The Monster inside my Veins von ginakai ================================================================================ Kapitel 31: Kaninchen --------------------- Weit weg von Rye und Gins gemeinsamem Leben herrschte am frühen Morgen auf einer unbekannten Insel während des Frühstücks eine angespannte Stille zwischen zwei Personen…   Mit einer ausdruckslosen Miene stocherte Toichi in seinem Essen herum und stieß ein Seufzen aus. Auch heute war der Tisch mit zahlreichen Speisen gedeckt, was früher eigentlich nie der Fall gewesen war. Vor ein paar Wochen hatte Vater das so angeordnet, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass die große Auswahl seinen Appetit ein wenig anregen würde. In letzter Zeit aß der Silberhaarige kaum noch etwas. Genau genommen seit dem Tag, als es der Nummer 12 gelungen war von der Insel und somit auch aus Eclipse zu fliehen. Shuichi hatte alles mit sich genommen und das Einzige, was Toichi geblieben war, war die unendlich tiefe Leere in seinem Herzen, welche ihn von Tag zu Tag immer mehr zu verschlingen drohte. Er wollte und konnte den Schwarzhaarigen einfach nicht vergessen. Dafür liebte er ihn zu sehr. Überhaupt war Shuichi es gewesen, der ihn beigebracht hatte, wie es sich anfühlte, jemanden wirklich zu lieben. Jede Sekunde dachte Toichi an ihn. An sein warmes Lächeln. Seinen atemberaubend schönen Augen. An jeden Kuss, den sie geteilt hatten und an jede Nacht, die sie miteinander verbracht hatten. Selbst an den Ärger, den Shuichi ihm hin und wieder eingebrockt hatte, erinnerte sich Toichi ständig zurück. Und worüber er damals noch tagelang verärgert gewesen war, setzte er heute ein Lächeln auf, während ihm dabei fast die Tränen kamen. Er würde alles dafür tun, um seinen Geliebten wiederzubekommen. Es gab noch so viel, wofür er sich entschuldigen musste. Für das, was er ihn angetan hatte und für all die Geheimnisse, die er vor ihm bewahrt hatte… „Verzeih mir bitte…“, flehte Toichi gedanklich. Und obwohl er sich von ganzem Herzen wünschte, dass Shuichi ihn anhören und seine Entschuldigung annehmen würde, standen die Chancen dazu mehr als gering. Zum einen, weil sie sich vielleicht nie mehr wiedersehen würden und zum anderen, weil seine Taten schlichtweg unverzeihlich waren. „Meinetwegen ist er fast gestorben… Ich hab seine Freunde getötet…“ Zitternd legte er die Gabel auf dem Tellerrand ab. Obwohl sein Magen leer war, spürte er, wie ihn die Übelkeit bei diesem Gedanken übermannte. Er hätte dieses verdammte Gift niemals entwickeln dürfen. Über die Hälfte seines Lebens hatte er mit Forschungen verbracht. Alles nur für Vaters verblendete Zukunftsvision, die trotz allem allmählich drohte wahr zu werden. Vampire, welche die Menschheit versklaven und über sie herrschen würden. Als Kind hatte man ihm oft erzählt, wie grausam und egoistisch die Menschen seien und dass es das einzig Richtige wäre, sie ihrer Machtstellung auf der Welt und ihres Platzes am Ende der Nahrungskette zu berauben. Fast 30 Jahre hatte Toichi all dem Glauben geschenkt, was ihm damals unerbittlich eingetrichtert worden war. Doch seine Ansichten hatten sich von dem Tag an mehr und mehr geändert, als er Shuichi zum ersten Mal begegnet war. Inzwischen war er sich sicher, dass es am besten wäre, sämtliche Forschungen einzustellen und alle Dokumente bezüglich des Gifts APTK zu vernichten. Aber das würde Vater natürlich niemals zulassen, welcher ihn gerade vom anderen Tischende aus mit einer Mischung aus Skepsis und Besorgnis im Gesicht beobachtete. Toichi tat so, als würde er dies nicht bemerken und hielt den Blick weiterhin gesenkt. Der Tag, an dem sich Shuichi in einen Vampir verwandelt hatte, war für die allermeisten Leute hier sowohl ein großes Erfolgserlebnis als auch ein Desaster gewesen. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, den immensen Schaden, den Shuichi hinterlassen hatte, vollständig zu beseitigen. Angefangen bei den Reparaturen und dem Wiederaufbau des Labors, von welchem nichts weiter als ein Trümmerhaufen übrig geblieben war. Bis heute konnte sich Toichi nicht erklären, warum Shuichi ihn damals nicht wie all die anderen Labormitglieder getötet und ihn stattdessen mitten in der Verwüstung zurückgelassen hatte. Immer, wenn er sich die Szene zurück ins Gedächtnis rief, überlief ihn ein eiskalter Schauer. Wie er damals verletzt und völlig hilflos am Boden gelegen hatte, während Shuichis blutrote Augen ihn mit ihrem Blick nahezu durchbohrt hatten. Warum war er von dem neu geborenen Vampir verschont worden? Dabei hatte er den Tod von allen am meisten verdient gehabt… Shuichi schien in diesem Moment nicht Herr seiner Sinne gewesen zu sein, und dennoch hatte er so enttäuscht und verbittert auf ihn herab gesehen, als hätte er all seine bis dahin getroffenen Entscheidungen, die ihre Beziehung zueinander betrafen, zutiefst bereut. Nach diesem Tag hatte Toichi mehr als zwei Monate lang nichts mehr von Shuichi gehört. Erst als eine überaus verdächtige Mordserie in Tokio begonnen hatte, entstanden die ersten Vermutungen über Shuichis Verbleib und es wurde in der Folge eine Suchaktion in die Wege geleitet, die zwar noch immer andauerte, jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit bald enden würde. Es blieb nur offen mit welchem Ergebnis. „Du solltest wirklich wieder mehr essen. Sonst fällst du mir irgendwann noch vom Fleisch.“, hörte er plötzlich Vaters strenge Stimme. „Hmh.“ Toichi sah ihn nicht an. Denn er wusste, dass diese von Kälte erfüllten Augen ihn unweigerlich einschüchtern würden. So war es immer. „Und unsere guten Köche treibst du auch noch in die Verzweiflung.“ Ein Hauch Belustigung mischte sich in Vaters Stimme. Toichi zuckte mit den Schultern. „Du hast ihnen aufgetragen jeden Tag ein ganzes Menü herzurichten.“, erwiderte er tonlos und lehnte sich anschließend in seinem Stuhl zurück. „Weil ich möchte, dass du endlich wieder vernünftig isst.“ Es klang fast wie ein Befehl, weshalb Toichi innerlich erschauderte. Er ließ es sich jedoch nicht anmerken und antwortete in ruhigem Ton: „Ich hab nun mal keinen Appetit.“ „Und woran liegt das?“ Toichi schwieg. Er traute sich nicht den Grund zu verraten. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob Vater ihm vielleicht seinen Wunsch erfüllen würde, wenn er ihn darum bat. Ob er ihm Shuichi überlassen könnte, sobald dieser hierher zurückgebracht werden würde. „Nein… das ist absurd. Wahrscheinlich würde er nachfragen und ich müsste ihm alles erzählen…“, befürchtete Toichi, während nach und nach die Angst in ihm aufkam. Niemals durfte Vater von seiner Beziehung zu Shuichi erfahren. Das würde unwiderruflich in einem Skandal enden. Schließlich war es ihm von Anfang an nicht erlaubt gewesen einen engen Kontakt zu den Mitgliedern mit Nummern aufzubauen. Er hatte gewusst, dass Shuichis Schicksal vorbestimmt gewesen war und er früher oder später als Versuchsobjekt geendet wäre. Während ihrer gemeinsamen Zeit hatte Toichi stets versucht nicht daran zu denken. Erfolglos. Spätestens als der entscheidende Tag immer näher rückte, war es ihm nicht länger gelungen, seine unbesorgte Fassade aufrecht zu erhalten, was Shuichi ihm womöglich auch angemerkt hatte. Aber dieser hatte ihn nie direkt darauf angesprochen, sondern dem Silberhaarigen nur in Rätseln gesprochenen Worten mitgeteilt, dass er ihm nichts vormachen konnte. In manchen Momenten war es Toichi sogar so vorgekommen, als hätte Shuichi ihn regelrecht dazu aufgefordert endlich mit der Wahrheit rauszurücken. Doch er hatte nie den Mut dazu gehabt… „Oh, jetzt verstehe ich.“ Erschrocken hob Toichi den Blick und sah, wie sich Vater ebenso im Stuhl zurücklehnte und die Hände ineinander verschränkte. „Mein Junge ist niedergeschlagen… was machen wir da bloß…“, fuhr er bedauernd fort, bevor sich ein breites Lächeln in seinem Gesicht bildete, welches verriet, dass ihn das eher amüsierte. Toichi ballte seine Hände unter dem Tisch zu Fäusten und verengte die Augen. „Weiß er etwa…“ Toichis Gedankengang wurde von einem abrupten Klopfen an der Tür unterbrochen. Sofort schienen Vaters Augen vor freudiger Erregung aufzublitzen und er wandte den Blick in Richtung Tür. Erwartete er etwa so früh schon Besuch? Oder handelte es sich vielleicht um eine Nachricht von der Suchtruppe? Falls dem so war, hoffte Toichi auf gute Nachrichten. Zumindest für ihn. „Herein!“, rief Vater, woraufhin sich die Tür öffnete. Gespannt beobachtete Toichi, wie einer von Vaters Untergebenen den Saal betrat und mit gleichmäßigen Schritten auf sie zukam, ohne dabei eine Miene zu verziehen. So war es Toichi nicht möglich, sich innerlich schon auf eine gute oder schlechte Nachricht einzustellen. „Guten Morgen, Sir.“, sprach der Mann, während er sich in Vaters Richtung verbeugte. „Doktor Kurosawa.“ Er verbeugte sich ein zweites Mal, was Toichi mit einem stillen Nicken erwiderte. „Nun, ich höre? Was hast du zu berichten? Ich hoffe doch, dass du gekommen bist, um uns den Morgen etwas zu versüßen.“ Vater klang unbekümmert, als rechnete er nur mit guten Neuigkeiten. Toichi wusste nicht, ob er sich Sorgen machen musste. Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte? Auf Anhieb fiel ihm nur Shuichis Tod ein. Doch er bezweifelte, dass sie so weit gehen würden. Wie auch? Menschen waren nicht dazu in der Lage einen Vampir zu töten und noch war Shuichi der einzige seiner Art. Je nach dem, wie Vaters nächste Befehle lauteten, könnte sich das sehr bald ändern. Denn er würde alles daran setzen Shuichi um jeden Preis wieder zurückzubringen. Egal ob tot oder lebendig. Schließlich hatte dieser Eclipse verraten und besaß Informationen, die auf keinen Fall an die Außenwelt gelangen durften. Das größere Problem war jedoch eher die Gefahr, die von ihm selbst ausging. Wie hatte er es geschafft über vier Monate unentdeckt zu bleiben, ohne eine Massenpanik in der Welt auszulösen? „Bestimmt ist er die ganze Zeit auf sich allein gestellt gewesen… Ich will mir nicht vorstellen, was er alles durchmachen musste…“, dachte Toichi. „Allerdings… wenn die letzten Infos von unserem Informanten der Wahrheit entsprechen, dann war er wohl doch nicht so allein.“ Eigentlich würde ihn das beruhigen. Aber es störte ihn, dass Shuichi wohl ausgerechnet zu der Seite des Feindes übergelaufen war. Nur ein dummer Zufall? „Gewiss doch. Unser Informant hat uns ein interessantes Foto zukommen lassen. Ich habe mir erlaubt, es für Sie auszudrucken.“, begann der Mann zu berichten und reichte Vater anschließend ein Bild hin. Toichi versuchte währenddessen einen kurzen Blick auf dieses zu erhaschen, jedoch gelang es ihm nicht. In Gedanken rätselte er bereits, was auf dem Foto abgebildet sein könnte. Etwa Shuichi? Und wenn ja, an welchem Ort war er zum Zeitpunkt der Aufnahme gewesen und was hatte er getan? „Wie es aussieht, hat die Nummer 12 tatsächlich in Renya Karasumas Organisation Fuß gefasst. Sie decken seine verübten Morde und haben ihm auch eine neue Identität gegeben. Deswegen haben wir ihn nicht so leicht finden können.“, erzählte der Mann weiter. Toichi achtete gleichzeitig auf Vaters Gesichtsausdruck, dessen Augen das Foto streng fixierten. „Dieser Mann…“, begann er nachdenklich, woraufhin sein Untergebener die unvollständige Frage beantwortete: „Er ist… Renyas Vermächtnis.“ Jetzt war Toichi vollkommen verwirrt. Was für ein Mann? Von wem sprachen sie? Wer sollte Renya Karasumas Vermächtnis sein? Hatte dieser etwa bereits einen Nachfolger gefunden? All diese Fragen ließ Toichi unausgesprochen, obwohl er am liebsten auf jede Einzelne sofort eine Antwort wissen wollte. „Ich weiß.“ Auf einmal umspielte ein amüsiertes Lächeln Vaters Lippen. Doch kurz darauf wanderte sein Blick zu Toichi und sein Lächeln wurde breiter. Der Silberhaarige glaubte beinahe, dass Vater ihn gerade mit neuem Interesse in den Augen musterte. Aber wieso? „Perfekt, dann haben wir wohl die Schwachstelle von 12 gefunden. Aber warum muss ausgerechnet er es sein… Ich hege eigentlich nicht die Absicht, mich auf diese Weise mit Renya anzulegen. Doch er scheint es nicht anders zu wollen.“ Mit jedem von Vaters Worten wurde Toichis Interesse an diesem vermeintlich fremden Mann größer. „Inwiefern sollte er Shuichis Schwachstelle sein?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass Shuichi überhaupt irgendwelche Schwachstellen besaß. Jedenfalls waren ihm früher nie welche aufgefallen, was vielleicht auch daran liegen könnte, dass der Schwarzhaarige es stets vermieden hatte vor anderen Schwäche zu zeigen. „Sir, wie wäre es, wenn wir zuerst versuchen mit ihm zu verhandeln? Vielleicht wird er-“, wollte Vaters Untergebener einen Vorschlag äußern, wurde allerdings lachend von ihm unterbrochen. „Verhandeln? Mit diesem sturen Bock?“, fragte er ungläubig. „Kommt gar nicht in Frage. Ich hab jahrelang meine Zeit verschwendet, jetzt ist es genug.“ Daran erinnerte sich Toichi nur zu gut. Bis vor ein paar Jahren war Vater regelmäßig nach Tokio gereist, um mit Renya Karasuma zu verhandeln. Immer ohne Erfolg. Seitdem durchspielte er täglich andere Möglichkeiten, um an die letzte Zutat für die Fertigstellung des APTK zu kommen. Doch niemand außer Renya Karasuma wusste, wo sich das Elixier des ewigen Lebens befand. Und das würde sich wahrscheinlich auch erst mal nicht ändern. Momentan war es Toichi ohnehin egal. Er wollte dieses Gift nicht fertigstellen, um unsterbliche Vampire erschaffen zu können. Shuichi würde das mit Sicherheit auch nicht wollen… „Was schlagen Sie dann vor?“, riss die Stimme des Untergebenen Toichi aus seinen Grübeleien. Während er auf Vaters Antwort wartete, schlug sein Herz nach und nach höher. Wenn er die Alternativen durchdachte, würde er sich doch am ehesten für eine Verhandlung mit Renya Karasuma entscheiden. Er verstand sowieso nicht, welchen Nutzen Shuichi für diesen haben sollte. Verabscheute er Vampire nicht eigentlich genauso sehr, wie seine Vorfahren es taten? „Es wäre am einfachsten 12 eine Falle zu stellen… bleibt nur die Frage, wer ihn hierher zurückbringen wird…“, erwiderte Vater nachdenklich, bevor er sich an den Silberhaarigen wandte: „Toichi, wie weit bist du mit der Fehlerkorrektur des APTK?“ „Noch nicht ganz fertig. Aber ich kann dir versichern, dass bei der Einnahme keine Menschen mehr sterben werden.“ Darauf hatte sich Toichi in den letzten Wochen am meisten konzentriert. Früher war es ihm egal gewesen, ob die Versuchsobjekte an dem Gift starben oder nicht. Doch inzwischen würde er keinen weiteren Tod eines unschuldigen Menschen mehr ertragen können. Denn einige unter den Nummern hatten Shuichi sehr viel bedeutet, insbesondere 11 und 13 schienen wie Geschwister für ihn gewesen zu sein. Doch 11 war bereits vor einem Jahr gestorben und wenn Shuichi nicht überlebt hätte, wäre 13 die Nächste gewesen. Für sie war es noch nicht zu spät. „Das genügt ja fürs Erste. Uns bleibt sowieso keine andere Wahl, als das Mittel schon einzusetzen. 12 hat übernatürliche Fähigkeiten, mit denen es kein Mensch aufnehmen kann. Daher benötigen wir gleichstarke Gegner für ihn.“, meinte Vater zufrieden und überschlug nebenher die Beine. „Wollen Sie das Mittel weiterhin an den Nummern anwenden?“, erkundigte sich sein Untergebener, woraufhin Vater zu Toichis Überraschung den Kopf schüttelte. „Nein. Ich verschwende keine Testobjekte. Wir wissen außerdem nicht, in welchem Verhältnis sie zu 12 stehen. Wer weiß, ob sie dazu imstande wären, ihn zu fangen. Dieses Risiko gehe ich nicht ein. Wir werden ein paar unserer besten Leute losschicken.“, erklärte er, wobei er beim letzten Satz ein wenig stolz klang. Toichi hingegen hatte keinen blassen Schimmer, welche Leute damit gemeint waren. In seinen Augen gab es viele, die für die Mission geeignet wären. Obwohl er sich auch fragte, ob es denn wirklich Vampire geben könnte, die stark genug für Shuichi wären. Selbst als dieser noch ein Mensch gewesen war, hatten es nur die Wenigsten hier mit ihm aufnehmen können. „Aber wenn sie in der Überzahl wären… dann hätte er wahrscheinlich keine Chance und sie würden ihn vielleicht…“ Toichi wagte es nicht diesen Gedanken zu Ende zu führen. Mittlerweile schlug ihm das Herz bis in die Fingerspitzen. Er musste irgendwie verhindern, dass sie Shuichi etwas antun würden. Aber wie? Was sollte er sagen? Würde er mit Worten jetzt überhaupt etwas bewirken können? „Ich werde es erst herausfinden können, wenn ich es probiere…“ „Wie Sie meinen, Sir.“, antwortete der Untergebene tonlos. Toichi starrte unsicher auf seine noch immer zusammengeballten Fäuste, bevor er den Blick auf Vater richtete und sich dazu überwand ihm eine Frage zu stellen. „A-Also, Vater…“ Er verstummte sofort, als dieser ihn eindringlich in die Augen sah. „Ja?“, hakte er nach. Toichi konnte erst nach ein paar Sekunden fortfahren. Sein Mut hatte ihn bereits so schnell wieder verlassen, wie er gekommen war. „Du wirst 12 nicht töten lassen, oder…?“, brachte er mühsam über die Lippen. Er wollte sich erst vergewissern, bevor er seine eigentliche Bitte äußern würde. „Verräter wie er müssen bestraft werden. Ob ich ihn allerdings mit dem Tod bestrafe, überlege ich mir noch.“, entgegnete Vater, wobei Toichi versuchte den hämischen Unterton in dessen Stimme zu ignorieren. In Gedanken wog er ab, ob er das Risiko eingehen und seine Frage stellen sollte oder ob es besser wäre das Gespräch an dieser Stelle zu beenden und einfach stillschweigend zu nicken. Wie viel hatte er noch zu verlieren? Shuichi war fort. Alles andere spielte nun ohnehin keine Rolle mehr. Er wollte nichts mehr als endlich wieder bei ihm sein zu können. Egal, welchen Preis er dafür zahlen musste. „Könntest du ihn nicht vielleicht… mir überlassen? Bitte…“, sprach er seine Frage mit leiser Stimme aus. Noch nie war ihm etwas so schwer über die Lippen gekommen. Er spürte förmlich, wie die Angst und Nervosität ihn in weniger als einer Sekunde vollständig einhüllten. Es gab genau drei Antwortmöglichkeiten. Ein Nein als Antwort wäre zwar sehr schmerzhaft, aber er wäre gezwungen es zu akzeptieren. Ein Ja war wiederum sehr unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen und er wäre Vater womöglich zum ersten Mal in seinem Leben für etwas sehr dankbar. Doch die dritte Möglichkeit… „Warum?“ Vater zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Natürlich musste er es hinterfragen. Davor hatte Toichi am meisten Angst gehabt, da er den Grund niemals aussprechen könnte. Er war noch nicht bereit dazu Vater die Wahrheit über seine Beziehung mit Shuichi zu sagen – und das würde er wahrscheinlich auch nie sein, weil keiner diese Beziehung je akzeptieren würde. „Damit du weiter mit ihm Spaß haben kannst?“ Im nächsten Augenblick war Toichis Körper starr vor Schock, während sich seine Augen weiteten. Er nahm nicht wahr, wie er den Atem anhielt, spürte jedoch dafür jeden einzelnen Herzschlag, der ihn durchbebte. Das hatte er sich nur eingebildet, oder? Das konnte Vater gerade nicht wirklich gefragt haben. Vollkommen ausgeschlossen… „Woher sollte er das wissen…“, ging es Toichi durch den Kopf, woraufhin ein schadenfrohes Lächeln auf Vaters Lippen zum Vorschein kam. „Überrascht dich das etwa? Dachtest du, ich weiß nicht, was ihr hinter meinem Rücken getrieben habt?“, offenbarte er in einer Tonlage, die Toichi glauben ließ, dass er schon lange auf diesen Moment gewartet hatte. Der Silberhaarige schwieg. Er war sich sicher, dass jede Antwort fatal wäre. Doch es kamen plötzlich so viele Fragen in ihm auf, die er sich einfach nicht erklären konnte… „Wieso hast du…“, begann er schließlich leise, bevor seine Stimme ganz versagte. Allerdings schien Vater die Frage dennoch erahnen zu können und ging deshalb auf diese ein. „Wieso ich das erduldet habe? Ganz einfach. Ich wusste, dass eure kleine Romanze früher oder später ganz von allein in einer Tragödie enden wird.“, meinte er amüsiert. Da übermannte Toichi die Wut. Das ging eindeutig zu weit. „Sie wird nicht enden!“, schrie er. Auf keinen Fall würde er das zulassen, solange es ihm noch möglich war Einfluss darauf zu nehmen. Egal wie. Shuichi gehörte ihm. Sie waren füreinander bestimmt. Er würde alles tun, damit Shuichi ihm verzeihen würde. „Ist sie das nicht schon?“, hakte Vater nach. Ein Wunder, dass er noch immer ruhig blieb und nicht zurückschrie. Bisher hatte Toichi jeden gegenüber ihm zu laut gewählten Tonfall unweigerlich bereut. „Nein.“, erwiderte er fest entschlossen. „Ich… liebe 12 immer noch… und er…“ „Du bist nicht nur zu sensibel, sondern auch noch naiv. Das wird dir immer zum Verhängnis werden.“, unterbrach Vater ihn streng. Kurz fragte sich Toichi, ob dieser damit recht hatte, doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, hielt Vater auf einmal das Foto hoch, welches mittlerweile zwischen seinen Fingern klemmte, sodass der Silberhaarige nur die weiße Rückseite sehen konnte. „Hast du wirklich geglaubt, dass er dich liebt? Er hat deine Stellung ausgenutzt, nichts weiter.“, meinte Vater spöttisch. Es war zu erwarten, dass er Shuichi so etwas zutraute. Schließlich hatte er von Anfang an nicht viel von ihm gehalten. „Nein, das ist nicht wahr!“ Dafür würde Toichi seine beiden Hände ins Feuer legen. Shuichi hätte ihn niemals benutzt. So ein heimtückischer Mensch war er nicht. Auch wenn er ständig für Chaos gesorgt und sich kaum an die Regeln gehalten hatte, so war er dennoch wenigstens immer ehrlich zu ihm gewesen. Nie wäre Toichi auf die Idee gekommen, dass Shuichi stets irgendein hintergründiges Motiv verfolgt hatte und ihre Liebe dadurch nicht echt gewesen war. „Fast drei Jahre… besonders die letzten Monate… das kann nicht einfach alles nur gespielt gewesen sein… das wäre mir aufgefallen. Und dass mein Vater der derzeitige Anführer unserer Organisation ist, hat ihm doch noch nie einen Vorteil gebracht, im Gegenteil… wieso hätte er dann meine Stellung ausnutzen sollen?“ Egal, wie Toichi es drehte und wendete – er fand keine plausible Erklärung. Weitersuchen konnte er jedoch nicht, da plötzlich etwas vor ihm auf dem Tisch landete. Vater hatte ihm das Bild zugeworfen. Noch immer zeigte ihm dieses nur die Rückseite. Als würde das Schicksal nicht wollen, dass er die Fotografie zu Gesicht bekam. „Sieh selbst. Er hat dich bereits erfolgreich ersetzt.“, hörte er Vater sagen, während seine Hand zu dem Foto wanderte, um es umzudrehen. Doch er verharrte für einen kurzen Moment, als er sich Vaters Worten bewusst wurde und er dessen breites Grinsen bemerkte. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob er das Foto wirklich sehen wollte. Ersetzt? Wie? Durch wen? Toichi starrte auf seine Finger, welche allmählich zu zittern begannen. Ihm war klar, dass er es mit hoher Wahrscheinlichkeit bereuen würde dieses Bild umzudrehen und er sich danach wünschen würde es niemals getan zu haben. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Zudem war seine Neugierde größer als die Angst, die ihn beschlich. Toichi atmete einmal tief durch, bevor er das Foto in die Hand nahm und es umdrehte. Doch im nächsten Augenblick stürzte alles mit einem Schlag auf ihn ein. Seine Welt, gefüllt von Erinnerungen an Shuichi und von Hoffnungen diesen sehr bald wiederzusehen, schien nach und nach Risse zu bekommen und zerbrach letzten Endes wie eine Glaskugel in Millionen kleiner Scherben. Der Silberhaarige wollte es nicht realisieren. Er wollte nicht realisieren, was dieses Foto ihm offenbarte. Zu viele Gefühle überrumpelten ihn, sodass er kaum noch ein klaren Gedanken fassen konnte und es ihm nicht gelang das Bild vor seinen Augen zu verarbeiten. Es gab genau zwei Dinge, die ihn bis aufs Tiefste schockierten. Jedoch wusste er nicht, über welches dieser beiden Dinge er mehr schockiert sein sollte: Shuichi, wie er offensichtlich mit einem anderen Mann zusammen war und sich mit diesem gerade in einem leidenschaftlichen Kuss befand oder dass dieser Mann fast genauso aussah wie er. Toichi verengte die Augen. Abgesehen davon, dass der Kerl keine Brille trug und seine Haare deutlich länger waren, ähnelten sie einander wie Zwillinge. „Das… kann unmöglich sein…“ Toichi hoffte, dass er sich irrte und die Perspektive des Fotos ihm lediglich einen Streich spielte. Vielleicht wurde es bearbeitet oder der Mann sah in Wirklichkeit doch ganz anders aus. Es konnte niemanden geben, der ihm so sehr ähnelte. Zwar hatte Toichi schon einmal gehört, dass jeder Mensch statistisch gesehen mindestens sieben Doppelgänger besaß - was bei einer Weltbevölkerung von 7,3 Milliarden durchaus der Fall sein könnte - doch die Wahrscheinlichkeit diese Doppelgänger auch zu treffen war mehr als gering. Zumal es kein Zufall sein konnte, dass Shuichi ausgerechnet mit so jemandem eine Liebschaft angefangen hatte. Doch was steckte dann dahinter? Toichi fiel es schwer dieser Frage auf den Grund zu gehen. Seine Finger krallten sich fester in das Bild und er murmelte hasserfüllt: „Wer ist dieser Kerl…“ Er würde ihm am liebsten sofort den Hals umdrehen. Wie konnte er es wagen sich von Shuichi küssen zu lassen? Noch nie hatte Toichi so schnell solch eine Wut auf eine vermeintlich unbekannte Person empfunden. Doch mit dieser Wut vermischten sich auch der Herzschmerz und das Gefühl betrogen worden zu sein. Warum tat Shuichi das? Wollte er es ihm auf diese Weise etwa heimzahlen? „Ich werde es dir nicht sagen.“, antwortete Vater auf einmal, wobei Toichi ihn überrascht ansah. „Wenn du Geheimnisse vor mir hast, werde ich es dir gleich tun. Du solltest dir in Zukunft wirklich gründlich überlegen, ob du mich noch einmal hintergehst. Du weißt, ich kann auch anders. Ganz anders. Ich lasse mich nicht von dir verarschen, Toichi.“ „Ja, Vater…“ Dem Silberhaarigen lief ein Schauer über den Rücken, doch er vergaß die Drohung ausnahmsweise schnell wieder, da seine Gedanken nur noch um das Foto kreisten, auf welches er längst wieder starrte. „Dann sind wir uns ja einig.“, meinte Vater zufrieden, woraufhin sein Untergebener ihn nach kurzer Stille wieder ansprach: „Ähm… Sir, was passiert jetzt eigentlich mit unserem Informanten? Sollen wir ihn kontaktieren und einen nächsten Befehl geben?“ „Nein. Ich habe alle Informationen, die ich brauche. Er soll unverzüglich beseitigt werden.“, befahl Vater, was zu erwarten gewesen war. Toichi hörte nur noch mit halbem Ohr zu, jedoch konnte er an Vaters Tonlage erkennen, dass dieser scheinbar bereits einen Plan im Hinterkopf hatte. „Sind Sie sich sicher?“, hakte der Untergebene nach. „Ja, sein Tod kann uns von Nutzen sein. Außerdem weiß er von unserer Existenz. Allein das ist Grund genug, ihn zu töten.“ „Und seine Familie?“ „Die auch. Ich will, dass alle beseitigt werden. Jedoch auf eine ganz bestimmte Weise.“, entgegnete Vater in übel gesinnter Tonlage, die Toichi selbst in seiner Abwesenheit noch erschaudern ließ. Aber diese Methoden waren ihm nicht neu. Es war schon immer so gewesen, dass Mitwisser zum Schweigen gebracht werden mussten, da die Existenz von Eclipse niemals an die Außenwelt gelangen durfte. Eigentlich würde sich Toichi fragen, inwiefern der Tod des Informanten noch nützlich sein könnte und welches Ziel Vater damit verfolgte, doch er hatte gerade andere Sorgen, welche ihn mehr quälten. Er hielt es für besser, irgendwo in Ruhe über das Foto und das, was darauf zu sehen war, nachzudenken. Fortan würde er ohnehin deshalb nachts kein Auge mehr zu bekommen, da er auf so viele Fragen einfach keine Antwort wusste. Am meisten interessierte ihn tatsächlich die Identität von Shuichis neuem Liebhaber. „Renyas Vermächtnis… Vater scheint ihn zu kennen… aber wieso hat er vorher nie etwas gesagt?“, ging es Toichi durch den Kopf, während er sich von seinem Stuhl erhob und ohne ein Wort in Richtung Tür ging. Dabei spürte er ununterbrochen Vaters misstrauischen Blick im Nacken, welchen er versuchte bestmöglich zu ignorieren, bis er den Saal endgültig verlassen hatte. Hinter der Tür atmete Toichi tief durch und ließ das Foto vorerst in die Tasche seines Kittels gleiten. Morgen früh würde er definitiv allein frühstücken und auch sonst versuchen sämtliche Begegnungen mit Vater in den nächsten Tagen zu vermeiden. Seine Nerven waren allmählich am Ende. „Ich kann sowieso erst mal nichts ausrichten… aber hoffentlich bald…“ Ohne auf seine Umgebung zu achten, ging er durch den großen Gebäudekomplex und blendete auf seinem Weg alle Personen aus, die irgendwas von ihm wollten. Er würde sich später um die Vorbereitungen kümmern. Jetzt brauchte er erst mal Ruhe und ein wenig frische Luft. Es gab hier nur einen Ort, an dem er beides finden würde. Der Hintergarten war nur im Besitz seiner Familie, weshalb nur Vater und er ihn betreten durften. Da allerdings sowohl er als auch Vater in letzter Zeit zu beschäftigt waren, um sich dort aufzuhalten, kümmerten sich lediglich ab und zu ein paar Gärtner um die ganzen Gewächse. Doch obwohl der Zutritt allen anderen verboten war, hatte er einmal Shuichi dorthin mitgenommen. Während er sich daran zurückerinnerte, kam es ihm plötzlich so vor, als sei es erst gestern gewesen. Die Tage waren langsam kälter geworden und Shuichi hatte sich gerade erst von einer schweren Erkältung erholt gehabt. Toichi hatte ihn zuvor auf seinem Zimmer besucht, um sich nach seinem gesundheitlichen Zustand zu erkundigen…   9 Monate zuvor   „Und, Herr Doktor, wie lautet Ihre Diagnose?“, fragte Shuichi scherzhaft, während er den Blick über die Schulter warf. Toichi nahm das Stethoskop ab und hängte es sich wieder lose um den Hals, bevor er begann: „Scheint fast alles wieder in Ordnung zu sein. Dein Rachen ist noch etwas entzündet, aber die Symptome werden wahrscheinlich in ein paar Tagen weg sein. Nimmst du die Tabletten, die ich dir gegeben hab?“ „Ja, das fragst du mich jetzt bestimmt schon zum dritten Mal.“ Shuichi zog sich nebenbei das Hemd wieder an und schmunzelte, als schien ihn die aus seiner Sicht leichte Überfürsorge zu amüsieren. „Weil ich das Gefühl habe, dass du mich anlügst.“, entgegnete Toichi in gespielt erboster Tonlage, womit er glaubte richtig zu liegen. Zwar war es ihm nicht egal, aber wenn Shuichi die Tabletten wirklich nicht nahm, konnte er das nicht ändern. Es war schließlich immer noch dessen eigene Entscheidung. Kurz weiteten sich die Augen des Schwarzhaarigen überrascht, doch dann lächelte er breit und gestand: „Naja, kann sein, dass ich nicht jeden Tag eine genommen hab… Aber wie du siehst, geht es mir trotzdem besser. Du musst dir nicht so viele Sorgen machen.“ „Tu ich schon nicht. Ich kümmere mich eben nur gern um dich.“ Das war ehrlich gemeint. Am liebsten würde Toichi nichts anderes mehr tun. So könnte er immer in Shuichis Nähe sein und ihn auf die unterschiedlichsten Weisen verwöhnen. „Das kannst du doch auch, wenn ich nicht krank bin.“, meinte Shuichi mit verführerischer Stimme, die Toichi verriet, dass sie scheinbar an dasselbe gedacht hatten. Nur wollte sein Geliebter es nicht nur bei Worten belassen, da er sich mit noch halb geöffnetem Hemd zu ihm umdrehte und anschließend langsam die Arme um seinen Hals schlang. Toichi blieb augenblicklich der Atem stehen. Womöglich würde er sich nie an Shuichis bildschönen Anblick gewöhnen. Besonders nicht an dessen Augen, welche so grün funkeln konnten wie zwei Smaragde, von denen es auf der ganzen Welt keine schöneren gab. Noch nie hatte ein Mensch solche starken Gefühle in ihm ausgelöst und er war sich sicher, dass niemand außer Shuichi dazu in der Lage wäre. Dieser war ihm inzwischen so nah gekommen, dass ihre Lippen einander fast berührten. Gern hätte Toichi auch den letzten Abstand zwischen ihnen verringert, wenn Shuichis Augen ihn nicht bereits in einen Bann gezogen hätten. Er konnte nichts anderes tun als zu warten, bis sein Geliebter den Kuss beginnen würde. Doch das passierte nicht. Plötzlich drehte sich Shuichi ruckartig zur Seite, bevor er in seine Armbeuge nieste. „Gesundheit.“, sagte der Silberhaarige, während Shuichi schniefte und sich mit der Hand über die Stirn fuhr. Seine Kopfschmerzen schienen sich nun wieder verstärkt zu haben. „Danke… besser wir lassen das noch.“, erwiderte er verlegen mit leiser Stimme. Doch das wollte Toichi nicht. Jetzt war er schon zu sehr auf einen Kuss eingestellt, als das er es einfach dabei belassen könnte. Wie von selbst umfasste seine Hand Shuichis Kinn und zog ihn zu sich heran, sodass ihre Lippen aufeinandertrafen. Ein Prickeln schoss durch seinen Körper, welches ihn dazu brachte, Shuichi spüren zu lassen, wie viele Küsse er ihm von den letzten Tagen noch schuldete. Es waren unendlich viele und selbst wenn diese Schuld beglichen wäre, würde Toichi noch immer nicht genug von diesen weichen, feuchten Lippen haben, die nur ihm allein gehörten. Shuichi begann den Kuss erst zu erwidern, nachdem sich seine anfängliche Anspannung gelöst hatte. Er war in solchen Dingen immer sehr leidenschaftlich und das manchmal so sehr, dass Toichi sich fühlte, als würde er in seinem Verlangen nach diesem Mann ertrinken. Er wusste schon lange nicht mehr, wie viele Sterne er durch ihn schon gesehen und in welche Höhen der Schwarzhaarige ihn schon getrieben hatte. Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen. Es spielte ohnehin keine Rolle. Toichi genoss viel lieber die Momente und hoffte jedes Mal, dass sie nie enden würden. Doch leider musste wohl alles irgendwann ein Ende nehmen. So wie jetzt, als sich Shuichi schwer atmend von ihm löste. „Du willst dich scheinbar wirklich noch anstecken.“, stellte er fest. Und dass er das nur ungern zuließ, konnte Toichi an seiner Tonlage hören. „Ist mir egal.“, antwortete er unbekümmert, bevor er Shuichi erneut zu sich heran zog. Er vergrub seinen Kopf in dessen Halsbeuge und ließ dort den ein oder anderen Kuss zurück. An manchen Stellen verweilte er länger und sog etwas kräftiger an der warmen Haut, was dem Schwarzhaarigen ein leises, wohliges Seufzen entlockte. Im jetzigen Moment bemerkte Toichi erst vollständig, wie sehr er die Nähe seines Geliebten vermisst hatte. Shuichi war in den letzten Tagen zu erschöpft gewesen und hatte viel geschlafen, was er ihm auch nie vorenthalten würde. Er war froh, dass es ihm heute wieder einigermaßen besser ging. Hoffentlich würde das auch so bleiben. Nach einer Weile bemerkte er, wie Shuichi begann ihm sanft über den Haaransatz zu streicheln. Toichi schmiegte sich stärker an ihn und sie verweilten ein paar Sekunden in Stille. Irgendwann sagte Shuichi: „Du solltest dich hier lieber nicht zu lange aufhalten. Deine Kollegen wissen, dass du hier bist, nicht wahr?“ Und schon war der schöne Moment vorüber und die Realität zurückgekehrt. Toichi seufzte und rückte wieder etwas zur Seite. Dabei blieb sein Blick an der eintätowierten Nummer an Shuichis Hals hängen, die ihn ebenso daran erinnerte, dass er nicht so lange hier bleiben durfte. Eigentlich trug Shuichi die Ziffer schon seit seiner Ankunft, doch sie stach dem Silberhaarigen jedes Mal aufs Neue ins Auge und ließ ein unwohles Gefühl in ihm aufkommen. Schließlich diente sie nicht nur als Namensersatz, sondern auch als Nummerierung für die Versuchsobjekte. Toichi lenkte den Blick schnell woanders hin, um sich wieder auf das eigentliche Gespräch konzentrieren zu können. „Schon, aber es gehört unter anderem zu meinen Aufgaben jeden der Kranken zu versorgen und dafür nehme ich mir auch die Zeit, die ich brauche.“, entgegnete er. Es klang zwar wie ein schlechter Vorwand, aber er würde sich trotzdem von niemandem von seiner Arbeit abbringen lassen. Sollten die im Labor doch denken, was sie wollten. Die Meisten wussten ohnehin schon, dass er zu Shuichi ein eher freundschaftliches Verhältnis pflegte. Ob jeder auch damit einverstanden war, interessierte Toichi nicht. Solange Vater oder einer von seinen engsten Vertrauten keinen Verdacht schöpfte, war ihre Beziehung noch nicht in Gefahr. „Wenn du meinst.“ Shuichi lehnte sich zurück auf das Bett und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Nach einer Weile fügte er hinzu: „Aber schon komisch… Ich war in meinem Leben bisher nie krank gewesen… zumindest nicht so schlimm…“ Toichi lächelte leicht. Ein wenig beneidete er Menschen, die ein starkes Immunsystem besaßen. Er selbst war schon immer etwas anfälliger für Krankheiten gewesen. „Meistens erwischt es die, die sonst nie krank werden, mindestens einmal im Leben richtig.“, erklärte er, um Shuichi leicht zu necken, welcher daraufhin erwiderte: „Vielleicht. Aber meine Lebensweise hat sich auch stark verändert, seit ich hier bin. Angefangen mit dem Mangel an frischer Luft…“ Toichi schwieg und beobachtete Shuichi mit Bedauern. Er wusste zu gut, wie sehr der Schwarzhaarige es in Wirklichkeit hier hasste und wie unzufrieden ihn der strenge Alltag machte. Nicht selten hatte er diesen Ort mit einem Gefängnis verglichen, wobei Toichi ihm heimlich in Gedanken immer zugestimmt hatte. Aber aus einem Gefängnis war es nun mal unmöglich zu entkommen. Den Nummern war es überhaupt nicht gestattet einen Fuß nach draußen zu setzen. Das Sonnenlicht sahen sie höchstens von ihren Fenstern aus und dementsprechend waren die, die schon seit mehreren Jahren hier lebten, sehr blass und litten unter Vitamin-D-Mangel. Allerdings kannten die Meisten es im Gegensatz zu Shuichi nicht anders. Er war tatsächlich so etwas wie ein Sonderfall. Allein schon aus dem Grund, weil er eine vorherige Nummer ersetzt hatte, was sonst noch nie vorgekommen war. Vater meinte damals, dass er lediglich eine Lücke in der Reihenfolge vermeiden wollte. Ob da jedoch noch mehr dahintergesteckt hatte, hatte Toichi nie hinterfragt. Auch wenn er glaubte, dass es ein Fehler gewesen war, Shuichi hierher zu bringen. Er passte einfach nicht ins Bild der anderen Nummern, da er noch zu viel von der Außenwelt wusste. Daraus resultierte auch sein Verhalten, welches schon oft zum Problem geworden war. Nicht immer war es Toichi gelungen, ihn dann vor seinen Strafen zu bewahren, welche stets unweigerlich darauf gefolgt waren… Da vernahm er plötzlich ein Seufzen von Shuichi. „Alles hier ist so eintönig. Ich vermisse die Natur. Die Welt da draußen…“, fing er an sich zu beschweren, während er nach oben starrte. Toichi erkannte an seiner wehmütigen Miene, dass er mit den Gedanken womöglich sehr weit weg war. An Orten, die der Silberhaarige auch gern einmal sehen würde. Gemeinsam mit Shuichi, welcher ihm mit jeder verstreichenden Sekunde mehr leid tat. Er wollte irgendwas tun, damit sich sein Geliebter wieder ein wenig besser fühlte. Nur was? Die Freiheit konnte er ihm schließlich nicht schenken. „Aber vielleicht etwas Ähnliches…“ Allmählich bekam er doch eine Idee. Hoffentlich würde sie Shuichi gefallen. „Du möchtest also unbedingt raus?“, versicherte sich Toichi, wobei der Blick des Schwarzhaarigen sofort zu ihm schoss. Er richtete sich auf und antwortete mit vor Erwartung glühenden Augen: „Ja, Toichi, will ich.“ Toichi musste lächeln. Immer, wenn Shuichis Lippen seinen Namen formten und diesen mit einer samtweichen Stimme aussprachen, bereitete ihm das ein warmes Gefühl. „In Ordnung. Ich kann dir die Welt, die du dir wünschst, leider nicht geben…“, begann Toichi scherzhaft, bevor er verkündete: „Aber ich weiß etwas anderes.“ Shuichi legte neugierig den Kopf schräg. „Was denn?“ „Komm mit, dann zeig ich es dir.“, erwiderte Toichi und erhob sich nebenher vom Bett. Kurz beobachtete er, wie Shuichi dort schweigend verharrte, während er verdutzt die Augenbrauen zusammenschob. Er schien es wohl nicht ganz zu verstehen, da er ebenso wusste, dass es ihm eigentlich nicht gestattet war rauszugehen. „Du wirst es schon nicht bereuen.“, versuchte Toichi ihn zu überreden. Und es funktionierte zum Glück. Shuichi fing an sich die restlichen Knöpfe seines Hemdes zuzuknöpfen und stand anschließend auf. „Jetzt bin ich aber gespannt.“, sagte er dabei tonlos. „Besser du ziehst dir eine Jacke über, es ist ziemlich frisch draußen.“, riet Toichi ihm, woraufhin er sich seine schwarze Strickjacke schnappte, die über das Kopfende des Bettes hing, und sie anzog. Zwar war sie relativ dünn, doch für jetzt sollte es reichen. Nachdem Shuichi auch seine Schuhe angezogen hatte, verließen beide das Zimmer. Toichi ließ seinen Blick durch den Flur wandern, um zu überprüfen, ob jemand dort war. Glücklicherweise waren sie allein. Nur von weitem hörte er eine Tür klappen, jedoch kehrte danach wieder Stille ein. Dem Anschein nach bestand im Moment nicht die Gefahr, dass jemand sie gemeinsam sehen könnte. Toichi griff nach Shuichis Handgelenk und führte ihn zügig und möglichst leise durch die Flure. Hier im Wohnbereich der Nummern war es noch relativ unbelebt, was sich im Hauptgebäude gleich ändern würde. Doch das war kein Problem, da sie auch den „geheimen“ Weg nehmen konnten, um dieses erfolgreich zu umgehen. Shuichi kannte ihn gut, da er ihn fast jeden Abend benutzte, um zum Silberhaarigen aufs Zimmer zu gelangen. Dieses Mal brauchten sie bloß bis zum Erdgeschoss gehen und mussten nicht bis hoch in den fünften Stock. Während beide unbeirrt weitergingen, fragte sich Toichi erneut, ob Shuichi den Ort mögen würde. Er selbst verband mit dem Ort sowohl gute als auch schmerzhafte Erinnerungen. Schmerzhaft besonders aus dem Grund, weil er immer dort gewesen war, als er noch eine unbeschwerte Kindheit geführt hatte. Aber diese Zeit war sehr schnell vorbei gewesen. In den folgenden Jahren hatte Toichi zunehmend das Gefühl bekommen, dass sich der Garten nach und nach seinem grauen, eintönigen Leben angepasst hatte. Er wirkte mittlerweile nahezu wie ausgestorben. Ob er vielleicht wieder neu erblühen würde, wenn Shuichi ihn betrat? „So, wie er es auch geschafft hat, wieder Farbe in mein Leben zu bringen…“ Toichi wollte sich keine Welt vorstellen, in der Shuichi nicht mehr an seiner Seite war. Er wollte sein früheres Leben nicht zurück. Doch das würde unweigerlich passieren, wenn er nicht bald etwas dagegen tat… „Toichi?“, hörte er plötzlich Shuichis Stimme neben sich. Er schaute ihn aufgelöst an und schwieg, weshalb der Schwarzhaarige nach einer Weile nachfragte: „Willst du sie nicht aufmachen?“ Toichis Augen wurden groß. „Was?“ „Die Tür.“, erwiderte Shuichi, während er mit dem Zeigefinger auf die alte, große Doppeltür hinwies, vor welcher sie mittlerweile standen. „Oh…“ Toichi war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass er seine Umgebung wieder mal vollständig ausgeblendet hatte. „Ja, natürlich, tut mir leid.“ Er ging zu dem kleinen Kasten, welcher sich neben der Tür befand und mit einem Zahlenschloss versehen war. Ein wenig war er von sich selbst überrascht, dass er die Kombination nach so langer Zeit nicht vergessen hatte. Er drehte an den kleinen Rädchen, woraufhin sich der Kasten öffnete, sodass er den Schlüssel aus diesem herausnehmen konnte. „Woran hast du gedacht?“, wollte Shuichi wissen, als der Silberhaarige die Tür aufschloss. Er schüttelte langsam den Kopf und antwortete: „Nicht so wichtig.“ Die Tür ließ sich etwas schwer öffnen und erzeugte nebenbei ein knarrendes Geräusch. Toichi hielt sie für Shuichi auf und wartete, bis dieser an ihm vorbeigegangen war. Er ließ die Tür hinter sich zufallen und blieb auf dem steinernen Gehweg stehen, um den Blick schweifen zu lassen. Es sah alles genau so verwuchert und leblos aus, wie er es in Erinnerung behalten hatte, als er zuletzt hier gewesen war. Viele Bäume und Sträucher waren fast kahl, was aber auch an der Jahreszeit lag. Eine Windböe wirbelte das Laub am Boden auf und trug es quer durch den Garten. Einige braune Blätter landeten in dem großen Springbrunnen, welcher zu Toichis Überraschen noch angestellt war und ein gleichmäßiges, plätscherndes Geräusch von sich gab. Doch auch wenn das Geräusch des Wassers beruhigend wirkte, so war der Anblick des Brunnens weniger schön, da das Gestein an vielen Stellen bereits brüchig war. Ebenso wie bei der hohen Mauer aus Backsteinen, welche den Garten in sich einschloss. Zudem gab es nach all den Jahren überwiegend nur noch Unkraut und von den verschiedenen Blumen, die einst hier wuchsen und der Umgebung ihre Farbe geschenkt hatten, war nichts mehr zu sehen. Sogar die kleinen Ackerflächen waren inzwischen zugewachsen. Insgesamt eigentlich kein Bild, welches positive Gefühle oder gar Freude in jemandem erwecken würde. Toichi senkte reumütig den Kopf. Wie hatte er nur denken können, dass dieser Ort Shuichi vielleicht aufmuntern würde? Bestimmt fühlte er sich jetzt noch schlechter als vorher. „Scheint so, als sei schon lange niemand mehr hier gewesen.“, kommentierte der Schwarzhaarige den verwahrlosten Zustand des Gartens. Toichi verzog die Mundwinkel zu einem ironischen Lächeln. „Es findet leider niemand wirklich die Zeit dazu, sich richtig um alles hier zu kümmern.“, meinte er, während er weiterhin auf den Boden starrte. „Auch ich nicht.“ „Eigentlich schade, es könnte sonst so schön hier sein.“ Shuichis Stimme schien auf einmal weiter weg zu sein. In ihr lag sowohl Bedauern als auch Begeisterung, als hätte er bereits eine genaue Vorstellung, wie der Garten früher ausgesehen hatte, als dieser noch ordentlich gepflegt worden war. „Tut mir leid.“, kam es Toichi wie von selbst über die Lippen. Doch Shuichi erwiderte nichts darauf. Es kehrte Stille ein und das Einzige, was der Silberhaarige von Weitem hören konnte, war das Rauschen des Meeres und ein paar Blätter, die hin und wieder vom Wind bewegt wurden. Irgendwann entschied er sich dazu, den Blick wieder zu heben. Da entdeckte er Shuichi, wie dieser mit dem Rücken zu ihm gewandt an dem Brunnen stand. Die Hände hatte er auf dem Gestein abgestützt, während er scheinbar nach unten auf die Wasseroberfläche schaute. Toichi ging mit lautlosen Schritten auf ihn zu und blieb schweigend hinter ihm stehen. Irgendwie traute er sich nicht, die Stille zu unterbrechen. Zu gern wüsste er, woran Shuichi gerade dachte und aus welchem Grund er sein Spiegelbild im Wasser so verträumt beobachtete, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Im nächsten Moment, als die Wolkendecke begann ein paar Sonnenstrahlen hindurch zu lassen, hob Shuichi plötzlich den Kopf und schloss die Augen. Das Licht der Sonne verlieh seinem Gesicht wieder etwas Farbe und es wirkte fast so, als würde seine Haut anfangen zu glitzern. Ein Lächeln bildete sich auf Shuichis Lippen, welches Toichis Herz sofort erwärmte. Er war froh, dass er es anscheinend doch geschafft hatte, seinen Geliebten wenigstens ein bisschen glücklich zu machen. „Danke, ich hatte schon fast vergessen, wie sich das anfühlt.“, meinte Shuichi mit sanfter Stimme, bevor er Toichi wieder ansah. „Schon gut, ich wünschte nur, ich könnte dir mehr bieten.“, antwortete dieser bedrückt. Er würde Shuichi gern alles geben, um ihn vollends glücklich zu machen, und verfluchte sich innerlich dafür, dass er dazu wahrscheinlich niemals in der Lage sein würde. Doch der Schwarzhaarige schien das anders zu sehen. „Das könntest du.“, sagte er. Toichi wusste, worauf er hinauswollte. Sie hatten schon oft darüber gesprochen. Oder genauer gesagt: Shuichi hatte ihn schon oft überreden wollen, gemeinsam von hier fortzugehen. Ein Traum, der wohl niemals Wirklichkeit werden würde. „Du weißt, dass das nicht geht.“, erinnerte Toichi ihn. Wenn es so einfach wäre, hätte er es mit Sicherheit schon lange getan. „Doch, du musst es nur wollen.“, widersprach Shuichi jedoch in ernster Tonlage, woraufhin der Silberhaarige ein verzweifeltes Lächeln aufsetzte. Der Wille war definitiv nicht das Problem, und das sollte sein Geliebter auch wissen. „Ich will nichts mehr, als für immer mit dir zusammen zu sein.“, sprach Toichi deshalb aus vollem Herzen. Doch das änderte nichts an Shuichis melancholischem Gesichtsausdruck. „Das können wir doch auch. Aber warum nicht woanders?“, fragte er. Womöglich schien er es einfach nicht verstehen zu wollen, was Toichi ihm aber auch nicht verübelte. Ein wenig war er auch froh darüber, dass Shuichi scheinbar die Hoffnung, eines Tages von hier verschwinden zu können, noch nicht aufgegeben hatte und er deshalb so hartnäckig blieb. Toichi wollte diese Hoffnung keinesfalls zerstören, weshalb er einfach schwieg. Doch der Schwarzhaarige sah ihn weiterhin so an, als würde er noch eine Antwort erwarten, die aber nie erfolgte. Dennoch schien er nicht locker lassen zu wollen und fügte noch ein paar Fragen hinzu: „Sei ehrlich, was hält dich an diesen Ort? Weißt du überhaupt, was dir alles entgeht?“ „Das weiß ich, aber ich kann es nicht ändern. Ich bin auf meinen Vater angewiesen und habe hier Pflichten, die ich nun mal erfüllen muss. Er würde mich nicht gehen lassen.“ Um ehrlich zu sein wollte Toichi gar nicht daran denken, was das für Folgen mit sich bringen würde, wenn er von hier verschwand. Wahrscheinlich würde man ihn schnell finden und wieder zurückbringen. Er wäre nicht gut darin sich irgendwo vor der Organisation zu verstecken, zumindest nicht auf längere Zeit. Zudem gab es hier niemanden, der kompetent genug wäre, um ihn zu ersetzen. Die erfolgreiche Entwicklung des Gifts APTK lag zum größten Teil in seinen eigenen Händen. Wenn er nicht mehr wäre, könnte das Projekt höchstwahrscheinlich niemals fertiggestellt werden, was vielleicht auch besser so wäre. Aber er durfte sich nicht weigern. Sein unentbehrliches Wissen war das Einzige, was ihn ausmachte. „Hierbei geht es doch nicht um Pflichten, sondern um das, was du wirklich willst. Du willst mir nicht erzählen, dass du gern hier lebst. Wie hast du es überhaupt so lange hier ausgehalten?“, versuchte Shuichi ihn weiter zu überzeugen. Toichi musste schmunzeln, als er die vielen Jahre, die er auf dieser Insel verbracht hatte, in seinem Kopf Revue passieren ließ. Tatsächlich hatte er sich die Frage noch nie selbst gestellt. Zwar war das Leben hier oft nicht leicht gewesen und an manchen Tagen sogar nahezu unerträglich, doch letztlich hatte sich die Uhr trotzdem immer weiter gedreht und jede schlimme Zeit war einmal zu Ende gegangen. Plötzlich kamen ihm die Jahre gar nicht mehr so lang vor und er bekam das Bedürfnis, Shuichi davon zu erzählen. Er bedeutete diesem mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen, um sich die Beine nebenbei ein bisschen zu vertreten. „Es ist nicht so schlimm, wenn man es gewohnt ist. Die Insel ist zwar nicht sonderlich groß, aber ich hab mich nie wirklich eingeengt gefühlt. Nur einsam… und das eigentlich immer. Selbst dann, als ich für ein paar Jahre zum Studieren nach Japan gereist bin.“, begann er. An die relativ kurze Zeit in Japan erinnerte er sich gern ab und zu zurück, da es trotz der Einsamkeit und dem Stress eine andere Erfahrung im Leben gewesen war. Für ihn war das damals so etwas wie eine völlig neue, aber auch fremde Welt gewesen, welche all seine bisherigen Vorstellungen übertroffen hatte. „Du… hast in Japan studiert?“, hakte Shuichi nach. Es schien ihn zu überraschen. „Ja. Medizin, ein paar Naturwissenschaften und eine kurze Zeit auch Psychologie.“, erwiderte Toichi ein wenig stolz, obwohl ihm nicht jeder Studiengang Freude bereitet hatte. „Das ist viel…“ Shuichi zog erstaunt die Augenbrauen nach oben. An seiner Stimme konnte Toichi erkennen, dass er auch Mitleid zu empfinden schien. Doch das benötigte der Silberhaarige längst nicht mehr. Er zuckte mit den Schultern und fragte sich gedanklich, was dieses angeeignete Wissen im Endeffekt nun wert war. Als Kind hatte er nie darüber nachgedacht, doch mit zunehmender Zeit war ihm immer mehr klar geworden, dass Vater sowohl seine Erziehung als auch seine Beschulung bewusst darauf ausgerichtet hatte, dass er eines Tages die Forschung des Gifts leiten würde. Als wäre das von Geburt an seine einzige Aufgabe, die er im Leben erfüllen musste. Wenn Toichi es so betrachtete, kam ihm sein Leben in gewisser Hinsicht schon wertlos vor. „Dementsprechend kannst du dir ausrechnen, wie viel Freizeit mir noch geblieben ist. Ich hatte ohnehin keine Freunde, mit denen ich etwas hätte unternehmen können. Und selbst wenn, stand ich die ganzen Jahre über unter strenger Beobachtung. Mein Vater hätte es niemals geduldet, dass ich meine Zeit mit irgendwelchen Freizeitaktivitäten verschwende.“, fuhr er nach einer Weile fort. Diesmal erwiderte Shuichi nichts darauf. Das Mitleid in seinem Blick wollte nicht verschwinden. Toichi konnte ihm ansehen, dass er sich unter solch einem Leben scheinbar nichts vorstellen konnte und er das Gesagte folglich nur schwer verarbeiten konnte. Toichi lächelte Shuichi verständnisvoll an. Er hoffte, dass es seinem Geliebten anders ergangen war und er nicht so eine strenge Erziehung hatte genießen müssen. „Wie ist es eigentlich mit dir? Was hast du früher gemacht?“, wollte Toichi wissen. So viel von sich selbst zu erzählen hatte ihn mal wieder neugierig auf Shuichis Vergangenheit gemacht. Doch dieser drehte sich umgehend von ihm weg. „Ach… nichts besonderes. Du kannst dir doch denken, dass ich nichts hatte. Sonst wäre ich schließlich nicht hier.“, erwiderte er mit einer Unbeschwertheit in der Stimme, die den Silberhaarigen stutzig werden ließ. Natürlich war das nichts Neues für ihn. Bei den Mitgliedern mit Nummern handelte es sich schließlich immer um Obdachlose oder Waisenkinder. Grob gesagt um Menschen, die keine Angehörigen mehr besaßen und demzufolge niemand vermissen würde, wenn sie spurlos verschwanden. Aber die Organisation hatte sie nie entführt, sondern mit Vorwänden und falschen Versprechungen überredet von selbst mitzukommen. In den meisten Fällen funktionierte diese eigentlich fadenscheinige Methode. Menschen, die sich kaum Nahrung leisten konnten und nicht mal ein Dach über dem Kopf hatten, waren oft so sehr in Verzweiflung versunken, dass sie einem alles glauben würden, nur um ihrem Elend zu entkommen. Doch aus irgendeinem Grund konnte sich Toichi das bei Shuichi bis heute nicht richtig vorstellen. Zum einen machte der Schwarzhaarige manchmal den Eindruck, als würde er sehr wohl noch eine Familie haben, welche er insgeheim vermisste. Zum anderen war er in vielen Dingen sehr belesen und begabt. Nicht wie jemand, der keine Talente oder Fähigkeiten besaß, um sie irgendwo bei einer Arbeitsstelle anbieten zu können und sich deshalb nicht mehr zu helfen wusste. „Ja, schon… aber ich meine davor.“ Toichi versuchte wieder zum Gespräch zurückzufinden und seinem Geliebten doch noch etwas zu entlocken. Aber dabei würde er wohl keinen Erfolg haben, da Shuichi nie viel über sich und seine Vergangenheit erzählte. Wenn es darum ging, war er immer sehr verschlossen. „Also meine Kindheit?“, fragte er. „Ja.“ „Darüber gibt es nicht viel zu sagen.“ „Ach komm schon.“, drängte Toichi ihn. Kurz darauf drehte sich Shuichi mit den Händen auf dem Rücken um und warf ihm ein freches Lächeln zu. „Vielleicht ein anderes Mal.“, lehnte er ab, bevor er wieder herumwirbelte, sodass seine langen Haare im weiten Bogen in der Luft flogen. Da schien plötzlich etwas in sein Blickfeld zu geraten, was sein Interesse weckte. „Oh, was haben wir denn hier…“, sagte er zu sich selbst und erst als Shuichi ein paar Schritte weiterging, konnte Toichi erkennen, worauf sich sein Interesse bezogen hatte. „War das deine?“ Shuichi blieb neben einer alten, rostigen Schaukel stehen und betrachtete sie, als würde er sich fragen, warum sie dort stand. Zugegebenermaßen fragte sich Toichi dasselbe. Er hatte fast vergessen, dass die Schaukel existierte. „Ähm… ja…“, gab er verlegen zu. Irgendwie war ihm das jetzt peinlich. Und dass Shuichi ihn daraufhin amüsiert angrinste, machte es nicht besser. „Darf ich?“, bat er jedoch unerwartet um Erlaubnis, sich auf die Schaukel setzen zu können. Ein Lächeln umzuckte Toichis Lippen und er antwortete: „Gern. Aber sei vorsichtig, die ist schon sehr alt und vielleicht auch nicht mehr so stabil, wie sie es früher mal war…“ Ein wenig befürchtete er schon, dass das alte Teil zusammenbrach, sobald sich Shuichi hinsetzen würde. Doch das geschah zum Glück nicht. Er stieß sich leicht mit den Beinen ab, wobei die Schaukel anfing zu quietschen. „Soll ich dich jetzt anschubsen?“, fragte Toichi scherzhaft, als er hinter seinen Geliebten trat. „Lass mal.“, kam es von diesem, woraufhin beide lachten. Der Silberhaarige spielte mit dem Gedanken, es dennoch zu tun. Jedoch verharrte Shuichi im nächsten Moment und schaute starr geradeaus. Gerade, als Toichi ihn fragen wollte, was los war, sprach er in neugieriger Tonlage: „Ist das da vorn etwa ein Kaninchenkäfig?“ Ehe Toichi seinem Blick folgen konnte, war er bereits aufgestanden, um näher ran zu gehen. Der Silberhaarige ging ihm wortlos nach, bevor beide anschließend vor dem Käfig stehenblieben. Shuichi beugte sich herunter und warf einen Blick hinein. „Und wo ist das Kaninchen?“, wollte er wissen, als er nichts als leblose Leere vorfand. Toichi schwieg. War das nicht offensichtlich? „Tot.“, brachte er nach ein paar Sekunden Stille hervor. In der tiefen, ernsten Tonlage, wie er es aussprach, schien es Shuichi einen Schauer über den Rücken zu jagen. „Schon sehr lange.“, fügte Toichi im milderen Ton hinzu. Er hatte seinem Geliebten keine Angst machen wollen, doch er sprach nicht gern über dieses Thema, welches er seit seiner Kindheit bewusst verdrängt hatte. Jetzt kamen ihm die Erinnerungen wieder hoch und die Übelkeit übermannte ihn. „Du hast nie erwähnt, dass du mal ein Haustier gehabt hast.“, meinte Shuichi ruhig, um anscheinend die Stimmung wieder etwas zu lockern. Aber er erreichte das Gegenteil. Toichi bemerkte nicht, wie sich seine Miene verfinsterte. Er senkte den Blick und überlegte, ob er etwas darauf erwidern sollte. Eigentlich wollte er nicht. Ihm wurde noch übler, was Shuichi nun auch zu sehen schien. „Was hast du?“, hakte er unsicher nach, während Toichi eine zögerliche Berührung an seiner Hand verspürte. Doch er ignorierte beides und ging an dem Schwarzhaarigen vorbei, um sich ebenso vor dem leeren Käfig zu hocken. Stille breitete sich aus, welche sich Shuichi scheinbar nicht mehr traute zu unterbrechen. Toichi hätte sich gern für sein abweisendes Verhalten entschuldigt, aber er brachte kein Wort über die Lippen und versank in Gedanken. Irgendwann glaubte er, dass es vielleicht doch besser wäre, über das Thema zu reden… „Willst du die Geschichte dazu hören?“, fragte er, nachdem er tief durchgeatmet hatte. „Wenn du sie erzählen willst.“ Shuichi klang immer noch unsicher. Eigentlich wollte Toichi sie nicht erzählen. Jedoch bekam er das Gefühl, dass ihm die Erinnerungen erneut ewig verfolgen würden, wenn er sie sich nicht von der Seele redete. Zudem hatte er schon genug Geheimnisse vor Shuichi. Ein weiteres musste nicht dazu kommen, wenn es nicht unbedingt notwendig war. „Es ist schon über 20 Jahre her. Ich glaube, ich hatte es zu meinem achten Geburtstag bekommen. Ein weißes Angorakaninchen mit sehr dickem, weichem Fell.“ Toichi lächelte wehmütig, als das Bild vor seinem inneren Auge erschien. Es war so klar und deutlich und zeigte ihm ein kleines, unschuldiges Wesen, welches kein so grauenhaftes Schicksal verdient hatte. „Demzufolge gab ich es den Namen Schneeball. Ich hatte es vom ersten Moment an ins Herz geschlossen… Damals wollte ich unbedingt ein Haustier haben, aber mein Vater hat sich lange nicht überreden lassen, da er der festen Überzeugung war, dass ich mich nicht gut genug darum kümmern würde. Generell hat er sich nie wirklich für meine Wünsche interessiert, und das mit dem Haustier war für ihn auch nur eine Phase gewesen, die wohl jedes Kind mal hat. Aber er hat sich geirrt… Denn es hatte einen ganz bestimmten Grund, warum ich ein Haustier wollte.“ „Du warst einsam…“, entnahm Shuichi aus ihren vorherigem Gespräch. Seine Stimme war noch nie so leise und von Vorsicht erfüllt gewesen. „Ja. Auf der Insel gab es keine Kinder in meinem Alter und die meisten Erwachsenen waren entweder zu beschäftigt oder nicht sonderlich nett, sodass ich mich nicht mal traute, sie anzusprechen. Darum war ich mit meinen Gedanken immer allein gewesen und konnte mich niemandem anvertrauen. Irgendwie kam es mir wie ein nie endender Teufelskreis vor… Denn wer viel allein ist, macht sich automatisch auch viele Gedanken. Es fehlte die Ablenkung oder jemand, der sich einfach mal die Zeit nimmt und zuhört. Ich fühlte mich von allen Seiten unverstanden, selbst in meinem Vater sah ich eine Zeit lang nichts weiter als einen Fremden. Aber das ließ ich mir nie anmerken…“ Zum Ende bemerkte Toichi, dass seine Worte allmählich zu sehr abschweiften. Irgendwann hatte er angefangen nur noch seine Gedanken laut auszusprechen, welche noch viel düsterer geworden wären, wenn er nicht verstummt wäre. Ihm fiel auf, dass sich Shuichi inzwischen neben ihn gehockt hatte, während er die ganze Zeit aufmerksam zuhörte. Warum waren sie sich erst so spät begegnet? Wo war er damals gewesen, als er ihn mehr als alles auf der Welt gebraucht hatte? Toichi ließ eine Hand unter seine Brille gleiten, um sich die Tränen, die ihm in den Augen standen, wegzuwischen. Dann beschloss er, weiterzuerzählen. „Wie auch immer, ich fing an mich besser zu fühlen, nachdem ich Schneeball bekommen hatte. Gegen der Erwartung meines Vaters habe ich mich sehr gut um das Kaninchen gekümmert und es fast nie aus den Augen gelassen. Zum ersten Mal glaubte ich zu wissen, wie sich so etwas wie Freundschaft anfühlt. Vielleicht mag das albern klingen… aber Haustiere sind wohl wirklich manchmal viel bessere Zuhörer als Menschen. Auch wenn sie nicht antworten, hat man trotzdem das Gefühl, dass sie einen verstehen. Außerdem fand ich so auch die Ablenkung, nach der ich mich lange gesehnt hatte. Ich hab oft hier im Garten mit ihm gespielt. Im Sommer eigentlich jeden Tag. Im Winter ist mir dafür umso mehr aufgefallen, wie schön weich und warm sein Fell war… wenn es mir schlecht ging, hab ich ihn in den Arm genommen. Meistens habe ich meinen Kummer dadurch schnell wieder vergessen und hatte nicht mehr so sehr das Gefühl, dass mir irgendwas fehlt.“ Er setzte eine Sprechpause und ließ den eintretenden Herzschmerz über sich ergehen. Damals hatte er geglaubt, ewig so weiterleben zu können. Aber das Glück, endlich einen Freund gefunden zu haben, währte gerade mal zwei Jahre. Dann erlosch es unmittelbar an einem einzigen Tag, als wäre es nie da gewesen. Die Schuld daran trug nur eine einzige Person. „Allerdings hätte ich mir von Anfang an denken können, dass Vater mir niemals ohne Hintergedanken eine Freude machen würde.“, sagte er verbittert und verengte die Augen. Er war sich sicher, dass er als Kind eigentlich nie jemanden wirklich gehasst hatte. Doch an diesem Tag hatte er es gelernt Hass zu empfinden. Hass auf seinen eigenen Vater, welchem er bis heute nicht verziehen hatte. „Es war am Weihnachtstag. Da war Schneeball am Morgen aus seinem Gehege verschwunden. Vater hatte versucht mich zu beruhigen und mir erklärt, dass ein Tierarzt gekommen wäre, um Schneeball auf irgendwelche Krankheiten zu untersuchen… Ich hab ihm zuerst geglaubt, wurde aber misstrauisch, als die Untersuchung am Abend anscheinend immer noch nicht beendet war.“ Toichi holte tief Luft, während er spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Den Rest konnte er nicht mehr direkt aussprechen. „Du kannst dir sicherlich denken, was es an diesem Tag zum Abendessen gab.“, formulierte er das Ende deshalb ein wenig um, sodass Shuichi es auch so erahnen konnte. Dessen Augen begannen sich zu weiten. „Hast du…?“ Er beendete die Frage wohl bewusst nicht. Toichi nickte langsam. „Ich hab es nicht gemerkt. Vater hat es mir erst erzählt, als es schon zu spät war… danach musste ich mich übergeben…“, erwiderte er mit leiser Stimme. Allein der bloße Gedanke sorgte beinahe dafür, dass er das gleich wieder tun würde. Er schluckte und wartete auf Shuichis Reaktion. Scheinbar suchte er gerade nach Worten. „Das… tut mir wirklich leid… Ich kann mir vorstellen, wie furchtbar das für dich gewesen sein muss.“, meinte er schließlich. Nur wieso entschuldigte er sich? Die Schuld lag nicht bei ihm. Er war ein so liebevoller, warmherziger, mitfühlender Mensch… anders als… „Das war es. Ich fühlte mich, als hätte ich meinen einzigen Freund verraten. Ich wollte es nicht wahrhaben. Das war das erste Mal, dass ich meinen Vater für etwas gehasst habe. Ich habe tagelang nicht mehr mit ihm gesprochen.“ Zugegebenermaßen hatte er die Tage kein einziges Wort mehr über die Lippen gebracht. Erst, als er den Mut dazu gefasst hatte, Vater nach dem Grund für seine Entscheidung zu fragen. Doch er hatte nichts weiter als eine billige Ausrede erhalten. Ihre Beziehung zueinander hatte sich wegen dieses für ihn traumatischen Ereignisses bis heute nicht vollständig erholt. „Du hast so einen furchtbaren Menschen als Vater nicht verdient.“, hörte er Shuichi plötzlich sagen, woraufhin Toichis Blick überrascht zu ihm schoss. Eine Weile schauten sie sich schweigend an und der Silberhaarige erkannte dabei an den Ausdruck von Shuichis Augen, wie ernst er das gemeint hatte. Aus irgendeinem Grund beruhigten Toichi diese Worte. Sie waren wahr. Jedoch würde es hier außer Shuichi wohl niemand wagen, sie auszusprechen. „Man kann sich die Familie leider nicht aussuchen.“ Toichi zwang sich ein Lächeln auf. Wie schön wäre es, wenn das gehen würde. „Das stimmt. Die einen haben mehr Glück als die anderen. Doch selbst denen, die dieses Glück eine Zeit lang genießen, kann irgendwann ein unvorhergesehenes Ereignis widerfahren, das alles mit einem Schlag zerstört, was mal gewesen war…“ Shuichis Stimme war auf einmal von Schmerz erfüllt. In seinem Blick konnte Toichi hingegen nichts als Leere erkennen. Redete er etwa von seiner Familie? Wenn ja, was war mit ihnen passiert? Der Silberhaarige wusste nicht, ob es richtig wäre, diese Fragen zu stellen. Auch wenn es fast nie vorkam, dass Shuichi sich ihm öffnete, entschied er sich dagegen und wartete, bis sein Geliebter von selbst fortfahren würde. „Weißt du, im Grunde unterscheiden die anderen und ich uns nicht sonderlich von diesem Kaninchen. Diese Insel ist unser Käfig und wir sind allen höher gestellten Mitgliedern schutzlos ausgeliefert. Ich glaube, dass uns eines Tages ebenso ein schlimmes Schicksal ereilen wird…“, redete er gedankenversunken vor sich hin, den Blick dabei ununterbrochen an den Kaninchenkäfig geheftet. Toichi durchfuhr augenblicklich eine Schockwelle. Nie hätte er jetzt damit gerechnet, dass Shuichi das Gespräch in diese Richtung lenken würde. Dessen Worte bewiesen wieder einmal, dass er Bescheid wusste, oder es zumindest ahnte. Wie sonst würde er auf solche Ideen kommen? Doch so sehr Toichi es auch wollte, er durfte nichts über das geheime Projekt der Organisation preisgeben. Und selbst wenn Shuichi davon wusste und ihn irgendwann damit konfrontieren würde, wäre er dazu gezwungen, alles zu leugnen. Es brach ihm das Herz. Doch es war seine Pflicht, den Schein zu wahren. „Vergleichst du dich gerade ernsthaft mit einem Kaninchen?“, erwiderte er deshalb lachend, um die Spannung in der Luft zu lösen. Shuichis darauffolgender, entgeisterter Gesichtsausdruck überraschte ihn nicht. Eine Falte bildete sich zwischen dessen Augenbrauen und seine Lippen formten eine gerade Linie. Er antwortete erst, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. „Ja… das war wohl wirklich etwas albern.“, gab er zu und lachte anschließend leicht. Jedoch erkannte Toichi schnell, dass dieses Lachen nicht echt war. Er befürchtete, dass er soeben einen weiteren Teil von Shuichis Vertrauen verloren hatte. Irgendwas musste er dagegen tun. Er wollte nicht, dass sich sein Geliebter vielleicht bald unsicher in seiner Nähe fühlte und ihm gar nicht mehr vertraute. Dieses Vertrauen hing ohnehin schon am seidenen Faden, genau wie ihre Liebe zueinander. Eines Tages würden beide Fäden endgültig reißen. Von seiner Trauer überwältigt, griff Toichi nach Shuichis Händen und zog ihn zu sich in die Arme. Da diese Geste unerwartet für den Schwarzhaarigen kam, spannte sich sein Körper kurzzeitig an, was Toichi versuchte zu ignorieren. Er ließ seine Hände langsam über Shuichis Rücken wandern und drückte ihn anschließend fester an sich. Am liebsten wollte er ihn nie wieder loslassen. Ihn niemals verlieren. Doch er wäre zu schwach, um den Mann zu beschützen, den er über alles liebte… „Aber selbst wenn es so wäre, wie du sagst, dann wärst du nur mein Kaninchen und ich würde immer gut auf dich aufpassen, hörst du? Ich würde nie zulassen, dass dir etwas passiert. Also mach dir keine Sorgen.“ Er hoffte, Shuichi mit diesen Worten ein wenig beruhigen zu können. Doch dieser tat nur einen zittrigen Atemzug, während er den Kopf zur Seite drehte, um sein Gesicht vor ihm zu verbergen. Toichi wusste, dass seine Worte einen wahren Kern besaßen, aber dieser bestand keinesfalls darin, Shuichi um jeden Preis zu beschützen und auf ihn aufzupassen. Das war lediglich ein unerfüllbarer Wunsch, den der Silberhaarige hatte. Sondern Shuichi war in der Tat sein Kaninchen. Sein Versuchskaninchen, das schon bald einen seiner Experimente zum Opfer fallen würde. „Ich liebe dich.“, sprach er aus tiefstem Herzen. Er würde Shuichi immer lieben. Bis in den Tod. „Ich dich auch…“, erwiderte sein Geliebter. Es war nur ein leises Flüstern. So leise, dass Toichi die Gefühle, die in den Worten mitschwangen, nicht deuten konnte. Sie verharrten noch eine ganze Weile in dieser Position. Als die Anspannung in Shuichi irgendwann nachließ, strich Toichi ihm sanft über den Rücken. Der Wind fing an stärker zu werden und brachte eine kalte Luftmasse mit sich, die dafür sorgte, dass ihr Aufenthalt draußen nicht mehr länger andauerte. Und so verließen beide den Hintergarten und kehrten nie mehr dorthin zurück.   …   Bis heute.   Toichi saß schweigend auf der Schaukel und senkte den Blick. In seinen Händen hielt er das Foto, welches ihm nach wie vor seinen verschwundenen Geliebten zeigte. Mit einem fremden Mann, der ihm auf unerklärliche Weise bis aufs Haar glich. Je länger Toichi das Foto betrachtete, umso mehr zeichnete sich in seiner Miene etwas von der unermesslichen Verachtung ab, die er für diesen Mann empfand. „Denkst du etwa, dass du meinen Platz an seiner Seite einnehmen kannst, nur weil du mir ähnlich siehst? Du wirst schon bald sehen, was du davon hast.“, sprach er hasserfüllt in Gedanken, bevor er das Foto wieder wegsteckte und den Kopf nach hinten lehnte. In dem milden, hellblauen Himmel war heute keine einzige Wolke zu sehen. Die Sonne fühlte sich warm im Gesicht an. Für einen kurzen Moment war es für Toichi so, als würde Shuichi noch immer hier sein und mit ihm gemeinsam das friedliche Wetter genießen. Wie gern würde der Silberhaarige ihn jetzt lächeln sehen. Dann wäre er wieder von all seinen Sorgen befreit und die Qualen dieser Welt würden sich für immer in Nichts auflösen. „Wir werden uns bestimmt irgendwann wiedersehen. Ich hoffe, dass ich bis dahin einen Weg gefunden habe, wie du mir verzeihen kannst…“, dachte Toichi. Von jetzt an würde er seine eigenen Pläne verfolgen. Er schwor sich, dass er nie wieder etwas tun würde, was in irgendeiner Weise Shuichis Leben gefährden könnte. Und wenn er sich dafür gegen alles und jeden in Eclipse stellen müsste… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)