The Monster inside my Veins von ginakai ================================================================================ Kapitel 24: Totenbett --------------------- Abwechselnd ließ Gin seinen Blick zwischen der Uhr und seinem nach wie vor bewusstlosen Partner hin und her schweifen. Innerlich kämpfte er schon lange mit der Müdigkeit und würde diesen Kampf womöglich bald verlieren. Rye dabei die ganze Zeit in dessen Bett zu beobachten, machte alles nur noch schlimmer. Es waren bereits fast vier Stunden vergangen, seit Gin mit Rye in der Wohnung angekommen war. Dies unauffällig zu bewerkstelligen war gar nicht so leicht gewesen, insbesondere wegen der Blut besudelten Klamotten. Diese hatte Gin sofort nach ihrer Ankunft bei beiden gewechselt. Allerdings hatte er sich selbst welche von Rye ausleihen müssen, welcher hoffentlich nichts dagegen haben würde. Das war jedoch nur das kleinere Übel gewesen. Gin legte peinlich berührt seinen Kopf auf die Matratze, als er sich unbeabsichtigt daran erinnerte, wie er Rye in dessen schlafendem Zustand hatte entkleiden müssen. „Aber es wäre nicht gerade von Vorteil gewesen, wenn er in den Klamotten aufgewacht wäre… das Blut daran hätte ihn bloß noch ein weiteres Mal um den Verstand bringen können…“, glaubte Gin und stieß ein Seufzen aus. Auch wenn es für ihn unangenehm gewesen war, so hatte er seiner Meinung nach dennoch die richtige Entscheidung getroffen. Rye würde es ihm mit Sicherheit auch danken, sobald er erwachte. Momentan konnte Gin dessen gut gebauten Körper dank der dicken Decke nicht sehen. Rye hatte wirklich - auch wenn es dem Silberhaarigen schwer fiel, sich das einzugestehen - einen sehr attraktiven, schlanken Körperbau. Allein die wohlgeformten Muskeln und noch dazu die perfekte Beschaffenheit seiner harten, schneeweißen Haut. Doch das war von vornherein zu erwarten gewesen. Jemand, der so unerträgliche Schönheit ausstrahle, konnte unter seiner Kleidung nur so einen atemberaubenden Körper verbergen. Ungewollt überkam Gin eine leichte Hitzewelle und seine Hände verkrampften sich in Ryes Bettdecke. Obwohl der Schwarzhaarige vor ihm schlief und keiner weiter hier war, schämte er sich für seine Gedanken. Diese durften niemals, unter keinen Umständen, nach Außen gelangen. Doch eigentlich war es seine eigene Schuld, dass er so viel darüber nachdachte. Er hätte bereits vor Stunden zu seiner eigenen Wohnung zurückfahren sollen. Dort könnte er sich bereits im Tiefschlaf erholen. Er wusste selbst nicht so genau, was ihn noch hier an Ryes Bett festhielt. Irgendwie gab es zu viele Gründe. Unter anderem, dass sich Rye seither kein einziges Mal bewegt hatte. Wirklich kein einziges Mal. Nicht mal eine kleine Regung hatte Gin wahrnehmen können. Normalerweise drehte man sich zumindest beim Schlafen hin und wieder mal auf die andere Seite oder nahm unbewusst eine andere Position ein – doch dies war bei Rye auch nicht der Fall gewesen. Alle seine Muskeln waren schlaff. Wie bei einer zwei-Tage alten Leiche. Die einzige bemerkbare Veränderung war, dass die Iris von Ryes Augen wieder eine normale, grünliche Färbung angenommen hatten, als der Silberhaarige vorhin die Lider zur Überprüfung kurz nach oben geschoben hatte. Trotzdem fühlte sich Gin allmählich so, als würde er neben dem Bett eines Toten knien. Einen großen Unterschied machte es jedenfalls nicht, denn ein Toter würde genauso blass und reglos in diesem Bett liegen. Er würde sich kalt anfühlen und ebenso wenig atmen. Genau genommen könnte man Rye also auch für tot halten. Vielleicht schlief er gar nicht. Und vielleicht war er vorhin auf dem Schiff auch nicht bewusstlos geworden, sondern tot umgefallen. Eine absolute Gewissheit gab es nicht. Aber genau aus dem Grund konnte Gin nicht gehen. Er wollte sichergehen, dass Rye wieder erwachte. Erst dann würde er selbst mit ruhigem Gewissen schlafen können. Je mehr Zeit verstrich, um so belastender wurde das fremde Gefühl, welches Gin plagte. Langsam musste er feststellen, dass es sich bei diesem Gefühl um Angst handelte. Etwas, das er sonst nie verspürt hatte und womit er erst Bekanntschaft gemacht hatte, als Rye in sein Leben getreten war. Von da an hatte etwas in ihm angefangen sich zu verändern. Von Tag zu Tag. Und diese Veränderung war noch immer nicht abgeschlossen. Das bemerkte er in manchen Situationen immer wieder. Auch in der jetzigen. Doch was genau sich veränderte, wusste er nicht. Es fühlte sich alles so fremd und ungewohnt an. „Rye.“, wich es Gin irgendwann wie von allein über die Lippen. Einer seiner Hände krallte sich um Ryes Arm und rüttelte den schlaffen Körper. Das hatte er schon etliche Male versucht. Immer wieder erfolglos. Auch diesmal. „Rye!“ Seine Stimme wurde lauter. Eine Mischung aus Wut und Verzweiflung. Ohne es bewusst zu wollen, schlug er mit der Faust auf die Stelle der Decke, worunter sich Ryes Brust befand. Es nützte nichts. Verärgert darüber, vollkommen machtlos zu sein, schlug Gin seinem Partner ins Gesicht und schrie: „Jetzt wach endlich auf du verdammter Idiot!“   …   Diese Stimme. So nah und vertraut. Und doch unerreichbar. Rye fühlte sich, als wäre er in die Tiefen eines dunklen Ozeans gesunken, auf dessen Grund er von Ketten festgehalten wurde. Nur dass sich diese Ketten beim Erklingen der Stimme allmählich zu lösen begannen. Während sein Körper langsam wieder nach oben trieb, verspürte er ein undefinierbares Gefühl in der Brust. Kurz darauf auch im Gesicht. Dann hörte er die schöne Stimme erneut. Diesmal jedoch viel klarer. Die Dunkelheit, die ihn umgab, schien sich in Nichts aufzulösen. „Gin…“, sagte er in Gedanken. Obwohl er diesen Namen lieber laut ausgesprochen hätte. Aber seine Lippen bewegten sich nicht. Er öffnete leicht seine Augen und erblickte die glitzernde Wasseroberfläche. Die hellen Strahlen der Sonne blendeten ihn. Das Licht wurde stärker und plötzlich sah er das überraschte Gesicht von Gin vor seinen Augen, welches von silberglänzenden Haaren umrandet und betont wurde. Bei diesem Anblick konnte Rye nicht anders, als ein Lächeln aufzusetzen. Vielleicht gab es doch einen Platz im Himmel für ihn. Jetzt glaubte er fest daran. Denn jeder Ort mit Gin war sein persönlicher Himmel. „Na endlich, das wurde auch mal langsam Zeit!“ Rye blinzelte ein paar Mal benommen. Er fing an zu realisieren, dass er sich weder im weit entfernten Jenseits noch in einem Traum befand. Sondern offenbar in seinem Bett. Wie auch immer er dorthin gekommen war. „Also an diese Art des Aufwachens könnte ich mich gewöhnen…“, murmelte er verträumt und musterte weiterhin Gins Antlitz. Jedoch entfernte sich der Silberhaarige kurz nach seinen Worten einen Schritt vom Bett. Rye versuchte sich aufzurichten, was ihm aber nicht gelang. Irgendwie fühlte sich sein Körper so schwer wie ein Stein an, weshalb er es bei einer einfachen Kopfbewegung in Gins Richtung beließ. „Was ist passiert?“, fragte er unsicher, um in Erfahrung zu bringen, wie viel er verpasst hatte. Er wusste nicht mehr, wann genau ihm schwarz vor Augen geworden war. Gin antwortete ihm nicht sofort, sondern betrachtete ihn eine Weile mit Skepsis in den Augen. „Du bist bewusstlos geworden, weshalb ich dich nach Hause gebracht habe.“, meinte er dann schlicht. Rye bemerkte sofort, dass der Silberhaarige mit Absicht die Details wegließ. Doch darauf würde er später noch zurückkommen. „Für wie lange?“, wollte er erst mal wissen. „Ungefähr vier Stunden.“, erwiderte Gin ruhig, woraufhin sich Ryes Augen weiteten. „So lange?“, entwich es ihm erstaunt. Allerdings überraschte ihn nicht die Zeitspanne an sich, sondern etwas ganz anderes: Gins Anwesenheit. „Dann warst du also… die ganze Zeit über hier…?“ Rye konnte das nicht wirklich glauben. Schon die Vorstellung, wie Gin Stunden neben seinem Bett verbringen würde, war lächerlich. Diese Art von Sorge widersprach dem Wesen des Silberhaarigen. Auch wenn sich Rye wünschte, dass er ihm wirklich so wichtig war. Doch da senkte Gin peinlich berührt den Blick. „Ähm… ja.“, gab er schließlich zu und erfüllte Rye somit seinen Wunsch. Dieser konnte das Glück kaum fassen, welches ihm gerade zu widerfahren schien. Jedoch war er der festen Überzeugung, dass er dieses Glück nicht verdient hatte. Besonders jetzt nicht mehr, nachdem er den Auftrag in einer Katastrophe hatte enden lassen. Seine Vorkehrungen waren vollkommen umsonst gewesen. Die Beherrschung hatte er trotzdem verloren. Wie immer. Es gab ihm das Gefühl eine Marionette zu sein. Gezogen von den Trieben und Gelüsten seiner düsteren, bestialischen Seite. „Und beinahe hätte ich etwas getan, was ich mir niemals hätte verzeihen können…“ Rye durchfuhr ein Stich und sein Körper begann unter der Decke zu zittern. Noch nie war sein Hass auf sich selbst so gewaltig gewesen. Wenn er Gin etwas angetan hätte, hätte er alles daran gesetzt, doch noch eine Möglichkeit zu finden, sich selbst auszulöschen. Und wenn er Eclipse dafür auf Knien hätte anflehen müssen, ihn von seinem elendigen Dasein zu erlösen. „Passiert dir das eigentlich öfter?“ Gins Frage holte Rye nur teilweise aus seinen Gedanken. Er hatte sie kaum verstanden. „Was?“, hakte er nach. „Ob du schon öfters das Bewusstsein verloren hast.“, verdeutlichte Gin. Seine Tonlage klang etwas strenger. Doch es war Rye egal. Er starrte solange auf den Stoff des Kissens vor seinen Augen, bis ihm die Sicht etwas verschwamm. „Ja… zwei oder drei Mal. Ist aber nicht weiter schlimm…“, antwortete er abwesend. „Nicht weiter schlimm? Ich dachte für einen Moment wirklich, du seist tot!“ Für Gin schien die Sache nicht belanglos zu sein. Ein bitteres Lächeln bildete sich auf Ryes Lippen. „Vielleicht wäre das auch besser so.“, spottete er. Den Tod hatte er mit Sicherheit schon lange verdient. Die Welt wäre viel friedlicher ohne seine Existenz. Allein schon wegen der vielen Leben, die er auf dem Gewissen hatte und die in Zukunft noch unweigerlich folgen würden. „So ein Unsinn!“, widersprach Gin ihm jedoch, was Rye nicht im Geringsten nachvollziehen konnte. Ausnahmsweise wollte er sogar, dass sein Partner ihn für das, was er um ein Haar getan hätte, hasste. Er hätte es verdient. Verdient zu leiden. „Wenn er doch bloß nicht…“, begann Rye seinen Gedanken verärgert, bevor er sich doch dazu entschied, es laut auszusprechen: „Warum bist du mir gefolgt? Ich hatte dir ausdrücklich verboten, mir nachzukommen!“ Es klang etwas hysterischer als gewollt. Aber Gin konnte ruhig hören, dass er einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte. Wie konnte er nur so töricht gewesen sein? Gins Augenbrauen zogen sich entrüstet zusammen, dann versuchte er ihm den Grund zu erklären: „Die von dir angegebene Zeitspanne war vorbei gewesen… und als ich die Schüsse und Schreie gehört habe, konnte ich nicht anders… Ich weiß, dass ich dir nicht helfen durfte, aber-“ „Du hättest nichts für mich tun können!“, schnitt Rye ihm aufgebracht das Wort ab und krallte seine Hände in die Matratze. Innerlich versuchte er sich zu entscheiden, ob er eher wütend auf sich selbst oder Gin sein sollte. In der darauffolgenden Stille, in welcher allmählich die Ruhe wieder in ihm einkehrte, beschloss er, sich die alleinige Schuld zu geben. Gin hatte ihm lediglich helfen wollen. Dafür konnte er ihn nicht verurteilen. Im Gegenteil. Er sollte ihm danken. Auch dafür, dass der Silberhaarige ihn nach Hause gebracht hatte. Doch egal wie sehr er das wollte und wie glücklich er darüber war, dass er Gin nicht egal war: Er musste diesem klarmachen, dass er sich einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt hatte. Sonst würde er womöglich irgendwann erneut versuchen ihm zu helfen, ohne dabei Rücksicht auf sein eigenes Leben zu nehmen. „Mir wäre schon etwas eingefallen.“, meinte Gin. Seine Tonlage verriet, dass er davon wirklich überzeugt war. Doch Rye schüttelte nur mit dem Kopf. „Gin.“, sprach er mit fester Stimme, während er seinem Partner eindringlich in die Augen sah. „Ich wollte dich…“ Er ließ den Satz bewusst unvollständig. Gin würde auch so verstehen, was er meinte. Rye vernahm, wie dem Silberhaarigen der Atem stockte und sein Körper sich anspannte. Er biss sich unauffällig auf die Unterlippe. Kurz darauf verschränkte er die Arme und wandte den Blick ab. Rye schmunzelte über die unerwartete Reaktion, die ihn auch ein wenig verblüffte. „Na dann, entschuldige, dass ich mir Sorgen gemacht habe. Es wird nie wieder vorkommen.“ Obwohl Gin dies tonlos sagte, erkannte Rye, dass er eingeschnappt war und ihm sein undankbares Verhalten vorhielt. „Bitte versteh mich nicht falsch.“, begann der Schwarzhaarige deswegen sanft und wartete, bis Gin ihn wieder ansah. „Es bedeutet mir sehr viel, dass du mir helfen wolltest. Aber du solltest lernen, ab und zu auf mich zu hören. Zu deiner eigenen Sicherheit.“ Den letzten Satz betonte er streng, woraufhin Gin die Augen verdrehte. „Ah ja.“, kam es gleichgültig von ihm. Wahrscheinlich würde er sich sowieso nicht dran halten. Und vollständig bewusst schien er sich der Gefahr ebenso wenig zu sein. Auch wenn Rye das einige Vorteile verschaffte. Würde Gin ihn als Gefahr betrachten, wäre es deutlich schwieriger, ihm näherzukommen. Und seit ihrer ersten Begegnung wollte Rye nichts mehr als das. Mit einem Ruck versuchte er erneut, sich aufzusetzen. Diesmal zum Glück erfolgreich. Als ihm die Decke jedoch von seinem Oberkörper glitt, starrte er erschrocken an sich herab. „W-Wo sind meine Klamotten??“, stammelte er, bevor er Gin einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. Dieser zog nur entgeistert eine Augenbraue nach oben. Der Rest seiner Miene blieb ausdruckslos. „Fällt dir aber früh auf.“, meinte er. Doch jetzt, wo Rye seinen Partner nochmal genauer betrachtete, bemerkte er noch etwas anderes. Gin trug Klamotten von ihm. Und sie standen ihm ausgezeichnet. „Ich dachte, es wäre nicht gerade angenehm für dich, in den blutgetränkten Klamotten aufzuwachen. Deswegen hab ich sie zusammen mit meinen entsorgt.“, erklärte dieser. „Verstehe… das war sehr taktvoll von dir.“ Trotz der Verlegenheit setzte Rye ein Lächeln auf. „Es tut mir wirklich leid, dass ich dir solche Probleme bereite… Ich hab alles vermasselt… der Boss hat womöglich recht.“ Rye starrte betrübt auf die Decke und wartete darauf, dass Gin ihm zustimmte. Auch wenn er den Boss nicht ausstehen konnte und er diesen wegen der Verbindung zu Eclipse in gewisser Weise fürchtete, so musste er ihm in vielerlei Hinsichten recht geben. Zudem würde es Rye nicht wundern, wenn er für das Chaos was er hinterlassen hatte, dementsprechend die Quittung bekommen würde. Für einen normalen Menschen war dieser Mann definitiv zu mächtig. Und er schien genau zu wissen, wie er diese Macht einzusetzen hatte. „Du hast nichts vermasselt. Das Team, das von Anfang an bereitgestellt war, konnte die Drogen trotzdem ausfindig machen. Inzwischen sollte von dem Schiff nichts weiter als ein Wrack übrig sein. Also brauchst du dir keine Gedanken zu machen, du hast gute Vorarbeit geleistet.“ Rye wollte Gins Worte nicht wahrhaben. Es war schwer zu glauben, dass anscheinend alles in Ordnung war. Doch noch unglaubwürdiger war das Lob am Ende, welches der Schwarzhaarige als unpassend empfand. Wieso sollte es lobenswert sein, wenn er die ganze Besatzung eines Schiffs abgeschlachtet und zuletzt beinahe dem Sinn seiner Existenz das Leben ausgesaugt hatte? „Wenn du das sagst…“ Rye nahm es dennoch einfach so hin. Trotz der Umstände war ein Lob aus Gins Mund immer noch etwas sehr Seltenes, das er liebend gern annahm. Aber wahrscheinlich wollte Gin bloß, dass er sich nicht schlecht fühlte und sich keine Vorwürfe machte. Bis vor ein paar Tagen hätte sein eigentlich kaltherziger Partner darauf jedoch noch keine Rücksicht genommen. „Du hast nicht zufällig eine Vermutung, was der Grund dafür sein könnte, dass du hin und wieder das Bewusstsein verlierst?“ Gin wechselte wieder das Thema, woraufhin Rye nachdenklich die Stirn runzelte. Er hatte sich darüber noch nie wirklich Gedanken gemacht. „Meistens passiert es, wenn ich es übertreibe und zu viel Blut zu mir nehme… als wäre mein Organismus überlastet. Vielleicht ist es eine Nebenwirkung des Gifts…“, grübelte er laut vor sich hin. Das war die einzig logische Erklärung, die er fand. „Ergibt Sinn… Und da du scheinbar der Erste warst, bei dem das Gift funktioniert hat, kann es durchaus sein, dass es nicht zu 100% die gewünschte Wirkung erzielt. Das ist meistens nie der Fall. Ein Mittel braucht oft mehrere Prototypen, um es zu perfektionieren.“, erwiderte Gin, wobei er Rye ein wenig an diese Laborkittel-Träger erinnerte, die ihm dieses verdammte Teufelsgift verabreicht hatten. Rye nickte still und vertrieb die bruchstückhafte Erinnerung an dieses traumatische Ereignis sofort. „Sie brauchten ja auch 12 Versuche, um Erfolg zu haben.“, fügte er noch verbittert an, während sich seine Hand automatisch in seinen Hals krallte. Nach ein paar Sekunden Stille begann Gin jedoch: „Also, um ehrlich zu sein, bin ich…“ Er verstummte. Im Augenwinkel sah Rye, wie der Silberhaarige die Lippen zusammenpresste und beschämt zu Boden starrte. Überrascht drehte er den Kopf zu ihm und fragte: „Du bist was…?“ Er hoffte, dass sich Gin noch dazu überwand, den Satz zu beenden. Denn irgendwie bekam Rye das Gefühl, dass ihm die Worte viel bedeuten würden. Aber Gins darauffolgendes Kopfschütteln verriet ihm, dass er diese Worte wohl nicht mehr zu hören bekommen würde. „Vergiss es, ist doch nicht so wichtig.“, meinte Gin nebenher. Rye schürzte enttäuscht die Lippen. Doch bevor er seinen Partner darum bitten konnte es ihm doch zu verraten, lenkte dieser längst wieder etwas anderes ein. „Du solltest dich besser noch etwas ausruhen.“, riet er dem Schwarzhaarigen und kehrte ihm kurz darauf den Rücken zu. „Ich bin ausgeruht.“, beteuerte Rye. Als er jedoch realisierte, dass Gin offensichtlich das Zimmer verlassen wollte, versuchte er ihn aufzuhalten und fragte: „Wo willst du hin?“ Er war schon halb aus dem Bett gestiegen, als Gin sich ihm mit einer verwirrten Miene wieder zuwandte. „Hast du mal auf die Uhr geschaut? Ich möchte mich zu Hause auch noch ein paar Stunden aufs Ohr hauen.“, erwiderte der Silberhaarige, was ein melancholisches Gefühl in Rye auslöste. Er wollte nicht, dass Gin ging. „Warum ist er nicht schon gegangen, während ich noch bewusstlos gewesen war? Da hätte ich es zumindest nicht mitbekommen… aber er ist geblieben, bis ich aufgewacht bin…“ Dieses Verhalten war Rye ein Rätsel. Doch er konnte Gin diese Frage nicht stellen. Die Befürchtung, die Antwort würde nicht seinen Wünschen entsprechen, geschweige denn ehrlich sein, war zu groß. Stattdessen bat er ihn: „Bitte bleib doch.“ Allein Gins darauffolgender Gesichtsausdruck verdeutlichte genug, was er davon hielt. Ohne, dass er etwas sagen musste, erkannte Rye, dass er das Angebot ablehnen würde. Deshalb versuchte er ihn zu überzeugen: „Es ist bereits so spät, dass es sich doch gar nicht mehr lohnen würde, nach Hause zu fahren. Findest du nicht? Du kannst hier schlafen, ich überlass dir auch das Bett.“ Das, was Rye eben in Gins Gesichtsausdruck als Ablehnung gedeutet hatte, schien sich nun noch mehr zu verstärken. Hinzu kam ein warmes, verlockendes Rot, das seine Wangen färbte. „Nein, lass mal gut sein.“ Die Worte kamen demzufolge nicht überraschend. Begleitet von einem Seufzen verabschiedete sich Rye von seiner Wunschvorstellung, Gin in seinem Bett schlafen zu lassen. Sämtliche Versuche ihn zu überreden waren womöglich zwecklos. „Ach ja, bevor ich es vergesse: Du musst dem Boss morgen im Laufe des Tages noch einen Besuch abstatten.“ Obwohl Gin den Satz monoton aussprach, jagte er Rye einen Schauer über den Rücken. Alles bloß das nicht. Da würde er lieber eine Weile im Höllenfeuer schmoren. Selbst das wäre angenehmer als diesem zwielichtigen Kerl noch einmal gegenüberzutreten. „Das… kann ich nicht.“, gestand er Gin mit leiser Stimme. Doch so leicht schien er ihm nicht davonzukommen. „Warum? Jetzt sag nicht, du hast Angst vor ihm.“ Gins Tonlage war eine Mischung aus Unglauben und Belustigung. Ertappt senkte Rye den Blick und schwieg. Es war ihm nicht nur vor Gin peinlich, sondern auch vor sich selbst. Der Boss war schließlich nur ein Mensch. Theoretisch konnte dieser ihm nichts anhaben. Gäbe es da nicht die Tatsache, dass Gin ihn höchstwahrscheinlich hassen würde, sobald er dem Boss auch nur ein Haar krümmte. „Das brauchst du nicht. Ich werde ihm vorher noch Bericht erstatten und schon dafür sorgen, dass du bleiben darfst.“, versuchte Gin ihn aufzumuntern. Aber es half kein bisschen. Am liebsten hätte Rye geantwortet ‚Darum geht es nicht‘, doch er ließ es lieber sein. „Danke, vielleicht hilft es.“, hoffte er und zwang sich ein Lächeln auf, welches Gin fast erwidert hätte. Aber seine Lippen formten nach einem kurzen Zucken eine harte Linie und er beließ es lediglich bei einem Nicken. „Und ich danke dir auch dafür, dass du solange gewartet hast, bis ich aufgewacht bin.“, fügte Rye sanft in der Hoffnung hinzu, Gin das angedeutete Lächeln trotzdem entlocken zu können. Allerdings lief sein Partner vor Scham rot an, bevor er verneinend die Hände hob und sagte: „Das hab ich nur getan, weil ich mich versichern wollte, ob du tot bist oder nicht. Bild dir nichts drauf ein, klar?“ „Trotzdem danke.“ Rye ließ sich an seiner Tonlage nicht anmerken, wie unzufrieden er mit dieser Reaktion war, die ihn auch ein bisschen verletzte. Doch er hatte schon vorher damit gerechnet, dass Gin es letztlich doch abstreiten würde, dass er sich Sorgen gemacht hatte. Er würde auch nie zu seinen eigentlichen Gefühlen stehen und auf nichts eingehen, was auf diese hindeuten könnte. Wirklich ärgerlich. Es begann Rye zunehmend zu stören. Zwar schien der Silberhaarige etwas offener als früher zu sein, doch es war nicht genug. Noch lange nicht. „Keine Ursache…“, erwiderte Gin zögerlich. „Ich werd‘ dann mal gehen. Deine Klamotten gebe ich dir zurück, wenn wir uns das nächste Mal sehen.“ „Du kannst sie behalten, wenn du willst.“, bot Rye ihm an. Er brauchte die Klamotten ohnehin nicht unbedingt. Dennoch hoffte er inständig, dass dieses nächste Mal, von dem Gin sprach, schon sehr bald stattfand. Am besten gleich morgen, sobald er aus der Höhle des Löwen zurück sein würde. Und das hoffentlich mit der Erlaubnis in der Organisation bleiben zu können. „Nein, schon gut.“, lehnte der Silberhaarige das Angebot ab, während er die Tür öffnete. „Bis dann. Ruh dich noch ein paar Stunden aus.“ „Werde ich… bis dann.“, verabschiedete sich Rye, woraufhin Gin das Schlafzimmer verließ und die Tür hinter sich schloss. Rye verharrte regungslos auf seinem Bett, bis Gins Schritte verstummten und auch die Wohnungstür zufiel. „Irgendwas muss ich doch gegen seine Verschlossenheit tun können…“ Er stöhnte deprimiert, stützte die Hände auf der Matratze ab und lehnte sich nach hinten. „Ich will ihm sagen können, wie sehr ich ihn begehre… und dass er der Einzige ist, der mir etwas bedeutet… für den ich alles tun würde… Aber im Moment wüsste er wahrscheinlich nicht, wie er damit umgehen soll. Womöglich würde er mich nur wieder abweisen…“ Gedankenversunken warf er den Blick über die Schulter und starrte zum Fenster hinaus. Noch eine Abfuhr würde er mit Sicherheit nicht ertragen. Genau genommen wusste er selbst nicht, wie er sein Verlangen nach Gin begründen sollte. Er hatte bisher noch nie solche Empfindungen bei einem Menschen gespürt, weshalb er ein wenig unsicher war und sich die Frage stellte, ob er selbst überhaupt in der Lage wäre, damit umzugehen. „Aber er hat gerade auch unentschlossen gewirkt… Anders als bei unserem Kuss, den er einfach ohne zu zögern erwidert hat… Ich werd einfach nicht schlau aus ihm. Er bemüht sich stets, so wenig Gefühle wie möglich zu zeigen. So kann ich ihn nicht einschätzen…“ Verzweifelt überlegte er, wie er das am einfachsten ändern könnte. Irgendein entscheidender Schritt fehlte, um endlich an sein Ziel zu gelangen, Gin so nah wie möglich zu kommen. Auch wenn alle Prinzipien dagegen sprachen, konnte er einfach nicht anders. Er wollte Gin haben. Koste es, was es wolle. Und dieses Verlangen sollte auf Gegenseitigkeit beruhen. Während Rye gedanklich nach einer guten Idee suchte, stieg er aus dem Bett und ging zum Fenster. Draußen begann es allmählich wieder hell zu werden. Die ersten Sonnenstrahlen lugten am Horizont hervor und schlossen den Bezirk Minato in sich ein. Mitten in den bunten Lichtern der Hochhäuser leuchtete der Tokyo Tower in rot-gelb-orangenen Farben. Er war immer wieder aufs Neue ein schöner Anblick. Rye erinnerte sich gern an die Nächte zurück, in denen er dort gewesen war. Einen besseren Ausblick auf die Stadt bekam man sonst nur noch auf dem Skytree. Bei klarem Wetter konnte man sogar bis zum Fuji sehen. Nach 23:00 Uhr würde sich auf den Aussichtsplattformen auch keine Menschenseele mehr befinden. Da schlich sich ein siegessicheres Lächeln auf Ryes Lippen, als eine Idee in seinem Kopf Gestalt annahm. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)