The Monster inside my Veins von ginakai ================================================================================ Kapitel 23: Mission ------------------- Die Wellen des Meeres spiegelten den sternenklaren Abendhimmel und begannen allmählich schneller zu rauschen. Gin spürte die leicht feuchte Luft in seinem Gesicht. Hinter einem riesigen, halb verrosteten Container beobachte er aus sicherer Entfernung ein ganz bestimmtes Passagierschiff, welches gerade gemäß den Informationen seines Bosses ins Dock 24 des Tokioter Hafens einlief. Pünktlich um 23:00 Uhr. Allerdings war von Rye noch immer nichts zu sehen. Eigentlich würde sich Gin gewöhnlich keine großen Gedanken darüber machen, doch sein Partner hatte seit dem frühen Nachmittag nichts mehr von sich hören lassen. Das Handy hatte er zwar nicht ausgeschaltet, doch ran war er trotzdem kein einziges Mal gegangen. Gin hatte drei Mal versucht ihn anzurufen. Und zugegeben: Das waren ohne Zweifel drei Anrufe zu viel gewesen. Noch nie in seinem Leben hatte er jemandem hinterhertelefoniert. Natürlich musste Rye auch was das betraf eine Ausnahme sein. „Vielleicht hat er es sich anders überlegt…“, kam es ihm mit aufkommenden Sorgen in den Sinn. Was, wenn dieser Auftrag doch eine Nummer zu groß für Rye war und er sich nun dazu entschieden hatte, zu verschwinden? Weit weg. Ohne sich vorher zu verabschieden. Gin schüttelte energisch mit dem Kopf. „Jetzt hör auf so einen Blödsinn zu denken… dass er hin und wieder mal verschwindet kam schließlich schon öfters vor!“, wies seine innere Stimme ihn zurecht. Sich Sorgen zu machen war vollkommen überflüssig und passte obendrein überhaupt nicht zu ihm. Zudem bezweifelte er, dass Rye ihm auf längere Zeit fernbleiben konnte. Nicht nach allem was er gesagt, getan und für ihn riskiert hatte. „Guten Abend.“, hauchte ihm plötzlich eine sanfte, unverwechselbare Stimme von hinten ins Ohr, während sich zwei Hände auf seine Schultern legten. Gin biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte ein erschrecktes Stöhnen. Sein Körper zuckte dennoch zusammen, bevor er sich umdrehte und ein breites, amüsiertes Lächeln auf den Lippen von Rye erblickte. Dieses verriet Gin, dass der Kerl absichtlich völlig geräuschlos hinter ihm aufgetaucht war. „Wo warst du?!“, fuhr er ihn leise an. Das Lächeln verschwand nicht aus Ryes Gesicht. „Warum? Hast du mich etwa vermisst?“ Obwohl die Frage ironisch gemeint war - und wahrscheinlich nur zum Ausweichen diente - glaubte Gin einen kleinen Hoffnungsschimmer in Ryes Stimme zu hören. „Nein.“, erwiderte er kalt und warf seinem Gegenüber einen finsteren Blick zu. „Du kannst es ruhig zugeben. Wenn du mir sagst, dass ich jede freie Sekunde bei dir bleiben soll, richte ich das gern ein.“, neckte Rye ihn weiter, wobei Gin anfing mit den Zähnen zu knirschen und eine Hand zur Faust zu ballen. Leider würde ein Schlag ins Gesicht ihm womöglich mehr weh tun als Rye. Da schossen ihre beiden Blicke aufmerksam zu dem Passagierschiff, wo in diesem Moment die Gangway ausgefahren wurde. Oben auf dem Deck erspähten sie zwei Gestalten, die jedoch kurz darauf wieder in der Dunkelheit verschwanden. „Das Schiff ist hier lediglich zur Restauration angemeldet, weshalb du außer dieser Bande niemanden weiter antreffen solltest. Es wäre am einfachsten, wenn du alle bis auf einen erledigst. Möglichst eine Führungsperson, die dir auch sagen kann, wo die Ware versteckt ist. Ich kann dir versichern, dass derjenige es dir dann ganz von allein verraten wird. Aber du musst stets den Überblick über alles behalten. Keiner darf dir entwischen. Und pass vor allem auf, wenn du-“ „Du sollst mir doch nicht helfen.“, unterbrach Rye Gin in seinem Redeschwall. Der Silberhaarige wandte überrascht den Blick zu seinem Partner, wessen Miene sich verhärtet hatte. An der Tonlage erkannte Gin, dass es ihm wichtig zu sein schien, dass dieses Verbot nicht gebrochen wurde. Gin lächelte breit, dann meinte er: „Ach wirklich? Das muss ich wohl überhört haben.“ Rye schmunzelte über die gespielte Unwissenheit. Doch der heitere Schatten wich schnell aus seinem Gesicht, bevor sich eine leichte Besorgnis darin abzeichnete. „Schätze, ich sollte dann mal anfangen.“, murmelte er leise. Irgendwas schien ihm auf einmal zuzusetzen. Und das waren mit Sicherheit keine Zweifel an seinen eigenen Fähigkeiten. Gerade, als Gin fragen wollte, ob alles in Ordnung sei, kam Rye ihm zuvor. „Hör mir zu.“, verlangte er mit lauterer, fester Stimme, während seine Augen Gin bedrohlich fixierten. „Du wirst hier warten. Es wird nicht lange dauern.“ Der Silberhaarige runzelte verständnislos die Stirn. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, Rye auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Von hier unten würde er womöglich nicht das Geringste vom Geschehen mitbekommen, was Rye jedoch anscheinend auch damit bezwecken wollte. „Eine halbe Stunde. Wenn ich bis dahin nicht bei voller Besinnung zurück bin, verschwindest du sofort. Egal was passiert: du darfst mir auf keinen Fall nachkommen, hast du verstanden?“ Gin musterte genau, wie sich Ryes Lippen bei jeder Silbe verformten. Er sprach sehr langsam. Es klang beinahe hypnotisierend, weshalb Gin kurz davor war zu nicken und den Befehl somit wortlos hinzunehmen. Doch bevor er das tun konnte, setzte sein Verstand zum Glück wieder ein. Rye hatte ihm gar nichts zu befehlen. „Was sollte mich davon abhalten, es trotzdem zu tun?“, fragte er provozierend, doch entgegen seiner Erwartung verzog sich Ryes Gesicht zu Traurigkeit und Verzweiflung. Der Schwarzhaarige senkte den Blick und schwieg. Erst nach ein paar Sekunden sah er mit einem gequälten Lächeln wieder auf. „Bitte tu mir das nicht an.“, waren seine letzten, flehend klingenden Worte, bevor er sich wegdrehte und verschwand. Sofort ließ Gin den Blick wandern. Er hatte nicht einmal sehen können, in welche Richtung Rye verschwunden war. In der Nähe der Gangway befand er sich nicht. Nur höchst konzentriert gelang es Gin, seinen Partner wieder zu entdecken. Jedoch auf dem Gerüst eines Krans, der dicht neben dem Schiff stand und eigentlich dazu diente, die Außenseite zu renovieren. Gin blieb der Mund offen stehen. Der Kerl schaffte es immer wieder, ihn mit seinen Fähigkeiten zu überraschen. Fast zu schnell für das menschliche Auge und vollkommen geräuschlos sprintete Rye über den Ausleger, als befände sich normaler Boden unter seinen Füßen. Am Ende sprang er mühelos herunter, um die kurze Distanz zwischen Kran und Schiff zu überwinden. Mit angewinkelten Beinen und leicht ausgestreckten Armen glitt er durch die Luft wie ein Falke im Beuteflug. Dabei umgab ihn der dunkle, Sternen beleuchtete Himmel. Die flatternde Silhouette seines schwarzen, offenen Mantels ähnelte fast einem breiten Umhang. Doch besonders Ryes lange Haare, die hinter ihm herflogen, ließen das Gesamtbild wunderschön erscheinen. So schön, dass es Gin für einen kurzen Moment den Atem raubte. Doch sobald Rye auf dem Deck landete und somit nicht mehr in seinem Blickfeld war, zerbrach die Magie des Moments. „So ein Angeber…“, dachte Gin abfällig, um zu verdrängen, dass er die Aktion zuvor noch unbewusst bewundert hatte. Lautlos kam Rye mit den Füßen auf dem Deck auf. Er verharrte für eine Weile auf der Stelle und lauschte. Unter sich konnte er mehrere, etwas weiter entfernte Schritte anderer Personen vernehmen, deren Stimmen ebenso leise zu hören waren. Beides schien von Richtung des Hecks zu kommen. Ohne zu zögern rannte Rye los und benötigte gerade mal knappe drei Sekunden, um die betreffenden Personen zu erreichen, bei welchen es sich um zwei Männer handelte. Womöglich waren es dieselben, die er vorhin von unten aus schon entdeckt hatte. Aber eigentlich spielte es keine Rolle. Er sollte ohnehin ausnahmslos jeden der Besatzung töten. Ganz am Ende, wenn er die Ware gesichert haben würde, wäre niemand mehr übrig. Dann hätte er den Auftrag erfolgreich abgeschlossen und würde so vielleicht wenigstens einen kleinen Teil vom Vertrauen des Bosses gewinnen können. Ein kleiner Teil, der ausreichen musste, um in der Organisation bleiben zu dürfen. Um bei Gin bleiben zu dürfen. Er musste sich beeilen, um diesen nicht länger als eine halbe Stunde warten zu lassen. Bis dahin würde es dem Schwarzhaarigen hoffentlich gelingen, bei klarem Verstand zu bleiben. Er durfte sich seinem Verlangen nach Blut nicht einfach kampflos hingeben. Nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde durfte er auch nur daran denken. Er musste es schaffen seiner sonst unersättlichen Gier zu widerstehen. Er hatte bereits Vorkehrungen getroffen, die es ihm ermöglichen sollten die Kontrolle zu behalten. Doch wenn dies nicht ausreichte, wäre alles verloren… Die beiden Männer fuhren vor Schreck zusammen, als Rye urplötzlich vor ihnen stehenblieb und sie schweigend mit leerem Blick anstarrte. „W-Wo kommst du denn jetzt auf einmal her? Wer bist du?!“, schrie einer von ihnen völlig verwirrt, woraufhin beide ihre Pistolen auf Rye richteten. Dieser zog unbeeindruckt eine Augenbraue nach oben, bevor er gelangweilt meinte: „Das kann euch egal sein.“ Die Männer tauschten kurz verwirrte Blicke miteinander aus, jedoch ließ Rye ihnen keine Zeit zum Antworten und fügte belustigt hinzu: „Ihr seid so gut wie tot.“ Kaum hatte er den Satz beendet, trat er blitzschnell unmittelbar vor seine beiden Opfer und verdrehte ihre Arme, wodurch sie die Waffen fallen ließen. Anschließend brach er dem Einen das Genick, während er dem Anderen mit voller Wucht in den Bauch trat, sodass dieser quer über das Deck flog und zuletzt gegen das Geländer prallte, welches sich etwas einbog. Den Mann mit dem gebrochenen Genick warf Rye achtlos beiseite, um zu überprüfen, ob der andere noch am Leben war. Jedoch blieb er abrupt stehen, als er bemerkte, dass dieser keuchend Blut spuckte. Der Tritt war offensichtlich schlecht gezielt gewesen. „So ein verdammter Mist…!“, fluchte Rye gedanklich und presste die Hand vor Nase und Mund. Aber es war längst zu spät. Er konnte den metallischen Geruch des Blutes dennoch sehr intensiv wahrnehmen. Und er fing an, etwas in ihm zu wecken, was er gehofft hatte, in einen nie endenden Tiefschlaf versetzt zu haben. Rye schloss für einen Moment die Augen, um seine Triebe niederzuzwingen. „Wehr‘ dich dagegen… du kannst doch nicht schon am Anfang die Kontrolle verlieren…“, befahl er sich selbst, hielt die Luft an und ging auf den schwer atmenden Mann zu, um ihm den Rest zu geben. Er ignorierte die vor Schock geweiteten, angsterfüllten Augen, die ihn flehend ansahen und brach auch diesem Mann das Genick. Danach wich er schnell zurück, um dem verlockenden Geruch zu entkommen, der versuchte ihn zu bezirzen. Und das beinahe erfolgreich. Weit genug von den beiden Toten entfernt, nahm Rye eine wachsame Haltung ein und sah sich um. Doch er erblickte keine Menschenseele. Also schloss er die Augen und begann erneut aufmerksam zu horchen. Es dauerte nicht lang, bis Töne aus der Ferne seine Ohren erreichten. Stimmen. Gelächter. Das Klirren von Gläsern. Von woher kam es? Auf jeden Fall nicht von draußen. Wenn er Glück hatte, war ein Großteil der Bande im Inneren des Schiffs versammelt. So müsste er sie nicht alle wie Nadeln in einem Heuhaufen suchen. Zwar wäre es einfach für ihn, die Nadeln schnell zu finden, aber das hin und her würde ihn zunehmend ermüden. Es würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen, in welcher sein Verstand weiter gegen seine Triebe kämpfen musste. Rye folgte den fortwährenden Geräuschen, die ihn zu einer Tür zum Hauptdeck führten. Er öffnete diese vorsichtig und wurde daraufhin von künstlichem Licht geblendet. Er rannte die Treppe herunter, öffnete eine nächste Tür und folgte einigen schmalen Gängen, bis er auf einen breiteren gelangte, an dessen Ende sich eine Salontür befand. Dahinter verbargen sich zweifellos die Besitzer der Stimmen, die nun sogar für ein menschliches Gehör klar und deutlich zu hören waren. Mit beiden Händen stieß Rye schwungvoll die Tür auf, woraufhin jegliche Geräusche umgehend verstummten. Alle Blicke waren irritiert auf ihn gerichtet. Offensichtlich war er gerade mitten in eine Partie Karten geplatzt. Acht nobel gekleidete Personen saßen an einem runden Tisch und schienen um Geld zu spielen. Ein bisschen enttäuschen tat Rye der Anblick schon, da er gehofft hatte, es würden mehr Menschen in diesem Saal sein. Das Ganze wäre leichter, wenn er wenigstens wüsste, wie viele sich insgesamt auf dem Schiff befanden. Selbst wenn es tatsächlich jemand schaffen sollte, ihm zu entkommen, würde er das nicht einmal merken. Gin hatte ihm empfohlen, möglichst eine einzige Person am leben zu lassen. Doch wie sollte er das anstellen, wenn er nicht wusste, welche Person die Letzte sein würde? „Es wird Zeit, das Spiel zu beenden, meine Herren.“, sprach Rye hämisch und ging ohne eine Reaktion abzuwarten auf einen der Kerle los und strangulierte diesen mit seiner Krawatte. Sofort erhoben sich alle ruckartig von ihren Stühlen. Das wütende, entsetzte Geschrei der Männer rauschte an Rye vorbei. Ihre letzten Worte interessierten ihn nicht. Er lief quer über den Tisch und riss dem Typen, der gerade eine Kugel nach ihm abfeuern wollte, die Waffe aus der Hand, bevor er auch diesen erledigte. Seinen Sitznachbar beförderte er als Nächstes ins Jenseits, gefolgt von zwei anderen, die gerade davonlaufen wollten. Tatsächlich versuchte einer ihn direkt anzugreifen. So dumm und naiv. Mit Leichtigkeit wehrte Rye den banalen Angriff ab und drehte seinem Opfer den Hals um. Es war nach nur wenigen Sekunden tot. Wenn das in diesem Tempo so weiterging, wäre er schon sehr bald wieder bei Gin. Die Sehnsucht nach diesem Moment spornte Rye noch mehr an. Er fixierte die beiden letzten lebenden Männer, die versuchten aus dem Saal zu fliehen. Doch das würden sie nicht schaffen. Den Hinteren hatte Rye bereits so schnell erreicht, dass dieser nicht mal mehr noch einen Schritt setzen konnte. Ehe der Kerl sich versah, wurde er vom Schwarzhaarigen zu Boden geschleudert und schlug mit dem Kopf auf den harten Boden auf. Vergeblich versuchte sich der zittrige Körper wieder aufzurappeln. Der Mann stöhnte vor Schmerz und fasste sich unter die Nase. Als Rye ihn jedoch am Kragen hochziehen wollte, stieß er einen lauten Schrei aus und schlug panisch um sich. Einer der Schläge streifte dabei die Wange von Rye, welcher augenblicklich innehielt. Ein kurzer Blick in das Gesicht des Mannes genügte, um zu bemerken, dass dieser Nasenbluten hatte und zudem eine Platzwunde seine Stirn zierte. Doch das Blut unter der Nase war längst verwischt und demzufolge war es für Rye nicht schwer zu erraten, was da nun an seiner Wange klebte. Er ließ den Kragen des Mannes los, bevor er mechanisch mit zwei Fingern über seine Wange fuhr. Auch an ihnen blieb etwas Blut zurück. Die Welle von Verlangen, die Rye einen Moment später überrollte, betäubte seinen Verstand. Ohne sich dessen bewusst zu werden, führte er die Finger zu seinem Mund und leckte das Blut daran ab. Der unwiderstehliche Geschmack zog ihn unmittelbar in einen Bann, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Sein Körper vibrierte vor Durst. Er wollte mehr Blut schmecken. Noch viel mehr. Durch das Wärmebild vor seinen Augen sah Rye, wie seine Beute es doch tatsächlich geschafft hatte wieder aufzustehen und einen zweiten Versuch startete, aus dem Saal zu flüchten. Erfolglos. Mit Leichtigkeit gelang es Rye, den Mann erneut zu Fall zu bringen. Er stürzte sich auf ihn und rammte seine Reißzähne in dessen Hals. Als das Blut mit seinen Geschmacksknospen in Berührung kam, überrollte ihn eine weitere Welle von Verlangen. Es war eigentlich noch nicht sehr lange her, seit er seinen Durst zuletzt gestillt hatte. Dennoch war er plötzlich so durstig, als hätte er jahrelang kein Blut mehr zu sich genommen. Desto größer wurde nun die Befriedigung mit jedem weiteren Schluck, den er trank. Ein Mensch würde bei weitem nicht genügen. Aber darüber sorgte er sich nicht. Schließlich gab es hier auf dem Schiff mehr als genug Auswahl. Er musste nur schnell genug sein, um auch jeden zu erwischen. Ein Lächeln voller Vorfreude breitete sich auf seinen Lippen aus. Das war endlich eine Jagd, die sich lohnte. Bevor Rye den Raum verließ hielt er den Atem an und schloss seine leuchtend roten Augen. Er konzentrierte sich komplett auf sein Gehör um herauszufinden, wie viel Beute sich noch auf diesem Schiff befand und in welcher Richtung er sie suchen musste. Sobald er sich für sein nächstes Opfer entschieden hatte, verschwand er in einer für das menschliche Auge nicht wahrnehmbaren Geschwindigkeit. Nur das leise Klicken der Tür hinter ihm verriet, dass er den Raum bereits wieder verlassen hatte. … Mit zunehmender Unruhe lief Gin auf und ab, während er sein Smartphone zum x-ten Mal aus der Manteltasche fischte. Das Display zeigte ihm inzwischen eine Uhrzeit von 23:41 an. Die von Rye festgelegte halbe Stunde war längst rum. Laut dessen Worten sollte er nun schleunigst von hier verschwinden. Zumindest wäre dies Ryes Meinung nach das einzig Richtige, wenn man davon ausging, dass Gin dem Folge leisten würde – was er natürlich nicht tat. Er nahm lediglich Befehle vom Boss an und sonst von niemandem. Schon gar nicht von Rye, welchen er eigentlich schon die ganze Zeit hätte beaufsichtigen sollen. Zugegebenermaßen interessierte es ihn wirklich, wie sein Partner den Auftrag erledigte. Gin konnte sich nicht erklären, warum er wenigstens einmal sehen wollte, wie Rye Menschen auf seine eigene Weise tötete. Doch dieses Interesse war hochgradig gefährlich, was allein Ryes Warnung dem Silberhaarigen genug verdeutlicht hatte. Besonders die Wortwahl „wenn ich bis dahin nicht bei voller Besinnung zurück bin“. Rye hatte vermutlich Angst, ihm wehtun zu können, wenn er die Kontrolle über sich selbst verlieren würde. Vielleicht hatte er das bereits sogar. Und seine daraus resultierenden, willkürlichen Handlungen könnten fatale Folgen mit sich ziehen. „Ist es das, was Vater mit dem Auftrag bezwecken wollte? Dass Rye die Kontrolle verliert und zu dem Monster wird, für das er ihn hält? Ohne klaren Verstand ist ein Chaos so gut wie vorprogrammiert und Rye würde den Auftrag verpatzen… somit hätte er einen triftigen Grund, ihn nicht länger in der Organisation zu behalten…“ Kaum hatte Gin seinen Gedanken beendet, erschallte ein angstverzerrter Schrei vom Schiff aus, gefolgt von zwei Pistolenschüssen und einem lauten, metallischen Krachen. Sofort standen sämtliche Alarmsignale des Silberhaarigen auf Rot. Er musste schnellstens zu Rye. Irgendwie musste er das Schlimmstmögliche verhindern. Auch wenn er nicht im Geringsten wusste, wie er das anstellen sollte. Rye war einfach zu stark und zudem auch für ihn eine Bedrohung. Es spielte keine Rolle, ob Rye ihm bewusst wehtun wollte oder nicht. Ein Vampir stellte von Natur aus eine Bedrohung für einen Menschen dar. Nichts auf der Welt könnte daran etwas ändern. „Und dennoch werde ich jetzt zu ihm gehen… Weil er mein Partner ist… und Partner helfen einander…“ Gin hätte nie gedacht, sich jemals an so einen schnulzigen Satz zu orientieren, welchen Rye einst mal verwendet hatte. Aber er hatte verdammt nochmal recht gehabt. Gin ließ seinen Blick in alle Richtungen schweifen. Da er keine verdächtige Person entdeckte, ging er direkten Weges zum Schiff und betrat die Gangway. Diese gab mit jedem Schritt ein ohrenbetäubendes Knarksen von sich, welches Gin vielleicht nur lauter vorkam, weil er sich bemühte so leise wie möglich zu sein. Jedoch waren alle Schiffsinsassen höchstwahrscheinlich gerade genug mit Rye beschäftigt - oder Rye war mit ihnen beschäftigt - sodass da nicht mehr viel Aufmerksamkeit übrig blieb, die er auf sich ziehen könnte. „Egal was passiert: du darfst mir auf keinen Fall nachkommen, hast du verstanden?“ Plötzlich meldete sich die warnende Stimme des Schwarzhaarigen in Gins Kopf, als er kurz davor war das Schiff zu betreten. Er verharrte für einen Moment, entschied sich aber dafür, einfach weiterzugehen. „Auf keinen Fall.“ Gin zuckte zusammen und warf seinen Blick über die Schulter. Jetzt hatte die Stimme tatsächlich so geklungen, als stände Rye direkt hinter ihm. Doch dem war nicht so. Missmutig verzog Gin das Gesicht und versuchte seine Sorgen und Befürchtungen zu vertreiben, bevor er letztlich an Bord ging. Dabei fragte er sich, ob er diese Entscheidung vielleicht bereuen würde. Auch wenn eine Antwort darauf nichts änderte. Es war nicht von Belang. Im Inneren des Schiffes war es sehr hell, auch wenn das Licht im Gang etwas flackerte. Anfangs konnte Gin weder jemanden hören noch sehen. Doch die vermeintliche Stille trug. Auf einmal begann die Decke zu rumpeln, als würde jemand in sehr hoher Geschwindigkeit durch den darüberliegenden Gang rennen. „Oder kommt es vom Oberdeck?“ Schnell lief Gin weiter, um sich zu vergewissern. Während er die Treppe hinauf lief, glaubte er, weitere Schüsse zu hören, die wahrscheinlich Rye galten. Auch hörte er eine panische, schreiende Stimme. Aber was genau dieser jemand schrie, konnte er nicht herausfiltern. Als plötzlich etwas unter seinen Füßen platschte, blieb Gin verdutzt stehen. Er musste feststellen, dass er in eine Blutlache getreten war. Ihm fiel auf, dass von dort aus eine Blutspur durch den ganzen Treppengang verlief. Sogar an den Wänden und an der Decke klebte verschmiertes Blut. Für einen Moment war es so, als könnte Gin vor seinen Augen sehen, wie Rye sein bereits schwer verwundetes Opfer die Treppe hinauf jagte, kontrolliert von seiner unersättlichen Gier nach Blut. Wie ein unaufhaltsamer Sturm. So als wäre es das einzige Bedürfnis, das sein Körper verstand. „Also hat er wirklich…“ Sofort rannte Gin erneut los und folgte der Blutspur bis hinaus zum Oberdeck. Eine Tür gab es zu diesem nicht mehr, da sie von etwas – oder besser gesagt von jemandem – herausgerissen worden war, als es mit unmenschlicher Geschwindigkeit hindurch gestürmt war. Die Tür lag nun in mehreren Teilen und verbogen etliche Meter weiter weg. Doch daneben befand sich zudem ein von Bissen und Verletzungen entstellter, toter Körper, weshalb sich Gins Augen begannen zu weiten. Er trat bewusst nicht näher heran, sondern lief einfach an der Leiche vorbei. Es dauerte nicht lang, bis er auf die Nächste stieß. Der Kopf war beinahe vom Körper abgetrennt worden, so groß war die Fleischwunde am Hals des Opfers. Ohne weiter auf dieses zu achten, rannte Gin weiter. Zwischenzeitlich lief er an einem Schwimmbecken vorbei, worin ebenso zwei Leichen an der Oberfläche trieben und das Wasser blutrot färbten. Auf einer Seite des Beckens waren die Liegestühle allesamt umgeworfen worden und lagen nun querbeet verteilt. Von weitem konnte Gin die schnellen Schritte einer anderen Person hören, die scheinbar immer näher kamen. Während er um die nächste Ecke bog, wurde er jedoch genau von dieser Person angerempelt, als sie an ihm vorbei stürmen wollte. Überrascht und etwas erschrocken beobachtete Gin, wie der in Angst versetzte Mann zu Boden stolperte. Auf diesem kroch er dann hastig atmend und unbeholfen weiter, als wäre er auf einer Eisfläche, die jeden Moment unter ihm zusammenbrechen könnte. „E-Es ist der Teufel! Er ist aus der Hölle gestiegen, um uns alle zu vernichten!“, schrie der Mann atemlos. „D-Das muss ein Traum sein… ich will nicht sterben!!“ Als er es fast geschafft hatte, wieder aufzustehen, zog Gin seine Beretta und schoss ihm ohne zu zögern ins Bein, wodurch er erneut stürzte. Er krümmte sich zitternd zusammen und stieß jammernde Schreie aus. Gin wollte ihm gerade mitteilen, dass er nicht sterben würde, wenn er ihm später verriet, wo sich die Drogen befänden. Aber da bemerkte der Silberhaarige, dass das, wovor der Mann geflohen war, nicht sehr weit von ihm entfernt war. Gin blendete die Schreie des Mannes aus und drehte sich langsam um, nur um kurz darauf vor Schock zu erstarren. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Nur hatte ein kleiner Teil in ihm noch gehofft, Rye im normalen Zustand anzutreffen. Auch wenn ihm bei jeder weiteren Leiche immer klarer geworden war, dass es längst zu spät war. Es gab kaum Stellen an Ryes Körper, die nicht blutüberströmt waren. Besonders im Bereich des Mundes war der rote Saft ringsherum verschmiert und lief von den Mundwinkeln herab. Frisches Blut tropfte zudem von Ryes Händen, mit denen er sein Opfer festhielt, von welchem er gerade trank. Dieses war längst nicht mehr am Leben. Doch die Todesangst zeichnete sich immer noch in dem schlaffen Gesicht ab. Als Rye im nächsten Moment innehielt und seinen Blick auf Gin richtete, schoss diesem unmittelbar das Adrenalin durch den Körper. Sein Herz begann zu rasen, während er das unverwechselbare, boshafte Blitzen in Ryes leuchtend roten Augen sah. Das Verlangen nach Blut. „Rye, das reicht. Es ist vorbei.“, sprach Gin mit fester Stimme, die Rye jedoch nicht zu erreichen schien. Der Schwarzhaarige wandte sich ihm nun vollständig zu, bevor ihm sein Opfer achtlos aus den Händen glitt. Als hätte er sein Interesse an diesem verloren, da er etwas entdeckt hatte, das noch viel interessanter zu sein schien. Gin durchlief ein Schauer. Obwohl er zurückweichen wollte, blieb sein Körper vollkommen starr. Er fühlte sich wie betäubt. Von Rye. Dessen Körper hingegen bebte und zuckte, während sein Blick den Silberhaarigen weiterhin gierig fixierte. Für einen Moment überlagerte sich die Szene vor Gins Augen mit der aus seinem Traum, in welchem er mit Rye in dieser seltsamen Kirche gewesen war. Jetzt schien ein Teil von ihm darauf zu warten, dass dieser Traum Wirklichkeit wurde. Während ein anderer Teil ihn dazu alarmierte, sofort zu verschwinden. Er würde sich allerdings niemals jagen lassen, weshalb er einfach stehenblieb, als Rye einen Schritt auf ihn zukam. Doch dann geschah plötzlich etwas, womit Gin niemals gerechnet hätte: Der Schwarzhaarige verlor seinen Halt und brach kraftlos zusammen. Gin benötigte ein paar Sekunden, um zu realisieren, was soeben passiert war. Dass Rye nun reglos am Boden lag. Neben der Leiche, welcher er bis vor einer Minute noch das Blut ausgesaugt hatte. Wie all den anderen auf diesem Schiff. Es war wirklich kaum zu glauben… Endlich gelang es Gin, sich aus seiner Starre zu befreien. Wie von selbst trugen ihn seine Beine zu Rye und sackten neben ihm zusammen. Ohne es sich vollkommen bewusst zu sein, rief er mehrmals den Namen seines Partners, während er ihn auf den Rücken drehte. Er strich Rye ein paar schwarze Strähnen aus dem blutverschmierten Gesicht. Jedoch blieben dessen Augen geschlossen. Offensichtlich hatte er wirklich das Bewusstsein verloren. „Wie ist das möglich…“, ging es Gin durch den Kopf. Er war ihm ein Rätsel, was Rye außer Gefecht gesetzt haben könnte. „Vielleicht hat er sich einfach übernommen…“, überlegte er. Eine andere halbwegs logische Erklärung fand er nicht. „Hoffentlich kommt er gleich wieder zu sich…“ Gin rüttelte Rye an den Schultern. Wobei ihm plötzlich bewusst wurde, dass er gerade tatsächlich versuchte, einen Vampir zu wecken, der gerade noch mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nach seinem Blut getrachtet hatte. Und es gab keine Garantie, dass dieser Vampir es nicht wieder versuchen würde, sobald er erwachte. Allmählich ließen Gins Bemühungen nach und er verharrte in der Bewegung. Von Rye erfolgte nach wie vor nichts. Nicht einmal ein Atemzug. Schließlich besaß er kein Herz, was schlug. Man könnte genauso gut denken, er sei tot. Gins Hände verkrampften sich in Ryes Schultern. Anschließend stand er auf und ging zurück zu dem letzten Überlebenden der Drogendealer-Bande, den er wegen Rye fast vergessen hatte. Der Mann hatte sich glücklicherweise keinen Millimeter vom Fleck bewegt. Tränen der Angst flossen ihm übers Gesicht und er zitterte nach wie vor am ganzen Leib, während die Schusswunde an seinem Bein unaufhörlich blutete. Aber das alles war egal, solange er noch am Leben war und reden konnte. „Der, der dich verfolgt hat, kann dir nichts mehr tun.“, meinte Gin streng, womit er die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich lenkte, dessen Augen vor Erleichterung groß wurden. „Wenn du mir verrätst, wo eure Ware versteckt ist, überlege ich mir, dich am Leben zu lassen. Also?“, fuhr Gin monoton fort. Seine Entscheidung stand ohnehin längst fest. Der Mann hatte zu viel gesehen. Er hatte Ryes wahre Gestalt gesehen. Allein das war Grund genug, ihn zu töten. Der Mann nickte still. Aber dabei blieb es dann auch. Reden tat er nicht. „Dann sprich.“, forderte Gin ihn auf, genervt davon, dass er das überhaupt tun musste. Der Mann setzte sich mit langsamen, ungleichmäßigen Bewegungen auf und umklammerte sein verletztes Bein. Nachdem er den Kopf gesenkt hatte, verriet er leise: „Auf Deck 7… in den Wänden der Zimmer 7237 bis 7242…“ Kurz darauf nahm Gin sein Smartphone aus der Manteltasche und wählte die Nummer des Anführers von der Verstärkung, die noch immer bereit stand und auf seinen Befehl wartete. Es dauerte keine drei Sekunden, bis derjenige abnahm. „Die Drogen befinden sich auf Deck 7, in den Wänden der Zimmer 7237 bis 7242.“, wiederholte er die Worte der Geisel und fügte im Befehlston hinzu: „Fangt an.“ Nachdem die Person am anderen Ende der Leitung mit einem „Okay“ geantwortet hatte, legte Gin auf und steckte sein Handy zurück in die Tasche. Dafür holte er seine Beretta hervor und richtete sie auf den Mann vor sich. Dieser hob erschrocken den Kopf, als er das verräterische Klicken hörte. Doch Gin ließ ihm keine Zeit mehr zu reagieren und schoss ihm ohne Vorwarnung in den Kopf, woraufhin er auf dem Boden zusammenbrach. Halbwegs zufrieden eilte Gin zurück zu Rye, welcher sein Bewusstsein noch immer nicht wiedererlangt hatte. Der Silberhaarige kniete sich neben ihn und zog ihn an den Schultern zu sich auf den Schoß. Mit einem Tuch wischte Gin Rye das Blut aus dem Gesicht. Dabei bemerkte er nicht, dass er begann verträumt auf dieses herabzustarren und den Moment somit in die Länge zog. Er streifte immer langsamer mit dem Tuch über Ryes glattes, schönes Gesicht und fuhr behutsam die Konturen seiner Haut nach. Er strich ihm über die Lippen und verweilte dort einen kurzen Augenblick. Wieder stellte sich Gin gedanklich die Frage, warum Rye nicht erwachte und wie lange es bis dahin wohl noch dauern würde. Solange warten konnte er nicht mehr. Und Rye hierzulassen kam gar nicht erst in Frage. „Dann muss ich ihn wohl nach Hause bringen…“, dachte Gin und stieß ein Seufzen aus. Er schob seine Hände unter Ryes Körper und hob ihn vorsichtig hoch. Zu seinem Erstaunen war Rye leichter, als er vermutet hatte. Mit einem letzten besorgten Blick auf den schlaffen Körper in seinen Armen verließ Gin mit seinem Partner das Schiff. Der Auftrag war mehr oder weniger erfolgreich erledigt. Der Rest fiel nicht in seinen Aufgabenbereich, worüber er diesmal wirklich froh war. So konnte er Rye schneller zurück zu dessen Wohnung bringen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)