The Monster inside my Veins von ginakai ================================================================================ Kapitel 35: Sinneswandel ------------------------ Unsicher beugte sich Gin leicht über das Waschbecken und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Er drehte den Kopf zur Seite und verharrte einen Moment. Obwohl er nichts mehr von der Verletzung an seiner Wange sehen konnte, wurde er das unwohle Gefühl nicht los, dass andere es vielleicht doch bemerken würden. Dabei hatte er sich heute Morgen so viel Mühe gegeben, die rot-bläuliche Prellung zu überschminken. Ein praktischer, wenn auch sonst unbedeutender Trick, den er sich mal von Vermouth abgeguckt hatte, welche früher eine begabte Verkleidungskünstlerin gewesen war. Da konnte er natürlich bei Weitem nicht mithalten. Aber für solch ein kleines Malheur reichten seine Make-up-Kenntnisse glücklicherweise aus, womit er Rye vorhin sehr überrascht hatte. Gin ließ seinen Blick im Spiegel zum Antlitz des Schwarzhaarigen wandern, welcher ihn mit sorgenvollen Augen musterte und so still stand wie eine Eisskulptur. Schon seit ihrer Ankunft schien er deutlich unzufrieden zu sein, oder schon viel mehr seit heute Morgen. Zwar hatte es ihn offenbar gefreut, dass Gins Fieber so schnell zurückgegangen war, doch von dessen Entscheidung, auf die Veranstaltung zu gehen, war er überhaupt nicht begeistert gewesen. Und da sich Gin auf keinen Fall umstimmen lassen wollte, war Rye nichts anderes übrig geblieben, als dies zu akzeptieren und ihn zu begleiten. Nun waren sie hier. Auf der Männertoilette. Und draußen befand sich ein menschengefüllter Saal, der zumindest Rye völlig überforderte und fast aus der Fassung brachte. Er hatte bisher mit keinem der Gäste ein Wort gewechselt, selbst dann nicht, als er ein paar Mal direkt angesprochen wurde. Dafür hatte Gin jedes Mal den kurzen Dialog übernehmen müssen, während sich Rye stets hinter ihm versteckt hatte. Aber sobald der Boss hier eintraf, würde diese Methode nicht mehr funktionieren und Rye war gezwungen, allein zurechtzukommen. Gin konnte nicht den ganzen Abend in seiner Nähe bleiben. Das würde Vater nicht gefallen. „Es ist nichts zu sehen. Wirklich nicht.“, versicherte Rye. Gin drehte sich zu ihm um. Er schien sich zu schämen. Seine zusammengepressten Lippen wirkten, als würde er eine Entschuldigung zurückhalten. Und das war auch besser so. „Du müsstest dir darüber gar keine Gedanken machen, wenn wir nicht hergekommen wären…“, fügte er im Flüsterton hinzu. Gin hörte förmlich das unausgesprochene „Lass uns nach Hause gehen“ hinter diesem Satz. Er verdrehte die Augen und warf Rye anschließend einen scharfen Blick zu. „Hör auf zu jammern. Ich werde mich nicht vor meinen Pflichten drücken.“, ermahnte er ihn, woraufhin der Schwarzhaarige beleidigt die Lippen schürzte. „Deine Gesundheit geht vor.“, konterte er. „Mir geht es bestens. Wie oft noch?“ Gin ging genervt an seinem Partner vorbei – jedenfalls hatte er das vor, doch Rye hielt ihn am Handgelenk fest. „Ich glaube dir ja… Aber übertreib‘s bitte nicht.“, meinte er, während er Gin streng in die Augen sah. Der Silberhaarige setzte ein provozierendes Lächeln auf. „Du auch nicht.“, antwortete er neckend. Rye erwiderte sein Lächeln, bevor er ihn plötzlich näher zu sich zog und begann, ihn von unten bis oben zu begutachten. Als sich ihre Blicke wieder trafen, sprach Rye sanft: „Hab ich dir heute eigentlich schon gesagt, wie schön du aussiehst?“ Gin schmunzelte. „Schmeichler.“, sagte er und ließ es etwas abfällig klingen, was Rye ein leises Lachen entlockte. Er fasste ihn an den Schultern und beugte sich vor, um Gin einen Kuss von den Lippen zu stehlen, doch dieser drückte ihn schon nach der ersten kleinen Berührung sofort von sich weg. „Nicht. Es kann jederzeit wer reinkommen.“, versuchte Gin seine Abweisung zu erklären, konnte aber nicht verhindern, dass sich dennoch Enttäuschung in Ryes Gesicht ausbreitete. „Wir sind sowieso schon viel zu lange hier drin.“ Er betete gedanklich, dass niemand gesehen hat, wie sie gemeinsam die Toilette betreten haben. Das könnte sonst zu unangenehmen Gerüchten führen. Auch wenn sie sich gerade auf einer Toilette befanden, die sich etwas abseits vom Saal befand und deshalb nicht andauernd jemand hereinkam. „Ich glaube, der Boss sollte jeden Moment ankommen. Wie ich dir bereits geraten habe, solltest du dich lieber nicht von ihm bemerken lassen.“, erinnerte Gin den Schwarzhaarigen nach einem Blick auf seine Armbanduhr. Innerlich hoffte er, dass Vater noch nicht da war und später kommen würde. Dann hätte Rye noch genug Zeit, sich vorher unter die Leute zu mischen. „Na, ob ich das schaffen werde…“, erwiderte dieser in belustigter Tonlage, während beide in Richtung Tür gingen. Als Rye die Klinke herunterdrückte, fügte er noch zynisch hinzu: „Dem Alten entgeht doch nichts. Wenn ich…“ Gin wunderte sich, warum Rye plötzlich schweigend im Türrahmen verharrte und er eine angespannte Haltung einnahm. Doch als er hinter ihm hervortrat und somit eine bestimmte Person in sein Blickfeld geriet, erstarrte er ebenso vor Schreck. „Oh, welch Überraschung.“, begrüßte der Boss sie im freundlichen Ton. Gin erkannte sofort, dass die Tonlage nur gespielt war. Ein Schauer durchlief ihn. Vaters Blick wanderte prüfend zwischen ihnen hin und her, bis er seine Augen zuletzt auf Rye richtete und sie zu schmalen Schlitzen verengte. „Dich hätte ich hier heute nicht erwartet.“ Diesmal versteckte er die Verbitterung in seiner Stimme nicht. Gin schaute im Augenwinkel unauffällig zu Rye, welcher noch immer wie versteinert wirkte. Seine Miene war zwar ausdruckslos, doch Gin konnte ihm deutlich ansehen, dass er sich in Wirklichkeit bemühte, Vaters strengem, stechendem Blick standzuhalten. Die Feindseligkeit zwischen beiden schien sich wie ein Lauffeuer in der Luft zu verbreiten und war für Gin nahezu greifbar. Er wusste nicht, ob er sich Sorgen machen sollte. Und falls ja, um wen sollte er sich mehr Sorgen machen? Rye hielt sich wahrscheinlich nur ihm zuliebe zurück. Und wer wusste schon, zu welchen Mitteln Vater im Ernstfall greifen würde. Oder ob er überhaupt eine Chance hätte. Gin riss sich umgehend von diesem Gedanken los. „Gin hat mich gefragt, ob ich mitkommen will.“, antwortete Rye auf einmal in einer unbekümmerten Tonlage, in der rein gar nichts von seinem Zorn mitschwang. „Musstest du das jetzt sagen…“ Gin fasste sich gedanklich an die Stirn. Er wollte nicht in dieses Gespräch mit eingebunden werden, welches jetzt schon nur Unannehmlichkeiten mit sich bringen würde. Wahrscheinlich nahm Vater ihm die Einladung an Rye übel. Auch wenn Gin das im Moment nicht einschätzen konnte, da der Blick des Älteren noch immer auf dem Vampir ruhte, als würde er diesen damit töten wollen. Rye dagegen lächelte schelmisch, als er hinzufügte: „Und ich finde, Sie in der Öffentlichkeit zu sehen, ist schon ein Privileg, welches ich mir nicht entgehen lassen sollte.“ Gin biss die Zähne zusammen. Natürlich musste dieser Idiot es mal wieder auf die Spitze treiben. Zum Glück verfinsterte sich Vaters Miene nicht weiter. Er zog nur die Augenbrauen nach oben, sodass sich seine Falte auf seiner Stirn bildete. „Na wenn das so ist, hoffe ich, du genießt deinen Aufenthalt.“ Seine Stimme nahm wieder einen überfreundlichen, ironischen Tonfall an. Das Lächeln, welches dann in seinem Gesicht erschien, war ebenso wenig echt. Rye erwiderte es und entgegnete ruhig: „Danke, das werde ich, Sir.“ Gin beschloss, die kurze, darauffolgende Stille auszunutzen, um das Gespräch der beiden zu beenden, bevor dieses noch ein schlimmes Ende nehmen würde. Er räusperte sich und begann anschließend: „Ist irgendwas passiert oder warum bist du hier?“ Den Grund würde Gin wirklich gern erfahren. Er bezweifelte nämlich, dass ihre gemeinsame Begegnung vor dieser Toilette lediglich ein unheimlicher Zufall gewesen war. „Aber er konnte unmöglich wissen, dass wir…“ „Es gibt genau zwei Dinge, die ich an diesem Abend vermisse. Da ich dich ja nun gefunden habe, fehlt nur noch eins.“, erklärte der Boss so streng, dass es Gin kalt den Rücken herunterlief und er es vorerst nicht wagte, weiter nachzuhaken. „Komm.“, befahl Vater, während er sich längst umdrehte und voranging. Gin folgte ihm wortlos und ließ Rye hinter sich zurück, ohne sich nochmal zu ihm umzudrehen. Den mörderischen Blick seines Partners konnte er dennoch im Rücken spüren, welcher zweifellos dem Boss galt. Auf dem Weg zum Saal wechselten beide Männer kein Wort miteinander. Die von dort zu hörenden, gedämpften Stimmen wurden nach und nach klarer. Vaters Gehstock gab beim Berühren des gefliesten Bodens im gleichmäßigen Rhythmus ein klopfendes Geräusch von sich, das ein Echo im Gang erzeugte. Kurzzeitig stellte sich Gin die Frage, wohin Rye wohl gegangen war und womit er sich nun die Zeit vertrieb. An der Konferenz durfte er später nicht teilnehmen. Und so scheu, wie er sich vorhin die ganze Zeit über verhalten hatte, glaubte Gin nicht, dass sich der Schwarzhaarige mit den Gästen unterhalten würde. Abgesehen davon beschäftigte Gin noch die andere Person, von der Vater eben gesprochen hatte. Wen sollte er bitte vermissen? Er interessierte sich doch für niemanden. Die Gäste waren ihm egal, darunter zählten auch seine engen Geschäftspartner, die für die Organisation allesamt den gleichen Nutzen erfüllten. „Vielleicht sagt er es mir gleich… oder auch nicht…“ Gin seufzte innerlich. Eigentlich war ihm alles recht, solange Vater nicht anfing, über Rye zu reden. Aber ein unwohles Gefühl in der Magengrube verriet ihm, dass er diesem Thema so schnell nicht entkommen würde. Im Saal herrschte nach wie vor eine sehr lebhafte, lockere Stimmung. Viele der Gäste unterhielten sich, tranken ein Glas Sekt, aßen vom Büfett oder zogen sich auf den Balkon zurück, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Die meisten Familienclans blieben zusammen, deren jeweiliges Oberhaupt immer auf den ersten Blick erkennbar war. Sie machten gewissermaßen einen wachsamen Eindruck, schienen sich aber trotzdem zu amüsieren. Grob gesagt war also alles wie jedes Jahr. Keine Komplikationen. Genau so, wie es sein sollte. Ryes Anwesenheit war wirklich das Einzige, was diesmal anders war. Und von dieser bekam Gin gerade ohnehin nichts mit. Der Boss erhöhte fortlaufend sein Schritttempo und ging zielgerichtet geradeaus, während er den Blick starr nach vorn richtete. Gin kannte diesen Trick gut. Es sollte so aussehen, als hätten sie es eilig, an einen bestimmten Ort zu gelangen. So konnte vermieden werden, dass jemand sie unnötig aufhielt oder von der Seite anquatschte. Doch obwohl Gin niemandem ins Gesicht sah, vernahm er die neugierigen Blicke auf sich und seinem Boss trotzdem. Viele von ihnen tuschelten. Das taten sie jedes Jahr. Gin bemühte sich, es zu ignorieren. Er hasste solche Menschen, die glaubten, alles über andere zu wissen. In Wirklichkeit wussten sie nicht das Geringste und dennoch nahmen sie sich das Recht, irgendwelche Gerüchte in die Welt zu setzen. Vater hatte gewiss keinen guten Ruf. Zugegebenermaßen war das größtenteils sein eigener Verdienst, nur es war Gin schon immer schwergefallen, dies zu akzeptieren. Genau wie unzählige andere Dinge, die Vater betrafen. Dieser blieb nun in einer stillen Ecke stehen und stieß ein Seufzen aus. In unmittelbarer Nähe befand sich glücklicherweise niemand, der es wagen könnte, ihre Zeit mit einem unnötigen Gespräch zu stehlen. Lediglich einer der Kellner bot ihnen ein Glas Champagner an, bevor er schnell wieder in der Menge verschwand. Der Boss nippte an seinem Glas und ließ nebenbei den Blick voller Bedenken durch den Saal wandern. Irgendwas schien nicht in Ordnung zu sein. Gin wollte abwarten, bis Vater es ihm von selbst mitteilen würde. Doch als dieser den Mund öffnete, kamen ganz andere Worte heraus, mit denen der Silberhaarige nicht gerechnet hatte. „Ist er jetzt eigentlich dein Hund?“, fragte er abschätzig. Gin verengte pikiert die Augen. Als er zu einer Antwort ansetzte, bemerkte er jedoch, dass Vaters Blick mittlerweile gezielt auf eine ganz bestimmte Person gerichtet war. Als er in dieselbe Richtung schaute, wäre ihm beinahe der Mund aufgeklappt. Rye hatte sich tatsächlich unter die Gäste gemischt. Oder besser gesagt: unter die Damen. „Nein. Warum?“ Wie sehr Gin das innerlich verärgerte, konnte man ihm leicht an seiner Tonlage anhören. Doch der Boss ließ sich davon nicht beeinflussen und erwiderte kühl: „Er weicht kaum von deiner Seite. Sogar zur Toilette folgt er dir.“ „Das…“ Gin wusste nicht, wie er das erklären sollte. Die Wahrheit konnte er nicht erzählen und etwas anderes fiel ihm gerade nicht ein, was einigermaßen glaubhaft klingen würde. „Ich will es gar nicht wissen.“ Der Boss lenkte seinen Blick wieder zu Gin. „Ich befürchte nur, dir ist nicht ganz bewusst, worauf du dich da einlässt. Er ist eine abscheuliche, vom Fluch besessene Kreatur, die in der Lage wäre, in wenigen Sekunden den kompletten Saal in ein Blutbad zu verwandeln.“ In seiner Miene zeichnete sich Argwohn ab. Warum konnte er nicht wenigstens versuchen, Rye zu tolerieren? Nur weil dieser ein Vampir war, bedeutete das doch nicht automatisch, dass er von Grund auf böse war. Und selbst wenn, seit wann legte Vater wert auf die Moral? Möglicherweise war Eclipse das eigentliche Problem. „Aber was hat er mit ihnen zu tun…?“ Eine Frage, auf die Gin wohl keine Antwort bekommen würde. Sogar nach 30 Jahren kannte er den Älteren kaum besser als einen Fremden. Aber dieser Mann hatte noch nie jemanden an sich ran gelassen… „Mag sein, dass er dazu in der Lage ist. Aber er wird es nicht tun.“, sagte Gin mit fester Überzeugung in der Stimme. Dafür würde er sogar die Verantwortung übernehmen. „Du scheinst ja eine Menge Vertrauen in ihn zu haben.“, stellte Vater fest. Und diese Feststellung schien ihm nicht zu gefallen. Seine Augen richteten sich wieder auf Rye. „Ja.“, antwortete Gin. Wahrscheinlich hatte er so viel Vertrauen in den Vampir, dass er seinem Boss mindestens die Hälfte davon abgeben könnte. Dieser schüttelte nun mit dem Kopf und sprach voll höhnender Verachtung: „Und genau das will er. Wahrscheinlich baut er immer erst Vertrauen zu seinen Opfern auf, bevor er sie verführt und anschließend in eine stille Ecke lockt, um sie dann abzuschlachten.“ „Er kann dich hören.“, merkte Gin im leisen Ton an, nicht in der Hoffnung, dass Vater dann aufhören würde, schlecht über den Schwarzhaarigen zu reden. Es lag klar auf der Hand, was er ihm indirekt eintrichtern wollte, doch Gin würde es niemals nicht mal ansatzweise in Betracht ziehen, sich von Rye fernzuhalten. Seinem Geliebten. Der sich immer noch munter mit zwei Frauen unterhielt. „Das kann er meinetwegen auch hören.“ Die Antwort klang etwas gereizt. „Generell kann er jedes Gespräch auf dieser Veranstaltung hören, das nicht für seine Ohren bestimmt ist. Ein weiterer Punkt, der ihn gefährlich macht.“ Damit hatte der Boss zwar recht, doch Gin konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeines dieser Gespräche Ryes Interesse wecken würde. Außer vielleicht das Jetzige. Hoffentlich war er im Nachhinein nicht wieder beleidigt. Gin würde auch liebend gern über etwas anderes reden. „Zweifelst du etwa immer noch an seiner Loyalität?“, hakte er nach, woraufhin ein unsicherer Ausdruck in Vaters Miene trat. „Es ist schwer, ihn einzuschätzen. Ich weiß nicht, ob er lügt und in Wirklichkeit andere Absichten verfolgt. Das werde ich wohl erst erfahren, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.“ Er musterte Rye eine Weile abschätzig und fuhr dann fort: „Sieh ihn dir an. Jetzt im Moment macht er einen auf charmant. Aber das ist nicht sein wahres Gesicht. Er verstellt sich. Und wer weiß, ob er das nicht sonst auch immer tut.“ Gin ließ das Gesagte unerwidert. Er musste sich darüber keine ernsthaften Gedanken machen. Schließlich kannte er Rye inzwischen gut genug, um sich sicher sein zu können, dass dieser nicht für Eclipse arbeitete und auch keine bestimmten Absichten verfolgte. „Seine einzige Absicht war gewesen, mich für sich zu gewinnen… und das ist ihm erfolgreich gelungen.“, dachte Gin ironisch. Während er Rye weiter beobachtete, bemerkte er, dass dieser mittlerweile eher von den zwei Frauen bedrängt wurde und es ihm offensichtlich schwerfiel, die Flucht zu ergreifen. Zugegebenermaßen sahen die beiden recht hübsch aus. Sie waren Zwillinge. Ihre Gesichter kamen Gin bekannt vor, aber er konnte sie dennoch nirgends einordnen. „Die beiden sind wirklich sehr naiv. Sie haben ohnehin schon immer wenig wert auf innere Werte gelegt, weshalb sie noch leichter auf seine Fassade hereinfallen. Wenn ich mich richtig erinnere, sucht Lozano zurzeit nach einem geeigneten Mann für seine Töchter.“, kommentierte Vater die Szene. Als Gin den Namen hörte, machte es allmählich Klick. Er hatte ihn das ein oder andere Mal schon irgendwo aufgeschnappt. Sich Namen und Gesichter zu merken, war ohnehin nie seine Stärke gewesen. Vater stand ihm da eigentlich in nichts nach, weshalb es den Silberhaarigen ein wenig wunderte, dass dieser Name ihm offensichtlich nicht entfallen war. „Ich bezweifle, dass Rye ein Kandidat dafür wäre.“, antwortete Gin, woraufhin ein leichtes Lächeln auf den Lippen des Bosses erschien. „In vielerlei Hinsicht.“, stimmte er nickend zu. „Aber wenn du diese Rolle einnehmen könntest… das wäre durchaus ein großer Gewinn. Lozano steht zwar kurz vor dem Ruin, doch das kann man sich zu Nutze machen.“ Bei dem Wort ‚du‘ zuckte Gin unbemerkt zusammen. Er sah noch, wie sich Ryes Haltung im selben Moment ebenso schlagartig veränderte, bevor er sich mit einem verwirrten Ausdruck im Gesicht zum Boss drehte. „Deswegen war ihm der Name also im Gedächtnis geblieben…“, erkannte Gin. Aber woher kam diese Idee so plötzlich? Sie hatten zuvor noch nie übers Heiraten gesprochen. Wozu auch? Er wäre mit Sicherheit ein miserabler Ehemann. „Vor allem was soll ich mit solchen Tussis… da ist eine schlimmer als die andere. Mir egal, was die Organisation davon hätte. Und außerdem…“ Sein Blick huschte unauffällig zu Rye. „…bin ich bereits vergeben.“ „Da lehne ich lieber ab.“, sagte er im möglichst höflichen Tonfall und hoffte, dass Vater dies ohne eine Diskussion akzeptieren würde. Leider war dem nicht so. „Warum?“ Gin suchte schnell nach einer plausiblen Ausrede. „Sagtest du nicht immer, ich soll mich nicht verlieben?“ „Liebe.“, schnaubte Vater spöttisch. Dieses Wort würde ihm immer fremd bleiben. „Das hat rein gar nichts damit zu tun. In unseren Kreisen ist Heirat nichts weiter als ein Mittel zum Zweck. Macht und Geld bedingen sich gegenseitig, und nur diese Dinge sind von Bedeutung.“ Vor seiner Begegnung mit Rye hätte Gin all dem womöglich ausnahmslos zugestimmt. Sein ganzes Leben lang wurde ihm beigebracht, niemals Gefühle zu zeigen und sich auf keinen Fall auf diese einzulassen, weil sie ein Zeichen für Schwäche waren und angreifbar machten. Insbesondere vor Liebe hatte Vater ihn so oft gewarnt, dass er in manchen Zeiten seiner Kindheit sogar Angst davor gehabt hatte. Liebe bringt nichts als Schmerz und Kummer. Liebe kann einen innerlich zerreißen. Liebe führt bis in den Tod. Liebe sorgt dafür, dass man den Verstand abschaltet und blind handelt. Wer aus Liebe handelt, ist unvorsichtig und naiv. Gin kannte unzähliger solcher Prinzipien so gut wie Geschichten vor dem Schlafengehen. Er hatte ihnen Glauben geschenkt und wollte sich niemals in jemanden verlieben. Irgendwann hatte er es sich deshalb angewöhnt, die meisten Menschen als gleich zu betrachten. Als nichts Besonderes. Uninteressant. Doch dann war Rye in sein Leben getreten – und all diese Prinzipien waren nach und nach erloschen. Gin hatte verstanden, wie unbeschreiblich schön es sich anfühlte zu lieben und geliebt zu werden. Als würde eine dicke Eisschicht Stück für Stück in ihm auftauen, wodurch er sich endlich lebendig fühlen und die Welt mit all ihren Farben sehen konnte. Liebe war nicht etwas, wovor er hätte Angst haben müssen, sondern etwas, was ihm die ganze Zeit über gefehlt hatte. Während Gin über diese Dinge nachdachte, betrachtete er Rye mit einem warmen Lächeln auf den Lippen, welches er sich selbst gar nicht bewusst war. Er würde Vater wohl nie erzählen, wie sehr er Rye liebte und dass nur das für ihn von Bedeutung war. „Das weiß ich… und du magst recht haben, aber ich würde keine Frau heiraten, die ich nicht liebe. Und da ich nie jemanden lieben werde, werde ich auch niemals heiraten.“, log Gin teilweise. Heiraten war tatsächlich noch eine ganz andere Herausforderung, bei der er sich nicht sicher war, sie bewältigen zu können. Könnte er die Person, die er liebte, auch heiraten? Könnte er Rye heiraten? Gin musste sich umgehend von diesem Gedanken losreißen. Das war definitiv noch zu viel für ihn. „Deine Entscheidung. Ich hatte nicht vor, dich zu zwingen. Es war lediglich ein Angebot.“, antwortete Vater in ruhiger Tonlage. Er wirkte längst vom jetzigen Thema abgelenkt. Seinen Blick ließ er analysierend durch Saal wandern, bevor er missmutig die Augenbrauen zusammenschob. „Was ist los? Suchst du jemanden?“ Gin vermutete, dass es sich wahrscheinlich um die Person handelte, die Vater noch vermisste und offenbar nach wie vor noch nicht eingetroffen war. „Cognac.“, verriet der Ältere knapp, woraufhin Gin verdutzt die Stirn runzelte. Er hätte jemand anderen erwartet. „Du hast ihn eingeladen?“, fragt er. In den letzten Jahren war Cognac nie auf dieser Veranstaltung gewesen. Dazu gab es immerhin auch keinen Grund. Der Boss nickte kurz und erwiderte: „Ja, um zu sehen, ob er kommt oder nicht.“ Jetzt war Gin noch verwirrter als vorher. Das ergab für ihn keinen Sinn. „Warum?“ Einen Moment lang herrschte Stille, in welcher Vater ausdruckslos in die Menschenmenge starrte. Nachdem er einen Schluck von seinem Glas getrunken hatte, begann er zu berichten: „In den letzten paar Tagen ist es ungewöhnlich still um ihn geworden. Ich erreiche ihn nicht. Niemand tut das. Er ist nicht zur Arbeit gekommen und seine Frau scheint auch nicht zu Hause zu sein. Bei seinen zwei Söhnen ist es dasselbe. Spurlos verschwunden, und das ohne ein Wort.“ Das klang schon ein wenig beunruhigend. Gin wusste, dass Cognac nicht der Typ war, der einfach verschwindet, ohne vorher Bescheid zu sagen. Auf ihn war bisher eigentlich immer Verlass gewesen und als Oberkommissar konnte er sich das sowieso nicht einfach erlauben. Zumal seine ganze Familie anscheinend spurlos verschwunden war, dabei waren seine beiden Söhne schon erwachsen und hatten selbst Kinder. Wirklich seltsam. Irgendwie musste Gin gerade an Vermouth zurückdenken. Von ihr war man es sogar gewohnt gewesen, dass sie ohne ein Wort verschwand, und am Ende wurde sie von Rye umgebracht. „Rye…“ Eine böse Vorahnung schlich sich in Gins Gedanken. Doch er vertrieb sie schnell wieder. „Nein, so ein Unsinn, er hat nichts mit Cognac zu tun.“ Auch wenn er den Vampir nicht verdächtigte, konnte er sich schon denken, wer dies anstelle dessen sehr wohl tat. Gin musste versuchen, diesen Verdacht zu ersticken, bevor Rye noch zu Unrecht in Schwierigkeiten geriet. Er tat so, als würde ihm die Sache keine Sorgen bereiten und meinte schulterzuckend: „Vielleicht brauchte er mal eine Auszeit und ist mit seiner Familie weggefahren.“ Dem Boss entwich ein verbittertes Lachen. „Keiner aus seiner Familie hat einen Urlaub bei den Arbeitgebern beantragt. Die Ehefrau von seinem ältesten Sohn hat gestern Abend sogar bei der Polizei angerufen und wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben, die ihr vorerst aber verweigert wurde. Das hört sich nicht gerade nach Urlaub an, findest du nicht auch?“ Der Boss sah Gin an, als wüsste er bereits, dass dieser nur absichtlich den Unbekümmerten spielte. Der Silberhaarige musste sich wohl oder übel geschlagen geben. „Und du denkst stattdessen, dass sie entführt wurden oder so?“ Seine Stimme klang dennoch nicht überzeugt. „Das ist am naheliegendsten. Ich habe bereits ein paar Leute mit der Suche beauftragt. Bisher gibt es weder Hinweise auf den Verbleib von Cognac noch von seiner Familie, was zu erwarten gewesen war.“ „Aber wer sollte ihn und seine Familie bitte entführen? Aus welchem Grund?“ Gin überlegte kurz, ob Cognac irgendwelche Feinde hatte, für die ein Motiv infrage käme. Als hohes Tier bei der Polizei war das gar nicht so absehbar. Aber angenommen, es handelte sich wirklich um einen x-beliebigen Übeltäter, der vielleicht Rache für irgendwas nehmen wollte, dann würde das den Verdächtigenkreis gewaltig vergrößern. Und welcher Verbrecher würde sich dazu noch die Mühe machen, sowohl Frau als auch Kinder zu entführen? Welch einen immensen Hass musste der Täter bitte auf Cognac verspüren? „Drei Mal darfst du raten.“ Vaters ironische Tonlage verriet ihm, dass er wohl in die völlig falsche Richtung gedacht hatte. Es handelte sich nicht um einen Einzeltäter, der nach Rache trachtete, sondern um… „Sag nicht…“, setzte Gin leise an. „Doch.“ Der Boss sah ihn mit einem gefährlich ernsten Ausdruck in den Augen an, bevor seine Lippen den Namen „Eclipse.“ formten. Gin durchlief augenblicklich ein Schauer. Er wollte es nicht wahrhaben. Das war vollkommen ausgeschlossen. Auf einmal war sein Kopf wie leer gefegt und er konnte nur noch die Angst spüren, die ihn allmählich erfüllte. „Was sollte Eclipse von Cognac wollen?“ „Denk nach.“, ermahnte ihn der Boss streng – etwas, was Gin im Moment nicht mehr konnte. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Wind von der Mordserie bekommen würden. Selbstverständlich gilt diese inzwischen offiziell als gelöst, aber wir können nicht davon ausgehen, dass Eclipse dem auch Glauben schenkt. Möglicherweise haben sie Recherchen angestellt und sind dabei ziemlich schnell auf Cognac aufmerksam geworden, welcher ja die Ermittlungen geleitet hat und dessen Name des Öfteren in den Medien erwähnt wurde.“ So, wie der Boss es formulierte, schien das alles tatsächlich einen Sinn zu ergeben, sodass es Gin schwerfiel, sich vor Augen zu halten, dass es sich lediglich um Vermutungen handelte. Es gab keine Beweise, dass Eclipse etwas mit dem Fall zu tun hatte. Vater könnte sich irren. „Aber warum sollten sie seine Familie…“ „Ich gebe das nur ungern zu – aber in manchen Punkten ist diese Organisation uns sehr ähnlich. Sie machen keine halben Sachen.“, erklärte der Boss kalt. Er richtete seinen Blick auf Rye, welcher mittlerweile sehr beunruhigt wirkte, und fügte erbost hinzu: „Es würde mich nicht wundern, wenn er auch etwas damit zu tun hat.“ Gin schluckte lautlos. Jede Faser seiner Muskeln spannte sich an. Nein. Rye hatte nichts mit Cognacs Verschwinden zu tun. Diesmal war er unschuldig. „Rye kennt Cognac doch überhaupt nicht. Er weiß wahrscheinlich nicht mal, wie er aussieht, geschweige denn irgendwas von dessen Familie. Außerdem hat er ihm vieles zu verdanken, unter anderem seine reingewaschene Weste. Es gibt nichts, was ihn zu solch einer Tat verleitet haben könnte.“, sprach Gin mit fester Überzeugung in der Stimme. Er würde alles tun, um Rye zu verteidigen. Egal wie. „Das ist das, was du annimmst. Aber kannst du es wirklich wissen?“ Der Boss sah ihm eindringlich in die Augen. Gin konnte dem Blick nicht lange standhalten und starrte zu Boden. „Nein, kann ich nicht, aber…“ Als er zu einer Antwort ansetzte und Vater wieder ansehen wollte, blickte er jedoch in ein hartes, erbarmungsloses Gesicht, welches das Blut in seinen Adern gefrieren ließ. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. „Warum nimmst du diese Kreatur eigentlich immer in Schutz?“, wollte der Boss wissen. Gin legte die Augenbrauen tief und biss die Zähne zusammen. Er durfte sich nicht einschüchtern lassen. Er musste selbstsicher und überzeugend wirken. Für Rye. Nichts durfte darauf hinweisen, dass er an dessen Unschuld zweifelte. „Weil ich der Meinung bin, dass du ihn zu Unrecht verurteilst.“, antwortete er. Innerlich begann er sich auf das Schlimmste einzustellen. Er hatte sich noch nie offen gegen Vater gestellt, und er war sich sicher, dass er diese Entscheidung gleich bereuen würde. Oder spätestens nach der Veranstaltung. Er hatte einen letzten Funken Hoffnung, dass Rye dazwischen gehen und ihn irgendwie aus dieser Situation heraushelfen würde. Aber er kam nicht. Er stand noch immer bei den zwei Frauen und ließ sich nicht anmerken, was mit hoher Wahrscheinlichkeit in seinem Inneren zu toben schien. Allerdings reagierte Vater nicht so, wie Gin es befürchtet hatte. Das amüsierte Lächeln, welches sich plötzlich auf seinen Lippen bildete, warf den Silberhaarigen völlig aus der Bahn. „Ach so? Das ist… wirklich interessant.“, meinte er, als hätte er gerade irgendeine spannende Neuigkeit erfahren. Gin wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Sein Gespür für Gefahr schrie ihm zu, dass Schweigen im Moment die beste Option war. Zum Glück verschwanden kurz darauf jegliche Emotionen wieder aus Vaters Gesicht und er warf prüfend einen Blick auf seine Armbanduhr. „Versuch nicht, mir was vorzumachen. Das wird nie funktionieren.“ Nach diesen leise ausgesprochenen Sätzen drehte er sich weg und ging davon. Gin überlegte, ob er ihm folgen sollte, entschied sich letztlich aber dagegen. Seine Nerven lagen blank. Er bräuchte wohl den ganzen Abend, um dieses Gespräch ordentlich zu verarbeiten. Danach würde er noch ein paar Sorgen mehr haben, die ihn fortan quälen würden und die er auf keinen Fall mit Rye teilen durfte. Dieser machte sich schon mehr als genug Vorwürfe und ging dabei fast kaputt an seiner Angst vor Eclipse. Noch einen Hauch mehr und er könnte den Verstand verlieren, was Gin um jeden Preis verhindern wollte. „Ich glaube, ich sollte die Chance nutzen und ihn erst mal beruhigen… Er hätte wirklich nicht hierher kommen sollen. Wahrscheinlich ist er gerade vollkommen außer sich…“ Gin seufzte. Eigentlich müsste er sich zuerst beruhigen, aber Ryes Psyche war empfindlicher und die Folgen im schlimmsten Fall tödlich. Also hatte das Vorrang. Jedoch weiteten sich Gins Augen vor Schreck, als er gerade die Richtung einschlagen wollte, in welcher der Schwarzhaarige bis vor Kurzem noch gestanden hatte: Dort befand sich abgesehen von ein paar Gästen niemand mehr. Rye war weg.   „Na warte, du elendiger alter Knacker. Jetzt hast du es zu weit getrieben.“ Rye kochte vor Wut. Er wusste nicht mehr, wie es ihm gelungen war, die beiden nervigen Damen abzuwimmeln. Wahrscheinlich hatte es an seinem plötzlichen Ansporn gelegen, dem Boss ordentlich die Hölle heißmachen zu wollen. Ein Jammer, dass ihm das nicht erlaubt war. „Wie kann sich Gin das bloß gefallen lassen? Wenn der Alte ihm weiter so einen Blödsinn einredet, glaubt er es irgendwann bestimmt noch…“ Rye hoffte zutiefst, dass sein Geliebter ihm gut genug vertraute, um zu wissen, dass er diesem Mitglied mit dem Codenamen Cognac nichts angetan hatte. Vielleicht höchstens aus Versehen, aber da offensichtlich die ganze Familie verschwunden war, kam das auch nicht infrage. Der Boss schien da natürlich anderer Ansicht zu sein. „Wo ist er hingegangen? Ich hätte ihn genauer im Auge behalten sollen…“ Rye sah sich im Saal um und versuchte, den Geruch des Bosses aus der Menge herauszufiltern, was sich tatsächlich als etwas schwierig entpuppte. Es waren einfach zu viele Gerüche. Er blieb kurz stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Obwohl der Boss auch heute recht auffällig gekleidet war – zumindest eher untypisch für solch eine Veranstaltung – und dessen roter Schal ihm eigentlich ins Auge stechen sollte, konnte Rye ihn nicht entdecken. Er nahm einen tiefen Atemzug, schloss die Augen und rief sich den Geruch des Bosses nochmal ins Gedächtnis: Dieser war fast so ähnlich wie der von Gin, nur weniger intensiv und nicht ganz so süßlich, sondern eher wie Kräuter. Es verstrichen ein paar Sekunden, ehe Rye den gesuchten Geruch endlich fand. Er riss die Augen auf und begann, die Spur zu verfolgen. „Ich muss ihn irgendwie davon überzeugen, dass ich unschuldig bin. Aber wie? Er vertraut ja mir kein Stück…“ Im Schnellschritt drängelte er sich durch die Massen, bis die Geruchsspur ihn glücklicherweise aus dem Saal führte. Dies leitete ihn jedoch zu der Frage, was der Boss außerhalb davon zu erledigen hatte. Während Rye im Flur entlang ging, versuchte er sich so gut wie möglich zu beruhigen. Es gab einfach zu viele Dinge, wegen denen er gerade verdammt wütend war und er den Boss am liebsten zu Tode foltern würde. Es war das eine, dass dieser ihn ständig beleidigte und über ihn herzog, aber musste er das ausgerechnet immer vor Gin tun? Und was sollte das mit der Heirat? So langsam glaubte Rye, dass der Boss den Silberhaarigen ganz bewusst von ihm fernhalten wollte und dabei vor keinem Mittel zurückschreckte. Nicht mal vor falschen Anschuldigungen. „Egal, was du versuchst: Du wirst ihn mir nicht wegnehmen. Niemals. Wenn es sein muss, werde ich ihn künftig von dir fernhalten.“, sprach Rye übel gesinnt in Gedanken zum Boss. Auch wenn das eine ziemlich schwierige Herausforderung wäre, da Gin diesen alten, arroganten Kerl trotz allem zu mögen schien oder zumindest zu ihm aufsah und von ihm respektiert werden wollte. „Ich kann mir schon ungefähr denken, was der Grund dafür ist. Gin hat immerhin nie richtige Eltern gehabt und der Alte scheint als Einziger für ihn da gewesen zu sein… Die beiden haben trotzdem ein seltsames Verhältnis zueinander. Mir wäre es wirklich lieber, wenn Gin ihm aus dem Weg geht. Dieser Mann ist von Grund auf ein schlechter Mensch… und das hat nichts mit seiner Abneigung gegen Vampire zu tun…“ Ryes Grübeleien sorgten dafür, dass er seine Wut allmählich wieder kontrollieren konnte. Er verlangsamte sein Schritttempo und ließ den Blick schweifen. Die Gegend kam ihm bekannt vor. Hier war er vorhin zuletzt mit Gin gewesen. „In der Nähe ist doch die Toilette…“, erinnerte sich Rye. Zu seiner Überraschung führte die Geruchsspur des Bosses genau dorthin. Er umfasste vorsichtig den Türgriff und lauschte. Nichts war zu hören. „Ist er allein?“, fragte er sich. Keine Zeugen waren immer zum Vorteil. Im nächsten Moment öffnete Rye lautlos die Tür, welche zum Glück nicht in den Reflexionen der Spiegel zu sehen war, da sich die Waschbecken um die Ecke befanden. Er setzte langsam einen Schritt nach dem anderen und schlich sich von hinten an. Der Boss war wirklich allein. Gerade stand er vor einem der Waschbecken und schien irgendwas einzunehmen. Bei genauerem Hinsehen erkannte Rye mit Erstaunen, dass es sich um Tabletten handelte. Noch hatte der Ältere ihn nicht bemerkt. „Noch nicht.“, dachte Rye hämisch, bevor er in neugieriger Tonlage begann: „Oh? Wofür sind die denn?“ Der Boss zuckte sofort zusammen und krallte seine Hand vor Schreck ins Waschbecken. Rye konnte nicht verhindern, dass nach dieser äußerst amüsanten Reaktion ein breites Lächeln seine Lippen umspielte. Der Boss drehte sich mit einem eisernen Gesichtsausdruck zu ihm um und versuchte sich wieder zu sammeln. Ein bisschen erinnerte Rye der Anblick daran, wie sich Gin früher immer erschrocken hatte, als er mitten aus dem Nichts neben ihn aufgetaucht war. Nur mit dem Unterschied, dass es jetzt viel lustiger war. Über eine mögliche Strafe, die ihn dafür vielleicht erwartete, dachte der Schwarzhaarige lieber bewusst noch nicht nach. Inzwischen hatte sich der Atem des Mannes wieder beruhigt und er musterte ihn mit einer gewissen Wachsamkeit in den Augen. „Was willst du? Folgst du mir jetzt auch noch auf die Toilette?“ Rye presste die Lippen zusammen. Die Begegnung vorhin war ihm immer noch peinlich. Und Gin vermutlich noch viel mehr. „Nun, ich habe mir nur Sorgen gemacht, weil Sie allein unterwegs waren.“, log Rye. Der Boss zog unbeeindruckt eine Augenbraue nach oben. „Glaub mir, ich kann sehr gut auf mich selbst achten. Und jetzt sag schon, was du von mir willst.“ Rye überlegte einen Augenblick. Vielleicht war die Toilette nicht der geeignete Ort, um solche Angelegenheiten zu klären. Auch wenn es sich um eine Toilette für spezielle Gäste handelte, bestand dennoch die Gefahr, dass jederzeit jemand hereinkommen könnte. Unsicher warf Rye den Blick zur Seite, entdeckte dann jedoch zu seinem Glück einen Schlüssel im Türschloss stecken. Er ging zur Tür und drehte den Schlüssel herum. Der Gesichtsausdruck des Bosses blieb dabei vollkommen unverändert, was Rye im Nachhinein stutzig machte. „Warum hat er nicht vorhin schon abgeschlossen?“, fragte er sich. „Hat er es etwa vorausgeahnt und wollte, dass ich ihm folge…?“ Das leichte Lächeln, welches auf einmal im Gesicht des Bosses zum Vorschein kam, bejahte diese Frage. Innerlich ärgerte es Rye, dass er genau nach den Erwartungen dieses Kerls gehandelt hatte. Aber es war nicht mehr zu ändern. Er hätte ihn so oder so zur Rede stellen müssen. „Sie scheinen unter den Gästen ja nicht sehr beliebt zu sein, wenn sie Ihre Tabletten sogar heimlich einnehmen, Sir.“, meinte Rye belustigt, um das Gespräch allmählich ins Rollen zu bringen. „Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Tablettenabhängigkeit ist eine Schwäche, die sich gute Beobachter zunutze machen können. Du kannst dir sicherlich denken, wie viele Todesfälle es diesbezüglich schon gegeben hat.“, erwiderte der Boss ruhig. Das klang relativ einleuchtend. In ein paar Krimis, die Rye gelesen hatte, wurde des Öfteren mal jemand auf diese Weise umgebracht. „Also sind sie lebenswichtig für Ihre Gesundheit?“, hakte er nach, woraufhin der Ältere die Hände auf seinen Gehstock stützte und mit den Schultern zuckte. „Ich wüsste nicht, was dich mein gesundheitlicher Zustand zu interessieren hat.“ Als Rye darauf antworten wollte, fügte er gereizt hinzu: „Hör auf, schon wieder meine Zeit zu stehlen und komm endlich zum Punkt. Ich kann mir schon denken, was du mir sagen willst. Du bist hier, um dich rauszureden.“ Ryes Miene verfinsterte sich. „Ich habe nichts mit dem Verschwinden von diesem Cognac zu tun.“, stellte er klar. „Ich gab Ihnen mein Wort, dass keines Ihrer Mitglieder je wieder durch mich zu Schaden kommen wird. Warum können Sie nicht wenigstens versuchen, mir zu vertrauen?“ Der Boss schnaubte spöttisch. „Worte können sich auch als Lüge enttarnen, wenn sie aus dem falschen Mund kommen. Nimm es nicht persönlich, aber dein Wesen und deine Herkunft ermutigen mich nicht wirklich, dir mein vollstes Vertrauen zu schenken. Nicht bei dieser Angelegenheit.“ Rye sah ihn entrüstet an. Er spürte, wie eine gewaltige Welle von Wut ihn erfasste. Und er musste sich stark bemühen, sich nicht von ihr fortreißen zu lassen. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass die Worte einfach unkontrolliert aus ihm herausplatzten. „Glauben Sie etwa, ich habe mir das ausgesucht?! Ich will nicht so sein! Und dass Sie mich so behandeln, als wäre es so, macht es nicht besser! Sie können sich nicht im geringsten vorstellen, wie ich mich fühle und was das mit mir macht! Ich verabscheue mich mehr, als Sie es jemals könnten!“ Ryes ganzer Körper fing an zu zittern. Sein Atem ging hastig. Er spürte ein tiefes Grollen in seiner Brust. Es war gefährlich, sich so aufzuregen. Er durfte den Boss nicht töten, welcher jedoch von dem womöglich furchterregenden Anblick überhaupt nicht eingeschüchtert wirkte. Seine Haltung war entspannt. Seine Miene emotionslos. Nichts deutete auf Angst hin. „Du armes Ding.“, meinte er nur tonlos. Ein Seufzen entwich ihm. „Das sind vage Worte für jemanden, der sich nicht daran erinnern kann, was vor seiner Verwandlung passiert ist. Was macht dich so sicher, dass du es dir nicht ausgesucht hast? Kannst du es zu hundert Prozent wissen?“ „Sie können es auch nicht wissen.“, schoss Rye bissig zurück. Solche Unterstellungen musste er sich nicht bieten lassen. „Ich hätte niemals ein Monster werden wollen.“ Ein ironisches Lächeln umzuckte die Lippen des Bosses. „Es gibt genug Menschen, die das wollen. Und stell dir vor, es gibt sogar welche, die an der Herstellung von Substanzen arbeiten, die so etwas möglich machen.“ „Ich arbeite nicht für Eclipse.“, entgegnete Rye mit zusammengebissenen Zähnen, während seine Hände sich zu Fäusten ballten. „Ich arbeite für Sie, Sir.“ „Vielleicht…“ Der Boss betrachtete ihn nachdenklich und setzte eine kurze Pause. „Ja, vielleicht liege ich falsch und du bist wirklich nichts weiter als eines ihrer Versuchskaninchen, das ihnen mit sehr viel Glück davonhoppeln konnte. Wir werden sehen. Sollte sich herausstellen, dass du tatsächlich nicht mit dem Verschwinden von Cognac in Verbindung stehst, bin ich gern bereit, meine Anschuldigung zurückzunehmen. Aber bis dahin bleibst du auf der Liste der Verdächtigen.“ Das hörte sich für Rye nicht gerade vielversprechend an. Zumindest konnte er mit Bestimmtheit wissen, dass ihm der Sieg sicher war und der Boss seine Anschuldigung definitiv bald zurücknehmen müsste. Blieb nur noch die Frage offen, wie sich das Ganze klären würde und wer tatsächlich der Verantwortliche in diesem Fall war. „Können Sie dann nicht wenigstens aufhören, Gin in die Sache mit einzubeziehen? Ich will nicht, dass er mich auch verdächtigt.“, bat Rye und fand langsam aber sicher wieder zurück zu einem freundlicheren Tonfall. Gewiss brachte ihm das keinen Vorteil. Im Gegenteil. Das hätte er nicht sagen dürfen. Zu spät. „Ach, darum geht es dir also.“, erwiderte der Boss erstaunt. Doch in seinen vor Heiterkeit glänzenden Augen konnte Rye deutlich erkennen, dass er es bereits geahnt hatte. Dem Schwarzhaarigen durchlief ein Schock. Er hielt es für besser, zu schweigen. Sonst würde er womöglich nochmal etwas Falsches sagen. Seinem Gegenüber schien das nichts auszumachen, da er mit freudloser Stimme noch ergänzte: „Ich glaube nicht, dass du dir darüber Gedanken machen musst.“ Anschließend ging er ohne ein weiteres Wort an Rye vorbei, welcher ihm mit großen Augen hinterherschaute. „Hat er gerade indirekt zugegeben, dass es ihm wahrscheinlich nie gelingen wird, Gin umzustimmen und er sich somit auf verlorenem Posten befindet?“, dachte er ungläubig. Allerdings war er auch unendlich erleichtert, dass er sich scheinbar umsonst Sorgen gemacht hatte. Gin war auf seiner Seite. Das würde von nun an immer so bleiben. Weil sie einander liebten und vertrauten. Doch das triumphierende Lächeln, welches sich bei dieser Erkenntnis fast auf Ryes Lippen gebildet hätte, verging ihm in dem Moment wieder, als der Boss plötzlich an der Tür stehen blieb. „Weißt du was?“, begann er und drehte sich zum Schwarzhaarigen um. „Wenn du schon einmal hier bist, kannst du dich auch nützlich machen.“ Rye sah den Älteren verwundert an. „Wie?“ „Du wirst mir nachher den Rücken freihalten. Als meine persönliche Leibwache.“, entgegnete dieser im Befehlston, während er ihn mit einem strengen Blick musterte. Rye glaubte, er hätte sich verhört. Kurz schob er ungläubig die Augenbrauen zusammen, bevor sich dann aber ein breites Grinsen auf seine Lippen schlich. „Sie wollen Ihr Leben wirklich in meine Hände legen?“, fragte er halb lachend. In Gedanken fragte er sich jedoch, wofür das überhaupt nötig sein würde. Eben hatte der Kerl noch behauptet, er könne gut auf sich selbst achten - und nun brauchte er plötzlich eine Leibwache? Rye ahnte Schlimmes, während der Boss ihn nur vielsagend anlächelte und erwiderte: „Willst du mir damit jetzt etwa verdeutlichen, dass du damals doch gelogen hast, als du mir deine Loyalität geschworen hast?“ Rye starrte den Boss eine Weile wortlos an. Analysierte dessen Gesichtszüge genau. Er benötigte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass es sich bei dem Befehl um keinen Scherz gehandelt hatte. Dieser Mann verlangte wirklich nach seinem Schutz. Der Mann, der ihn in Wirklichkeit abgrundtief verabscheute. Ihm angeblich nicht einmal vertraute. Also war das eine Lüge? Oder wollte er ihn nur auf die Probe stellen? Rye wusste es nicht. Zudem stellte er sich die entscheidende Frage, ob er diesen unerträglichen Kerl, den er eigentlich ebenso sehr hasste, wirklich beschützen wollte. Hatte er einen Grund, ihn zu beschützen? Falls ja, welcher wäre das und was hätte er davon? Während Rye im Gesicht des Bosses nach Antworten auf diese Fragen suchte und nicht fündig wurde, fiel ihm stattdessen nach und nach etwas ganz anderes auf. „Seine Augen…“ Stechend. Kaltblütig. Erbarmungslos. Und doch fühlte sich Rye auf unerklärliche Weise so sehr von ihnen in einen Bann gezogen, dass er für einen kurzen Moment glaubte, er würde Gin in die Augen schauen. Und auf einmal gerieten alle Zweifel in Vergessenheit. Es gab keine offenen Fragen mehr, sondern nur noch eine klare Antwort: Ja, er wollte ihn beschützen. Er musste ihn beschützen. Wie von selbst ging Rye auf die Knie und beobachtete dabei, wie sich das vertraut grüne Augenpaar überrascht weitete. Er legte eine Hand auf seine Brust und senkte leicht den Kopf, bevor er versprach: „Nein, Sir. Sie können sich auf mich verlassen.“ Stille breitete sich aus. Sie war voller Anspannung. Rye hörte Schritte, die langsam auf ihn zukamen und schließlich vor ihm stehen blieben. Er starrte auf das schwarze, glänzende Paar Schuhe des Mannes, als sich kurz darauf vorsichtig eine warme Hand auf seine Schläfe legte. Die anfangs sanfte Berührung verwirrte Rye, doch er zuckte innerlich zusammen, als sich die rauen Finger in seinen Haaren verkrampften. Ein Finger wanderte unter sein Kinn und hob dieses an, sodass sich Ryes Blick mit dem des Bosses traf. Die grünen Augen sahen streng auf ihn herab. Rye konnte seinen sehnsüchtigen Gesichtsausdruck in ihnen erkennen. Doch nicht einmal dann wurde er sich dessen vollkommen bewusst. Er spürte sich selbst nicht mehr. Als befände er sich im Trancezustand und er wusste nicht, wie er sich aus diesem wieder befreien sollte. „Gut.“ Die Stimme des Bosses brach unverhofft das Schweigen und holte Rye wieder zurück in die Realität. „In einer halben Stunde in Saal 3. Sei pünktlich.“ „Ja, Sir.“ Danach lockerte der Ältere seinen Griff und wandte sich ab. Diesmal drehte er sich nicht nochmal um und ließ Rye allein auf der Toilette zurück. Kaum hatte der Boss den Raum verlassen, sackte Rye auf dem gefliesten Boden zusammen. Wie gebannt starrte er auf die geschlossene Tür, sich nicht darüber im Klaren, was gerade passiert war. „Was… war los mit mir… wieso habe ich…“ Rye konnte sich sein Verhalten nicht erklären. Wie hatte er seinen Stolz und seine Würde so fallen lassen können? Und das vor einem Menschen, den er eigentlich hasste. Kopfschüttelnd fasste sich Rye an die Schläfe. Er schämte sich für sein unterwürfiges Verhalten. Doch nun war er gezwungen, sein Wort zu halten. „Wie es aussieht, kann ich jetzt wohl doch an der Konferenz teilnehmen…“, dachte er missmutig. Wenigstens konnte er so wieder in Gins Nähe sein. Aber das war auch das einzig Gute an der Sache. Er befürchtete, dass das möglicherweise genau so ein bitteres Ende nehmen könnte wie damals bei dem Meeting im Westin Hotel. „Am besten halte ich dieses Mal einfach die Klappe und mische mich nicht ein.“, beschloss er. Er würde nicht reden, nicht atmen, niemanden ansehen und schon gar nicht irgendwas Unüberlegtes tun. Er würde erst dann handeln, wenn das Leben des Bosses gefährdet war. Und natürlich das von Gin. Diese beiden Dinge hatten oberste Priorität, ansonsten nahm er lediglich die Rolle des stillen Zuhörers ein. „Ich sollte Gin suchen und nachher einfach mit ihm zusammen zu diesem Konferenzsaal gehen. Alleine finde ich das bestimmt nicht so schnell…“ Rye rappelte sich langsam wieder auf. Doch kaum eine Sekunde später wurde die Tür plötzlich so schwungvoll und laut aufgerissen, dass er vor Schreck in eine Lücke hinter den Toilettenkabinen flüchtete. Schnelle, ungleichmäßige Schritte erfüllten den Raum und das Kichern einer Person. „Ist das… eine Frau?“ Ryes Augen weiteten sich. Er verharrte angespannt an der Stelle und lauschte. „Bist du dir sicher?“, fragte die hohe Frauenstimme belustigt, woran Rye erkannte, dass sich noch jemand bei ihr befinden musste. „Ja, keine Sorge, hier kommt keiner rein.“, versuchte eine Männerstimme die Frau zu beschwichtigen. „Und außerdem… kann man abschließen.“ Rye lief es eiskalt den Rücken herunter. „Bitte nicht.“, flehte er gedanklich, doch kurz darauf hörte er schon, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Jetzt saß er in der Falle. „Zum Glück. Wenn mein Vater das wüsste, würde er mich lynchen.“ Die Frau klang sowohl erleichtert als auch unsicher. „Dich wohl eher nicht, aber mich.“ Er schien ihr einen Kuss zu geben. Für eine Weile war es still und Rye konnte nur hin und wieder das Rascheln von Kleidung hören. Als der Kuss scheinbar wieder beendet war, entwich der Frau ein Stöhnen. Wieder Stille. „Was hast du denn?“, fragte die Männerstimme überrascht. „Ich weiß nicht… ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann. Was, wenn es doch jemand herausfindet?“ „Unsinn, Liebling. Wer sollte es herausfinden? Hier ist niemand. Und es wird bestimmt nicht auffallen, wenn wir kurz weg sind.“, sprach der Mann beruhigend auf sie ein, wobei Rye ihn am liebsten unterbrochen und sich bemerkbar gemacht hätte. Schön wärs, wenn die beiden gerade wirklich die Einzigen im Raum wären. „Und du weißt doch: The snack you eat secretly is more tasty, after all.“ Obwohl der Mann dies leise sagte, konnte Rye es klar und deutlich verstehen. Er erschauderte, als er erkannte, dass ein Hauch Wahrheit hinter den Worten verborgen war. Danach erfolgte von der Frau wieder ein leises Kichern. Eine der Türen von den Kabinen wurde geöffnet und fast im selben Moment wieder zugeschmissen. Mit einem weiteren Schreck musste Rye beschämt feststellen, dass das Paar genau die letzte Kabine ausgewählt hatte, die seinem Versteck am nächsten war. Die dünne Trennwand hinter ihm rüttelte kurzzeitig, als scheinbar jemand kraftvoll dagegen gedrückt wurde. Er hörte den schweren Atem der Frau, als befände er sich direkt neben ihr. Ihr Atem wandelte sich zu einem lustvollen Stöhnen um, welches hin und wieder unterbrochen wurde, wenn ihr Liebhaber ihr anscheinend einen leidenschaftlichen Kuss gab. Inzwischen würde sich Rye am liebsten in Luft auflösen. Er schüttelte den Kopf und versuchte, die Geräusche auszublenden. „Ich sollte die Chance nutzen und verschwinden.“, riet er sich, bevor er leise aus seinem Versteck hervorkam und zur Tür schlich. Doch vor dieser blieb er dann ungläubig stehen. „Das ist ein schlechter Scherz, oder?“ Der Schlüssel im Schloss war verschwunden. Dieser Typ hatte ihn wahrscheinlich eingesteckt. „Scheiße!“ Rye fasste sich an die Stirn und warf der besetzten Kabine anschließend einen finsteren Blick zu. Er wollte es nicht wahrhaben, dass er gerade wirklich auf einer öffentlichen Toilette eingesperrt war. Noch dazu mit einem Pärchen, welches der Meinung war, ihre intimen Angelegenheiten unbedingt hierher verlegen zu müssen. Konnte der Tag eigentlich noch schlimmer werden? „Ich könnte einfach die Tür einschlagen…“, kam es ihm in den Sinn. Aber das wäre wohl definitiv zu auffällig und würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. „Schlösser knacken kann ich nicht…“ Er unterdrückte ein Seufzen. Vielleicht könnte er Gin einfach eine SMS schicken und ihn um Hilfe bitten. Begeistert von diesem neuen Einfall holte Rye sein Handy hervor und wählte Gin in seiner Kontaktliste aus. Doch als er die Nachricht eintippen wollte, verharrte sein Finger in der Luft. „Ich kann ihm doch nicht schreiben, dass ich auf der Toilette eingesperrt bin. Was soll er dann bitte von mir denken?“ Das wäre viel zu peinlich. Zudem wollte er seinem Geliebten nicht noch mehr Ärger machen, als er heute ohnehin schon angerichtet hatte. Also blieb als einzige Möglichkeit: abwarten. Rye hoffte, dass die beiden keine Ewigkeit brauchen würden und der Mann das vorhin ernst gemeint hatte, als er sagte, sie würden nur kurz weg sein. Sonst könnte es mit der Zeit ziemlich knapp werden. „Zur Not muss ich doch die Tür einschlagen.“, dachte er ironisch und ging anschließend leise zu seinem Versteck zurück. Bis das hier vorbei war, musste er sich irgendwie auf andere Gedanken bringen. Aber das war gar nicht so einfach, wenn es sonst nichts anderes in der Nähe gab, was ihn ausreichend ablenkte. Da war nur lusterfülltes Stöhnen. Das Geräusch, wie feuchte Körper aneinander rieben. Wie Schweißperlen über die Haut rannen. Rye spürte, wie die Hitze der Frau trotz der Wand allmählich zu ihm durchdrang. Sie schien förmlich dahinzuschmelzen. Das Blut raste ihr durch die Adern und ihr Herz sprang ihr beinahe aus der Brust. Rye hielt die Luft an. „Ablenken… ich muss mich ablenken…“, ermahnte er sich mehrmals. Verzweifelt sah er sich in der schmalen Ecke um und erblickte nichts weiter als blanke, langweilige Fliesen. Er fing an, sich hilflos ausgeliefert zu fühlen und fragte sich, ob er das wirklich bis zum bitteren Ende durchhalten würde. Das Einzige, was vielleicht noch zur Ablenkung diente und woran er sich klammern konnte, war sein Handy. Auch wenn er es sonst nur benutzte, um mit Gin zu schreiben oder zu telefonieren. Als Rye einen Blick auf das Display warf, sah er, dass er zufälligerweise vor drei Minuten eine neue Nachricht von dem Silberhaarigen erhalten hatte.   [ Wo bist du? ]   , wollte er wissen. Scham stieg erneut in Rye auf, als er mit dem Gedanken spielte, Gin seinen derzeitigen Aufenthaltsort doch zu verraten. Dann würde dieser sofort hierher kommen und die Qual hätte ein Ende. „Nein, da muss ich jetzt allein durch.“, dachte Rye fest entschlossen, bevor er Gins SMS ausweichend beantwortete:   [ Wir sehen uns in einer halben Stunde. ]   Rye musste bei der Vorstellung schmunzeln, wie Gins Gesichtsausdruck wohl aussehen würde, sobald er die Nachricht las. Zum einen ganz verärgert darüber, dass der Schwarzhaarige ihm einfach ausgewichen war. Doch zum anderen würde er sich bestimmt auch fragen, wie dieser das gemeint haben könnte. Ob er nachher sehr überrascht sein würde? „Wenn er jetzt hier wäre, hätte ich wenigstens eine Ablenkung.“, schoss es Rye durch den Kopf, bemerkte anschließend jedoch, dass dieser Gedanke den Umständen entsprechend gewaltig falsch klang. Doch davon befreien konnte er sich dennoch nicht. Die Vorstellung gefiel ihm. Sehr sogar. „Ob wir dann auch…“ Er warf seinen Blick über die Schulter zur Wand und als er sich bewusst wieder auf das Geschehen innerhalb der Kabine konzentrierte, nahm er wahr, wie die Wand im gleichmäßigen Rhythmus hinter ihm bebte. Er konnte hören, wie das Glied des Mannes tief in die junge Frau eindrang und ihr dabei ein abgehaktes Stöhnen über die Lippen drang. Wieder und wieder. Rye öffnete die Augen, sich nicht daran erinnernd, sie überhaupt geschlossen zu haben. Er starrte auf die weißen Fliesen vor sich und krallte seine Hand, die nach unten gewandert war, in den Stoff seiner Hose. Auch ohne an sich herabsehen zu müssen, wusste er mit Sicherheit, was sich ihm gerade voller Energie entgegenstreckte und nach Aufmerksamkeit verlangte. Seine Hand begann zu zittern. Er konnte das unmöglich tun. Nicht hier. Nicht in dieser Situation. Doch wenn er sich nicht darum kümmerte, könnte das sehr unangenehme Folgen haben… Es gelang ihm nicht mehr, eine Entscheidung zu fällen, denn Lust und Verlangen übermannten ihn wie eine unaufhaltsame Flut und vernebelten seinen Verstand. In seinen Ohren rauschte es. Dunkelheit hüllte ihn ein. Hielt ihn gefangen. Alles, was er spüren konnte, war seine pochende Erregung. Plötzlich spielte nichts anderes mehr eine Rolle. Er musste es tun. Jetzt. Sofort. „Gin…“, hauchte Rye gedanklich. Er lockerte seine Hand, öffnete den Reißverschluss seiner Hose und umfasste schließlich sein steifes Glied. „Ich… will ihn halten… ihn an die Wand pressen und… seinen entblößten Körper berühren…“ Er begann den Punkt zu massieren, bewegte seine Finger auf und ab… „Ich will in ihm sein… mich bewegen… ihn erobern… tiefer… schneller…“ Rye hob seine freie Hand zu seinem Mund und biss in sein Handgelenk, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Er stellte sich vor, den Silberhaarigen zu küssen und seine Zunge in dessen feucht-heiße Mundhöhle zu stoßen. So doll, dass ihm ein ersticktes Keuchen entwich und er nahezu vergessen würde zu atmen. „Ich… will… sein Blut… trinken…“ Rye drückte die Zähne fester in seine steinerne Haut. Sein ganzer Körper vibrierte. Das Verlangen hatte die völlige Kontrolle über ihn. In seiner Vorstellung sah er Gins bildschönes, errötetes Gesicht. Tränen glitzerten in seinen Augen, die nichts als pure Lust widerspiegelten. Sie liefen ihm über die Wangen. Rye leckte jede Einzelne von ihnen auf und ließ sich den salzigen Geschmack auf der Zunge zergehen. Er verteilte ein paar Küsse in Gins Halsbeuge, bevor er seine Zähne in die zarte Haut rammte und das dahinter verborgene Blut gierig in sich aufnahm. Bisher kannte er den wahren Geschmack nicht und konnte diesen nur anhand des süßen, verführerischen Dufts erahnen. Doch das genügte. Rye bewegte seine Hand schneller auf und ab, während er das Tempo der Stöße in seiner Vorstellung ebenso erhöhte und seinen Geliebten in neue Höhen trieb. Immer wieder knallte dieser mit dem Rücken gegen die Wand. Stöhnte vor Schmerz und Vergnügen. Krallte seine Finger in Ryes Schulterblätter. Vergaß sich selbst und alles andere um sich herum. Irgendwann spürte Rye, wie sein Körper erzitterte und folglich eine kalte Flüssigkeit in seine Hand spritzte. Das Bild vor seinem inneren Auge verschwand und seine Sicht färbte sich rot. Er fühlte sich noch immer von der Realität gelöst, weshalb er nicht merkte, wie seine Beine ihren Halt verloren und er erschöpft zu Boden sank. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Fliesen ab, wobei sein Kopf leicht gegen die harte Wand knallte, als er ihn senkte.   Rye wusste nicht, wie viele Minuten verstrichen. Es kam ihm nur wie ein kurzer Moment vor. Die Benommenheit ließ allmählich nach und die schwarz-roten Punkte vor seinen Augen lösten sich in Nichts auf. Rye blinzelte desorientiert und versuchte langsam aufzustehen, was ihm aber nur schwer gelang. Es war fiel zu eng und seine Kraft in den Beinen war noch nicht vollständig zurückgekehrt. Seine Knie zitterten und er musste sich an der Wand abstützen. Da bemerkte er jedoch mit Schreck seinen Samenerguss, welcher in kleinen Rinnsalen an den Fliesen hinunter geflossen war und ihn daran erinnerte, was er getan hatte. Er wandte peinlich berührt den Blick von der Sauerei ab und schloss hastig seine Hose. „Das ist unverzeihlich…“ Rye fühlte sich, als hätte er eine schwere Sünde begangen. Und gewissermaßen stimmte das auch. Denn er hatte Gins Unterlegenheit in seiner Vorstellung hemmungslos ausgenutzt und mehr oder weniger bewusst nach dessen Blut verlangt. Wie sollte er ihm nachher bloß wieder unter die Augen treten? „Er wird es nicht erfahren… keiner hat es gesehen…“, beruhigte sich Rye gedanklich. Das würde für immer ein Geheimnis bleiben. Auch wenn es ihm bereits peinlich genug war, dass er der Einzige war, der dieses Geheimnis kannte. Er schämte sich vor sich selbst. Und er wusste nicht, wie er das so schnell vergessen sollte. „Gleich werde ich ja schon mal genug Ablenkung bekommen…“, dachte er ironisch, wobei ihm einfiel, dass er die Zeit völlig aus den Augen verloren hatte. Ein Schock durchfuhr ihn, als er die Uhrzeit auf seinem Handy überprüfte: Bis zum Beginn der Konferenz waren es keine fünf Minuten mehr. Rye lauschte angespannt, doch es war kein Geräusch mehr zu vernehmen. War das Paar etwa schon weg? Um sich zu vergewissern, warf der Schwarzhaarige vorsichtig einen Blick um die Ecke. Die Tür der Kabine stand tatsächlich offen, weshalb Rye den Mut fasste, sein Versteck zu verlassen. Auf dem Weg zum Waschbecken stellte er fest, dass die Kabine leer war. Erleichterung breitete sich in ihm aus. Nachdem er sich die Hände gewaschen und nochmal überprüft hatte, ob seine Kleidung richtig saß, nahm er schnell ein Tuch und entfernte die Samenreste von der Wand, sodass man es nicht unbedingt auf den ersten Blick entdecken würde. Um alles gründlich wegzuwischen, blieb ihm leider keine Zeit mehr. Zum Glück steckte der Schlüssel wieder im Türschloss. Rye verließ die Toilette und sprintete in unmenschlicher Geschwindigkeit zurück zum Saal, in der Hoffnung, dort Gin oder den Boss noch zu erwischen. Doch Fehlanzeige. Beide schienen nicht mehr da zu sein und den ganzen Saal zu durchsuchen, würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Noch zwei Minuten. Das musste noch zu schaffen sein. Diesmal versuchte sich Rye nur auf Gins Geruch zu konzentrieren, da dieser leichter aus der Masse herauszufiltern war. Selbst jetzt noch, wo sein Geliebter den Saal längst verlassen hatte, konnte Rye dessen süßen Duft noch so intensiv wahrnehmen, als befände er sich direkt neben ihm. Schnell verfolgte er die Spur und war froh, dass diese ihn durch einen menschenleeren Treppenflur führte. So war er nicht gezwungen, sich in einem menschlichen Tempo fortzubewegen und konnte deshalb den gesuchten Treffpunkt noch gerade rechtzeitig erreichen. Vor ihm betraten gerade zwei ältere Männer den Raum. Rye passte sich unauffällig ihrem Schritttempo an und folgte ihnen. Kaum hatte er den etwas kleineren Saal betreten, schlossen zwei Bedienstete die Türen hinter ihm. Das Erste, was Rye wahrnahm, war der beinahe unerträgliche Zigarettengestank. Es war relativ dunkel, was unter anderem daran lag, dass die Lampe an der Decke nur schwach leuchtete und die Wände dunkelblau gestrichen waren. Die Fenster wurden allesamt von Vorhängen verdeckt, sodass niemand herein, aber auch niemand hinausschauen konnte. In der Mitte befand sich ein riesiger, runder Tisch. Die Stühle schienen genau abgezählt zu sein, da sich an jedem Platz ein volles Weinglas befand. Auf einem kleineren Tisch an der Seite standen noch mehr Weinflaschen auf einem Tablett und daneben ein paar unbenutzte Aschenbecher. Ansonsten gab es nicht mehr viel an Einrichtung. Insgesamt wirkte die Atmosphäre im Raum sehr düster, fast unheimlich auf Rye, was durch die schwarz gekleideten Gestalten mit den todernsten Gesichtern noch verstärkt wurde. Obwohl dies nach Ryes Wissensstand eigentlich eine Art friedliches Treffen sein sollte, machte es auf ihn eher den Eindruck, als würden sich alle Anwesenden insgeheim gegenseitig nach dem Leben trachten. Die Wenigen, die miteinander ein leises Gespräch führten, hatten ihre neiderfüllten Blicke nebenbei fest auf eine andere Person gerichtet. Der Zigarettenqualm wich aus ihren Mündern, während sie lästerten. Rye hatte jetzt schon genug. Am liebsten würde er direkt auf dem Absatz kehrtmachen und aus dem Saal flüchten. Aber das war nicht möglich. Er durfte sein Wort, welches er dem Boss gegeben hatte, nicht brechen. Dieser befand sich bereits auf seinem Platz und musterte Rye mit einem ungeduldigen Blick. Links neben ihm konnte der Schwarzhaarige Gin entdecken, doch als er ihm ein leichtes Lächeln zuwerfen wollte, bemerkte er, dass er inzwischen von jedem im Saal angestarrt wurde. Unbehagen beschlich Rye. Doch dann erkannte er den Grund für das Anstarren: Er war der Einzige, der noch nicht Platz genommen hatte. Tatsächlich gab es noch genau einen freien Stuhl. Allerdings neben dem Boss. Während Rye innerlich ein verzweifeltes Seufzen entwich, huschte er mit schnellen Schritten zu seinem Platz und setzte sich wortlos hin. Er hörte, wie einer der Anwesenden kaum merklich lachte. Ein paar andere schmunzelten amüsiert. Im Augenwinkel konnte Rye sehen, wie sich Gin an die Stirn fasste und unauffällig den Kopf schüttelte. „Das fängt ja gut an.“ Rye senkte verlegen den Blick zur Tischplatte, wo ihm auch das für ihn bestimmte Weinglas auffiel. Er bekam eine böse Vorahnung. Im nächsten Moment räusperte sich der Boss an seiner rechten Seite, bevor er mit sicherer, fester Stimme begann: „Nun, da wir jetzt vollzählig sind, können wir ja beginnen. Ich heiße Sie alle wie jedes Jahr herzlich Willkommen und freue mich, dass wir uns auch in diesem Jahr über eine weitere, gemeinsame Entwicklung unserer Geschäfte unterhalten können.“ Die ganze Konferenz dauerte ungefähr eine Stunde. So genau wusste es Rye nicht. Aber es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor und mit jeder weiteren Sekunde, die verstrich, sehnte er sich mehr und mehr nach einem Schlusssatz, der das ganze Hin und Her beenden würde. Doch was dies betraf, wurde er immer wieder enttäuscht. Keiner wollte ein Ende finden, jedes Mal fiel irgendjemandem noch etwas anderes ein oder war mit vorherigen Vereinbarungen nicht zufrieden, sodass das entsprechende Thema nochmal neu aufgerollt werden musste. Ein bis zwei Mal kam es fast zu einer Auseinandersetzung, jedoch war es dem Boss durch geschickte Worte stets gelungen, eine Eskalation rechtzeitig zu verhindern. Auch wenn der Punkt dann trotzdem an ihn ging. Generell schien alles so zu verlaufen, wie er es wollte. Alles musste sich nach ihm richten. Alles musste so gemacht werden, wie er es am besten fand. Komischerweise waren die anderen Anwesenden größtenteils immer mit allem einverstanden und sagten nur selten etwas dagegen. Viele von ihnen wirkten auf Rye teils sogar eingeschüchtert und mit der Zeit fiel ihm auf, dass er nicht der Einzige war, der sich bewusst zurückhielt. Es war so, als gäbe es keine andere Wahl, weil die Folgen zu fatal wären. In gewisser Weise schienen all diese Geschäftsleute vom Boss abhängig zu sein. Als seien sie nur winzig kleine Teile einer Maschine, die zur Vervollständigung zwar notwendig waren, aber an sich keinen großen Einfluss auf die Funktion nehmen konnten. Das Einige darüber sehr erbost waren, bemerkte Rye relativ schnell an ihrer Tonlage oder ihrem Gesichtsausdruck, auch wenn es nur ein gereiztes Zucken der Mundwinkel war. Es war ein Leichtes für Rye, fast jeden der Männer zu durchschauen und ihre wahren Gedanken zu erraten. Und ein Gefühl sagte ihm, dass dem Boss dies ebenso gelang, es ihm aber nicht weiter kümmerte, was die anderen dachten. Die ganze mühsam beibehaltene gute Stimmung in Kombination mit den hintergründigen Motiven, die niemand aussprach, erzeugte eine drückende, angespannte Atmosphäre im Raum, welche Rye schon nach wenigen Minuten nicht mehr aushielt. Je mehr Zeit verging und je mehr Worte ausgesprochen wurden, desto unwohler fühlte er sich. Als stände jemand hinter ihm, der ihn mit einem Strick erwürgte. Und er konnte nichts tun, geschweige denn um Hilfe schreien. Die Menschen im Raum stellten allein eigentlich keine gefährliche Bedrohung für ihn dar – generell gab es hier drin nur einen Menschen, den er fürchtete – doch es war die Stimmung, die sie verbreiteten und die Rye innerlich fast wahnsinnig werden ließ. Er hatte sich seit Beginn keinen Zentimeter gerührt. Nicht geblinzelt. Nicht einmal einen Atemzug getan. Er konnte sich gut vorstellen, wie dieses Verhalten möglicherweise auf andere wirkte, doch dadurch schien er für die meisten auch unsichtbar zu wirken. Keiner beachtete ihn. Nur sehr selten wurde er von jemandem angesehen. Und die Blicke, die sich versehentlich auf ihn verirrten, wendeten sich blitzschnell wieder ab. Dem Inhalt der Gespräche schenkte Rye kaum Beachtung, da ihn das meiste sowieso nicht betraf, jedoch wenn Gin ab und zu etwas beizutragen hatte, hörte er ihm genau zu. Er empfand es irgendwie als bewundernswert, wie überzeugend sein Geliebter bei jeder Silbe klang und er sich nicht von Gegenargumenten aus der Bahn werfen ließ. Zum Ende hin fiel Rye immer weiter in einen Trancezustand und das Meiste rauschte an ihm vorbei. Erst, als sich irgendwann alle gleichzeitig von ihren Stühlen erhoben, wurde ihm wieder bewusst, wo er sich gerade befand und dass er ebenso aufstehen musste. Jedoch nicht, um zu gehen. Sondern um anzustoßen. Rye nahm zögerlich das Weinglas in die Hand und betrachtete das Gebräu darin mit einem angewiderten Gesichtsausdruck. Wenn er sich das in den Rachen kippte, würde er sich mit Sicherheit vor allen Anwesenden blamieren. Doch was sollte er dann tun? Schließlich musste er den Wein trinken. Fast im selben Moment nahm jeder einen Schluck aus seinem Glas. Rye behielt den Inhalt einfach in seinem Mund, ohne ihn herunterzuschlucken. Es fühlte sich schon nach wenigen Sekunden widerlich auf der Zunge an, sodass er es am liebsten sofort wieder ausgespuckt hätte. Aber er versuchte sich nichts anmerken zu lassen. In ein paar Minuten würde er diese Hölle hoffentlich verlassen können. Zum Glück war bis jetzt nichts Außergewöhnliches passiert, was den Abend in einem Desaster hätte enden lassen können. Doch gerade, als sich Rye in Sicherheit wiegen wollte, begann der Boss neben ihm plötzlich in einem hochmütigen Tonfall: „Fujiwara, mein Freund…“ Er richtete seinen Blick auf den Besitzer dieses Namens. Die Anspannung im Saal schien sich mit einem Mal plötzlich zu verdoppeln. Die Augen des Bosses blitzten diabolisch, als er fortfuhr: „Bitte sag mir doch, auf was wir gerade angestoßen haben.“ Stille. Alle Anwesenden tauschten beklommene, unauffällige Blicke miteinander aus, während sich ihr Herzschlag von Sekunde zu Sekunde erhöhte. Der Puls von diesem Fujiwara schien vor Angst besonders hoch zu schlagen. Doch seine Miene blieb ausdruckslos, als er mit unsicherer Stimme erwiderte: „Nun, auf weiterhin gute Zusammenarbeit, nehme ich an…“ Der Boss setzte ein amüsiertes Grinsen auf. Er stellte sein Glas lautlos auf dem Tisch ab und sagte: „Ach wirklich? Weißt du, ich habe mir neulich erlaubt, die Teile der Waffen, die du mir jeden Monat zukommen lässt, überprüfen zu lassen. Dabei konnte ich feststellen, dass die Qualität technisch bezogen sehr nachgelassen hat. Anders ausgedrückt: Du jubelst mir schon seit einer gewissen Zeit Billigware unter, verlangst dafür aber dennoch immer wieder eine höhere Geldsumme. Du selbst hingegen scheinst anderen gegenüber nicht mehr in der Lage zu sein, deine eigenen Rechnungen zu bezahlen. Zumindest die, die dein Waffengeschäft betreffen. Seltsamerweise bist du, wie ich aus sicherer Quelle erfahren konnte, weder bankrott noch hast du bei jemandem einen Berg Schulden auszugleichen. Du investierst viel. Sehr viel sogar. In Projekte von gewissen Akteuren, die mich schon ein wenig in Sorge versetzen. Ich wusste gar nicht, dass du seit Neuestem mit der Konkurrenz zusammenarbeitest. Hältst du mich etwa für bescheuert und dachtest, ich merke das nicht?“ Sein Gesprächspartner konnte sich zu diesen Vorwürfen nicht mehr äußern. Ryes Augen weiteten sich vor Schock, als der Mann plötzlich kreidebleich im Gesicht wurde und anfing, wild zu zittern. Seine Hand wanderte zu seinem Hals. Er schien zu ersticken. Im Augenwinkel sah Rye, wie das Lächeln des Bosses mit jedem verzweifelten Versuch des Mannes, nach Luft zu schnappen, immer breiter wurde. „Nein, mein lieber Fujiwara, wir beide haben heute nicht auf gute Zusammenarbeit angestoßen.“, meinte er in gespielt bedauerlicher Tonlage und beobachtete mit all den anderen, wie der Mann schließlich zu Boden fiel. Sein Herz hörte auf zu schlagen. Alle Blicke – mit Ausnahme von Gin und dem Boss – waren entsetzt auf den toten Leichnam gerichtet. Niemand traute sich, irgendwas zu sagen. Als sie das Geschehene scheinbar endlich mit den Augen verarbeitet hatten, richteten sie ihren Blick geschlossen auf Renya. In vielen Gesichtern lag so etwas wie Todesfurcht, aber auch eine Mischung aus Wut und Verachtung. Dennoch brachte niemand ein Wort über die Lippen. Selbst Rye musste sich eingestehen, dass das, was gerade passiert war, ihm ein wenig Angst machte. Er konnte nicht einmal genau sagen, was überhaupt passiert war und wie es hatte passieren können. Der letzte klar denkende Teil seines Verstandes teilte ihm irgendwo im Hinterkopf mit, dass der Mann offensichtlich vergiftet wurde und das höchstwahrscheinlich mithilfe des Weins, den er kurz vorher getrunken hatte. Doch das perfekt abgestimmte Timing bis zu seinem eintretenden Tod war wohl die schwerwiegendere Ursache, die alle vor Schock versteinern ließ. Da brach der Boss auf einmal das Schweigen. „Ich denke, das war soweit alles für heute. Wenn die Herren uns dann entschuldigen würden.“, meinte er in einer unbesorgten Tonlage, als hätte der Mord eben gar nicht stattgefunden. Rye sah ihn überrascht an, war insgeheim aber froh darüber, dass er anscheinend endlich hier raus konnte. Er folgte Gin und dem Boss mit zügigen Schritten zur Tür, erstarrte dann jedoch, als jemand hinter ihnen schrie: „Mir reicht es jetzt! Du kannst uns nicht ständig alle nach deiner Nase tanzen lassen und dann auch noch jeden beseitigen, der sich weigert, dieses Spielchen länger mitzuspielen! Hältst du dich etwa für Gott oder was?!“ Rye hörte, wie die wütende Stimme immer näher kam. Als er sich umdrehte, sah er, wie sich ein Mann beim Gehen eine volle Weinflasche vom Tisch schnappte und dann anfing zu rennen. Seine Augen waren gezeichnet von tiefer Mordlust. „Woher nimmst du dir das Recht, über uns zu richten?!“ Der Mann erhöhte sein Schritttempo weiter. Schwang die Weinflasche dabei hoch in die Luft. Er dachte wohl, er wäre stark genug, um den Schwarzhaarigen einfach beiseite zu stoßen. Doch da hatte er sich geschnitten. Rye schnellte nach vorn, um dem Kerl den Weg zu versperren und sein Handgelenk zu ergreifen. Mit Leichtigkeit drehte er dieses herum, sodass dem Mann ein schmerzerfülltes Keuchen entwich und er die Flasche fallen ließ. Er schaute Rye durch seine verengten Augen hasserfüllt an, während dieser dagegen keine Miene verzog. Was nun? Sollte er ihn etwa töten? Rye wartete auf einen Befehl, der aber nie kam. Wie fremdgesteuert zerdrückte er das Handgelenk des Mannes immer weiter, bis die Knochen ein knackendes Geräusch von sich gaben und noch ein Schrei erfolgte. Gerade, als er seine andere Hand hob und sie um den Hals des Mannes schließen wollte, sprach eine autoritäre Stimme hinter seinem Rücken: „Das reicht, Rye.“ Erschrocken wandte Rye den Blick und schaute in das strenge Gesicht seines Bosses. Er hatte mit einem anderen Befehl gerechnet. War das wirklich sein Ernst? Dieser Mann hatte nicht den Tod verdient? Die Fragen in seinem Kopf brachten Rye zum Zögern. „Allerdings… das ist das erste Mal, dass er mich mit meinen Codenamen angesprochen hat…“ Das erste Mal, dass er ihn nicht als ein abscheuliches Wesen bezeichnet hatte. „Lass ihn los.“ Rye lockerte seinen Griff auf der Stelle, ohne sich zu dem Kerl umzudrehen. Er vernahm nur, wie dieser schwer atmend von ihm zurückwich. Der Schwarzhaarige ließ seinen Blick abwechselnd zwischen Gin und dem Boss hin und her wandern. Ihre Gesichtsausdrücke ähnelten sich zwar, und doch unterschieden sie sich so voneinander. Die Augen des Bosses schienen von völliger Leere gefüllt zu sein, während sich in Gins wiederum Dankbarkeit sowie ein Hauch von Erleichterung widerspiegelte. „Auf dieser Welt gibt es keinen Gott.“, sagte der Boss plötzlich tonlos, bevor er sich wegdrehte und den Raum verließ. Rye wartete, bis sich Gin ebenso in Bewegung setzte und erst, als er sich sicher war, dass keine Gefahr mehr drohte, folgte er ihnen durch die Tür und ließ alles andere hinter sich zurück. Draußen überkam ihm umgehend eine große Welle der Erleichterung. Es war vorbei. Er hatte es überstanden. Auch wenn das Ergebnis weniger erfreulich war. Den Boss hingegen schien das völlig kalt zu lassen. Rye beobachtete, wie dieser mit Gin vor ihm lief und die beiden sich im leisen Ton unterhielten. „Willst du ihm das wirklich einfach so durchgehen lassen?“, fragte Gin mit Skepsis in der Stimme, woraufhin der Boss ironisch erwiderte: „Natürlich nicht. Aber darum kümmere ich mich später. Ich wollte es nicht übertreiben und die edlen Herren unnötig verärgern. Sie sind ja durchaus noch von Nutzen.“ Anschließend drehte er sich mit einem zufriedenen Lächeln zu Rye um und sagte zu ihm: „Das hast du gut gemacht.“ Der Schwarzhaarige blinzelte überrascht. „War das etwa… ein Lob?“ Für einen kurzen Moment glaubte er so etwas wie Stolz zu fühlen. Er war stolz auf sich selbst. Zum ersten Mal schien er in den Augen des Bosses etwas richtig gemacht zu haben. Er hatte ihn weder enttäuscht noch einen Grund geliefert, herablassend zu sein. „Vielleicht… hasst er mich ja doch nicht allzu sehr…“, hoffte Rye. Aber warum hoffte er das? Warum war es ihm auf einmal so wichtig? Eigentlich hasste er diesen Mann doch auch. Diesen uralten, arroganten, kaltherzigen Mann, der einen Haufen Geheimnisse mit sich herumschleppte und diese nicht aufzudecken vermochte. Und dennoch wollte Rye am liebsten alles über ihn herausfinden. „Du darfst jetzt gehen.“, fügte der Boss noch hinzu. Die Wortwahl deutete zwar eher auf ein Angebot hin, jedoch hörte es sich wie ein Befehl an, welchen Rye lieber nicht missachten wollte. Er nickte und nutzte die Gelegenheit, den schnellsten Weg zur Toilette aufzusuchen. Da war noch immer dieses widerliche Zeug in seinem Mund, welches allmählich seine empfindlichen Geschmacksnerven absterben ließ. Zumindest fühlte es sich so an. Ätzend und bitter. Die Toilette war diesmal ausnahmsweise nicht leer. Jedoch war der ältere Mann glücklicherweise schon fertig mit Hände waschen und Rye musste nur kurz warten, bis dieser die Örtlichkeit wieder verließ. Kaum war er allein, beugte er sich über das Waschbecken und spuckte den Wein aus. Dabei entwich ihm ein angewidertes Keuchen. Ironischerweise handelte es sich um roten Wein, sodass es beinahe so aussah, als würde er Blut spucken. Doch das machte keinen Unterschied. Denn selbst als die Flüssigkeit nicht mehr in seinem Mund war, verschwand der ekelhafte Geschmack trotzdem nicht und biss sich tief in seine Rachenhöhle. Irgendwie musste er diesen Geschmack schnell wieder loswerden. Doch wie? Würde Wasser ausreichen? Noch bevor Rye diese Option ausprobieren konnte, hörte er, wie die Tür geöffnet wurde und jemand hereinkam. Er verdeckte seinen Mund mit der Hand und drehte schnell den Wasserhahn auf. Als er den Kopf allerdings zur Tür drehte, entspannte er sich sofort wieder und ließ seine Hand sinken. „Woher wusste er, dass ich hier bin?“, überlegte Rye, während die Person auf ihn zukam. „Obwohl… schwer zu erraten war das nicht.“ „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Gin und blieb neben dem Waschbecken stehen. „Ja, der Wein hat nur ziemlich furchtbar geschmeckt.“, gestand Rye lächelnd und spülte seinen Mund danach mit Wasser aus, welches eine leicht rote Färbung annahm, als er es wieder ausspuckte. Nicht mal das konnte den schrecklichen Geschmack gänzlich vertreiben. Er spülte noch ein paar Mal. „Hey, der Rotwein war nicht gerade billig und du verschmähst ihn.“, neckte Gin ihn, was Rye aber nicht beachtete und einfach weiter seinen Mund ausspülte. Er kam sich total bescheuert vor. Es half kein bisschen. Der Geschmack klebte förmlich an seiner Mundschleimhaut. Schließlich gab er es nach etlichen erfolglosen Versuchen auf und drehte den Wasserhahn wieder zu. Als er aufsah, begegnete er Gins sorgenvollem Blick. „Tut mir leid, ich hätte dich nicht ermutigen sollen, mitzukommen.“, meinte er, was Rye nicht nachvollziehen konnte. Er hätte Gin ohnehin begleitet, egal, ob dieser es ihm erlaubt hätte oder nicht. „Schon gut. So schlimm war es nicht… Abgesehen von dem Mord… das kam etwas unerwartet.“ Rye versuchte es herunterzuspielen. Dass er sich in Wirklichkeit wie in der Hölle gefühlt hatte, verschwieg er seinem Geliebten besser. „Wenn ich gewusst hätte, dass du auch an der Konferenz teilnehmen sollst, dann hätte ich dich eingeweiht.“, erwiderte dieser schulterzuckend. Rye blieb der Atem stehen. „Der Mord… war also nicht nur vom Boss geplant gewesen?“ Er wusste nicht, weshalb ihn das so überraschte. Manchmal vergaß er einfach, was für eine Art Mensch der Silberhaarige sein konnte. Ein Mensch, der dem Boss in vielen Dingen erschreckend ähnlich war. „Natürlich nicht. Ich hab schließlich auch das Weinglas präpariert.“ Gin sprach das so aus, als hätte er was ganz Alltägliches getan. „Oh…“ Rye wollte nicht sagen, was ihm auf der Zunge lag, weshalb er schnell nach anderen Worten suchte: „Aber das… war doch viel zu riskant. Was, wenn die Polizei dahinterkommt oder einer von denen redet…“ Vermutlich war das vollkommen ausgeschlossen. Der Boss würde nichts tun, was die Organisation gefährden könnte. Gins nächste Aussage bestätigte dies: „Die Polizei kommt nicht dahinter, glaub mir. Und die haben alle genug Leichen im Keller, da werden sie es sich nicht wagen, in irgendeiner Weise mit der Polizei in Verbindung zu treten. Das ist denen viel zu riskant. Im Endeffekt war es zwar offensichtlich gewesen, wer den Kerl vergiftet hat, aber hat es jemand gesehen? Kann man uns irgendwas nachweisen? Nein.“ „Stimmt wohl… dann ist ja alles gut.“ Rye zwang sich ein Lächeln auf, doch Gin durchschaute die unbekümmerte Fassade sofort. „Wirklich?“, hakte er nach. Rye nickte. Es gab tatsächlich noch etwas, was ihm ein echtes Lächeln entlockte. „Der Boss war wohl tatsächlich mal zufrieden mit mir.“, antwortete er. „Scheint so.“ Gin schaute nachdenklich zur Seite. „Er hat sich mit dir an seiner Seite erstaunlich sicher gefühlt, sonst hätte er sich nicht so leichtsinnig verhalten. Übrigens danke… dass du ihn beschützt hast.“ Der letzte Satz kam ihm schwer über die Lippen. Ryes Augen verengten sich. „Ich hab das nicht seinetwegen getan.“, stellte er klar. Wenn es nach ihm ginge, wäre dieser Kerl schon drei Mal tot. Nein, mindestens zehn Mal. „Ich weiß.“, entgegnete Gin leise. Er schien auch zu ahnen, wo das Problem lag. Aber natürlich wollte er nicht darauf eingehen, was Rye ihm nicht durchgehen ließ. „Warum stehst du eigentlich so für jemanden ein, der letztlich nur auf dich herabsieht? Dieser Mensch ist einfach unerträglich… und innerlich verdorben…“ In seinen letzten Worten mischte sich eine gewaltige Menge Hass, die seiner Stimme einen düsteren Unterton verlieh. Er senkte den Blick und ballte die Hände zu Fäusten. „Rye.“, ermahnte Gin ihn plötzlich. „Das ist genug.“ Der Schwarzhaarige blickte seinen Gegenüber eine Weile fassungslos an. Doch er ließ sich von der strengen Tonlage nicht einschüchtern. Es war ihm egal, ob er vielleicht einen empfindlichen Punkt getroffen hatte. Er konnte das nicht länger wortlos akzeptieren. Sonst würde es nie aufhören. „Nein. Ich ertrage es nicht, wie er mit dir redet, und wie er ständig versucht… dich mir wegzunehmen…“ Rye wurde zum Schluss immer leiser. Er bemerkte nicht, wie gekränkt seine Stimme klang. Doch Gin schien ihm dadurch entgegenkommen zu wollen. „Du weißt genau, dass ich das nicht zulassen würde.“ Auch wenn die Worte keinen Zweifel daran ließen, konnte Rye ihnen nicht glauben. „Auch nicht, wenn er es befehlen würde?“ Er beschloss Gin auf die Probe zu stellen. Doch dieser antwortete schneller und selbstsicherer, als er erwartet hatte. „Auch dann nicht.“ Seine Miene war ernst. Sein Blick eindringlich. Rye sah ihn mit großen Augen an. „Das heißt… du würdest dich seinem Befehl widersetzen, weil ich dir wichtiger bin?“, verdeutlichte er seine Frage nochmals, um sich zu vergewissern. Er wollte es hören. Gin sollte ihm sagen, dass er für ihn wichtiger war als der Boss. Dass es niemanden gab, der wichtiger war. Erst dann würde Rye nachlassen. Doch er erhielt keine Antwort. Nach etlichen Sekunden des Schweigens fiel ihm auf, dass Gin absichtlich seinem Blick auswich. Als er seinem Geliebten näherkam, schlich sich eine warme Röte in dessen Wangen, die Rye fast alles um sich herum vergessen ließ. Er strich mit den Fingern über Gins weiche Haut und flüsterte ihm verführerisch ins Ohr: „Du kannst es ruhig zugeben.“ Seine Zungenspitze berührte dabei zärtlich die Ohrmuschel, was Gin ein Schaudern entlockte und sein Atem ins Stocken brachte. „Er ist so leicht aus der Fassung zu bringen.“, dachte Rye triumphierend und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Seine Hand wanderte zu Gins Nacken und zog ihn ein wenig näher zu sich heran, sodass er ihm einen Kuss auf die Lippen hauchen konnte. Danach schmiegte er seinen Kopf an Gins Stirn und schaute ihm tief in die Augen. So tief, dass er sich fast in ihnen verlor. Und ein Gefühl sagte ihm, dass es bei seinem Geliebten bereits zu spät war. Rye konnte kaum widerstehen. Die Vorstellungen mit Gin, in welchen er vorhin versunken war, drängten sich unweigerlich erneut in seine Gedanken und lösten ein ungezügeltes Verlangen in ihm aus. Auf einmal wurde Rye bewusst, dass er nur noch einen Hauch davon entfernt war, diese Vorstellungen auch wahr werden zu lassen. „Aber soll ich dieses Risiko wirklich eingehen…?“ Er wusste genau, dass er das nicht tun durfte. Er durfte Gin nicht auf diese Weise für sich beanspruchen. Dafür besaß er nicht genügend Selbstkontrolle. Doch so sehr er sich das auch versuchte einzureden – es funktionierte nicht. Stattdessen hallten plötzlich ganz andere Worte in seinem Kopf wider: „Ich möchte dich doch nur glücklich machen… Das kannst du aber nicht, wenn du nicht bereit bist, auch Risiken einzugehen.“ Auch wenn der Streit schon zwei Tage zurücklag, fühlte er sich noch immer von dem Gesagten verfolgt. Gerade jetzt in diesem Moment schenkte er Gins damaligen Worten wohl mehr Glauben, als er eigentlich sollte. Weil er ihn so sehr wollte. Er wollte ihn glücklich machen. Jetzt. Und dafür musste er Risiken eingehen. Ihm blieb keine Wahl. Seine Kehle wurde immer trockener. Das Verlangen immer größer. Ein winziger Teil in ihm hoffte, dass Gin etwas sagen und ihm von seinen Vorhaben abbringen würde. Aber das geschah nicht. Erst, als Rye ihn am Handgelenk packte und in eine der Toilettenkabinen zog, erwachte der Silberhaarige aus seiner Starre. Aber längst zu spät. Rye schloss die Tür hinter sich und stützte seine Hände links und rechts neben Gin ab, welchem in diesem Moment dutzend Fragen im Gesicht standen. Die Augen vor Verwirrung weit aufgerissen, öffnete er den Mund, um etwas zu sagen. Doch der Schwarzhaarige ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen und drängte ihm einen intensiven Kuss auf. Er stellte sein Knie zwischen Gins Beine und drückte ihn an die Wand, während seine Zunge begann dessen Mundhöhle zu erkunden. Alles, was er schmeckte, was er schmecken wollte, war Gin. Inzwischen war der furchterregende Geschmack des Weines nur noch eine ferne Erinnerung für ihn. Er stöhnte in den Kuss hinein und fing nebenher an, die Knöpfe von Gins Sakko zu öffnen. „Was… tust du…“, entwich es seinem Geliebten schwer atmend, als Rye ihm kurz eine Pause zum Luft holen gönnte, nur um kurz darauf noch tiefer in seine Mundhöhle einzudringen. Er suchte nach der Nähe zu Gins Zunge und umschmeichelte sie leidenschaftlich, woraufhin er spüren konnte, wie dem Silberhaarigen ein Schauer der Lust durchbebte. Rye erschauderte ebenso und presste sich instinktiv stärker an ihn. Er streifte das Sakko über Gins Schulter und machte sich keine Sekunde später an die Knöpfe des weißen Hemds zu schaffen, welches sich darunter verbarg. Gleich würde Gin endlich vollkommen ihm gehören. Gleich würde er endlich bekommen, wonach er sich schon so lange gesehnt hatte. Nichts konnte ihn mehr davon abhalten. Er würde sich alles von Gin nehmen. Alles, was er an ihm begehrte. Es war ausweglos. „N-Nicht… Rye…“, sprach sein Geliebter mit zittriger Stimme. Doch Rye kam der Forderung nicht nach und fuhr mit seinen Liebkosungen fort. Die Reaktionen von Gins Körper zeigten ihm mehr als eindeutig, wie sehr dieser es wollte. Er konnte spüren, wie immer mehr Energie in das Glied des Silberhaarigen wanderte und es sich wohl bald in voller Länger aufrichten würde. Doch so weit kam es nicht mehr. Im nächsten Moment entriss sich Gin den Berührungen von Rye und schubste ihn von sich weg, sodass er mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand landete. Rye schaute seinen Geliebten aufgelöst an, während dieser ihn mit einem wütenden Funkeln in den Augen musterte und sich das Hemd zuhielt, um seine entblößte Brust zu verbergen. Dieser hinreißende Anblick brachte den Vampir fast erneut um den Verstand. Er drehte seinen Kopf schnell woanders hin und versuchte sich wieder zu sammeln. Als er sich über sein egoistisches Fehlverhalten im Klaren wurde, stieg Reue in ihm auf und zeichnete sich kurzerhand in seinem Gesicht ab. „Was soll das? Was ist plötzlich los mit dir?“, wollte Gin wissen. Seine Stimme klang kalt vor Entsetzen, was Rye unmittelbar einen Stich durchs Herz jagte. Obwohl er sich seiner Schuld bewusst war, ertrug er die offensichtliche Abweisung nicht. Er würde es nie ertragen können, von Gin abgewiesen zu werden. Egal aus welchem Grund. „Nichts… ich dachte… also… ich wollte nur…“ „Ja?“, bohrte Gin, während Rye das Gefühl bekam, an der Wand immer kleiner zu werden. Er konnte den Silberhaarigen nicht mal mehr in die Augen schauen. „Entschuldige. Das war rücksichtslos von mir.“, meinte er leise. Ihm fiel nichts anderes ein. Die Wahrheit würde Gin vermutlich noch mehr verärgern. Auch wenn er jetzt schon verärgert genug zu sein schien. „Bitte sei nicht sauer…“ Im Augenwinkel sah Rye, wie sich Gin schweigend das Hemd zuknöpfte und sein Sakko wieder vernünftig über die Schultern zog. „Ich werd gleich sauer, wenn ich noch einmal dieses Wort aus deinem Mund höre. Das erklärt gar nichts.“, entgegnete er dann. Ryes Lippen bebten stumm. Er konnte nur nicken. Doch irgendwas musste er sagen. Mit einer Entschuldigung würde er bei Gin nie mehr weit kommen. Also entschied er sich, ihm anders auszuweichen. „Warum muss ich das erklären? War es nicht offensichtlich, was ich von dir wollte?“ „Aber warum? Du bist doch sonst immer so rücksichtsvoll und willst nichts überstürzen. Und jetzt überfällst du mich förmlich und erwartest, dass ich mich dir einfach hingebe, obwohl du so wenig Selbstvertrauen in dir hast?“ Das Misstrauen in Gins Stimme war nicht zu überhören. Aber würde dieses Misstrauen auch lang genug anhalten, um ihn vor Ryes Motiven zu schützen? „Du hast recht, ich hab es diesmal wirklich überstürzt. Das wollte ich nicht. Aber ich muss ständig daran denken, was du letztens gesagt hast… dass ich dich nicht glücklich machen kann, wenn ich nicht bereit bin, auch Risiken einzugehen… und dass ich dich körperlich nie richtig befriedigen kann…“, gestand dieser verzweifelt. „Ich hab dir doch gesagt, dass du dir darüber keine Gedanken mehr machen musst. Sehe ich gerade in irgendeiner Weise unglücklich für dich aus?“ Rye war kurz davor, seinen Geliebten wieder anzusehen. Doch er traute sich noch nicht und schüttelte einfach kaum merklich den Kopf. Wenn Gin schon so fragte, wollte er mit Sicherheit kein Ja darauf hören. „Gib es zu, in Wahrheit bist du derjenige, der unglücklich ist.“, fügte er mit schneidender Stimme hinzu, sodass Rye vor der Wahrheit in den Worten erschrak. Es stimmte. Ständig das Gefühl zu haben, Gin nicht glücklich machen zu können, machte ihn in Wirklichkeit selbst unglücklich. Doch nicht nur das. „Ja, weil ich mir selbst im Weg stehe. Ich stehe uns im Weg. Dabei will ich dir so viel mehr bieten…“ Er wollte seinem Geliebten die Welt zu Füßen legen. Ihm all seine Wünsche und Bedürfnisse von den Augen ablesen. Rye würde ihm ausnahmslos alles geben. Aber das Problem war er selbst. Er selbst war sein größter Feind, welchen er besiegen musste. „Wie gesagt, die Entscheidung-“ „Sie liegt bei mir, ich weiß.“, unterbrach er Gin und fasste anschließend endlich den Mut, ihn wieder anzusehen. Ein Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. „Du hattest recht. Da ist nichts in mir, was mich kontrolliert. Ich bin selbst dafür verantwortlich.“ Gin zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Hab ich heute irgendwas verpasst oder woher kommt plötzlich dieser Sinneswandel?“, fragte er scherzhaft, was Rye zum Schmunzeln brachte. Ja, er hatte in der Tat eine Menge verpasst. Aber das würde er niemals erfahren. „Nein… das ist alles deinetwegen… weil ich dich viel zu sehr liebe und ich diese körperliche Distanz zwischen uns nicht länger aushalte… Ich will dir auf keinen Fall weh tun, aber ich glaube, wenn genau dieser Wille stark genug ist, dann werde ich es schaffen die Kontrolle zu bewahren. Ich muss mir nur selbst ein wenig mehr vertrauen und mich konzentrieren.“, sprach Rye mit einer Entschlossenheit, von welcher er selbst nicht wusste, woher sie genau kam. Doch er bemerkte zunehmend, dass er seinen eigenen Worten nicht richtig glauben konnte. Er fühlte sich unwohl. Als würde sein Verlangen im Hintergrund die Fäden ziehen und versuchen, Gin in einen Bann zu ziehen. Dieser benötigte eine Weile, um die Worte zu erfassen. Doch letztlich schien er sich von ihnen einwickeln zu lassen. Von dem vorherigen Misstrauen war in seiner Miene keine Spur mehr zu sehen. „Ich würde es gern… nochmal versuchen. Wenn du willst.“, bot Rye an. Ein neuer Versuch, der hoffentlich nicht scheitern würde. Er wollte nicht noch einen Abend ruinieren. Dieses Mal würde er sich beherrschen. Und zur Not würde er rechtzeitig erkennen, wann seine Grenze überschritten war. Wie beim letzten Mal. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen oder gar an Verlust zu denken. Er würde Gin nicht verlieren. Nicht, solange er sich selbst genug vertraute. Dafür musste er den wahren Feind besiegen. Sich selbst. Denn es gab kein Monster in seinem Inneren. Es hatte nie eins gegeben. Während Rye beklommen auf eine Antwort wartete, vernahm er, wie sich Gins Körper anspannte und sein Herz vor offensichtlicher Nervosität höherschlug. In seinen Wangen kehrte die Röte von vorhin nach und nach zurück. „Ja, will ich schon… aber nicht hier…“, brachte er schließlich hervor und Rye spürte augenblicklich, wie Erleichterung ihn einhüllte. Es bedeutete ihm so viel, dass Gin ihm vertraute und er ihm noch eine Chance gab. Er kam seinem Geliebten langsam wieder näher und fragte mit sanfter Stimme: „Wo dann?“ Gin presste sich mit dem Rücken stärker gegen die Wand, während die Röte in seinem Gesicht intensiver wurde. Das Herz schlug ihm bis in die Fingerspitzen. Amüsiert über diese Reaktion, umfasste Rye das Kinn des Silberhaarigen und strich mit dem Daumen über dessen bezaubernde Lippen, bevor er ihn vor die Wahl stellte: „Willst du lieber zu mir oder zu dir?“ „Mir ist beides recht.“, erwiderte Gin, wobei Ryes Finger leicht zwischen den schmalen Spalt der weichen Lippen glitt. „Gut.“ Rye lächelte ihn an. Insgeheim wählte er bereits Gins Wohnung als Ort für die gemeinsame heutige Nacht aus. „Dann lass uns von hier verschwinden.“ Er wollte nichts lieber als das. Auch wenn die Veranstaltung eine miserable Erfahrung für ihn gewesen war, so wollte er zumindest dafür sorgen, dass der Tag ein nahezu perfektes Ende nehmen würde. Er wollte die kommende Nacht zu der Schönsten machen, die er je erlebt hatte. Sowohl für ihn als auch für Gin, welcher ihm mit einem stillen Nicken antwortete. Er nahm seine Hand und zusammen verließen sie das Gebäude, um anschließend zu Ryes Wohnung zu gehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)