The Monster inside my Veins von ginakai ================================================================================ Kapitel 22: Vergebung --------------------- „Kann ich dich eigentlich mal was fragen?“ Neugierig beugte sich Rye vor, um dem neben ihm herlaufenden Gin in die Augen schauen zu können. Jedoch hielt der Silberhaarige den Blick starr geradeaus. Scheinbar war er immer noch sauer auf ihn. Seit dem Verlassen von Gins Wohnung hatten die Beiden kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Obwohl Rye das Schweigen während der Fahrt hierher besonders gestört hatte, hatte er sich nicht dazu überwinden können, Gin anzusprechen. Er wollte ihm ein wenig Zeit geben sich wieder zu beruhigen, was allerdings leider bis jetzt noch nicht passiert war. Deswegen versuchte Rye nun die Stimmung zwischen ihnen mit einem Gespräch wieder aufzulockern. „Mach doch.“, erwiderte Gin kühl, während er die Pfeiltaste vom Fahrstuhl drückte, vor welchem sie stehenblieben. Die Türen öffneten sich nach wenigen Sekunden. Erst als sie eingetreten waren und die Türen sich wieder schlossen, begann Rye mit einer gewissen Vorsicht: „Also der Boss… was ist er eigentlich für dich?“ Für einen kurzen Moment tat Gin so, als hätte er die Frage nicht gehört und betätigte den Knopf zum letzten Stockwerk. Nach einem Seufzen fragte er schließlich verwirrt: „Was sollte er für mich sein?“ Rye wartete kurz mit seiner Antwort. Das Bewegen des Fahrstuhls hatte noch mehr Nervosität in ihm aufkommen lassen, welche er schon die ganze Zeit versuchte zu verdrängen. Es dauerte nur noch wenige Minuten bis zu der Höhle des Löwen. Nie hätte er geglaubt, sich mal vor einem Menschen fürchten zu müssen. „Naja, Vermouth hat mal erzählt, dass…“ Rye hielt inne, als Gins Augenpaar ihn bei dem Namen der Frau böse anfunkelte. Sofort legte er seine Worte anders aus. „Da du, soweit ich erfahren habe, keine Eltern mehr hast, dachte ich-“ „Du irrst dich.“, schnitt Gin ihm den Satz jedoch mittendrin ab. Rye verstummte und musterte seinen Partner überrascht. „Ich habe nie einen väterlichen Ersatz gebraucht, falls du darauf hinauswolltest.“, fuhr dieser mit leerem Blick fort, woraufhin Rye frustriert auf den gefliesten Boden starrte. Dabei war er sich so sicher gewesen. „Oder er will es nicht zugeben…“, kam es ihm in den Sinn. Im selben Augenblick blieb der Aufzug stehen und die Türen öffneten sich wieder. „Aber er hat dich unter seine Fittiche genommen.“, nahm er an, bevor er sich zögernd in Bewegung setzte, um Gin zu folgen. „Sozusagen.“, gab dieser knapp zu. „Hat er nie gesagt warum?“, wollte Rye daraufhin wissen. „Ich hab nie gefragt.“ Rye presste die Lippen zusammen. Diese kurzen Antworten waren alles andere als zufriedenstellend. Dabei hatte er gehofft, mehr über Gin herausfinden zu können. Doch dieser verhielt sich noch genau so unnahbar wie vom ersten Tag an. „Ich werd dich schon noch dazu bringen, mir mehr über dich zu erzählen.“, schwor sich Rye unter der Voraussetzung, dass das Gespräch mit dem Boss einigermaßen gut verlaufen würde. Vielleicht könnte er diesen dann sogar selbst fragen, was Gins Eltern betraf. Aber das war lediglich unrealistisches Wunschdenken. Plötzlich blieb der Silberhaarige vor einer breiten, weißen Doppeltür stehen. Auf beiden Seiten waren jeweils Männer in Anzügen postiert, die über ihren ernst versteinerten Gesichtsausdruck eine Sonnenbrille trugen. Sie standen so still wie Statuen und beachteten die beiden Neuankömmlinge nicht weiter. Rye schluckte, als ihm bewusst wurde, dass er tatsächlich vor der Tür stand, durch welche er eigentlich auf keinen Fall gehen wollte. Zu der Person, auf die er anfangs so neugierig gewesen war, doch welcher er nun nicht mehr gegenüber treten wollte. Er wusste einfach nicht, wie er sich erklären sollte. Wie er um Vergebung bitten sollte. Instinktiv drehte er seinen Kopf zu Gin, um diesen ansehen zu können. Jedoch durchlief ihn ein Schauer, als dessen Blick bereits erwartungsvoll auf ihm ruhte. Als würde er ihn wortlos drängen, sich seiner Furcht zu stellen. Doch Rye blieb dennoch auf der Stelle stehen und machte keinerlei Anstalten, diesen Raum vorzeitig betreten zu wollen. Schließlich entwich dem Silberhaarigen irgendwann ein Seufzen und er meinte mit einem leichten Befehlsunterton in der Stimme: „Warte hier.“ Kurz darauf ging er gezielten Schrittes zur Tür und klopfte an. Kaum einen Moment später erfolgte ein streng erhobenes „Herein“. Gin drückte die Türklinke herunter und trat anschließend zum Glück allein in den Raum, ohne sich nochmal zu Rye umzudrehen. Nachdem sich die Tür schloss, atmete der Schwarzhaarige erleichtert aus und lehnte sich an die Wand hinter sich. Von da aus ließ er seinen Blick abwechselnd zwischen den beiden postierten Männern hin und her schweifen. Prüfend analysierte er jeden Einzelnen so lange, bis ihre Haltung allmählich unruhig wurde. Als er hörte, wie zwei unregelmäßige Herzschläge sich rasend schnell erhöhten, setzte er ein zufriedenes Lächeln auf. „Es passiert selten, dass du unangekündigt kommst. Was ist los?“, wurde Gin von seinem Boss empfangen, welcher die Akten, die er bis eben gelesen hatte, beiseite legte und die Hände ineinander verschränkte. Ausnahmsweise ließ er sich sein Interesse für die Neuigkeiten tatsächlich ein wenig anmerken. Seine Miene war nicht so ausdruckslos wie sonst. Gin versuchte so schnell wie möglich die richtigen Worte zu finden, wie er Vater die Lage erklären sollte ohne, dass es sich vollkommen verrückt anhören würde. Doch das war nicht möglich. An dem Teil mit den Vampiren kam er ohnehin nicht drumherum. „Gin.“ Leicht erschrocken über die scharfe Tonlage wurde der Silberhaarige aus seinen Grübeleien gerissen, in die er offenbar zu lange versunken gewesen war. „Du hattest mir ja aufgetragen nach Vermouth zu suchen…“, versuchte er sich langsam an die Sache heranzutasten. „Und?“, hakte sein Boss ungeduldig nach. Gin wusste zu gut, dass dieser es hasste, wenn etwas nicht sofort auf den Punkt gebracht wurde. Aber gerade ging es nicht anders. Denn würde er gleich auf den Punkt kommen, war die Wahrscheinlichkeit noch höher, dass Vater ihm nicht glaubte. „Ich hab sie gefunden. Allerdings tot.“, verriet er halbwegs gelogen, da er schließlich gegen seinen Willen von Rye zu der Leiche geführt worden war. „Das dachte ich mir.“, entgegnete sein Boss trocken und legte das Kinn auf die Hände ab. Nicht einmal jetzt spiegelte sich eine Emotion in dessen Gesichtsausdruck wieder. Die eigentlich traurige Nachricht – auch, wenn es vorhersehbar gewesen war – ließ ihn vollkommen kalt. So, wie es Gin ebenso kalt gelassen hatte. „Aber du bist nicht hier, um mir nur das mitzuteilen.“, stellte sein Boss fest und verengte dabei die Augen, so dass sich Gin von ihnen durchbohrt fühlte. „Nein.“, stimmte er leise zu. „Vermouth wurde von demselben Täter umgebracht, der auch für die ganzen anderen Morde verantwortlich ist.“ Nachdem sein Gegenüber realisiert hatte, dass Gin seinem Satz nichts mehr hinzufügen würde, befahl er streng: „Jetzt hör auf mich so auf die Folter zu spannen und komm endlich zum Punkt.“ Der Silberhaarige erschauderte, nahm sich jedoch zusammen und fuhr fort: „Ich konnte herausfinden, wer dieser Täter ist. Es ist jemand aus der Organisation.“ „Sag mir den Namen.“, drängte sein Boss. Zumindest jetzt hätte Gin eine überraschte Reaktion von ihm erwartet, die allerdings nicht erfolgte. Gin wunderte sich darüber, wie schwer es ihm plötzlich fiel den Codenamen seines Partners auszusprechen. Dabei kam der schwierigste Teil erst noch. Er atmete tief durch, bevor er sich dazu überwand den Namen über die Lippen zu bringen: „Rye.“ Diesmal wartete er jedoch keine Reaktion ab. Während er den Blick senkte, fügte er schnell hinzu: „Aber da gibt es noch etwas, was du wissen solltest.“ „Das wäre?“ Erneut atmete Gin tief durch. Gleich würde er es hinter sich gebracht haben. Nur irgendwie beschlich ihn die seltsame Vermutung, dass selbst die Wahrheit über Rye rein gar nichts in Vater auslösen würde. Eben hatte es zudem den Anschein gehabt, als hätte dieser lediglich nach einer Bestätigung verlangt, dass Rye der Täter war. „Er konnte nur so viele Morde verüben, ohne Spuren zu hinterlassen, weil er kein Mensch ist…“ Gin musste einiges an Mut zusammenkratzen, um wieder aufsehen zu können und seinen Satz zu beenden: „Sondern ein Vampir.“ Stille breitete sich aus, welche dem Silberhaarigen schnell unangenehm wurde. Doch mit der folgenden Reaktion seines Bosses hatte er überhaupt nicht gerechnet: Er rümpfte angewidert die Nase. „Willst du mir nicht lieber sagen, dass ich den Verstand verloren habe?“, fragte Gin ihn ungläubig in Gedanken. Aber das geschah nicht. Sein Boss sagte kein einziges Wort. Skeptisch beobachtete Gin, wie dieser aufstand, die Hände hinter dem Rücken verschränkte und zum großen Panoramafenster am Ende des Zimmers herantrat. Eine Weile ließ er seinen Blick schweigend über die belebte Stadt schweifen, bevor er sich wieder umdrehte. „Ich wusste, dass es die richtige Entscheidung war, dich damit zu beauftragen.“ Gin legte die Stirn in Falten. Dieses ruhig ausgesprochene Lob kam unerwartet. „Du hättest mir auch einfach vorher sagen können, dass du abergläubisch bist. Dann hätte ich nicht um den heißen Brei herumreden müssen.“, scherzte er abfällig, woraufhin er wirklich glaubte, so etwas wie ein amüsiertes Lächeln in Vaters Gesicht erkennen zu können. „Ich bin nicht abergläubisch. Und ich weiß, dass du es auch nicht bist.“, erwiderte er streng. Nebenher verschwand das Lächeln so schnell aus seinem Gesicht, wie es gekommen war. „Ich hoffe, dass es dir auch gelungen ist, dieses Scheusal weit genug wegzuschicken.“ Als diese an Rye gerichtete Beleidigung Gins Ohren erreichte, durchfuhr ihn urplötzlich ein Stich und seine Augen begannen sich zu weiten. Er versuchte das einkehrende, melancholische Gefühl zu vertreiben und antwortete zögernd: „Er wartet draußen.“ Da zog sein Boss die Augenbrauen nach oben. „Was?“, entwich es ihm entsetzt. Diese offensichtliche Abneigung gegen Rye konnte sich Gin nicht erklären. Er hatte inzwischen aber begriffen, dass sein Boss diese Abneigung nicht etwa empfand, weil Rye die vielen Morde begangen hatte. Sondern weil dieser ein Vampir war. „Ich möchte, dass du ihm eine Chance gibst, sich zu erklären.“, bat Gin höflich, auch wenn er daran zweifelte, dass ihm diese Bitte erfüllt werden würde. Vater hatte ihm zuvor deutlich genug gemacht, dass er Rye nicht in seiner Nähe haben wollte. Ein paar Sekunden verstrichen, in denen der Ältere wieder zum Fenster hinaus starrte und über seine nächste Entscheidung nachzudenken schien. Auf diese wartete Gin mit wachsender Anspannung. Unbeabsichtigt stellte er sich vor, wie er Rye später erklären würde, dass dieser nicht länger ein Teil der Organisation sein konnte und so weit wie möglich aus Tokio verschwinden musste. Er sah Ryes trauriges, schmerzverzerrtes Gesicht, welches unmittelbar nach dieser schlechten Nachricht folgen würde, vor seinem inneren Auge. Er hörte die schöne Stimme des Schwarzhaarigen in seinem Kopf, die ihm angsterfüllt sagen würde, dass er nicht wusste, wie und wo er sich zukünftig vor Eclipse verstecken sollte. Innerlich fluchend biss sich Gin auf die Unterlippe. Warum fühlte er sich bei dieser Vorstellung so elend? „Schick ihn rein. Ich werde unter vier Augen mit ihm sprechen.“ Nach diesen unverhofften Worten überkam Gin umgehend Erleichterung, welche er versuchte zu verbergen. Wenn Vater Rye anhörte, würde er vielleicht seine Meinung ändern. Gin nickte und verließ anschließend zügig den Raum. Draußen lehnte er die Tür nur ran, bevor er auf Rye zuging. Dieser stand reglos an der Wand und musterte ihn mit einer Miene, die irgendwie hilflos und leicht verletzt wirkte. „Du kannst jetzt zu ihm.“, teilte Gin seinem Partner mit, welcher sich daraufhin zögerlich in Bewegung setzte. Während er an Gin vorbeiging, versprach dieser so leise wie möglich: „Ich werd hier draußen auf dich warten.“ Auch wenn das vielleicht nicht sonderlich viel half, hoffte Gin, dass es Rye wenigstens ein bisschen ermunterte. Als der Schwarzhaarige hinter der Tür verschwand und sich diese wieder schloss, lehnte sich Gin ebenso an die Wand. Ein Seufzen entwich ihm und er starrte zu Boden. „Hoffentlich geht das gut…“ Die Tatsache, dass sich Vater einer eigentlich lebensgefährlichen Situation aussetzte, wenn er mit Rye ein solch ernstes Gespräch führte, versuchte Gin bestmöglich zu verdrängen. Er vertraute einfach darauf, dass Rye nicht auf die Idee kommen würde, so weit zu gehen. Denn das würde er ihm niemals verzeihen. Rye bemühte sich, eine selbstsichere Haltung zu bewahren, als er das Büro des Bosses betrat. Es war ein großer, heller, schlicht eingerichteter Raum. Genau wie man sich das Büro seines Vorgesetzten als normaler Angestellte eben vorstellte. Die Wände waren voll gestellt mit Regalen, in denen haufenweise Bücher, Ordner und sonstiger Krimskams Platz fanden. In der rechten, hintersten Ecke befand sich ein ziemlich altmodischer Fernseher, der so gar nicht zu der weißen Designerkommode passte, auf welcher er stand. Auf dem Schreibtisch in der hinteren Mitte des Raumes herrschte ein unüberschaubares Durcheinander an Akten, Papieren und Zeitungsartikeln, sodass man den Laptop und das Telefon darauf fast übersah. Der breite Chefsessel aus braunem Leder war jedoch leer. Die Person, die darauf eigentlich sitzen sollte, stand mit verschränkten Armen vor dem Fenster und beobachtete Rye eindringlich mit einer wachsamen, harten Miene. Erstaunt musterte Rye den großen, schlanken Mann. Das Erste, was ihm dabei ins Auge stach, war der lange, leuchtend rote Schal, welchen sich der Boss über die Schultern geworfen hatte und der fast bis zum Boden hing. Das Nächste war der schwarze Mantel, dessen vertraute Form ihn an den von Gin erinnerte. Doch der Mann vor ihm trug ihn im Gegensatz zu Gin offen und mit hochgeschlagenem Kragen, wodurch die passgenau geschnittene Hose, in der ein ebenso maßgeschneidertes Hemd endete, seine schlanken Beine auf beeindruckende Weise betonte. Etwas überrascht war Rye davon, dass der Boss es scheinbar bevorzugte, zu diesem eher geschäftsmäßigen Outfit kniehohe Stiefel zu tragen. Durch diese veränderte sich der Gesamteindruck dermaßen, dass es nicht mehr modern, sondern eher altertümlich wirkte. Aber dennoch edel. Zusätzlich betont wurde dieser Eindruck von der schwarzen Weste über dem Hemd, welche er im ersten Moment nur für den Schatten des Mantels gehalten hatte. Warum der Mann zu dem Allen noch eine lilane Krawatte trug, entzog sich Ryes Verständnis. Sie gehörte zwar zweifelsfrei zu einem ordentlich getragenen Hemd dazu, doch in Kombination mit dem Rest wirkte sie doch etwas unnötig und unbequem. Das Gesicht des Bosses erinnerte ihn aus irgendeinem Grund ebenso an Gin, was vielleicht besonders an den grünen Augen lag. Allerdings besaßen die Haare des Bosses keinen glänzenden Silberton, sondern waren burgunderrot. Sie waren zudem nach hinten gekämmt, wovon jedoch einige nach vorn gefallene Strähnen das makellose Gesicht umrandeten. Aber da gab es etwas, das Rye stutzig werden ließ: Dieser Mann sah noch ziemlich jung aus. Er schätzte ihn höchstens auf Anfang 40. Doch bei einem so geringen Altersunterschied zu Gin, hätte er diesen niemals großziehen können. Oder er war in Wirklichkeit doch viel älter, als er aussah und hatte sich bisher nur ungewöhnlich gut gehalten. „Ich hab ihn mir total anders vorgestellt…“, dachte Rye missmutig. Er traute sich nicht, etwas zu sagen. Obwohl er das eigentlich müsste. Doch er fühlte sich allein durch den Blick des Mannes eingeschüchtert. So eisern und vor allem abgeneigt. „Wenn schweigen und anstarren deine Art ist, dich zu erklären, kannst du auch wieder gehen. Ich habe nicht vor, meine Zeit zu verschwenden.“ In der tiefen, strengen Stimme des Bosses lag eine gewisse Kälte, die Rye erschaudern ließ. Er musste sich zusammenreißen. Das vor ihm war immerhin nur ein Mensch. Von Menschen hatte er sich noch nie einschüchtern lassen. Ganz egal, wie viel Macht sie besaßen. „Ich…“, begann Rye, musste jedoch erneut ansetzten, da er feststellte, dass seine Tonlage zu unsicher klang. „Ich bin hier, weil ich Sie um Vergebung bitten möchte.“ Daraufhin zogen sich die Mundwinkel des Bosses spottend nach oben. „Vergebung? Mach dich nicht lächerlich. Ist das auch einer deiner Tricks?“ „Tricks…?“, hakte Rye mit leiser, verwirrter Stimme nach. „Spiel nicht den Unwissenden. Mir war von vornherein klar, dass du entweder eigene Ziele verfolgst oder Connor dich mir auf den Hals gehetzt hat. Eigentlich wollte ich nur herausfinden, was genau du im Schilde führst. Doch ich bin aus deiner Vorgehensweise bisher einfach nicht schlau geworden.“, warf ihm der Boss leicht verärgert mit einem grüblerischen Ausdruck in den Augen vor. Rye benötigte eine Weile, um die Worte zu erfassen und sich der Vorwürfe bewusst zu werden. Er runzelte nach wie vor verwirrt die Stirn. „Wer ist Connor?“ Das war die erste Frage, die ihm durch den Kopf schoss. Die Zweite sprach er laut aus: „Sir, wie kommen Sie darauf, dass ich irgendwelche Ziele verfolge?“ Die Gesichtszüge des Bosses verdüsterten sich, während er entgegnete: „Warum versetzt du die Stadt in Unruhe, bringst drei meiner Leute um und versuchst ganz offensichtlich Gin um den Finger zu wickeln?“ Anschließend ging er zu seinem Schreibtisch und stützte sich mit den Händen auf diesem ab. „Welchen Auftrag hat Connor dir gegeben?“ So, wie er es formulierte, hörte es sich tatsächlich an, als verfolgte Rye bestimmte Ziele. Aber diese gab es in Wirklichkeit nicht. Sein momentan einziges Ziel war höchstens, in der Organisation und somit weiterhin bei Gin zu bleiben. „Sir, ich… konnte nicht anders…“, redete er sich bezüglich der ersten Frage raus, bevor er die andere sicher beantwortete: „Aber ich kenne niemanden mit dem Namen Connor.“ „Du bist von Eclipse, also erzähl mir nicht, dass du ihn nicht kennst.“ Die Augen des Mannes vor ihm verengten sich verbittert. Er schien dem Schwarzhaarigen nicht zu glauben, welcher schlicht erwiderte: „Ich erinnere mich nicht.“ „Die Nummer mit dem Gedächtnisverlust wird langsam alt, mein Lieber. Das zieht bei mir nicht.“ Nicht einmal das schien der Boss zu glauben. Auch wenn es der Wahrheit entsprach. „Er hält mich für einen Spion oder so was…“, wurde ihm mit schwindender Hoffnung klar, das Gespräch noch zum Guten für ihn wenden zu können. Immerhin hatte es nicht den Anschein, als würde sich der Boss je vom Gegenteil überzeugen lassen wollen. Jedoch würde Rye so schnell nicht aufgeben. „So ist es aber, Sir. Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass ich aus Eclipse geflohen bin und nie wieder dorthin zurück will! Ich will weiterhin für Sie arbeiten!“, beharrte er mit fester Stimme und ballte dabei unbewusst die Hände zu Fäusten. Warum er die Anrede ‚Sir‘ so oft verwendete, war ihm ein Rätsel. Es war eine seltsame, fast beängstigende Angewohnheit, von welcher er nicht wusste, woher sie plötzlich kam. Als hätte er sie schon unbeschreiblich oft bei jemand anderem verwendet. Im nächsten Moment fuhr Rye vor Schreck zusammen, als der Boss die Hände begleitet von einem lautstarken Knall auf den Tisch schlug. „Hör auf, zu lügen!“, schrie er dabei. „Selbst wenn das stimmen würde, richten Kreaturen wie du nichts als Chaos an! Nenn mir einen Grund, warum ich dich noch für mich arbeiten lassen sollte!“ Rye presste die Lippen zusammen, um zu verhindern, in einer noch lauteren Tonlage zu antworten und dabei versehentlich wütend zu klingen. „Er scheint ‚Kreaturen wie mich‘ ja gut genug zu kennen, um zu wissen, dass es unzählige Gründe gibt, sie zu hassen. Aber woher? Er hat mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verbindung zu Eclipse…“, realisierte er mit aufkeimender Angst. Das musste ein dummer Zufall sein. „Ich kann Ihnen nützlich sein…“, presste er zwischen den Lippen hervor. Doch der Grund schien nicht gut genug zu sein, da der Boss ein hartes, leicht ironisches Lächeln aufsetzte. „Nützlich? Du? Mir? Wenn du einen Nutzen für jemanden erfüllen willst, kannst du dahin zurückgehen, wo du hergekommen bist.“, meinte er abfällig. Rye war kurz davor, zu einem bissigen Kommentar anzusetzen. Doch seine Stimme versagte abrupt, als er plötzlich eine hämische, fremde Männerstimme hörte, welche ihn fragte: „Du willst mir also nützlich sein?“ „Ja, Sir.“ Er erkannte mit Erschrecken, dass dies seine eigene Stimme war, die darauf antwortete. Kurz danach sah er verschwommene Umrisse dieses unbekannten Mannes bildlich vor sich. Rye glaubte, ein boshaftes Grinsen auf dessen Gesicht erkennen zu können, ehe er amüsiert sprach: „Mal sehen, vielleicht hast du großes Glück und darfst mir tatsächlich bald nützlich sein.“ Letztlich verblasste das Bild wieder und verschwand. Mit inzwischen vor Schock versteinertem Gesicht blinzelte Rye ein paar Mal benommen. Für einen Moment ging er davon aus, dass die Antwort, die er zuvor nur in seinem Kopf gehört hatte, von dem Mann vor ihm gestammt hatte. Doch dieser betrachtete ihn schweigend mit leerem Blick. „Sieh mich nicht so verdroschen an. Ich kann auch gern selbst dafür sorgen, dass du wieder dahin zurückkehrst, wo du hergekommen bist.“, sprach der Boss in einem anmaßend drohenden Tonfall, während seine Hand zum Telefonhörer wanderte. Aufgrund der Welle des Schocks, die Rye bei dieser Geste übermannte, stürmte er unkontrolliert innerhalb einer Sekunde zum Schreibtisch und packte den Boss am Handgelenk, um ihn daran zu hindern, den Hörer abzunehmen. Bevor sich Rye seiner spontanen Handlung bewusst werden konnte, wurde er bereits von den zornerfüllten Augen seines Gegenübers durchbohrt. „Bitte nicht…“, flehte Rye. Mehr konnte er nicht sagen. Er verharrte in der Position und konnte sich nicht entscheiden, ob er die Hand des Bosses lieber wieder loslassen sollte. Doch dass der Kontakt zu Eclipse für diesen scheinbar nur einen Hörergriff entfernt war, machte ihn gefährlich. Zu gefährlich, um… „Warum bringst du mich nicht um, wenn du das nicht willst?“ Rye erschauderte. Mittlerweile hatte sich im Gesicht des Bosses ein selbstgefälliges Grinsen gebildet. Er lockerte sein Griff um dessen Handgelenk und wandte den Blick zur Seite. „Wenn Sie tot wären, könnte ich nicht mehr für Sie arbeiten. Und außerdem würde Gin mir das sehr übel nehmen.“, scherzte er deprimiert. Doch entgegen seiner Erwartung erfolgte diesmal keine zynische Antwort. Plötzlich sah er im Augenwinkel, wie sich der Boss vorbeugte und die Hand hob, um ein paar seiner schwarzen, langen Strähnen hinter die Schulter zu streichen. Verdattert über diese unvorhergesehene Geste, wollte Rye den Mann wieder ansehen. Jedoch krallte sich dessen Hand um sein Kinn und drehte seinen Kopf unerbittlich wieder zur Seite. Einige Sekunden verstrichen in Stille, in welcher sich Rye nicht rührte und versuchte, das aufkommende Schamgefühl zu ersticken. Er spürte den analysierenden Blick des Bosses förmlich auf sich, welcher die eintätowierte Nummer auf seinen Hals zu fixieren schien. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ er endlich von ihm ab und Rye wich umgehend ein paar Schritte zurück. „Verstehe, ein Versuchsobjekt also...“, murmelte der Boss mehr zu sich selbst, ohne den Schwarzhaarigen dabei anzusehen. Der nachfolgende Satz war so leise, dass er für das menschliche Gehör nicht mehr zu hören gewesen wäre: „Unglaublich, dass es ihnen schon nach nur 12 Versuchen gelungen ist…“ „Verstehen Sie jetzt, warum ich geflohen bin?“, wollte Rye wissen, auch wenn er bezweifelte, dass sein Gegenüber es je verstehen würde. „Ich habe keinen Auftrag bekommen.“ „Es ist nicht möglich von dieser Insel zu fliehen.“, erwiderte der Boss trocken. „Doch. Es ist möglich, wenn sie davon ausgehen, dass ihre Versuchsobjekte“ - Rye verzog das Gesicht, als er dieses Wort benutzte - „niemals auf die Idee kommen würden, sich gegen sie zu wenden. Außerdem kann ich nicht ertrinken.“, erklärte er. „Und dann hat es dich zufällig nach Tokio getrieben, wo du dich dann zufällig in meine Organisation hast einschleusen lassen.“ Der Sarkasmus, der in dieser Tonlage lag, war deutlich hörbar. Auch hörte Rye die unsichtbaren Gänsefüßchen bei dem Wort ‚zufällig‘. Allerdings gab es da einen wichtigen Punkt, den der Boss übersah und welchen Rye nun aussprach: „Vermouth hat mich aufgelesen.“ „So etwas lässt sich auch gründlich planen.“, konterte der Boss nicht im Geringsten überzeugt. „Und du hast sie ja schon zum schweigen gebracht.“, fügte er voller Bitterkeit hinzu. „Aber das hatte andere Gründe, als Sie denken. Ich verspreche, dass keines Ihrer Mitglieder jemals wieder durch mich zu Schaden kommen wird. Nur bitte lassen Sie mich bleiben!“ Rye beschloss, einen allerletzten Versuch zu starten. Irgendwo tief verborgen im Inneren musste dieser Mann, der für Gin einer der wichtigsten Menschen auf dieser Welt zu sein schien, ein Herz haben. Und irgendwo dort musste er zu erweichen sein, wenn man sich ordentlich genug bemühte. Jedoch verzog er nur missbilligend das Gesicht, bevor er Rye gereizt anfuhr: „Fang jetzt bloß nicht an zu betteln!“ „Aber ich ertrage es nicht länger, ziellos umherzuirren… immerzu auf der Suche nach Schutz vor Eclipse, weil mir eine Erlösung dieses elendigen Daseins nicht vergönnt ist…“ Der Schwarzhaarige senkte wehmütig den Blick. Die folgende Antwort des Bosses war allerdings ruhiger ausgesprochen, als er erwartet hatte: „Ich habe nicht die Mittel, um dir Schutz vor Eclipse gewährleisten zu können. Vielleicht hatte ich das mal, als es ihnen noch nicht gelungen war, die Vampirrasse zurück ins Leben zu rufen. Durch deine Existenz wird die Menschheit erneut in ein Unheil stürzen.“ „Da haben Sie recht…“, stimmte Rye ihm zu und lächelte anschließend gequält. Er erinnerte sich an die Geschichte aus diesem Buch, in welcher die Menschen jahrhundertelang unter Todesangst leben mussten, weil die Vampire über sie herrschten. Zumindest wünschte sich Rye, dass dies lediglich eine Geschichte wäre. Der Boss schien sie auch zu kennen. Doch woher? Warum wusste er überhaupt so gut über Eclipse Bescheid? Rye traute sich nicht, ihn das zu fragen. Nach etlichen Sekunden Stille vernahm er von dem Mann ein Seufzen. „Komm her.“, befahl er kurz darauf streng. Rye sah überrascht auf, bevor er langsam die Distanz zwischen ihnen wieder verringerte und bis zum Schreibtisch herantrat. Kaum einen Augenblick später krallte sich jedoch eine Hand in sein Hemdkragen und zog ihn halb über den Tisch. Noch ehe er begriff, wie ihm geschah, blickte er in das wütend funkelnde Augenpaar des Bosses, welches sich auf einmal direkt vor ihm befand. Der Mann schwieg eine Weile, bis sich seine Augen prüfend verengten und er in harter, eiskalter Tonlage sprach: „Ich vertraue dir nicht.“ Nach diesen Worten durchlief Rye ein Schauer. Schmerz und Verzweiflung erfüllte ihn, während er dachte: „Es ist zwecklos… ich hab es wenigstens versucht…“ Doch da weiteten sich seine Augen vor Überraschen, als sein Gegenüber hinzufügte: „Aber ich werde dir eine Chance geben, mein Vertrauen zu gewinnen.“ Obwohl der Boss ihn daraufhin achtlos von sich wegstieß, fühlte Rye, wie eine große Welle Erleichterung ihn überrollte, die Schmerz und Verzweiflung umgehend fortriss. Jeder seiner Muskeln entspannte sich automatisch. Endlich schien sich das Blatt zum Guten für ihn zu wenden. „Beweise mir, dass ich mich in dir täusche.“ Rye nickte. Er würde diese Chance nutzen. Er würde alles tun, was der Boss von ihm verlangte. „Sagen Sie mir, was ich tun soll, Sir.“, forderte er entschlossen, woraufhin der Boss in seinem Schreibtischsessel Platz nahm und die Hände unter dem Kinn verschränkte. Er räusperte sich, bevor er monoton begann: „Heute Abend um 23:00 Uhr wird am Hafen im Dock 24 ein Schiff mit Drogen einlaufen. Deine Aufgabe ist es, die komplette Besatzung zu erledigen und die Ware im Alleingang zu sichern. Gin wird dich dabei beaufsichtigen, dir aber nicht helfen. Wenn dir das gelingt, werde ich mir überlegen, dich in der Organisation zu behalten.“ Rye hörte aufmerksam zu, ärgerte sich allerdings etwas beim letzten Satz. Es bestand also selbst dann noch keine Garantie, dass er bleiben durfte, wenn er sich ordentlich ins Zeug legen würde. Doch an sich klang der Auftrag ziemlich einfach. Er musste lediglich das tun, was er sogar ohne es zu wollen am besten konnte: Viele Menschen töten. An die Ware zu kommen würde danach ein Kinderspiel sein. „Die Organisation handelt auch mit Drogen?“, hakte er mit vorgetäuschtem Interesse nach. Der Boss lehnte sich gelangweilt im Sessel zurück. „Nein, eigentlich nicht. Mir geht es viel mehr um die Bande, die diese Drogen schmuggelt. Sie erlauben sich schon seit geraumer Zeit zu viel in unserem Gebiet, weshalb ich schon länger nach einer Möglichkeit gesucht habe, sie loszuwerden. Und die Drogen, die sie im Schiff transportieren, erbringen nun mal eine leicht verdiente, hohe Geldsumme.“ „Verstehe. Es ist egal, wie ich sie töte, oder?“, hakte Rye vorsichtshalber nach. „Mach es, wie du willst. Es läuft sowieso aufs Gleiche hinaus.“ Womöglich hatte der Boss Recht. Es würde alles auf ein Blutbad hinauslaufen. Irgendwann würde Rye die Kontrolle verlieren und unwillkürlich jeden töten, der ihm zu nah kam. Das Schwierige daran war nur, die Kontrolle am Ende wiederzuerlangen. Da beschlichen dem Schwarzhaarigen erste Sorgen um Gin. „Ich will nicht, dass er das mit ansehen muss… Nicht, dass ich ihn versehentlich… verletze…“ Er verwendete bewusst nicht das Wort, welches an der Stelle eigentlich besser gepasst hätte. Allein der Gedanke an dieses mögliche Szenario ließ ihn innerlich vor Schmerz beinahe zerbrechen. Wie kaltes Gestein, das vorerst nur Risse bekam, jedoch in sich zusammenfiel, sobald dieses Szenario Wirklichkeit werden würde. „Ich hoffe, dass ich dir nicht zu viel zumute?“ Die ironische Stimme des Bosses riss Rye aus seinen Gedanken. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie er betrübt den Kopf gesenkt hatte. „Nein, überhaupt nicht, Sir. Sie können sich auf mich verlassen.“, versicherte Rye seinem Gegenüber in einer selbstsicheren Tonlage, von welcher dieser sich aber nicht beeinflussen ließ. „Das wird sich zeigen.“, erwiderte er kalt. „Du kannst jetzt gehen. Aber schick Gin nochmal kurz zu mir.“ „In Ordnung.“ Nach diesen Worten kehrte Rye dem Boss den Rücken zu und ging schnellen Schrittes zur Tür. Am liebsten wäre er aus dem Raum gestürmt, da er es kaum erwarten konnte, diesen endlich zu verlassen. Als er durch die Tür trat, fühlte er sich, als würde er einen Gerichtssaal verlassen, wo sein Urteil jedoch noch nicht gesprochen worden war. Im Flur konnte er sich gerade noch beherrschen, Gin nicht in die Arme zu fallen. Er war unendlich froh darüber, dass der Silberhaarige die ganze Zeit auf ihn gewartet hatte. Ein erleichtertes Lächeln schlich sich wie von selbst bei dessen Anblick auf seine Lippen. Doch Gins Miene blieb hart und unverändert. „Er will dich nochmal kurz sprechen.“, gab der Schwarzhaarige Gin leise Bescheid. Dieser hätte Ryes Lächeln gern erwidert. Doch er nahm es nur ausdruckslos als kleine Belohnung für sein Warten hin. Schließlich waren sie hier unter Beobachtung und Gin wollte es nicht so wirken lassen, als wäre sein Verhältnis zu Rye vertrauter, als es gestattet war. Aus diesem Grund bat er seinen Partner dieses Mal nicht, hier auf ihn zu warten. Sondern ging wortlos an ihm vorbei und schloss die Tür hinter sich, als er das Büro seines Bosses zum zweiten Mal betrat. Immerhin sah Vater wieder ganz beruhigt aus. Denn nicht nur Gin war an manchen Stellen innerlich zusammengezuckt, als dessen aufgebrachte Stimme von Ryes gefolgt bis nach draußen gedröhnt hatte. Hoffentlich war das Gespräch trotz dessen wenigstens gut für Rye ausgegangen. Aber das würde er wohl gleich erfahren. „Er ist wie ein empfindliches, ängstliches Kind, das unbedingt seinen Willen bekommen will. Ich werd‘ nicht wirklich schlau aus ihm.“, murmelte sein Boss gereizt, während er sich ermüdet mit der Hand über die Stirn fuhr. Gin musste sich ein Grinsen verkneifen. So benahm sich Rye ab und zu wirklich. „Lässt du ihn bleiben?“, wollte er ohne Umschweife erfahren, doch die Gegenfrage darauf jagte ihm ein Schauer über den Rücken: „Willst du das?“ Der Blick, mit dem Vater ihn dabei musterte, gab ihm das Gefühl, das beide Antworten fatal wären. „Was ich will, spielt keine Rolle.“, wich er deswegen aus, woraufhin sein Gegenüber schmunzelte. Schließlich war das die unsichtbare Regel, die zwar nirgends geschrieben stand, aber dennoch existierte. „Ich weiß es noch nicht. Die Gefahr, die von ihm ausgeht und die er mit sich bringt, ist zu groß, als das ich dafür die Verantwortung übernehmen könnte. Doch er war einfach zu hartnäckig, weshalb ich beschloss, ihm eine Chance zu geben. Er soll einen Auftrag für mich erledigen – und du wirst ihn währenddessen im Auge behalten.“, erklärte sein Boss unbetont. „Was für ein Auftrag?“, wollte Gin wissen. Über die Chance war er gleichermaßen erleichtert wie besorgt. Er wusste, dass Rye sie nutzen würde. Jedoch befürchtete er auch, dass dieser sich dabei vielleicht übernehmen könnte, nur um Vater bestmöglich von sich zu überzeugen. Immerhin wollte er um jeden Preis in der Organisation bleiben. Wie weit er dafür gehen konnte, kam auf den Auftrag an. „Er soll die Ware eines Schiffes heute Abend, 23:00 Uhr, im Dock 24 für mich sichern und die komplette Besatzung erledigen.“ Beim letzten Teil des Satzes wurde Gin von Unsicherheit erfüllt. Zwar war ihm klar, dass Zeugen oder Feinde beseitigt werde mussten, aber dieses Gemetzel allein Rye zu überlassen… „Um was handelt es sich bei der Ware?“, fragte er nach, um sich von den entstehenden Visionen in seinem Kopf abzulenken. Doch es half nicht. Unweigerlich sah er die zugerichteten, zerstückelten Leichen wieder vor sich. Darunter bekannte Personen, denen Rye ihre Gesichter geraubt hatte, als er sie auf eine unmenschliche, brutale Weise tötete. Gin erinnerte sich, wie der Schwarzhaarige ihm gesagt hatte, dass er sich für seine grausamen Taten verabscheute. Dass er sich dafür hasste. Könnte ihm das kommende Massaker auch zu schaffen machen oder würde er am Ende keine Reue empfinden? „Drogen. Ich werde dir ein Team zur Verfügung stellen, das am Ende aufräumt und die Ware transportiert, wenn Rye sie ausfindig gemacht hat.“, informierte sein Boss ihn. Da würde es unendlich viel aufzuräumen geben. Am einfachsten wäre es wohl, gleich alles in die Luft zu jagen und es als einen technischen Defekt zu tarnen. „Verstanden.“, erwiderte er. „Und du wirst ihm nicht helfen.“, stellte sein Boss in scharfer Tonlage klar, wobei Gins Mundwinkel zuckten. „Ich denke nicht, dass er meine Hilfe benötigen wird.“, meinte er scherzhaft, auch wenn es ihn in Wirklichkeit ärgerte, Rye so unterlegen zu sein. Vermutlich wäre er dem Vampir nur ein Klotz am Bein. Jedoch schien Vater den Witz falsch zu deuten. „Wenn er es nicht schafft, den Auftrag auszuführen, wirst du ihn nicht länger ertragen müssen. Falls es ihm gelingt, kann ich dich natürlich auch entlasten und ihn jemand anderem zuweisen.“ Gins Augen weiteten sich. „Was?“, wich es ihm verdutzt über die Lippen, woraufhin sein Boss den Kopf leicht schräg legte und ihm ein bemitleidenden Blick zuwarf. „Ich könnte verstehen, wenn du ihn nicht länger als Partner haben wollen würdest. Er muss doch furchtbar anstrengend sein mit seiner eigensinnigen, stürmischen Art. Er hat seine Triebe nicht unter Kontrolle und kann seine Stärke nicht einschätzen. Nur ein einfacher Griff um das Handgelenk“ - Er hob seine rechte Hand - „könnte mit Knochenbrüchen enden. Willst du dich etwa dauerhaft einer solchen Gefahr aussetzen?“ So streng, wie Gin daraufhin von ihm fixiert wurde, erwartete er mit Sicherheit ein Nein als Antwort auf diese Frage. Unbemerkt umklammerte Gin sein Handgelenk, auf welchem die durch Rye verursachten, blauen Flecken nach wie vor zu sehen sein sollten. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich ertappt, obwohl Vater davon unmöglich wissen konnte. Allerdings hatte er recht: Rye war sehr anstrengend. Obendrein noch nervig, aufdringlich und verdammt anhänglich. Wie eine lästige Klette, die man unbedingt loswerden wollte, sich jedoch schon zu fest verhakt hatte. Gin bezweifelte, dass es etwas ändern würde, wenn Rye jemand anderem als Partner zugewiesen werden würde. Und irgendwie – wenn auch schwer einzugestehen – gefiel Gin diese Option nicht. Rye war sein idiotischer, eigensinniger, aber auch liebenswürdiger, sensibler Partner. Das sollte sich vorerst nicht ändern. „Du magst zwar im recht sein…“, begann Gin leise und setzte eine kurze Sprechpause, um seinen Mut für die folgenden Worte zusammenzunehmen: „Aber ich möchte ihn trotzdem behalten.“ Kurz darauf stieß sein Boss ein schweres Seufzen aus. „Du solltest wachsam bleiben. Diese Kreaturen sind nur darauf aus, einen in die Irre zu führen. Ehe du dich versiehst, hat er dich in seinen Bann gezogen und es gibt kein Entkommen mehr.“, warnte er ihn mit schneidender Stimme. Gin schluckte, während ihm ein unangenehmes Gefühl den Rücken herunterkroch. Seine Lippen pressten sich automatisch fest zusammen, als er sich ungewollt in seinen Gedanken in dem Kuss mit Rye wiederfand, welchen sie gestern geteilt hatten. Sein Körper spannte sich an, als er daran dachte, wie Rye heute morgen mit der Absicht, ihn zu ärgern, versucht hatte zu verführen. Gin schloss kurz die Augen und versuchte seinen Kopf von diesen unerwünschten Gedanken zu befreien. Sein Boss kannte sich anscheinend besser mit Vampiren aus, als es dem Silberhaarigen lieb war. Doch warum? Gin bekam allmählich die seltsame Vermutung, dass Vater ihm sein Leben lang etwas Wichtiges verheimlicht hatte. Etwas, das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit Eclipse zu tun hatte. „Keine Sorge.“, sprach Gin schließlich, während er sich umdrehte und seinem Boss einen ironischen Blick über die Schulter zuwarf. „Ich würde mich nie von einem empfindlichen, ängstlichen Kind in die Irre führen lassen.“ Sein Boss belächelte diese Worte, bevor er zum Abschluss befahl: „Wenn der Auftrag erledigt ist, wirst du mir Bericht erstatten und ihn danach zu mir schicken.“ „Verstanden.“, entgegnete Gin monoton. Anschließend verließ er das Büro, ohne sich nochmal umzudrehen. Es überraschte ihn nicht, dass Rye noch nicht gegangen war und wieder an derselben Stelle wie zuvor auf ihn gewartet hatte. Mürrisch verzog Gin leicht das Gesicht und ging achtlos an seinem Partner vorbei, welcher ihm wortlos folgte. Kaum waren sie außer Hör – und Sichtweite, legte Rye einen Arm um Gins Schulter und zog ihn zu sich heran. Erschrocken wandte der Silberhaarige den Blick und wollte gerade protestieren, als er in zwei entschlossen funkelnde Smaragde blickte. Ihm blieben die Worte im Hals stecken, so dass Rye ihm zuvor kommen konnte: „So so, du möchtest mich also behalten, ja?“ In dieser verführerisch gesäuselten Tonlage bekam Gins vorherige Aussage plötzlich eine ganz andere Bedeutung. „Moment mal…“, realisierte dieser jedoch, bevor er mit beschämten Entsetzen in der Stimme fragte: „Du hast das gehört?!“ Rye lächelte belustigt in sich hinein. „Jedes einzelne Wort.“, gab er anschließend zu und Gin drehte vor Scham den Kopf zur anderen Seite. „Unter anderem auch, dass du mich ein empfindliches, ängstliches Kind genannt hast.“, fügte Rye beleidigt hinzu. Durch den fester werdenden Griff um seinen Arm, erkannte Gin, dass er den Schwarzhaarigen wirklich etwas gekränkt hatte. Leid tat ihm das trotzdem nicht. „Du bist selbst schuld, wenn du lauschst. Außerdem hab ich ihn nur zitiert.“, redete er sich raus, woraufhin sich Ryes Griff wieder lockerte. „Ich weiß.“, erwiderte er verbittert. „Er hasst mich und denkt, ich arbeite immer noch für Eclipse.“ Im Augenwinkel sah Gin, wie sich Ryes Augenbrauen düster zusammenschoben. „Nimm es ihm nicht übel, er ist nur übervorsichtig.“, versuchte Gin seinen Boss zu verteidigen, auch wenn das nicht wirklich dessen unfreundliches, abschätziges Verhalten gegenüber Rye entschuldigte. Dieser schnaubte verächtlich und blieb unerwartet stehen, bevor er Gin den Weg versperrte und auch dessen anderen Arm packte. Zwar nicht so fest, dass es weh tat, jedoch wären Versuche sich loszureißen vergeblich. Zumal Gin erstarrte, als er in Ryes schmerzerfüllte Augen blickte. „Glaubst du ihm?“, verlangte der Schwarzhaarige zu wissen. Gin wusste nicht, wovon genau er sprach. Da gab es zu viele Dinge, denen er Glauben schenken könnte. Um nichts Falsches zu sagen, schüttelte er einfach stumm mit den Kopf. Obwohl er sich selbst nicht zu hundert Prozent sicher war, ob er Rye vertrauen konnte. Spätestens Vaters vorletzte Worte hatten ihn stutzig werden lassen. „Ich würde nie versuchen, dich in die Irre zu führen. Davon hab ich nichts.“, versicherte Rye ihm mit einer sanften, seidenweichen Stimme, als hätte er seine Gedanken gelesen. Es klang aufrichtig und Gin beschloss, ihm zu glauben. Kurzzeitig öffneten sich Ryes Lippen, um noch etwas zu sagen, doch es entwich kein Ton aus ihnen. Bedrückt ließ er seine Hände hinab gleiten und drehte sich weg. „Glaubst du, du bekommst das heute Abend hin?“, versuchte Gin das Thema zu wechseln und gleichzeitig mit Ryes schnellen Schritttempo mitzuhalten. Zum Glück hatten sie kurz darauf den Fahrstuhl erreicht, welchen Rye per Knopfdruck holte. „Zweifelst du etwa an mir?“ An der amüsierten Tonlage erkannte Gin, dass Ryes Frage nicht ernst gemeint war. „Nein.“, beantwortete er sie trotzdem. Die Fahrstuhltüren öffneten sich und sie stiegen ein. „Ich bin gleichermaßen erfreut wie erbost, dass du mich beaufsichtigen wirst.“, gestand Rye mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen und vergrub seine Hände nebenher in die Hosentaschen. Gin zog eine Augenbraue nach oben. „Warum?“ „Einerseits kann ich dich als Motivation benutzen, andererseits muss ich aufpassen, dass dir nichts passiert.“, erklärte Rye schlicht. Gins Miene verfinsterte sich. „Beides kannst du gleich wieder streichen.“, entgegnete er eingeschnappt, woraufhin Rye anfing zu lachen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)