst eine schallende Backpfeife, sodass er wieder zu Boden fiel. Schwarz-bunte Flecken tanzten vor seinen Augen und er glaubte, dass sein Kiefer sich soeben verrenkt hatte. Das hatte zwar höchstens halb so sehr weh getan wie der Schlag von Rye damals, doch die Schmerzen fühlten sich trotzdem genauso elend an. Inzwischen tat ihm fast alles weh und er wusste nicht, welcher Schmerz am schlimmsten war. Es war kaum noch auszuhalten. „Mieser Scheißkerl, was glaubst du, wer du bist?“, fuhr Pierre ihn wütend an. Gin ignorierte ihn und fasste sich an die Wange. Allerdings wurde ihm unvermittelt in die Schulter getreten, sodass sein Körper auf dem Rücken landete. Schwer atmend starrte Gin zur Decke, die immer mal wieder verschwamm. Dann auf das Handy, welches ihn nach wie vor filmte. Und dann zu Pierre, der mit einem amüsierten Grinsen im Gesicht auf ihn herabblickte. „Fahr zur Hölle.“, hauchte Gin mit schwacher Stimme. Mittlerweile war ihm alles egal. Er befand sich ohnehin auf verlorenem Posten und es gab rein gar nichts, was die Situation für ihn noch zum Guten wenden konnte. Nicht einmal Ryes Erscheinen. Das würde womöglich alles nur noch schlimmer machen. „Da kommen wir doch am Ende sowieso alle hin.“, entgegnete Pierre, während er über den Silberhaarigen stieg und links und rechts jeweils neben ihm ein Bein platzierte. „Sag ihm, dass er dich retten kommen soll.“, befahl er. Gin presste die Lippen fest zusammen. Niemals würde er so etwas sagen. „Fleh ihn an und sag ihm, wie sehr du ihn liebst.“ Pierre redete weiter auf ihn ein. Seine Stimme wurde lauter. Fordernder. Gin dagegen blieb stumm. Nichts auf der Welt würde ihn dazu bringen, Rye auf solche Weise anzuflehen. Den letzten kleinen Rest seiner Würde wollte er nicht auch noch verlieren. Er warf Pierre nur einen verächtlichen Blick zu, welcher allerdings noch nicht aufzugeben schien. Ohne Vorwarnung trat er mit voller Wucht auf Gins rechtes Unterbein. Dieser hörte zuerst nur das abscheuliche Knacken seiner Knochen, doch dann spürte er auch den Schmerz und konnte einen Schrei nicht mehr länger zurückhalten. „Ja! Das ist noch viel besser!“, schrie Pierre vor freudiger Erregung. „Gib mir mehr davon!“ Kaum ausgesprochen, hörte Gin seine Knochen ein zweites Mal knacken. Diesmal war es das Fußgelenk des gleichen Beins gewesen. Er schrie. Tränen traten ihm in die Augen. Sein Atem entwich ihm nur noch in abgehakten Stößen. Alles tat so höllisch weh. Die Schmerzen überlagerten den Rest seiner Wahrnehmung. „Pierre, das reicht jetzt!“, vernahm er am Rande die Stimme einer anderen Person, dessen Befehl Pierre jedoch ignorierte. „Warum? Ich bringe ihn doch nicht um. Bevor ich das tue, gibt es noch unzählige Knochen, die ich ihm brechen kann. Wie wäre es als Nächstes mit ein paar Rippen?“ Den Worten folgend, platzierte er sein Bein auf Gins Brust. Er legte seinen Kopf schräg und lächelte den Silberhaarigen hämisch an. „Willst du ihm nicht doch sagen, dass er dich retten soll?“, fragte er in lieblicher Tonlage. Gin blendete es aus. Die Schmerzen fingen allmählich an seine Sinne zu betäuben. Er bezweifelte, dass er den nächsten Knochenbruch überleben würde. Auch jetzt dachte er nicht daran, Rye um Rettung zu bitten. Er sollte so weit weg wie möglich von diesem Ort bleiben. Irgendwo dort, wo er in Sicherheit war und die Kerle ihn hoffentlich niemals finden würden. Dennoch hätte Gin ihn zu gern wenigstens noch einmal gesehen. Seine Stimme gehört. Ihn berührt. Vielleicht würden sie sich im Jenseits eines Tages wiedertreffen. „Leb wohl, Rye.“, formten seine Lippen ganz leise. Während seine Augenlider immer schwerer wurden, spürte er, wie sich der Druck auf seiner Brust verstärkte. Gleich war es vorbei. Nur noch ein letzter Schmerz und er würde gar nichts mehr spüren…   Doch der erwartete Schmerz ereilte ihn nie.   Gin riss die Augen weit auf, als sein Peiniger plötzlich seitlich von einem pfeilschnellen, starken Gewicht weggestoßen wurde. Ein Knurren ertönte. Wütend. Bestialisch. Und doch kam es ihm nur allzu vertraut vor. „Nein… du… musst von hier verschwinden…“ Er versuchte den Kopf zu heben, woraufhin er ein verschwommenes Wirbeln in der Luft erblickte, das hin und wieder an den Wänden abprallte. Bis jemand fortgeschleudert wurde und mit hoher Geschwindigkeit durch den Gang rutschte, sodass wegen der Reibung am Boden ein lang gezogenes Quietschen zu hören war. „Rye!“, versuchte Gin zu schreien, als sein Geliebter zum Stehen kam und die anderen Kreaturen ihn umzingelten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)