The Monster inside my Veins von ginakai ================================================================================ Kapitel 29: Hast du vergessen, wer du bist? ------------------------------------------- Rye beobachte mehr oder weniger aufmerksam den Eingang der Bar ‚Black Widow‘, welche sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Ganz in schwarz, mit leuchtend lilafarbenen Verzierungen und einem Eingangsschild, auf welchem eine Spinne abgebildet war. Zwar passend, aber geschmacklos. Das Gesamtbild erinnerte Rye an tödliches Gift. Doch er würde sich davon gewiss nicht abschrecken lassen. Dieser Unternehmensleiter war vor wenigen Minuten eingetroffen, was er jedoch nur mitbekommen hatte, weil Gin ihn darauf hingewiesen hatte. Denn die ganze Zeit über hatte Rye kaum den Blick von seinem Partner abgewandt. Obwohl Gins Anblick ihn immer überwältigte, schob er es heute ausnahmsweise auf den Anzug, welchen der Silberhaarige (leider viel zu selten) trug. Ein besonderer Anlass forderte eben auch die passende Kleidung. Was Rye dazu brachte den heimlichen Gedanken zu nähren, Gin öfters zu solchen Anlässen einzuladen. „Wirklich schade, dass ich ihn nicht zum Essen ausführen kann.“, dachte Rye frustriert, bevor Gin die Zigarette, die er bis eben geraucht hatte, ausspuckte und drauf trat. Er richtete seinen Sakko und ließ den Blick zu ihm herüber schweifen. „Schätze, wir müssen den Hintereingang nehmen. Dem Anschein nach müssen die Gäste ihre Einladung vorzeigen.“, schlug er vor. Rye war zum Glück nicht entgangen, wie ein breit gebrauter Türsteher tatsächlich die Einladungen der Gäste am Eingang kontrollierte, bevor er sie hereinließ. Natürlich könnte er den Kerl einfach bewusstlos schlagen, doch das würde in diesem belebten Viertel viel zu viel Aufmerksamkeit erregen. Es gab kaum einen Quadratmeter, auf dem sich niemand befand und selbst wenn sich mal eine kleine Lücke bildete, war sie innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde wieder geschlossen. Den größten Teil der Menschenmassen bildeten junge Leute, welche entweder vor der Bar, aus der sie geworfen wurden - oder in die sie nicht rein durften - herumlungerten, oder die von einer Bar zur nächsten zogen und das Nachtleben genossen. Nur wenige schienen für einen bestimmten Club gekommen zu sein und alle bei denen dies offensichtlich der Fall war, steuerten auf das gleiche Ziel zu: Die ‚Black Widow‘. „In Ordnung.“, stimmte Rye seufzend zu. Während er sich in Bewegung setzte, bereute er bereits, dass er Gin nicht länger bewundern durfte, wenn er diesen Auftrag beenden wollte. Der Silberhaarige ging erst ein paar Sekunden später über die Straße, wobei Rye es nicht lassen konnte, kurz prüfend zu ihm nach hinten zu schauen. Nur für den Fall, das etwas passierte. Hier trieb sich zu viel Gesindel herum, als dass er seinen Geliebten länger als ein paar Sekunden aus den Augen lassen konnte… Sobald Gin die Straße sicher überquert hatte, tat Rye so, als würde ihn die Bar nicht interessieren und ging gemächlichen Schrittes um das Gebäude herum. Dabei sorgte er unauffällig dafür, dass er wieder neben Gin laufen konnte. Je näher sie ihrem Ziel kamen, um so stärker konzentrierte sich Rye darauf, alles belanglose auszublenden. Schnell konnte er die Stimmen zweier Männer aus der allgemeinen Geräuschkulisse herausfiltern, die sich am Hintereingang der Bar zu befinden schienen. Anscheinend waren sie schlecht gelaunt und beschwerten sich bei dem jeweils anderen über den stressigen Arbeitstag. „Keine Sorge, eure Schicht ist gleich zu Ende.“, dachte Rye hämisch, bevor er stehenblieb und den Arm vor Gins Brust hob, um ihn am Weitergehen zu hindern. Der Hintereingang befand sich direkt um die nächste Ecke, sodass auch Gin die Stimmen hörte und verstand. Rye ließ den Arm wieder sinken und wandte sich seinem Geliebten zu. „Gib mir eine Minute.“, sagte er leise. „Dann kannst du nachkommen.“ Gin sah ihn einen Moment lang nur missmutig an, als würde er das nicht so hinnehmen wollen. Doch die Worte, die ihm scheinbar auf der Zunge lagen, ließ er unausgesprochen. „Im Gegenzug werde ich dich überraschen, wenn ich mit den Beiden fertig bin.“, versprach Rye und setzte anschließend ein schelmisches Lächeln auf, das den Silberhaarigen stutzig werden ließ. Seine Lippen formten eine harte Linie und ein grüblerischer Ausdruck trat in seine Augen. „Meinetwegen.“, willigte er nach ein paar Sekunden schließlich ein. Immer noch lächelnd zwinkerte Rye ihn vielsagend an und verschwand danach um die Ecke. So schnell und lautlos, dass die beiden Männer ihn gar nicht kommen sahen. Noch bevor sie die Gefahr richtig erfassen konnten, hatte Rye sie bereits mit zwei gezielten Handkantenschlägen ins Genick ausgeknockt. Triumphierend beobachtete Rye, wie die Beiden bewusstlos zu Boden sanken. Ein klein wenig stolz auf sich war er dabei schon, dass er die genaue Kraft der Schläge richtig abgeschätzt und ihnen nicht versehentlich das Genick gebrochen hatte. Vier Tote sollte es heute immerhin nicht geben. Zum Glück hatte einer der Kerle ungefähr dieselbe Statur wie er, wenn auch etwas größer gewachsen. Mit flinken Handgriffen zog Rye ihm schwarze Anzugweste, weißes Hemd und Fliege aus, bevor er sich selbst obenrum entkleidete und die Klamotten austauschte. Die Hose passte zum Glück dazu. Zuletzt band Rye seine langen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen und überprüfte noch einmal, ob alles richtig saß. Wie vermutet waren die Ärmel ein bisschen zu lang und er musste sie hochkrempeln. Jedoch fiel ihm auf, das noch irgendetwas fehlte. Etwas, das seine Tarnung perfekt vervollständigen würde. Rye ließ den Blick über die beiden Männer schweifen. Da bemerkte er es. Der Andere trug noch eine Brille. Ohne zu zögern probierte Rye sie an und versuchte durch die Gläser hindurchzuschauen. Zu seinem Erstaunen wurde seine Sehfähigkeit dadurch nicht im geringsten eingeschränkt. Er konnte noch genauso scharf sehen wie vorher. Umso besser, dann konnte er sich die Brille für den Rest des Abends ausleihen. Während Rye Daumen und Zeigefinger ans Kinn legte, fragte er sich: „Und was mach ich jetzt mit denen?“ Leicht überfordert huschte sein Blick zwischen den beiden Kellnern hin und her. Etwas, womit man sie fesseln und knebeln konnte, hatte er nicht dabei. Er konnte nicht voraussagen, wie lange die Bewusstlosigkeit anhalten würde. Wäre die Zeitspanne zu kurz und die Männer kämen wieder zu sich, könnten sie zum Problem werden. Egal, wohin er sie letztlich verfrachtete. Blieb nur, sie irgendwo einzusperren, wo keine Menschenseele nachsehen würde. Aber wo gab es solch einen Ort in so einem belebten Viertel schon. Plötzlich vernahm Rye Schritte hinter sich. Sein Körper spannte sich reflexartig an, um einen möglichen Angreifer sofort zu überwältigen. Doch als er seinen Blick über die Schulter warf, stellte er mit Erleichterung fest, dass es sich nur um Gin handelte. „Du solltest doch kurz warten.“, tadelte Rye und verschränkte die Arme. Für einen Moment wurden die Augen des Silberhaarigen groß, bevor er zu schmunzeln begann. „Die Minute ist rum.“, meinte er schulterzuckend und fügte belustigt hinzu: „Ich wollte meine Überraschung sehen.“ Rye war sich sicher, dass er jetzt erröten würde, wenn er könnte. Er drehte sich zu Gin um, damit dieser seinen neuen Look betrachten konnte. „Wie seh‘ ich aus?“, fragte Rye, als sein Partner ihn lediglich schweigend anstarrte. Er versuchte es scherzhaft klingen zu lassen, doch die Verlegenheit ließ sich dennoch aus seiner Tonlage heraushören. Gin musterte ihn weiterhin mit großen Augen. Rye glaubte, eine leichte Röte auf dessen Wangen erkennen zu können. Doch dann verhärtete sich Gins Miene wieder und er erwiderte trocken: „Die Brille steht dir nicht.“ Das daraufhin eintretende Schamgefühl traf Rye wie ein Schlag ins Gesicht. „Findest du wirklich?“, hakte er verdutzt nach, während er überlegte, die Brille doch lieber wieder abzunehmen. Jedoch lachte Gin nur leise, ohne eine klare Antwort auf die Frage zu geben. Kurz darauf warf er dem Schwarzhaarigen etwas zu. „Du solltest dich nächstes Mal besser vorbereiten.“, sagte er dabei. Rye betrachtete das Tesafilm in seinen Händen. Zum Glück hatte Gin dran gedacht. „Danke.“, erwiderte er lächelnd. Es dauerte nicht lange, die beiden Kellner ordentlich zu fesseln und sie anschließend provisorisch in einem Müllcontainer neben der Tür zu verstecken. Dort würde so schnell niemand nach ihnen suchen. Rye betrat das Gebäude zuerst, um zu überprüfen, ob die Luft rein war. Schließlich war Gin als normaler Gast hier und durfte nicht in der Personalabteilung gesehen werden. Der kleine Flur schien leer zu sein. Doch aus den angrenzenden Räumen konnte Rye verschiedene Geräusche vernehmen. Stimmen. Schritte. Das Klappen eines Schließfachs. Eiswürfel, die klirrend in ein Glas fielen. Kochendes Wasser. Das Brutzeln mehrerer Pfannen und Fritteusen. Noch vieles mehr, doch im Gang bewegte sich noch immer niemand. Rye bedeutete Gin mit einem Nicken, dass sie ohne Probleme durchgehen konnten. Vor der Küche, deren Tür weit offen stand, erhöhten sie ihr Schritttempo. Die Bestellungen wurden anscheinend alle über eine in der Wand eingebaute Durchreiche weitergegeben, sodass die Kellner nicht jedes Mal in die Küche laufen mussten. Doch hin und wieder mussten einige Köche trotzdem hin und her wandern, um beispielsweise zum Kühlraum zu gelangen. Was genau jetzt wieder der Fall war. Gerade noch so, dass Rye und Gin den Gang rechtzeitig verlassen konnten, ohne entdeckt zu werden. Draußen wurde die Musik, die bisher nur gedämpft zu hören gewesen war, sofort lauter. Wenigstens war es anständiger Jazz, jedoch nicht von einem Gerät gespielt, sondern live gesungen. Bevor sich Rye einen groben Überblick verschaffen konnte, wurde er allerdings von Gin hinter sich am Ärmel gezogen. Beide blieben stehen. Als sich Rye umdrehte, konnte er dem Silberhaarigen schon an seiner ernsten Miene ablesen, dass jeder von nun an auf sich allein gestellt war. „Wir machen es wie besprochen: Du Tezuka Naganori und ich den NOC.“, sagte Gin in autoritärer Tonlage. Rye nickte. Er war sich nicht sicher, inwieweit es ihm gelingen würde in seiner neuen Rolle aufzugehen und wusste, dass er kein geborener Schauspieler war. Jedoch würde er alles versuchen, um überzeugend zu wirken. Wie schwer sollte es schon sein den Kellner zu spielen? Da spürte Rye auf einmal die Wärme von Gins Hand an seiner eigenen, als dieser ihm unauffällig etwas gab. Ein Gerät. „Sobald ich einen Verdacht habe, werde ich es dich wissen lassen.“, meinte Gin, während er sich ein Mikrofon ans Ohr klemmte. Rye tat es ihm gleich. Aus irgendeinem Grund kam ihm die Handlung seltsam vertraut vor, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, so ein Gerät je benutzt zu haben. „In Ordnung.“ Er dachte nicht weiter darüber nach und versuchte sich ein selbstsicheres Lächeln aufzuzwingen. „Viel Glück. Wenn es ein Problem geben sollte, sag mir Bescheid.“, entgegnete Gin und deutete mit dem Zeigefinger auf das Ohr-Mikrofon. „Mach ich, danke.“ Rye beobachtete, wie Gin ihm den Rücken zudrehte und sich immer weiter von ihm entfernte, bis er letztlich unter den Gästen verschwand. Rye beschlich sofort ein unwohles Gefühl, sobald er seinen Geliebten nicht mehr sehen konnte. Doch er versuchte es abzuschütteln. Von nun an war es wichtig sich auf die Mission zu konzentrieren. Angefangen damit, dass er sich einen groben Überblick verschaffen musste. Von draußen hatte die Bar definitiv kleiner gewirkt. Der riesige Saal kam Rye mindestens doppelt so groß vor. Jedoch entsprach die Einrichtung nicht der einer herkömmlichen Bar. Es gab schon eine Theke – direkt über die Durchreiche mit der Küche verbunden – aber diese wirkte eher nebensächlich im Gegensatz zu der breiten Bühne, die zentral einen großen Teil des schwach beleuchteten Saals einnahm. Gerade spielten ziemlich viele Instrumente: Ein Schlagzeug, ein Keyboard, zwei Saxophone, ein Bass und eine Gitarre. Die Melodie des Liedes klang irgendwie gehetzt und doch gleichzeitig sehr harmonisch. Die tiefe Stimme der Sängerin war zu schnell, als dass es Rye gelang jedes Wort zu verstehen und es war zudem eine Mischung aus verschiedenen Sprachen. Ein Großteil der Gäste schien ohnehin nur das bildschöne Aussehen der Sängerin zu bewundern, anstatt auf das Lied zu achten. Die Meisten saßen an runden, fein gedeckten Tischen und unterhielten sich über alles Mögliche. Die Gespräche über gewisse abartige Neigungen und Vorlieben, in denen sich hin und wieder abfällige, perverse Kommentare über jegliche Personen mit hineinmischten, versuchte Rye bewusst auszublenden. Manchmal war es wirklich kein Segen alles im weiten Umkreis hören zu können. Diese Jubiläumsfeier hätte wohl besser in einem Bordelle stattfinden sollen. Die Gäste waren ohnehin zu 99% männlich. Rye ließ seinen Blick eine Treppe hinauf gleiten, die zu einer umlaufenden Empore führte, wo sich hinter einem Geländer noch weitere Gäste befanden. Diese machten allerdings einen ganz anderen Eindruck, als würden sie sich von den anderen abgrenzen. Unten saßen anscheinend nur die normalen Angestellten, während oben die gehobenere Schicht der Gäste saß. Rye vermutete, dass er dort mit hoher Wahrscheinlichkeit auch den Unternehmensleiter finden würde. „Hey, du da!“ Rye zuckte zusammen. Die Stimme kam von Richtung Theke. Er drehte sich um und erblickte einen breit gebauten Mann mit Bart und Glatze. „Steh da nicht wie angewurzelt rum und scher dich gefälligst an die Arbeit! Die Bestellungen wandern nicht von allein zu den Tischen!“, keifte er und schob ein rundliches Tablett mit vier alkoholischen Getränken unsanft über die Theke. „J-Jawohl, Verzeihung.“ Rye trat an die Theke heran und nahm das Tablett zögernd entgegen. „Die kommen alle zu Tisch 36.“, teilte ihm der Mann in ruhigerer Tonlage mit. Rye tat so, als würde er wissen, welcher Tisch damit gemeint war und ging mit den Getränken davon. In Wirklichkeit wusste er jedoch überhaupt nicht, wie die Tische hier nummeriert waren. Ohne es zu merken, blieb er stehen, um sich umzusehen. Einfach wahllos die Tische abklappern oder einen Mitarbeiter zu fragen würde unbeholfen wirken und zu sehr auffallen. „Stell dich nicht so an. Auf den Tischen stehen Kärtchen mit der jeweiligen Nummer.“, hörte Rye plötzlich die Stimme von Gin in seinem Ohr. „Er beobachtet mich gerade…“ , musste der Schwarzhaarige beschämt feststellen. Er atmete tief durch die Nase und versuchte Gins verlockend süßlichen Geruch aus der Menge herauszufiltern. Auf diese Weise gelang es Rye sehr schnell seinen Partner ausfindig zu machen, welcher ganz hinten im Saal mit einem Getränk in der Hand an der Wand lehnte. Als sich ihre Blicke begegneten, lächelte Gin ihn leicht an, bevor er einen Schluck von seinem Glas nahm und wieder wegschaute. Rye konnte sich ebenso ein Lächeln nicht verkneifen. Mit neuer Entschlossenheit widmete er sich wieder seiner Aufgabe zu und suchte auf jeden der Tische in seinem Umfeld die Kärtchen mit den Nummern. Alle nur von 10 bis 20, dennoch versuchte er sich möglichst jede davon einzuprägen. „Vielleicht oben…“, dachte Rye und ging kurz darauf mit schnellen Schritten die Treppe hoch. Stets darauf achtend, den Inhalt der Getränke nicht zu verschütten. Im ersten Stock waren die Nummern schon höher. „29… 31… 32… 35…“, zählte Rye gedanklich, bis er den gesuchten Tisch endlich gefunden hatte. Vier Männer. Vier gleiche Getränke. Da konnte er glücklicherweise nichts vertauschen. Kaum hatte er den Tisch erreicht, richteten sich auch schon die vier Augenpaare der Männer ungeduldig auf ihn. „Das hat aber ganz schön gedauert.“, meinte einer von ihnen gereizt. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, ich arbeite noch nicht lange hier und verliere manchmal den Überblick.“ Rye lächelte entschuldigend und teilte die Getränke nacheinander aus. „Darf es noch etwas sein?“ Die Herren schauten sich abwechselnd an und schüttelten leicht den Kopf, bis einer noch sagte: „Nein, erst mal nicht.“ Rye verbeugte sich schweigend, bevor er sich von den Herren wieder abwandte. Wenn er schon einmal hier oben war, wollte er auch die Gelegenheit nutzen und diesen Naganori finden. Dafür müsste er jedoch wissen, wie der Kerl ungefähr aussah. Und es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Rye ließ seine Hand unauffällig zu seinem Ohr wandern und betätigte einen Knopf am Mikro, um Gin im leisen Ton eine Frage zu stellen: „Du sagtest doch gestern, dass du diesen Naganori kennst. Weißt du vielleicht, wie er aussieht und könntest ihn mir beschreiben?“ Rye lauschte angespannt dem Rauschen in seinem Ohr. Gin antwortete ihm erst nach mehreren Sekunden. „Ich merke mir nur selten die Gesichter anderer Personen… Er müsste relativ alt sein. Ich glaube, seine Haare waren schwarz… sein Gesicht eher kantig und faltig. Auf die Augenfarbe hab ich nicht geachtet.“ Rye merkte dem Silberhaarigen an der nachdenklichen Tonlage und den Sprechpausen an, wie schwer es ihm fiel, sich zu erinnern. Er unterdrückte ein Seufzen und bohrte weiter: „Statur?“ „Etwas breit, aber nicht dick.“ Es klang nicht sonderlich sicher. Doch da Rye vorerst keinen anderen Anhaltspunkt hatte, musste er sich wohl oder übel an diesen paar Informationen orientieren. „Wenn er mir über den Weg läuft, würde ich mich erinnern. Aber das ist bisher noch nicht der Fall gewesen. Du findest ihn schon, der Kerl steht doch sozusagen heute im Mittelpunkt.“, fügte Gin hinzu, um ihn scheinbar zu ermutigen. „Das ist leicht gesagt…“, erwiderte Rye frustriert. Er ließ seinen Blick hin und her schweifen und suchte nach Personen, auf denen Gins grobe Beschreibung zutraf. Rye stellte schnell fest, dass in diesem Bereich fast jeder alt war. Je nach dem, wie man ‚alt‘ definierte. Älter als er selbst war der Großteil auf jeden Fall. Was die Haarfarbe betraf, fielen zumindest einige weg. Etwas breit gebaut war von den Übrigen auch nicht jeder. Die Gesichtsform konnte Rye allerdings schlecht abschätzen. Während er ein paar Runden drehte und nebenher die ein oder andere Bestellung aufnahm, um nicht verdächtig zu wirken, versuchte er jedes Gespräch, das seine Ohren erreichte, zu belauschen. Vielleicht konnte er so noch an brauchbare Infos gelangen. Aber der Inhalt der Gespräche schien in den allermeisten Fällen belanglos zu sein. Von irgendwelchen komplizierten Geschäften, von denen Rye überhaupt nichts verstand, bis hin zu diversen Problemen innerhalb der Familie war alles mit dabei. Von flachen Witzen und albernem Gelächter mal abgesehen. Zwischendurch schnappte Rye noch auf, dass es anscheinend im Hinterbereich noch eine VIP-Lounge mit extra Zimmern gab. Jedoch bezweifelte er, dass der Kerl sich dorthin zurückgezogen hatte. Als Unternehmensleiter müsste dieser eigentlich allen Gästen zur Verfügung stehen oder sich wenigstens einmal vor allen zeigen. Es war schließlich eine Jubiläumsfeier. Als Rye wieder die Treppe herunterging, schnappte er plötzlich doch einen Satz auf, der neue Hoffnung in ihm weckte: „…wollte er die Rede nicht um acht Uhr halten?“ Daraufhin entgegnete jemand anderes abfällig: „Sind doch noch zehn Minuten bis dahin. Und selbst wenn nicht, auf den sein falsches, überfreundliches Geschwafel kann ich echt verzichten.“ „Hast ja recht. Dem geht es einzig und allein nur um die Kohle. Wir kleines Volk interessieren den doch gar nicht. Hast du mitbekommen, wie viel er im letzten halben Jahr entlassen und einfach ersetzt hat? In den meisten Fällen ohne nachvollziehbare Begründung.“ Ein Lächeln umspielte Ryes Lippen. Dann würde er diesen Naganori also spätestens in zehn Minuten zu sehen bekommen. Womöglich auf der Bühne. Von da an würde er ihn problemlos im Auge behalten können. „Aber sonderlich beliebt unter seinen Angestellten scheint er nicht zu sein…“, dachte Rye auf dem Weg zurück zur Theke, um dort die Bestellungen abzugeben. Doch mitten im Gehen blieb er stehen, als die meisten Instrumente auf der Bühne plötzlich aufhörten zu spielen. Die Melodie wurde langsamer. Nur noch die Stimme der Sängerin war zu hören, deren Worte Rye nun klar und deutlich verstehen konnte:   ♪♫ „…It is a wonder for my life Please could you kiss my name? When the music's over Turn off light It was such a sweet time Could you pray for me, my friend? It's starting overtime…“ ♪♫   Gin nahm nur beiläufig wahr, wie sich die Atmosphäre des Saals durch die Musik ein wenig veränderte. Er hatte die ganze Zeit auch kaum auf das Lied geachtet, da er mit anderen Dingen beschäftigt war. Den NOC aus der großen Anzahl an Gästen herauszufiltern und gleichzeitig darauf zu achten, dass Rye keine Fehler unterliefen, erwies sich als schwieriger, als er zu Anfang angenommen hatte. Manchmal wusste er nicht, worauf er sich mehr konzentrieren sollte. Wenigstens schien Rye allmählich mit seiner Rolle klarzukommen und wirkte nicht mehr ganz so ungewandt wie vorhin. Zugegebenermaßen fiel es Gin auch nicht wirklich leicht sich der Masse anzupassen. Gefühlt jeder saß zusammen in einer kleinen Gruppe aus mindestens drei Personen. Die Wenigsten blieben lieber allein. Wer allein herumstand, wirkte automatisch so, als würde er nicht richtig dazu gehören. Jedoch hatte Gin kein wirkliches Interesse mit irgendjemanden hier ein Gespräch anzufangen. Das würde nur unnötig ablenken. Als Unbeteiligter konnte man das Geschehen viel besser beobachten und besonders auffällige Personen genauer im Auge behalten. Auffällige Personen, bei denen es sich eventuell um den gesuchten NOC handeln könnte. Gin überlegte, unter welchen Kriterien er seine Suche eingrenzen sollte. Er stellte sich gedanklich ein paar Fragen, auf die er eine Antwort finden sollte, um sich die Arbeit zu erleichtern: „Wie würde sich ein NOC auf solch einer Veranstaltung verhalten? Was würde er tun? Würde er versuchen sich anzupassen oder eher im Hintergrund bleiben?“ Wenn man es genau betrachtete, gehörte ein NOC ebenso nicht richtig dazu. Eine solche Person war stets auf der Suche nach Informationen und musste immer alles im Überblick behalten. Sie würde versuchen nicht aufzufallen. Doch musste die meiste Zeit über allein bleiben, um unbemerkt Informationen an Kollegen weiterleiten zu können. Gin fiel auf, dass er in diesem Sinne vieles mit dem NOC gemeinsam hatte. Zumindest heute. Genau jetzt in diesem Moment. Sie gehörten beide nicht dazu. Mussten beide im Hintergrund agieren, würden aber notgedrungen in den Vordergrund treten. Sie beide suchten nach etwas. Zwar nach unterschiedlichen Dingen, doch das spielte keine Rolle. Und so ließ Gin analysierend seinen Blick durch den Saal wandern, um nach Personen Ausschau zu halten, die sich genau so verhielten wie er. Das grenzte den Kreis der Verdächtigen erheblich ein. Es konnte nur hier unten sein, denn der NOC war mit Sicherheit einer von den Angestellten und von denen befand sich niemand in der oberen Etage. Auf Anhieb geriet nur eine einzige Person in Gins Blickfeld. Ein blondhaariger Mann, welcher etwas weiter entfernt neben der Toilettentür lehnte und sich gerade eine Zigarette ansteckte. Gut, dass das Rauchen in dieser Bar nicht verboten war, weshalb Gin selbst seit eben eine Zigarette rauchte. Eine relativ praktische Beschäftigung, damit es nicht ganz so aussah, als hätte man gar nichts zu tun. Außenstehende könnten durchaus davon ausgehen, dass man einfach nur höflich sein und niemanden zuqualmen wollte. Doch Gin stellte sich dennoch die alles entscheidende Frage, ob dieser Mann tatsächlich die Person war, nach welcher er suchte. Ob dieser Mann wirklich der besagte Spion im Unternehmen war. Um das herauszufinden, musste er ihn erst mal noch eine Weile beobachten und jede seiner Bewegungen studieren. Gin verengte skeptisch die Augen. Sein Gefühl sagte ihm, dass er richtig lag. Und sein Gefühl trog ihn sonst nie. Aber er wollte noch keine voreilige Entscheidung treffen. Während er den Mann weiter beobachtete, hörte er nebenbei, wie die Musik vollkommen verstummte. Die Lichter im Saal wurden auf einmal heller. Es herrschte aufmerksames Schweigen. Nur im Augenwinkel sah Gin, wie ein älterer Mann auf die Bühne trat und das Mikrofon überprüfte. Kein Zweifel, das war Tezuka Naganori. Er würde nun seine Rede halten und Rye müsste ihn dabei deutlich erkennen können. „Meine sehr geehrten Damen und Herren. Es ist mir eine eine besondere Ehre und Freude, hier vor ihnen zu stehen und anlässlich des 50. Jubiläums unseres Unternehmens zu Ihnen zu sprechen. Fünfzig Jahre Arbeitsleben sind eine lange Zeit und alleine für sich betrachtet schon beachtlich genug, entsprechend gewürdigt zu werden. Ich bin beeindruckt von der Schnelligkeit, der hohen Qualität und Präzision Ihrer Arbeit. Fünf Jahrzehnte voller Geschichte liegen hinter uns, in der unser Unternehmen unendlich viel erreicht hat. Wir erinnern uns…“ Gin verdrehte die Augen und versuchte das Gerede auszublenden. Er fixierte seinen Blick wieder auf den blondhaarigen Mann, welcher jetzt so tat, als würde er zuhören. Nebenbei schien er jedoch mit flinken Fingerbewegungen etwas auf seinem Smartphone einzutippen. Bemerkenswert, wie er teilweise blind schreiben konnte und nur sehr selten auf den Bildschirm schauen musste. Das zog er die ganze Rede über so durch, als sei er ein Computer. Anderen, die darauf nicht bewusst achteten, wäre es nicht wirklich aufgefallen. Zum Ende der Rede bewegte sich der Mann endlich vom Fleck und schien sich unters Volk mischen zu wollen. Als Naganori die Bühne verließ, erhoben sich auch einige Angestellte von ihren Plätzen, um mit ihm das Gespräch zu suchen. Es wurde dementsprechend wieder lauter im Saal. Mitten im Getümmel konnte Gin dann auch Rye wieder entdecken, welcher versuchte durch eine Lücke in der Masse zu Naganori hindurch zu spähen. Allerdings wurde er nicht sofort fündig und achtete dabei weniger auf seine Umgebung. Erst, als er ein paar Schritte rückwärts ging, fiel Gin auf, dass sich Rye unbewusst dem vermeintlichen Spion näherte. Da dieser jedoch gerade in eine andere Richtung schaute, stießen beide kaum einen Moment später zusammen. Gin schüttelte seufzend den Kopf, während sich der blonde Mann leicht erschrocken umdrehte und sich Rye schließlich bei ihm entschuldigte. Danach ging er schnell weiter und eigentlich wäre es damit auch erledigt gewesen. Doch da tat der Mann plötzlich etwas völlig Unerwartetes: Er starrte Rye hinterher. Mit einem vor Schock und Entsetzen versteinertem Gesichtsausdruck. Als hätte er einen Geist gesehen. Aber Rye schien es längst nicht mehr zu bemerken. „Was sollte das jetzt…?“ Gin runzelte verwirrt die Stirn. Der Kerl hatte doch überhaupt nichts mit Rye zu tun. „Oder doch…?“ Gin musste erfahren, was es mit dem schlagartig veränderten Verhalten des Mannes auf sich hatte und ob er Rye vielleicht doch schon einmal irgendwo begegnet war. Gin versuchte sich vorerst von dem Gedanken loszureißen, dass der Mann von Eclipse sein könnte. Wenn dem so wäre, hätte er bestimmt anders reagiert. „Und was sollte ein Mitglied von Eclipse auf solch einer Veranstaltung wollen? Das ergibt keinen Sinn…“, dachte Gin, während er sah, wie der Mann auf einmal einen Anruf tätigte und sich das Handy ans Ohr hielt. „Wenn ich was herausfinden will, wäre nun die perfekte Gelegenheit…“ Gin ging mit gezielten Schritten los und richtete seinen Blick nicht direkt auf den Mann, sondern schaute leicht an ihm vorbei. Umso näher er ihm kam, desto mehr verlangsamte er sein Schritttempo. Erst, als er ein paar Meter entfernt an ihm vorbeiging, konnte er ein paar Worte erhaschen. Allerdings auf Englisch. „Yes, I'm sure, it was him! He's alive!“, zischte der Mann atemlos ins Handy und schirmte dabei seinen Mund mit der Hand ab. Doch er klang weder verärgert noch entsetzt. Eher fassungslos und… erleichtert. „Was hat das zu bedeuten? Wer ist er? Rye schien ihn doch offensichtlich nicht zu kennen… oder er erinnert sich nicht…“ Die Fragen schossen Gin wirr durch den Kopf und er fand auf keine Einzige eine Antwort. Doch unabhängig davon, war seine Vermutung nun mehr oder weniger bestätigt. Dieser Mann war eindeutig der Spion. Offensichtlich von irgendeiner Behörde aus dem Ausland. Da er Englisch sprach, tippte Gin auf MI6 oder CIA. Dem Akzent nach aber wohl eher Amerikaner. Noch ein Punkt, der Gin verwirrte. Falls der Kerl wirklich Amerikaner oder Engländer war, standen die Chancen noch geringer, dass er etwas mit Rye zu tun hatte. Denn Rye sah überhaupt nicht so aus, als hätte er englische oder amerikanische Wurzeln. Doch eins nach dem anderen. Zuerst musste Gin seinem Partner mitteilen, dass er den Spion soeben ausfindig gemacht hatte. Das Verhältnis der beiden konnte auch später noch geklärt werden. „Wo ist er überhaupt…“, ging es Gin durch den Kopf, bevor er seinen Blick in sämtliche Richtungen warf, in der Hoffnung Rye irgendwo zu entdecken. Gin hielt gleichzeitig nach diesem Naganori Ausschau, da es sehr wahrscheinlich war, dass sich Rye in der Näher von diesem aufhielt. Doch als der Silberhaarige den Unternehmensleiter erblickte, klappte ihm der Mund auf. Rye befand sich nicht nur in der Nähe von Naganori, sondern führte auf sehr geringer Distanz ein scheinbar intensives Gespräch mit diesem. Gin zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Das war schnell gegangen. Er hatte vermutet, dass Rye nicht so leicht an den Kerl herankommen würde. Hoffentlich würde er auch genauso schnell zur Tat schreiten und es zu Ende bringen. Jedoch wurde Gin stutzig, als sich so etwas wie Neugierde und Interesse in Naganoris Gesichtsausdruck schlich. Zwar schwieg er, doch seine Lippen verformten sich zu einem leichten Lächeln. Daraufhin beugte sich Rye vor, um ihn etwas ins Ohr zu flüstern. Gin durchlief ein Schauer, als er dabei das verführerische Glitzern in Ryes Augen bemerkte. „Flirtet er etwa mit dem alten Sack?!“, schoss es ihm entsetzt durch den Kopf. Ihm stockte für einen kurzen Moment der Atem. „Wieso macht er es ausgerechnet auf diese Weise…“ Gin wandte den Blick von den beiden ab, da ihm sonst das Abendessen wieder hochgekommen wäre. Doch abgesehen von der Übelkeit, verspürte er noch ein weiteres Gefühl, welches er nicht benennen konnte. Beinahe hätte Gin es als Wut gedeutet, jedoch fühlte er sich zu miserabel, um wütend zu sein. Er wollte sich erst gar nicht in Gedanken ausmalen, wie weit Rye bei seinem Versuch, den Kerl zu verführen gehen würde. Allein die bloße Vorstellung, wie dieser alte Mann die makellose, glatte Haut von Rye mit seinen rauen, faltigen Drecksfingern berühren würde… Gin ballte die Hände zu Fäusten. Inzwischen glaubte er, dass er doch wütend war. Besaß Rye denn überhaupt kein Selbstwertgefühl? Wie konnte er so einfach jemand anderem seinen Körper anbieten? Energisch schüttelte Gin den Kopf. „Ich interpretiere da zu viel rein. Er bringt den Kerl bestimmt vorher um…“, hoffte er. Doch gab es dafür eine Garantie? Er ließ seinen Blick vorsichtig wieder in Ryes Richtung schweifen, nur um kurz darauf zu erstarren. Die beiden waren verschwunden. Gin sah sich hastig mit geweiteten Augen im Saal um. Fehlanzeige. Da fiel ihm auch auf, dass der Spion ebenso nicht mehr da war. „Er ist ihnen doch nicht etwa gefolgt…“, befürchtete der Silberhaarige. Egal, ob dem so war oder nicht: Das konnte in beiden Fällen ein schlimmes Ende nehmen. Vielleicht würde Rye rechtzeitig reagieren und beide umbringen, doch davon konnte Gin nicht ausgehen. Er atmete tief durch und versuchte einen klaren Kopf zu bewahren. Es gab nur drei Orte, wo Rye mit dem Unternehmensleiter hingegangen sein konnte: die Toilette, die zweite Etage oder die angrenzende VIP-Lounge. Letzteres war das Einzige, was in diesem Moment Sinn ergab und in Frage kam. Auf der Toilette gab es zu viele Zeugen, ebenso wie auf der zweiten Etage zwischen den Gästen. Doch in der Lounge gab es Bereiche, wo man ungestört war. Ungestört genug, um einen Mord zu begehen, der nicht sofort auffliegen würde.   …   Rye wartete an der Tür, bis Naganori das Zimmer betreten hatte. Dann ging er selbst hinein und verriegelte sie lautlos hinter sich. Er setzte ein breites Lächeln auf, als sich der Mann mit skeptischer Miene zu ihm umdrehte. Ein paar Sekunden starrten beide sich an, ohne etwas zu sagen. Dennoch konnte Rye plötzlich eine Stimme hören. Es war Gin, welcher versuchte ihn über das Ohr-Mikrofon zu warnen: „Rye! Ich weiß jetzt, wer der NOC ist. Wo auch immer du gerade bist, erledige es schnell und achte auf deine Umgebung. Der Typ scheint euch gefolgt zu sein.“ Rye unterdrückte ein breites Grinsen. „Soll mir nur recht sein…“, dachte er hämisch. Dann brauchte er den NOC nicht mehr selbst suchen und konnte ihn gleich mit erledigen. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Doch zuerst musste er sich um den Unternehmensleiter kümmern, welcher ihn nach wie vor anstarrte. Rye legte den Kopf leicht schräg und fragte mit gespielt verwunderter Tonlage: „Was soll denn dieser Gesichtsausdruck? Vertrauen Sie mir etwa doch nicht?“ Er entfernte sich von der Tür und ging mit langsamen Schritten auf Naganori zu, welcher nun lächelte und die Hände in die Taschen seiner Hose vergrub. „Das nicht, ich bin nur überrascht, dass Renya einen seiner Untergebenen geschickt hat. Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass er meine Einladung annimmt.“, erwiderte er gelassen. „Nun, mein Boss ist kein Mensch, der gern in die Öffentlichkeit tritt. Und er geht erst recht nicht auf Veranstaltungen, bei denen irgendwelche Schnüffler die Sicherheit der Organisation gefährden könnten.“ Rye versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm es ihm war ‚mein‘ Boss zu sagen, denn bisher hatte er es noch nie so formuliert. Doch der provozierende Unterton schien seinen Gegenüber zu reizen, da dieser seine Mundwinkel etwas nach unten zog und die Augen verengte. „Woher weiß er von dem Spion?“, wollte er wissen. Rye dachte sich keine ehrliche Antwort auf diese Frage aus und entgegnete einfach das, was ihm gerade in den Sinn kam: „Wir haben eben sehr vertrauliche Quellen. Aber ich sehe keinen Grund, Ihnen zu verraten, um welche Quellen es sich handelt. Schließlich hielten Sie es auch nicht für notwendig, uns von dem Spion in Ihrem Unternehmen zu erzählen.“ Der Grund klang relativ plausibel. Zudem schien Naganori es ihm abzukaufen, da seine Mundwinkel sich noch weiter verzogen und die Falten auf seiner Stirn tiefer wurden. Jedoch schwieg er, weshalb Rye noch etwas hinzufügte, was ihm vorhin aufgefallen war: „Schon amüsant, Sie haben im letzten halben Jahr sehr viele Ihrer Angestellten entlassen und ausgetauscht, jedoch nie den Richtigen erwischt. Auf diese Weise wird man einen Spion jedenfalls nicht los. Ihnen ist schon bewusst, dass Sie jegliches Vertrauen Ihrer Geschäftspartner aufs Spiel setzen, wenn sich diese Information noch weiter verbreitet?“ Als der Boss ihm gestern den Auftrag gegeben hatte, hatte Rye erst gedacht, dass Naganori selbst nichts von dem NOC in seinem Unternehmen wusste. Doch das schien nicht der Fall zu sein. Weshalb sollte er sonst so viele Angestellte ohne Grund entlassen haben? Wahrscheinlich war der Kerl ein sehr selbstsüchtiger Mensch, der nichts anderes als Geld im Kopf hatte. Denn von diesem würde er immerhin nicht mehr so viel bekommen, wenn seine Geschäftspartner wegen des Spions keine Waren mehr handeln wollten. „Ich wüsste nicht, was dich das anzugehen hat.“, lautete Naganoris trockene Antwort, während Rye überlegte, ob er das Gespräch einfach an der Stelle beenden sollte. Theoretisch könnte er den Kerl auch jetzt sofort töten, um Zeit zu sparen. Aber das wollte er noch nicht. Er wollte ihn in die Enge treiben. Um den Spion brauchte sich Rye eigentlich keine Gedanken machen, da er die Tür verriegelt hatte. Außerdem würde er ihn so oder so vorher kommen hören. „Hmm… wenn die Behörden von den illegalen Exporten Wind bekommen, betrifft mich das schon. Ich arbeite immerhin für einen Ihrer Partner. Aber mal davon abgesehen, würde es nicht nur mich betreffen, sondern unweigerlich jeden Ihrer Geschäftspartner. Trotzdem versuchen Sie alles, um die Sache zu vertuschen und den Schein zu wahren, da Sie womöglich die Existenz Ihres Unternehmens nicht gefährden wollen. Deshalb haben Sie auch die Jubiläumsfeier stattfinden lassen, obwohl damit ein großes Risiko verbunden ist. Wenn Sie nicht bald etwas dagegen tun, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit sämtliche Namen und Gesichter Ihrer Geschäftspartner an die Behörden weitergeleitet.“, äußerte Rye seine Schlussfolgerung, um seinem Gegenüber ein wenig Angst zu machen. Eigentlich interessierten ihn die Gäste auf dieser Veranstaltung nicht und darum war es ihm auch völlig egal, was dieser NOC alles an die Behörde, für die er arbeitete, weiterleitete. Schon bald würde er sowieso ein toter Mann sein und dann spielte es keine Rolle mehr. „Dann befindet sich der Spion also unter den Gästen.“, sagte Naganori. „Selbstverständlich.“ Da trat auf einmal Wut in das Gesicht seines Gegenübers und er begann zu schreien: „Dann verrat‘ mir gefälligst, wer dieser Mistkerl ist! Du hast vorhin gesagt, du weißt es! Also hör auf um den heißen Brei herumzureden!“ Rye hätte beinahe gelacht. Noch wusste er es nicht. Aber das könnte sich jeden Moment ändern. Spätestens dann, wenn er wieder zu Gin stoßen würde. „Ach… hab ich das wirklich gesagt?“ Er spielte absichtlich den Unwissenden, was Naganori noch mehr aufzuregen schien. „Ja, das hast du! Ich bin nicht umsonst mit dir mitgekommen!“, schrie er mit wutentbrannter Stimme, wovon sich Rye nicht beeinflussen ließ. Er blieb ruhig und antwortete monoton: „Nein, natürlich sind Sie das nicht.“ „Sie sind mitgekommen, um zu sterben.“, fügte er gedanklich hinzu. „Dann spuck endlich den Namen dieses Spions aus!“, verlangte Naganori und trat dabei direkt vor Rye, welcher sich über das aufgebrachte Verhalten des Mannes köstlich amüsierte. „Tut mir leid, den weiß ich leider nicht.“ „Was?!“ Naganori trat völlig entrüstet zwei Schritte zurück. „Ich habe gelogen.“, gestand Rye lächelnd. „Und Sie haben mir so leicht geglaubt.“ Zugegebenermaßen hatte er am Anfang selbst nicht gedacht, dass er mit seiner Idee, die ihm spontan während der Rede gekommen war, Erfolg haben würde. Doch da hatte er sich geirrt. Es war zu leicht gewesen. Ein paar aufreizende Posituren und die richtige Tonlage hatten den Kerl schnell dazu gebracht, alles andere um sich herum zu vergessen und ihm jedes Wort zu glauben. „W-Wozu? Was willst du dann von mir?!“, stammelte Naganori verwirrt. Rye seufzte. Den Satz hatte er schon zu oft von zu vielen Menschen gehört, die alle längst nicht mehr am Leben waren. Und das erinnerte ihn mal wieder daran, was er für ein abscheuliches Monster war, das selbst den Tod verdient hatte. Auch wenn er heute lediglich den Willen einer anderen Person erfüllte. „Ich will eigentlich gar nichts von Ihnen… Aber mein Boss will Ihren Tod. Da kann man wohl nichts machen.“, meinte er bedauernd und zuckte mit den Schultern. Jetzt standen sowohl Angst als auch Schock in Naganoris Gesicht geschrieben. Er presste die Lippen zusammen, ballte seine Hände zu Fäusten und nahm eine angespannte Haltung ein. Als Rye mechanisch einen Schritt nach vorn setzte, versuchte Naganori ihn umgehend von sich wegzustoßen und holte zu einem Schlag aus. Der Schwarzhaarige wehrte den banalen Angriff mit Leichtigkeit ab und krallte seine Hand in den Hals des alten Mannes. Rye drückte den Hals so fest zusammen, dass Naganori schon nach wenigen Sekunden begann keuchend zu husten. Dessen Hände versuchten vergeblich den Griff von seinem Hals zu lösen. Doch seine Kraft ließ immer weiter nach. Rye achtete schon gar nicht mehr auf sein Opfer und verharrte in seiner Tätigkeit, als wäre er eingefroren. Doch nicht nur sein Körper, auch sein Verstand und all seine Emotionen waren in diesem Moment wie eingefroren. Er nahm kaum noch wahr, was er gerade tat. Dass er gerade dabei war, jemanden zu töten. Bis auf einmal ein Geräusch das Eis in tausende Splitter zerbrechen ließ. Schritte. Von außerhalb des Zimmers. Rye hielt inne. Er lockerte seinen Griff wieder und wandte den Blick zur Tür. „Wer ist das…? Etwa dieser Spion?“ Rye konzentrierte sich noch mehr auf die Schritte, dann stutzte er. Nein, ein Spion würde nicht deutlich hörbar angerannt kommen. Oder war es vielleicht Gin? Doch wieso kontaktierte er ihn dann nicht? Ehe Rye eine Frage auf diese Antwort finden konnte, hörte er, wie die Schritte direkt vor der Tür verstummten. Jemand drückte die Klinke herunter und rüttelte anschließend an der Tür. Wer auch immer das war, würde sich wahrscheinlich gleich mit Gewalt Zutritt verschaffen wollen. Dachte Rye zumindest. Denn kurz nach einem klickenden Geräusch wurde plötzlich die Tür aufgerissen und ein Mann stürmte vollkommen fassungslos in den Raum. Rye war wie gelähmt. Er wollte den Mann angreifen, doch tat es nicht. Er konnte ihn nur mit vor Schreck geweiteten Augen anstarren. Der Mann war offensichtlich Ausländer. Er war völlig außer Atem und starrte ihn ebenso an, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Irgendwas stimmte nicht mit ihm. Doch was das war, wusste Rye nicht. Er fuhr zusammen, als der Mann ihn plötzlich anschrie: „What the hell are you doing?! What's gotten into you?!“ Rye schluckte. Die Worte drangen tief zu ihm durch und erschütterten ihn aus unerklärlichen Gründen. Dieser Mann klang nicht wie jemand, der soeben Zeuge eines versuchten Mordes geworden war. Sondern wie jemand, der einen alten Freund zur Vernunft bringen wollte. Zudem fiel Rye erst jetzt auf, dass er die englische Sprache problemlos verstehen konnte. „Warum…“ Vermouth hatte ihm schon des öfteren englische Sätze entgegengeschleudert, doch damals hatte er nie sonderlich drauf geachtet und es einfach so hingenommen. Ohne es zu merken ließ er den Unternehmensleiter los, welcher sofort zu Boden sank und nach Luft schnappte. Dass er kurz darauf mühselig aufstand und aus dem Zimmer rannte, registrierte Rye nicht mehr. Sein Blick war ununterbrochen auf den blonden Mann gerichtet, welcher ebenso nicht auf Naganori achtete und ihn entkommen ließ. „Hast du vergessen, wer du bist?!“, schrie der Mann mit entsetzter Stimme, woraufhin Rye erneut zusammenzuckte. Die Worte trafen ihn gleichermaßen wie die vorherigen. Weil sie wahr waren. Er hatte vergessen, wer er mal gewesen war. Er erinnerte sich nicht mehr an sein früheres Leben. An Zeiten, wo er noch gelebt hatte. Aber diese Zeiten interessierten ihn nicht mehr. Er wollte es nicht wissen. „Nein.“, log er. „Ich will wissen, wer du bist.“ Daraufhin schaute ihn der Mann verwirrt an. Als schien er nicht zu wissen, was Rye damit meinte. „Was redest du da? Du weißt doch, wer ich bin!“, behauptete er. Ryes Miene verfinsterte sich leicht. Allmählich fing er an zu begreifen. Doch das wollte er nicht. Er wollte es nicht wissen. Offenbar kannte er diesen Mann. Sein früheres Ich hatte ihn gekannt. Doch dieses war schon lange tot. Es würde nie wieder zurückkommen. Dieser Mann verwechselte ihn. Sie konnten sich nicht kennen. Nicht mehr. Rye wurde aus seiner Gedankenspirale gerissen, als der Mann plötzlich weiter auf ihn einredete: „Warum hast du dich nicht gemeldet? Wir dachten alle, du seist gestorben! Ich habe Ja-“ „Shut up!!“, fiel Rye ihm schreiend ins Wort. Der Kerl sollte damit aufhören. Er sollte aufhören, ihn mit Dingen zu konfrontieren, die er nicht wissen wollte. Diese Dinge bereiteten ihm höllische Kopfschmerzen. Rye fuhr sich zitternd mit der Hand über die Stirn. „Sag, bist du dieser NOC?“, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen, ohne dem Mann in die Augen zu schauen. Dieser gab ihm erst nach einer Weile eine zögerliche Antwort: „Wie meinst-“ „Ob du der NOC in Tezuka Naganoris Unternehmen bist!“, unterbrach Rye ihn, sobald er bemerkte, dass er keine klare Antwort erhalten würde. „Ja, aber das spielt doch jetzt gar keine Rolle. Was ist denn los mit dir?“ In die Stimme des Mannes mischte sich jetzt ein misstrauischer Unterton. Rye sah ihm mit einem gequälten Lächeln wieder in die Augen. Er hatte recht, es spielte wirklich keine Rolle mehr. Denn er würde ihn gleich ins Jenseits befördern. So, wie der Boss es ihm aufgetragen hatte. „Gut.“, erwiderte Rye nun im ruhigeren Ton, während er an dem Mann vorbei ging, ohne seinen Blick von ihm zu lösen. Dessen blau-grüne Augen widerspiegelten in diesem Moment so viele Gefühle, die Rye nicht verstand. Nicht verstehen wollte. Misstrauen, Verwirrung, aber auch Vertrautheit und Sorge. Doch all das war ihm gleichgültig. „Mehr muss ich nicht wissen.“, fuhr der Schwarzhaarige fort, als er an der Tür angekommen war und diese wieder schloss. Er nahm seine Brille ab und setzte anschließend ein perfides Grinsen auf. Endlich schien sich der Mann seiner Lage bewusst zu werden. Die Angst zeichnete sich in seinem Gesicht ab, ließ sein Herz schneller schlagen und kroch ihm über Leib und Seele. Er wich vorsichtig ein paar Schritte zurück. „You are…“, begann er in leiser, argwöhnischer Tonlage. Doch er ließ den Satz in der Luft hängen, weshalb Rye ihn stattdessen beendete: „I am not the man you are looking for.“ Das waren die letzten Worte, die den Mann erreichten. Kaum einen Augenblick später ging Rye auf ihn los und schleuderte ihn gegen die Wand, welche von dem Aufprall mehrere Risse bekam. Noch bevor der Mann realisieren konnte, wie ihm geschah, hatte Rye ihn bereits gegen die Wand gedrückt und seine Hand in dessen Haare gekrallt. Er zog den Kopf des Mannes so weit nach hinten, bis ihm ein knackendes Geräusch verriet, dass das Genick gebrochen war. Danach ließ er den toten Körper zu Boden fallen, beachtete diesen aber nicht weiter. Rye starrte wie benommen auf die Risse an der Wand. Es war seltsam. Der Tod dieses Mannes löste nicht das in ihm aus, was er zuvor noch geglaubt hatte. Er fühlte nicht das, was er normalerweise fühlte, nachdem er einen Menschen das Leben genommen hatte. Es war schlimmer. Viel schlimmer. Als Rye den Blick sinken ließ, übermannte ihn ein Gefühl von Verrat. Seine Fingernägel drückten sich so stark in seine Handflächen, dass seine Hände anfingen zu zittern. „Nein… das kann unmöglich sein…“, dachte er kopfschüttelnd und versuchte das Gefühl zu vertreiben. Er hatte niemanden verraten. Dieser Mann war lediglich ein Fremder für ihn gewesen. Ein Fremder, den er töten musste, weil der Boss es ihm aufgetragen hatte. „Ob die Organisation Nachforschungen über seine Identität anstellen wird?“, fragte er sich mit aufkommender Angst. „Wenn ich früher wirklich etwas mit ihm zu tun gehabt habe und sie herausfinden, wer er ist und welcher Behörde er angehört, dann bedeutet das…“ Noch ehe Rye seinen Gedanken beendet hatte, beugte er sich zu der Leiche des Mannes herunter, um seine Taschen zu durchsuchen. Er musste alles vernichten, was auf die Identität des Mannes zurückführen könnte. Er wollte nicht wissen, wer dieser Mann war. Keiner durfte es wissen. Jegliche Hinweise auf sein früheres Leben waren nichts weiter als falsche Hoffnungen und wertlose Szenarien, die ihm zeigen würden, was er alles verloren hatte und nie wieder bekommen würde. Was brachte es, diesem Leben nachzutrauern? Warum sollte er sich ständig an Menschen erinnern müssen, die er sowieso niemals wiedersehen konnte? Alles, was zählte, war sein jetziges Dasein, welches er Eclipse zu verdanken hatte. Sie hatten ein Monster aus ihm gemacht. Rye versuchte sich wieder zu konzentrieren. Der Kerl schien zum Glück keine Papiere oder einen Ausweis dabei zu haben. Er fand nur die Einladung für die Veranstaltung, eine halbleere Zigarettenschachtel, eine Pistole in der Innentasche und zuletzt ein Handy. In dem schwarzen Bildschirm konnte Rye sein hasserfülltes Gesicht deutlich erkennen. Wie es kurz darauf Risse bekam, als er das Smartphone in seiner Hand zerdrückte. Begleitet von knackenden Geräuschen landeten wenige, kleine Glassplitter auf dem Boden. Rye beschloss fürs Erste, das Handy in seiner Jackentasche zu verstecken. Entsorgen könnte er es später immer noch. Jetzt gab es erst mal eine wichtigere Angelegenheit zu erledigen. „Hoffentlich hat es dieser Kerl nicht schon geschafft Hilfe zu holen… Verdammt! Warum musste ich mich auch ablenken lassen?“, fluchte er in Gedanken über sich selbst, bevor er zur Tür rannte und sie aufriss. Jedoch blieb er daraufhin überrascht auf der Stelle stehen. „Gin…“, entwich es ihm, als er seinen Partner vor sich erblickte, welcher ihn ebenso überrascht musterte. Rye überkam augenblicklich eine Welle der Erleichterung. Gins Anblick genügte, um ihn Wut und Schmerz vergessen zu lassen, die ihn bis eben noch beherrscht hatten. Nun wusste er wieder, weshalb sein verkommendes Dasein nicht vollkommen sinnlos war. „Was ist passiert?“, fragte Gin in strenger Tonlage, während er über Ryes Schulter hinweg zu dem toten Spion schaute. Der Schwarzhaarige versuchte ihm die Sicht zu versperren und gestand reumütig: „Naganori ist mir entkommen…“ Er bereitete sich innerlich darauf vor, dass Gin nun sauer werden und ihm Vorwürfe machen würde. Schließlich hatte er versagt. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Polizei hier anrücken würde, welche mit Sicherheit schon von Naganori kontaktiert worden war. Doch Gin verzog keine Miene, als wäre ihm das völlig egal. Hatte er gerade etwa nicht richtig zugehört? Oder wollte er es nicht wahrhaben? „Ich weiß.“, meinte er tonlos. „Deshalb ist er mir eben auch in die Arme gelaufen.“ „Oh…“ Ryes Augen wurden groß. Also schien doch alles nochmal gut gegangen zu sein. Zum Glück hatte er Gin darum gebeten mitzukommen. Sonst hätte die Situation jetzt wahrscheinlich ganz anders ausgesehen. „Ich war mal so frei und hab das für dich erledigt.“ Der Silberhaarige fasste ihm kameradschaftlich auf die Schulter, nur um ihn kurz darauf beiseite zu schieben, damit er das Zimmer betreten konnte. „Aber kein Wort zum Boss, klar?“ „Natürlich nicht. Danke… es tut mir wirklich leid. Ich hatte die Tür verriegelt. Keine Ahnung, wie er so schnell reingekommen ist…“, versuchte er sein Versagen irgendwie zu erklären und beobachtete mit wachsender Unsicherheit, wie Gin näher auf die Leiche zuging, um sie genauer zu betrachten. Das durfte er nicht. „Du dachtest nicht im Ernst, dass eine verriegelte Tür den Typen lange hinhalten würde? Das sind Billigschlösser. Um die zu knacken, reicht meistens schon eine simple Plastikkarte. Dazu muss man kein Profi sein.“, erklärte Gin spöttisch, woraufhin Rye beschämt den Blick senkte. Doch er ließ sich nicht lange beirren und trat schnell neben Gin, welcher den Blick nachdenklich über den toten Körper des Mannes schweifen ließ. „Den hatte ich im Verdacht…“, murmelte er. „Er war es auch.“, bestätigte Rye. „Er hat… sich mir zu erkennen gegeben.“ „Warum hätte er das tun sollen?“, hakte Gin ungläubig nach, während er anfing die Taschen des Mannes zu überprüfen. Nervosität beschlich Rye, als er erkannte, dass sein Partner nach etwas Bestimmten suchte. Etwas, das mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr da war… Zudem fiel ihm auch keine passende Antwort auf Gins Frage ein, ohne dass er sich damit verraten würde. Also schwieg er einfach. Erst als Gin ihn ungeduldig aus dem Augenwinkel heraus musterte, zwang er sich doch noch eine Antwort über die Lippen: „Ich hab ihn gefragt.“ Gins Augen verengten sich misstrauisch, jedoch ging er nicht weiter darauf ein und fragte stattdessen etwas anderes: „Ich bin mir sicher, dass er ein Handy dabei hatte. Wo ist es?“ Rye zuckte krampfhaft mit den Schultern und erwiderte: „Ich hab keins gefunden.“ „Ah, verstehe.“ Gins Stimme klang ironisch. Er erhob sich wieder und streckte ihm eine Hand entgegen. „Und jetzt gib es her.“ „Ich hab es nicht.“, beharrte Rye und versuchte sich die Lüge nicht in seinem Gesichtsausdruck anmerken zu lassen. Doch Gin durchschaute ihn dennoch. „Du lügst.“, meinte er in gefährlich ernster Tonlage, wobei Rye erschauderte. „Warum glaubst du das?“ Noch gab er sich allerdings nicht geschlagen. Auch wenn es völlig zwecklos war weiterhin den Unwissenden zu spielen. Das funktionierte ohnehin nicht – und schon gar nicht bei Gin. „Ich habe diesen Agenten keine Sekunde aus den Augen gelassen, und als er mit dir zusammengestoßen ist, hat er sehr… schockiert reagiert. Danach hat er ein Telefonat geführt. Ich weiß zwar nicht mit wem er gesprochen hat, aber es ging höchstwahrscheinlich um dich. Er kannte dich. Und das weißt du auch, sonst wäre das Handy noch da. Wenn nicht du es genommen hast, wer dann? Der Mann hatte mit keinen weiteren Personen Kontakt.“, erklärte der Silberhaarige, während Rye bei jedem Wort schlechter wurde. Wieso musste es so weit kommen? Gin durfte das alles nicht wissen. Die Organisation würde Nachforschungen anstellen. Sie würden herausfinden, in welcher Beziehung Rye zu diesem Spion stand. Sie würden seine Vergangenheit durchforschen. Alles über sein früheres Leben herausfinden. Nichts davon durfte passieren. Niemals. „Na schön, du hast recht. Ich hab das Handy genommen.“, gab er gereizt zu und als Gin zu einer Antwort ansetzte, fügte er noch hinzu: „Und zerstört.“ Gin starrte ihn eine Weile nur fassungslos an, bevor er fragte: „Warum hast du das getan?“ „Ich kann mich nicht daran erinnern, diesem Mann je begegnet zu sein. Er hat behauptet, mich zu kennen. Aber selbst wenn das wahr ist, will ich es nicht wissen. Ich will rein gar nichts über meine Vergangenheit wissen. Darum hab ich es getan.“ Rye musste sich bemühen einen ruhigen Tonfall beizubehalten, was ihm zum Ende hin jedoch nicht mehr gelang. Er wollte das Thema einfach beenden und nie wieder darauf zurückkommen. Aber er sah seinem Geliebten an, dass er so schnell nicht locker lassen würde. „Und wieso nicht? Interessiert es dich denn überhaupt nicht, wer du wirklich bist? Willst du deine Erinnerungen nicht zurück haben? Du könntest-“ „Nein, will ich nicht.“, schnitt Rye ihm das Wort ab. Seine Erinnerungen sollten dem Schwarzhaarigen für immer fern bleiben. Er wusste ganz genau, wie miserabel er sich jedes Mal wieder fühlte, sobald auch nur kleine Fragmente seiner Erinnerungen in seinem Kopf aufblitzten. Fast immer, wenn er die Augen schloss und einschlief, war es so, als würde er die Hauptrolle in einem Psychothriller spielen. Es war immer dasselbe Muster: Jäger oder Gejagter, Freunde oder Feinde, Wahrheit oder Lüge, Vertrauen oder Verrat. Er konnte sich nie entscheiden. Die verschwommenen Gesichter der Traumgestalten stellten ihn immer wieder auf die Probe. Aber meistens vergaß er seine Träume nach dem Aufwachen sofort wieder. Er verdrängte sie. Doch er vergaß nie die Gefühle, die in ihm zurückblieben. Rye hatte sich in den letzten Monaten oft gefragt, ob es von Vorteil wäre, seine verlorenen Erinnerungen wiederzuerlangen und ob er sich wirklich an seine Zeit in Eclipse erinnern wollte. Er hatte die Frage immer mit Nein beantwortet. Das würde sich womöglich auch niemals ändern. Jedoch konnte er nicht leugnen, dass es eine einzige Sache gab, die er schon gern wissen wollte. Nämlich die Sünde, die er in seinem Leben begangen hatte, dass er zur Strafe in Eclipse gelandet war. „Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll… aber ich hab so ein ungutes Gefühl, dass du… mein früheres Ich abgrundtief gehasst hättest.“, meinte er leise, als er Gins verständnislosen Gesichtsausdruck bemerkte. Doch dieser veränderte sich auch nach dieser Aussage nicht. Rye konnte schon ungefähr erahnen, woher das ungute Gefühl kam, welches ihn plagte. Welche Verbindung sollte er schon zu einem ausländischen Spion gehabt haben? Da gab es nicht sonderlich viele Möglichkeiten. Und eine davon bereitete ihm besonders viel Sorgen. „So ein Schwachsinn, was hat das mit mir zu tun? Es ist dein Leben!“, entgegnete Gin entrüstet, woraufhin Rye die Mundwinkel zu einem traurigen Lächeln verzog. Das war nicht ganz richtig. Er schüttelte langsam den Kopf. „Es war mein Leben.“, verbesserte er seinen Geliebten. Dazu schien diesem auf Anhieb keine Antwort mehr einzufallen, weshalb sich nach kurzer Zeit Stille ausbreitete. Rye versuchte Gins Gedanken an dem Ausdruck seiner Augen abzulesen. Da war zum einen noch immer nur diese Verständnislosigkeit und zum anderen das starke Verlangen mehr herauszufinden. Rye stieß ein Seufzen aus. „Bitte… vergiss es einfach.“, sagte er mit deutlich hörbarer Verzweiflung in der Stimme, mit welcher er Gin mitteilen wollte, wie wichtig es ihm war, die Sache einfach unter den Tisch zu kehren. Aber der Silberhaarige schien das nicht akzeptieren zu wollen. „Ich glaube nicht, dass ich das kann.“, meinte er. Rye biss sich auf die Unterlippe. „Dann tu wenigstens so.“ Es störte ihn, dass Gin so viel Wert darauf legte, etwas über seine Vergangenheit zu erfahren. Warum konnte er nicht verstehen, dass es egal war? „Warum willst du nicht begreifen, dass alles egal ist, solange ich dich habe? Ich will nur dich. Nur du machst mich glücklich. Ich brauch nichts anderes.“, sagte Rye in Gedanken zu seinem Geliebten. Zu gern hätte er die Worte ausgesprochen. Doch das traute er sich nicht. Denn er war sich ziemlich sicher, dass Gin noch nicht in der Lage war es nachvollziehen zu können. Und dennoch würde Rye ihn immer als den Sinn seiner Existenz betrachten. Als seine erste und einzige Liebe. Da Gin nichts mehr erwiderte, hoffte Rye, dass das Thema nun endlich beendet war. Er atmete innerlich auf und griff nach dem Handgelenk des Silberhaarigen. „Wir sollten von hier verschwinden, bevor noch jemand kommt…“, schlug er vor. Durch den kleinen Konflikt hatten sie die Zeit komplett vergessen, was Gin jetzt auch zu bemerken schien. „Ja, du hast recht.“, stimmte er Rye zu und verließ anschließend gemeinsam mit ihm das Zimmer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)