The Monster inside my Veins von ginakai ================================================================================ Kapitel 19: Konfrontation ------------------------- Eine männliche Gestalt mit pechschwarzen, langen Haaren trat aus dem dunklen Schatten und bewegte sich mit gleichmäßigen, ruhigen Schritten auf Gin zu. „Stört dich das etwa?“, fragte die weiche, fast verführerische Stimme, an der er Rye immer erkennen würde. Mit einem frechen Lächeln auf den Lippen blieb dieser wenige Meter vor dem Silberhaarigen stehen. Die Hände hatte er in den Jackentaschen verborgen. Sein Blick wirkte entspannt, aber dennoch fühlte sich Gin durch ihn herausgefordert. Doch er ließ sich davon nicht beirren. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte. Verwirrend für ihn war zudem die selbstsichere, fast stolze Haltung mit der Rye auftrat. Als hätte er bereits gewusst, dass er ihn jetzt damit konfrontieren würde und als würde dies zu seinem Plan gehören. „Diesmal nicht. Ich verstehe nur nicht, was an mir so interessant ist, dass du mir immer folgen musst. Wartest du etwa auf die perfekte Gelegenheit, mich auch umzubringen?“, fragte Gin mit einer gewissen Vorsicht. Die Frage schien Rye jedoch etwas zu verwirren. Sein Lächeln verschwand. Die Augen verengten sich für einen kurzen Moment. Und schließlich fragte Rye mit einer angespannteren Stimme als zuvor: „Warum glaubst du das?“ Gin spürte die vorsichtige Wachsamkeit in seinem Gegenüber und konnte ihm ansehen, dass er das Gespräch lieber in eine andere Richtung gelenkt hätte. Aber das würde er ihm heute nicht gestatten. Darum konfrontierte er ihn direkt mit seiner Vermutung: „Weil du schließlich auch kein Problem damit gehabt hast, die ganzen Morde zu verüben, über denen in letzter Zeit oft in den Medien berichtet wird. Die sogenannten Tierangriffe.“ Aufmerksam beobachtete Gin Ryes Reaktion. Doch es war keine wirkliche Veränderung zu erkennen. „Das warst alles du gewesen, nicht wahr?“, warf er seinem Partner schließlich vor, gespannt, wie dieser die Frage beantworten würde. Erstaunlicherweise gelang es dem Schwarzhaarigen weiterhin den Unbeteiligten zu spielen. Er legte den Kopf schräg und erwiderte: „So was Grausames traust du mir zu? Das ist fast schon beleidigend.“ Gin zog eine Augenbraue nach oben. Zwar war er es gewohnt, dass Rye fast nie etwas zugab, doch gerade fühlte es sich anders an als sonst. Dieses Leugnen schien so sinnlos und wirkte zudem weniger durchdacht. Möglicherweise lag es daran, dass er wusste, dass Gin diesmal einen handfesten Beweis hatte. Vielleicht wusste Rye, dass er sich bereits auf verlorenem Posten befand. Seine nächste Aussage formulierte der Silberhaarige aufgrund dessen bewusst etwas unklar: „Ich hab es aber gesehen.“ Schlagartig veränderte sich die Haltung seines Gegenübers. Schock glitt ihm über sein Gesicht, den er jedoch schnell versuchte zu überspielen. Gin lächelte zufrieden. Rye war nach wie vor kein guter Schauspieler. „Wie?“, fragte er vorsichtig. „Sigmas Leiche.“ Gin beobachte, wie sich so etwas wie Angst in Ryes Gesicht widerspiegelte. Zufrieden fuhr er fort: „Ich bin heute früh in die Gasse zurückgekehrt und die Leichen dort waren im gleichen Muster zugerichtet wie bei den anderen Morden. Du hast mir ja selbst gestanden, ihn und seine Leute getötet zu haben.“ Zu Gins Verwunderung schien sich Rye wieder zu entspannen. „Vielleicht hat ja jemand anderes die Leichen im Nachhinein so zugerichtet. Außerdem, glaubst du im Ernst, diese ganzen Morde soll ein Mensch begangen haben? Das ist unmöglich.“, bestritt der Schwarzhaarige weiterhin. Diesmal wieder deutlich sicherer. Aber dennoch unglaubwürdig. Gin schloss für ein paar Sekunden die Augen und rang mit sich, ob er die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, wirklich aussprechen sollte. Schließlich öffnete er die Augen und wagte es: „Ich habe nie gesagt, dass du ein Mensch bist.“ Im nächsten Moment wich Gin stolpernd ein paar Schritte zurück, da er in zwei tiefgrüne, interessiert wirkende Augen blickte, die plötzlich viel näher als zuvor waren. Rye stand direkt vor ihm. Gin versuchte den ursprünglichen Abstand wiederherzustellen, doch jedem Rückwärtsschritt seinerseits folgte ein Schritt nach vorne von Rye. So lange, bis Gin den Drahtzaun an seinem Rücken spürte und stehenbleiben musste. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“, fragte Rye in einer neugierigen Tonlage, während er die kurze Distanz zwischen ihnen noch weiter verringerte, indem er sich vorbeugte. Gin drehte den Kopf leicht zur Seite, um direkten Augenkontakt mit seinem Gegenüber zu vermeiden. Sonst würde sich die aufkommende Nervosität nur verstärken. Während er schwieg, spürte er, wie Ryes kühler Atem über seine Wange strich und ihn im selben Augenblick erschaudern ließ. Instinktiv wanderte seine Hand in seine Jackentasche und schloss sich fest um die mit Curare gefüllte Spritze. Gin war sich jedoch nicht sicher, ob es wirklich vonnöten war, diese jetzt einzusetzen. Er zögerte sowohl mit seiner Entscheidung, als auch mit seiner Antwort, die er Rye noch immer nicht gegeben hatte. Als Gin jedoch den Mund öffnete, strich ihm der Schwarzhaarige ein paar silberne Strähnen hinters Ohr. „Du kannst es mir ruhig verraten.“, flüsterte Rye daraufhin verführerisch in dieses hinein, wobei Gin einen weiteren Schauer unterdrücken musste. „Er versucht mich aus dem Konzept zu bringen.“, wurde ihm klar. Er durfte nicht zulassen, dass Rye bei diesem Versuch auch erfolgreich sein würde. Mit eisernem Blick sah er seinem Partner tief in die Augen und sprach entschlossen: „Alles an dir wirkt unmenschlich. Angefangen bei deinem Aussehen.“ Er legte seine Hand vorsichtig auf Ryes Wange, um zu verdeutlichen, was er meinte: „Deine Haut ist ungewöhnlich blass und du scheinst eine sehr niedrige Körpertemperatur zu besitzen, mit welcher ein normaler Mensch nicht in der Lage wäre zu leben. Sogar dein Atem fühlt sich kalt an.“ Gin musterte Rye anschließend genau. Doch dessen Miene schien vor Erstaunen versteinert zu sein. Er machte zudem keine Anstalten etwas darauf erwidern zu wollen, weshalb der Silberhaarige einfach fortfuhr: „Du kannst dich unfassbar schnell bewegen und bist außergewöhnlich stark. In lebensgefährlichen Situationen benimmst du dich immer hochmütig. Zuerst dachte ich, du seist einfach nur dumm und unvorsichtig, doch das stimmt nicht. Du bist so, weil du weißt, dass dir nichts passieren kann. Es gibt nichts, was dich umbringen kann.“ Gin pausierte für einen Moment, um durchzuatmen. Je mehr er redete, desto unangenehmer wurde die Situation für ihn. Und Rye dabei unentwegt ansehen zu müssen, um diesem keine Schwäche zu zeigen, machte es nicht gerade leichter. Als er erneut begann zu sprechen, gelang es ihm nicht mehr, seinen scharfen Unterton beizubehalten: „Aber mal davon abgesehen… du scheinst weder zu essen noch zu trinken… Deine Augen können sich rot färben und sogar deine Stimme…“ Gin verstummte, als sich Rye plötzlich mit einem spielerischen Ausdruck in den Augen ein paar Schritte von ihm entfernte. Das breite Lächeln, welches er anschließend aufsetzte, konnte Gin nicht deuten. Er hatte eine andere Reaktion erwartet. Es war merkwürdig, fast schon verdächtig, dass Rye nicht wie gewöhnlich anfing irgendetwas zu bestreiten. Die Situation schien ihm mittlerweile eher hämische Freude zu bereiten. „Und?“ Dieses einzige, amüsiert klingende Wort war alles, was er darauf zu erwidern hatte. Misstrauisch verengte Gin die Augen und offenbarte: „Da du mir immer ausgewichen bist, habe ich selbst versucht etwas über dich herauszufinden. Allerdings hatte ich nur einen Anhaltspunkt: Eclipse. Die Organisation, aus der du angeblich geflohen bist. Und als ich im Internet darüber genauer recherchiert habe, wurde ich zu einem interessanten Buch weitergeleitet.“ „Du hast es dir gestern in der Bibliothek ausgeliehen.“ Ryes tonlose Unterbrechung war keine Frage. Immerhin wusste er es, da er ihm unauffällig bis dorthin gefolgt war. Wie ein Schatten. Ein kleines Lächeln zuckte kurz um Gins Mundwinkel, bevor er leicht nickte und seine Erklärung beendete: „In diesem Buch wurden Kreaturen beschrieben, deren Eigenschaften erstaunlicherweise gänzlich auf dich zutreffen. So fügte sich nach und nach alles zusammen und es fing an einen Sinn zu ergeben. Ich konnte herausfinden, was Eclipse für eine Gruppe ist. Aber noch viel wichtiger: was du bist.“ Gin behielt Rye währenddessen genau im Blick. Dieser hörte ihm bis zuletzt aufmerksam zu und verharrte regungslos. Auch seine Miene blieb bis zu dem Moment unverändert, in dem er anfing leise zu lachen. Gin runzelte die Stirn. Inzwischen bestand für ihn kein Zweifel, dass der Kerl irgendwas im Schilde führte. Was das allerdings war, wollte er lieber nicht in Erfahrung bringen. Auch wenn sein Gespür für Gefahr ihm verriet, dass er das sehr wohl noch herausfinden würde. „Es freut mich, dass du dir extra wegen mir solche Mühe gemacht hast.“ Kaum hatte Rye die Worte ausgesprochen, stand er im darauffolgenden Moment wieder unmittelbar vor Gin, welcher von dieser unerwarteten Bewegung zurückschreckte. Es geschah so schnell, dass er seiner Wahrnehmung nicht traute. Doch diesmal konnte er nicht mehr versuchen, den Abstand wieder zu vergrößern. Sein Körper presste sich nur automatisch stärker gegen den Drahtzaun, was nichts daran änderte, dass die dichte Nähe zu Rye sein Herz aus unerklärlichen Gründen zum rasen brachte. „Und, was waren das für Kreaturen?“, fragte Rye. Doch es klang nicht so, als würde ihn die Antwort wirklich interessieren. Scheinbar fand er nur Gefallen daran, Gin in die Enge zu treiben. Wortwörtlich. Ryes Hand krallte sich über Gins Schulter in den Drahtzaun, woraufhin er seine Frage in einer aufreizenden Tonlage umformulierte: „Was bin ich deiner Meinung nach?“ Gin musste sich konzentrieren, die Worte noch zu verstehen. Die vor Erheiterung glühenden Augen vor ihm brachten ihn durcheinander. Dass das von seinem Gegenüber beabsichtigt war, stand außer Frage. Dieser umfasste nun sanft sein Kinn, während er fordernd hinzufügte: „Sag schon.“ „Ich will das nicht aussprechen… So etwas gibt es nicht…“, entgegnete Gin missbilligend in Gedanken. Seine Befürchtung, dass Rye es nicht leugnen würde, war zu groß. Ausnahmsweise wünschte er sich, dass sein Partner ihm gleich sagen würde, dass er vollkommen den Verstand verloren hatte. Rye sollte einfach wieder alles abstreiten und Ausreden erfinden, die glaubwürdig klingen würden. Wie er es sonst immer getan hatte. Doch was er jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht tun würde. Letztlich zwang sich der Silberhaarige das unvermeidliche Wort über die Lippen: „Ein Vampir.“ „Lauter.“, erfolgte sogleich Ryes Antwort. Seine Stimme klang plötzlich viel härter und strenger. Gin presste die Lippen zusammen. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er geflüstert hatte. Dennoch würde er sich nicht wiederholen. „Du hast mich sehr gut verstanden.“, schoss er kalt zurück, wobei er sich sicher war. Er hatte immerhin gelesen, dass die Sinne eines Vampirs bei weitem stärker ausgeprägt waren als bei Menschen. Aber unabhängig davon war Rye ihm so nah, dass er es trotzdem gehört haben musste. Zum Glück ließ der Schwarzhaarige im folgenden Moment wieder von ihm ab und wich ein paar Schritte zurück. „Na schön.“, meinte er dabei tonlos. „Ich verstehe, so ist das also.“ Er schmunzelte höhnisch in sich hinein. „Du…wusstest das nicht?“, hakte Gin vorsichtig nach. Zumindest wirkte Ryes Reaktion nicht gespielt. Rye schloss die Augen und in seinem Gesicht bildete sich ein gekränktes Lächeln, für welches sich Gin den Grund nicht erklären konnte. Doch Ryes folgende Antwort ließ ihn verstehen. „Eclipse hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Glaubst du, dass es für mich eine Rolle spielt, welches Monster ich bin? Es ändert nichts.“ Die Verzweiflung in seiner Stimme faszinierte Gin für einen kurzen Augenblick. Sie schien darauf hinzudeuten, dass Rye das, was er war, nicht freiwillig sein wollte. Eclipse musste ihn unter Zwang gesetzt haben. „Doch ich muss zugeben, dass du mich sehr überrascht hast.“, wechselte er auf einmal das Thema und öffnete die Augen wieder. „Inwiefern?“, wollte Gin wissen. Kurz darauf setzte Rye ein breites Grinsen auf. Von seiner melancholischen Stimmung war keine Spur mehr in seinem Gesicht verblieben. Stattdessen begannen die smaragdgrünen Augen den Silberhaarigen begierig zu betrachten, sodass dieser das Gefühl bekam von dem Blick eines Raubtiers fixiert zu werden. „Du wusstest, was ich bin. Was ich getan habe. Wozu ich in der Lage sein kann. Aber trotzdem hast du mich hierher gelockt, um mich mit deinem Verdacht zu konfrontieren. Das war nicht sehr klug von dir.“, meinte Rye in einer düsteren Tonlage, wobei sich in den letzten Satz ein Hauch Belustigung schlich. Gin erstarrte. „Also hatte er es doch von Anfang an durchschaut…“, realisierte er. Rye hatte sich also nur aus Neugier dazu entschieden dieses Spiel mitzuspielen, welches sie mittlerweile nach seinen Regeln zu spielen schienen. Und er war scheinbar auch der festen Annahme, dass er der Gewinner sein würde. „Ich wollte eben einfach die Wahrheit wissen.“, erwiderte Gin und versuchte dabei so gut wie es ging nicht eingeschüchtert auszusehen. „Verstehe… Und sag, bist du jetzt zufrieden?“, fragte Rye. „Einigermaßen.“, gab Gin zu. Vollständig zufrieden gestellt war er natürlich nicht. Es gab noch so vieles, was er von seinem Partner wissen wollte. Doch er traute sich nicht mehr diesem auch nur eine einzige Frage zu stellen. Das war gerade nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Ryes Verhalten nach zu urteilen, konnte er sich nicht mal sicher sein, ob er den kommenden, richtigen Zeitpunkt überhaupt noch erleben würde. „Das ist gut…“, murmelte Rye erfreut, während seine Augen Gin für einen winzigen Moment wieder freigaben. Als er sie jedoch erneut auf ihn richtete, funkelten sie diabolisch. „Ich bin es aber noch nicht.“, ergänzte der Schwarzhaarige anschließend. Seine Stimme war erfüllt von Begehren. Den Grund dafür wollte Gin nicht erfahren, da die Chancen schlecht standen, dass dieses Begehren nichts mit ihm zu tun hatte. Rye kam wieder auf ihn zu. Allerdings diesmal mit langsamen, lautlosen Schritten. „Glaubst du im Ernst, dass ich in irgendeiner Weise Angst vor dir habe?“, kommentierte Gin Ryes Verhalten scherzhaft, als dieser vor ihm stehenblieb. Dabei bemerkte er zum Glück, dass er so ein Gefühl wie Angst gerade wirklich nicht empfand. Da war bloß eine gewisse Unsicherheit. Er rief sich die letzten gemeinsamen Wochen mit seinem Partner kurz zurück ins Gedächtnis. Er erinnerte sich bewusst an Momente, in denen Rye nett zu ihm gewesen war und an gefährliche Situationen, aus denen dieser ihm geholfen hatte. Er erinnerte sich an ruhige, ab und zu interessante Gespräche, die er mit ihm geführt hatte. An jedes einzelne freundliche Lächeln, das er ihm geschenkt hatte. Doch das alles führte ihn nur zu der entscheidenden Frage, ob die Person vor ihm noch der Rye war, den er kannte. Oder ob es sich bei dieser teuflischen Seite von Ryes fassettenreicher Persönlichkeit um seine wahre Gestalt handelte. Vielleicht waren die anderen Persönlichkeiten allesamt nur Masken gewesen, die er jetzt abgelegt hatte. „Das solltest du aber. Du solltest schreiend davonlaufen.“, riet Rye ihm mit leerem Blick. Der Gedanke an diese Vorstellung entlockte Gin ein leises Lachen, welches gerade bestimmt unpassend wirkte. Aber das war ihm egal. Er war noch nie vor etwas aus Angst davongelaufen. „Da kannst du lange warten.“, spottete er und beobachtete dabei, wie Rye vor Erstaunen die Augenbrauen nach oben zog und seine Lippen eine harte Linie bildeten. Doch erwidern tat er darauf nichts. Er schwieg einfach nur und schien in Gedanken zu versinken. Wenigstens war seine boshafte Stimmung verschwunden, weshalb Gin die Gelegenheit nutze, um eine Frage zu stellen, die ihn noch interessierte. „Hast du eigentlich auch Vermouth getötet?“, sprach er sie leise aus. Bei dem Namen der Frau verzog sich das Gesicht seines Gegenübers umgehend vor Verachtung, was Gin verwunderte. „Warum willst du das wissen?“, fragte Rye ungehalten. „Weil ich mir nicht erklären kann, was dich dazu verleitet haben sollte.“, entgegnete der Silberhaarige, woraufhin sich Ryes Augen verengten. Er senkte den Kopf und es kehrten ein paar Sekunden Stille ein. Gin wartete geduldig auf die Antwort seines Partners. Doch diese entsprach nicht seiner Erwartung. „Du willst es also unbedingt wissen?“, wollte sich Rye versichern und richtete seinen Blick prüfend auf Gin, welcher die Frage mit einem Nicken erwiderte. Es folgten weitere Sekunden Stille, in denen sich Rye anzuspannen schien. Als würde er etwas mit sich selbst in Gedanken ausdiskutieren und zu keiner Entscheidung gelangen. Schließlich entwich ihm ein Seufzen und er gab ein tonloses „Okay.“ von sich. Gin runzelte verwirrt die Stirn, doch bevor er nachfragen konnte, packte Rye ihn plötzlich am Handgelenk und zog ihn grob hinter sich her. Gins Versuch sich mit den Beinen abzubremsen, um an der Stelle zu verharren, war vergebens. Jegliche Bemühungen sich loszureißen scheiterten, weshalb er nach wenigen Schritten aufgab. Der Griff war einfach zu stark und tat zudem höllisch weh. Doch das schien Rye nicht zu interessieren. Er blickte einfach starr geradeaus und ging gezielten Schrittes zu seinem Chevrolet. „Was soll das?! Lass sofort los!“, beschwerte sich Gin erbittert. Auch wenn er wusste, dass Rye dem Befehl nicht nachkommen würde, so hoffte er zumindest, dass der Schwarzhaarige seinen Griff etwas lockern würde. Aber das tat er nicht. Im Gegenteil. Er erhöhte sogar noch sein Schritttempo, so dass Gin die letzten Meter bloß noch hinter ihm her stolperte. Wortlos riss Rye die Beifahrertür seines Chevys auf und stieß Gin ohne Vorwarnung auf den Autositz. Kurz darauf stützte er seine Hände im Türrahmen ab und beugte sich über den Silberhaarigen, welcher ihm einen entsetzten Blick zuwarf und sich keinen Millimeter vom Fleck rührte. „Wenn du doch versuchen solltest zu fliehen, werde ich dafür sorgen, dass du nie wieder einen Schritt laufen wirst.“, drohte Rye mit scharfer Stimme, bevor er die Tür zuknallte. Kaum eine Sekunde später öffnete sich die Fahrertür und der Schwarzhaarige setzte sich neben Gin. Dieser blieb während des Vorgangs still. Er nahm lediglich eine vernünftige Sitzposition ein und schnallte sich an. Die Drohung beachtete er nicht weiter, da er schließlich nicht vorhatte, zu fliehen. Dennoch fragte er sich, was in Rye gerade vorging. Dessen Miene wirkte zwar ausdruckslos und doch glaubte Gin Wut in Ryes Augen erkennen zu können. „Wo fährst du hin?“, verlangte Gin zu wissen, als der Chevy mit quietschenden Reifen losfuhr. Er hielt kurzzeitig die Luft an und wartete auf eine Antwort, welche er erst nach einer gefühlten Ewigkeit bekam. „Das wirst du gleich sehen.“, schleuderte Rye ihm nichtssagend entgegen, ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen. Gin nahm das schweigend einfach so hin. Eine andere Wahl hatte er sowieso nicht. Trotzdem bekam er eine böse Vorahnung, was den unbekannten Zielort betraf, da er zuletzt nach Vermouth gefragt hatte. Er ging längst nicht mehr davon aus diese noch lebend anzutreffen. Diesbezüglich war Ryes Verhalten aussagekräftig genug. Seufzend gab sich Gin der einkehrenden Stille hin, die er nicht mehr unterbrechen würde. Dass Rye das Tempo begann zu erhöhen, versuchte er bestmöglich zu ignorieren. „Er ist wirklich schlimmer als ein Psychopath…“, scherzte er gedanklich und lächelte dabei für einen kurzen Moment. Glücklicherweise bemerkte sein Partner es nicht, da er ihn nach wie vor ignorierte. Gin versuchte sich damit zu beruhigen, dass Rye so wenigstens auf die Straße achtete. Die Fahrt verlief weiterhin in Schweigen. Obwohl Gins Blick die ganze Zeit über zum Fenster gerichtet war, nahm er nicht wahr, wie die Umgebung an ihm vorbeirauschte. Er sah nur die möglichen Szenarien vor seinem inneren Auge, die passieren könnten, sobald sie den Zielort erreicht hatten. Die Meisten davon endeten nicht gut für ihn. Irgendwann bemerkte Gin, dass der Wagen hielt. Sofort geriet die Meeresküste der Bucht von Tokio in sein Blickfeld, an welcher er erkannte, dass sie sich am Hafen befinden mussten. Doch bei genauerem Umsehen fiel ihm noch etwas anderes auf. Die Umgebung sah ziemlich verwahrlost aus. Es schien nichts mehr in Betrieb zu sein. Die Lagerräume erfüllten schon lange keinen Nutzen mehr für jemanden. Sie waren verlassen und heruntergekommen. Keine Menschenseele lief hier herum. Er war allein mit Rye. Als Gin jedoch seinen Blick zum Fahrersitz lenkte, saß dort niemand mehr. Rye war bereits ausgestiegen. Zögernd schnallte sich Gin ab. Im selben Moment wurde die Tür an seiner Seite aufgerissen und er zuckte zusammen. Doch er hatte keine Zeit, sich von dem kleinen Schreck zu beruhigen, da sein Handgelenk erneut von Rye ergriffen wurde. Dieser zog ihn beinahe gewaltsam aus dem Wagen, knallte danach die Tür zu und zog ihn wieder hinter sich her. Leider am gleichen Handgelenk wie zuvor. Das würde mindestens blaue Flecken im Nachhinein geben. Falls Rye ihm vorher nicht den Arm ausriss. „Ob du‘s glaubst oder nicht, ich kann auch allein laufen!“, jammerte er, was Rye nicht zu hören schien. Gin versuchte einen Blick in dessen Gesicht erhaschen zu können. Es gelang ihm nur ganz kurz, doch dieser Moment genügte, um sich der Wut, die in Ryes Innerem zu toben zu schien, bewusst zu werden. Der Schwarzhaarige musste sich scheinbar mühsam kontrollieren diese Wut nicht versehentlich aus sich herauszulassen. Und damit war er wohl so sehr beschäftigt, dass Gins Stimme ihn nicht mehr erreichte. Vor einem alten, halb zerfallenden Backsteingebäude blieb Rye stehen. Bei dem Anblick wurde Gin noch unwohler zumute. Er hoffte bloß, dass sein Partner nicht vorhatte, ihn da drin bis in alle Ewigkeit einzusperren. Oder schlimmeres. Aber die leichte Neugier tief in seinem Inneren konnte er nicht ganz vertreiben. Aus irgendeinem idiotischen Grund wollte er schon wissen, was Rye gerade an so einem Ort wollte und ob es tatsächlich mit Vermouth zusammenhing. Die verrostete Stahltür wurde bereits zuvor aufgebrochen und ließ sich daher problemlos von Rye öffnen. Kurz darauf wurde Gin von ihm rabiat in die Halle geschubst, wobei er gerade noch vermeiden konnte, anschließend zu Boden zu fallen. Drinnen war es fast dunkel. Nur durch das löchrige Dach und die kaputten Fenstern schien das schwache Licht des Abendhimmels noch hinein. Was Gin sofort wahrnahm: Den seltsam riechenden Gestank, welcher in der Luft lag. Es roch nach totem Fleisch. Plötzlich fiel die Tür hinter ihm zu. Doch als er den Blick über die Schulter warf, entdeckte er zu seiner Verwirrung niemanden in Richtung der Tür. Rye war weg. So hatte es fälschlicherweise den Anschein. Denn als sich Gin wieder umdrehte, stand der Schwarzhaarige direkt vor ihm. Vor Schreck stolperte Gin ein paar Schritte zurück. Allmählich merkte er, wie sehr er es hasste, wenn Rye mitten aus dem Nichts irgendwo in seiner Nähe auftauchte. „Verrätst du mir jetzt mal langsam, was das hier werden soll?“, verlangte Gin nach einer Erklärung, woraufhin Rye ein vielsagendes Lächeln aufsetzte. „Ich will dir lediglich eine Antwort auf deine Frage geben.“, gab er an. Gin überraschte es, wie beherrscht die Stimme seines Partners auf einmal klang. Doch das trug. Ryes nach wie vor wütend funkelnde Augen verrieten ihn. „Da hätte mir auch ein einziges Wort genügt.“, entgegnete Gin gereizt. Wenn Rye seine Frage mit Ja beantwortet hätte, dann hätte er höchstens noch nach dem Grund gefragt. Keinesfalls wollte er die Antwort mit eigenen Augen sehen. „Nein.“, stieß Rye im tiefen Tonfall hervor, während er anfing ein paar Schritte zu gehen. „Ich will, dass du das siehst.“, ergänzte er hämisch. Gin erkannte, dass sich der Schwarzhaarige in eine ganz bestimmte Richtung bewegte. Zu mehreren Fässern, die an einer Säule standen. Die Frage, was sich dort drin befand, konnte er sich sparen. Es lag klar auf der Hand. Und doch hoffte er, dass sich seine schlimme Vorahnung als falsch entpuppte. Er wollte das einfach nicht sehen. Am liebsten würde er sich wegdrehen oder die Augen verschließen. Aber das würde Rye ihm mit Sicherheit nicht gestatten, was unter anderem seine nächste Aussage bestätigte: „Ich will, dass du sie so in Erinnerung behältst…“ „Warum…?“, schoss es Gin daraufhin durch den Kopf, da er nicht wusste, wie er die Worte deuten sollte. Er konnte sich nicht erklären, warum es Rye so wichtig war. Oder weshalb er das getan und ihn jetzt hierher gebracht hatte. Im nächsten Moment trat Rye gegen eines der Fässer, so dass dieses in Richtung des Silberhaarigen umkippte. Dabei kam ein bleicher, lebloser Körper mit mehreren Fleischwunden zum Vorschein. Der üble Gestank wurde stärker, weshalb sich Gin die Hand vor Nase und Mund presste. Auch wenn die Leiche so schlimm zugerichtet war, dass man kaum noch etwas erkennen konnte, wusste Gin, um wen es sich handelte. Er war froh, dass der Körper so aus dem Fass gefallen war, dass die übrigen blonden Haarsträhnen das Gesicht der Frau verdeckten, die er schon fast sein ganzes Leben gekannt hatte. Vermouth war zweifellos tot. Und ihr Mörder stand nur wenige Meter von ihm entfernt. Ein Vampir. Sein Partner. Rye betrachtete ihn mit eindringlicher Miene und verfolgte mit den Augen jede seiner Reaktionen. Gin atmete tief durch, bevor er seinen Blick erneut auf Vermouths Leiche senkte. Doch egal wie lange er sie anstarrte: Es wollte kein Gefühl in ihm aufkommen. Keine Trauer. Kein Schmerz. Keine Wut oder Verzweiflung. Gar nichts. Es ließ ihn vollkommen kalt, worüber er ein wenig erleichtert war. Schließlich hatte Rye solche Gefühle damit bewirken wollen und so musste der Silberhaarige ihm diesen Erfolg nicht gönnen. „Nenn mir einen Grund, warum ich dich nicht genau so enden lassen sollte.“, kam es plötzlich von Rye im Befehlston, während er achtlos an der Leiche vorbei ging und langsam auf Gin zukam. Dieser ließ seine Hand wieder nach unten sinken und versuchte den Gestank bestmöglich zu ignorieren. Er sah Rye unbeeindruckt an, bevor ein Lächeln seine Lippen umzuckte. „Kann ich nicht.“, gestand er offen. Ihm fiel wirklich kein plausibler Grund ein. Und selbst wenn es einen gab, spielte es keine Rolle. Falls Rye plante ihn hier zu töten, könnte er noch so viele nennen und es würde nichts ändern. „Ich dachte eigentlich, du könntest mir das erklären.“, fügte er hinzu, als Rye vor ihm stehenblieb und anschließend begleitet von einem verwirrten Stirnrunzeln fragte: „Was?“ „Warum du mich noch nicht umgebracht hast?“, verdeutlichte Gin tonlos. Rye verzog amüsiert das Gesicht und erwiderte: „Gute Frage.“ Womöglich beantwortete er die Frage mit Absicht nicht, was Gin begann aufzuregen. Er hatte keine Lust um den heißen Brei herumzureden und hasste es, wenn etwas nicht sofort auf den Punkt gebracht wurde. „Jetzt sag schon, was dein Problem ist!“, rutschte es ihm daher unüberlegt über die Lippen. Vielleicht einen Tonfall zu streng. Er wollte es eigentlich vermeiden, Rye zusätzlich zu provozieren. Aber es war schon zu spät. „Was mein Problem ist?! Du bist mein Problem!“, schrie Rye ihn wütend an. Gin wich umgehend zurück. Dieser Vorwurf warf ihn komplett aus der Bahn. Doch Rye ließ ihm keine Zeit, um nachzufragen. „Du bist mein Problem…“, wiederholte der Schwarzhaarige im leiseren Tonfall. „Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe…“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Gins Augen begannen sich zu weiten. Solche Worte hatte er nicht erwartet. Sie verwirrten ihn. „Seit er mich zum ersten Mal gesehen hat…?“, versuchte er sie auf sich wirken zu lassen. Dabei tauchte der Moment vor seinem inneren Auge auf, als sich ihre Blicke in der Scarlet Lounge zum ersten Mal begegnet waren. Rye hatte ihn so verlangend angestarrt, bevor Vermouth sie einander vorgestellt hatte. Und von da an war ein Problem nach dem anderen gefolgt. Unvorhersehbare Ereignisse und unangenehme Situationen. Aber inwiefern sollte er selbst das Problem gewesen sein? Vor allem er für Rye. Wenn hier jemand für wen ein Problem war, dann wohl eher umgekehrt. Da begann Rye auf einmal leise zu lachen. „Weißt du, es hat mich immer gestört, wie du auf mich herabgesehen hast, mich herumkommandiert hast und dachtest, du seist mir in allen Dingen überlegen… Aber wenn ich so darüber nachdenke, ist es eigentlich ganz witzig…“, meinte er. Doch bevor Gin zu einem bissigen Kommentar ansetzen konnte, krallte sich abrupt eine Hand in seine rechte Schulter. „Ist dir klar, wie leicht es mir fallen würde, dich zu zerfetzen?“, flüstere Rye ihm verführerisch ins linke Ohr, woraufhin es dem Silberhaarigen kalt den Rücken herunterlief. Zwar war ihm das sehr wohl klar, doch es von Rye auf diese Weise nochmals gesagt zu bekommen, erzeugte eine ganz andere Wirkung. „In Wahrheit bist du für mich nicht mehr als ein zärtliches, hilfloses Bambi.“, fügte Rye in bekümmerter Tonlage hinzu, während er seinen Kopf an Gins schmiegte und mit der Hand sanft durch dessen silberne Strähnen fuhr. Anfänglich brachten Ryes Liebkosungen den Silberhaarigen aus dem Konzept, doch als er sich den Worten bewusst wurde, verengte er pikiert die Augen. Das ging definitiv unter die Gürtellinie. Sein dadurch hervorgerufenes Vorhaben, diesen eingebildeten Kerl von sich wegzustoßen, konnte er jedoch nicht mehr in die Tat umsetzen. Rye entfernte sich plötzlich ruckartig von ihm. Noch bevor Gin seine Augen scharf gestellt hatte, stand sein Partner am anderen Ende der Halle. „Dennoch habe ich immer versucht es dir Recht zu machen.“, gab er mit fester Stimme zu und wandte den Blick dabei von Gin ab. „Doch du wusstest meine Bemühungen nie zu schätzen!“, fuhr er verärgert fort. Seine Hand zitterte vor Wut und ballte sich anschließend vor seiner Brust zur Faust. „Sogar wenn ich dir dein Leben gerettet habe, es war dir jedes verdammte Mal egal gewesen…“ Erneut verschwand er von der Stelle und tauchte unmittelbar danach auf der gegenüberliegenden Seite der Halle wieder auf, ohne dass es Gin gelang, die Bewegung mit den Augen zu verfolgen. „Du bist so ein gefühlskalter, undankbarer, narzisstischer Mensch!“, schrie Rye aus voller Kelle, sodass seine wütende Stimme ein schallendes Echo erzeugte. Mit unkontrollierter Wucht warf er einen Stapel mit Holzkisten neben sich um, die daraufhin quer durch die Halle flogen. Eine davon knallte gegen eine Stahlsäule und sprang begleitet von einem ohrenbetäubenden Krachen in mehrere Stücke. Gin konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen. Ansonsten ignorierte er die Geste. Viel mehr zog sich seine Aufmerksamkeit auf die Beleidigung, welche Rye ihm abgesehen von den Kisten noch entgegen geschleudert hatte. Ein bisschen erstaunt war er darüber schon. Noch nie hatte es jemand gewagt ihm das so direkt zu sagen. „Da fallen mir bessere Beleidigungen für dich ein.“, dachte Gin abfällig. Doch darum ging es jetzt nicht. Er sollte vielleicht eher darüber nachdenken, wie er Rye wieder beruhigen konnte. Sonst würden womöglich noch andere Dinge kaputt gehen. Aber ihm fiel nichts ein. Er befürchtete, dass jedes Wort falsch sein könnte und es Rye nur weiter provozieren würde. Zudem schien er mit seinem Monolog noch nicht fertig zu sein. „Aber am schmerzhaftesten war es, wie du mich gestern einfach abgewiesen hast...“ Seine Stimme klang zwar gekränkt, aber zumindest etwas ruhiger. Als die smaragdgrünen Augen Gin fixierten, leuchtete tief in ihnen pure Verbitterung. Doch da fuhr der Silberhaarige vor Schreck zusammen, als Rye erneut anfing zu schreien: „Dachtest du wirklich, dass ich mir das von dir bieten lasse?! Egal was du mir sagst, du wirst mir niemals entkommen!“ Kaum hatten die Worte Gins Ohren erreicht, spürte er zwei Gewichte auf seinen Schultern, die ihn unweigerlich zu Fall brachten. Ehe er überhaupt begriff, wie ihm geschah, fand er sich auf dem schmutzigen Boden wieder. Pechschwarze, lange Strähnen strichen über seinen Mantel, als sich Rye über ihn beugte und seine Handgelenke festhielt. Der Silberhaarige unterließ jeglichen Versuch sich zu bewegen oder gar aufzustehen. Es würde ohnehin keinen Zweck haben. Die Griffe um seine Handgelenke waren zu stark und Rye drückte ihn mit seinem gesamten Körpergewicht zu Boden, sodass er nicht den Hauch einer Chance hätte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als Rye wütend anzusehen und dessen nächste Entscheidung abzuwarten. Es verstrichen ein paar Sekunden in Stille, bevor sein Partner ihm mit leerem Blick eine Frage stellte: „Sag mir, hast du jetzt Angst?“ „Nein.“, entgegnete Gin sofort. Darüber brauchte er nicht nachdenken. „Du lügst.“, behauptete Rye jedoch, woraufhin sich Gins Stirn verdutzt in Falten legte. Das war hundertprozentig die Wahrheit gewesen. Auch wenn ihm bewusst war, wie todernst die Gefahr war, die von Rye ausging, so würde er dennoch nie Angst in dessen Nähe empfinden. „Du bist gut darin, dir äußerlich nichts anmerken zu lassen. Aber ich kann deutlich hören, wie dir dein Herz beinahe aus der Brust zu springen scheint.“, begründete der Schwarzhaarige seine vorherige Aussage, während er sich noch weiter herabbeugte. Jetzt konnte Gin sein schnelles Herzklopfen auch wahrnehmen. In jeder Faser seines Körpers pochte es. „Das ist aber nicht so, weil ich Angst habe.“, brachte Gin mühsam über die Lippen. Rye zog verwundert eine Augenbraue nach oben, bevor er neugierig fragte: „Sondern?“ Gin zögerte, ob er Rye den Grund wirklich erzählen wollte. Er ließ den Kiefer zusammengepresst und musterte das Gesicht seines Gegenübers. Doch leider musste er feststellen: Je länger sie schweigend in dieser Position verharrten, umso unangenehmer wurde sie ihm. Es war mehr als nur demütigend, dass Rye ihn so unter sich gefangen hielt. Letztlich überwand er sich, es doch auszusprechen: „Ich mag es einfach nicht, wenn mir jemand so nah kommt. Und gerade bist du mir deutlich zu nah… Aber das hat nichts mit dir persönlich zu tun.“ Den letzten Satz fügte er nur hinzu, weil er vermeiden wollte Rye wieder wütend zu machen. Wer wusste schon, wie dieser seine Antwort deuten würde. Eigentlich würde es Gin bevorzugen, wenn die Antwort einfach so im Raum stehenblieb. Er wollte nicht, dass Rye darauf einging, weshalb er ihm schnell zuvorkam und das Thema wechselte: „Wenn ich, wie du sagst, so ein großes Problem für dich bin, warum hast du mich dann nicht einfach getötet? Ich verstehe es nicht. Vermouth hingegen hat viel für dich getan und dich immer gut behandelt. Aber dennoch hast du sie anstatt mich getötet. Bist du-“ Unerwartet legte sich Ryes kalter Finger auf seine Lippen und hinderte ihn daran, den Satz zu beenden. Die Lippen des Schwarzhaarigen dagegen verformten sich zu einem leichten Lächeln. „Schhh. Bevor ich deine Fragen beantworte, musst du mir zuerst eine beantworten.“, verlangte Rye in beschwichtigender Tonlage, womit Gin nicht ganz zufrieden war. Wenn Rye ihm schon so eine Bedingung stellte, handelte es sich mit Sicherheit um keine gewöhnliche Frage. Womöglich würde er sie nicht so leicht beantworten können. Gin nickte misstrauisch, woraufhin der Finger von seinen Lippen verschwand. Der Körper über ihm spannte sich an. Ryes Miene wurde ernst. Doch sein Mund öffnete sich nicht. Es schien, als müsste er vorher selbst eine Menge Mut zusammennehmen, um die Frage stellen zu können. „Wenn du keine Angst vor mir hast…“, begann Rye schließlich verlegen und fragte nach kurzer Stille: „Wie denkst du dann über mich?“ Gin stockte der Atem. Das konnte Rye gerade unmöglich gefragt haben. Der Silberhaarige hatte sich auf alles Mögliche eingestellt, aber nicht auf so etwas. Das wollte und konnte er nicht beantworten. Er hatte noch nie jemandem ins Gesicht gesagt, wie er empfand. Und die Tatsache, dass Rye ihn gerade so ansah, als würde sein Leben davon abhängen, ermutigte ihn nicht wirklich es zu versuchen. „Was…?“ Mehr konnte er darauf nicht erwidern. Schnell drehte er den Kopf zur Seite, um Ryes Reaktion nicht sehen zu müssen, die sich unmittelbar auf dessen Gesicht abzeichnen würde. „Magst du mich? Hasst du mich? Interessierst du dich überhaupt für mich?“, sprach Rye hastig und wurde bei jeder der folgenden Fragen lauter. Gin presste die Lippen zusammen und überlegte, wie er am besten ausweichen könnte. „Wenn ich mich nicht für dich interessieren würde, hätte ich dann die ganzen Recherchen über dich angestellt?“, murmelte er beschämt. Selbst wenn er sein Interesse nur indirekt gestand, löste das ein unangenehmes Gefühl in ihm aus. Aber Rye schien das nicht mal ansatzweise zufriedenzustellen. Im Augenwinkel beobachtete Gin, wie Ryes Augenbrauen sich vor Erbitterung zusammenzogen. „Das beantwortet nicht meine Frage.“, meinte er. Gin unterdrückte ein Fluchen, bevor er letztlich zugab: „Ich weiß es nicht.“ „Du musst es wissen!“, beharrte Rye jedoch. Er hatte recht. Eigentlich müsste Gin es wissen. Und wenn er lang genug Zeit hätte, darüber nachzudenken, würde er bestimmt auch eine Antwort finden. Doch jetzt spontan ging das nicht. Sonst würde er nur die falschen Worte verwenden. Zumal er das Gefühl hatte, dass es für Rye nur eine richtige Antwort gab und alle anderen würde er nicht akzeptieren. „Du verlangst von mir, dass ich alle deine Fragen beantworte, aber mir kannst du nicht mal eine Einzige beantworten…“, unterbrach der Schwarzhaarige die spannungsgeladene Stille. Dabei klang er plötzlich so verzweifelt. „Ich müsste doch sowieso das antworten, was du hören willst!“, behauptete Gin, jedoch schüttelte Rye entgegen seiner Erwartung mit den Kopf. „Nein, das will ich nicht. Bitte sei ehrlich.“, bat er mit leiser Stimme. „Ich kann nicht bestreiten, dass ich ihn am Anfang nicht ausstehen konnte… Er ist so aufdringlich, bringt mich immer aus der Fassung und hat seine Emotionen nie im Griff! Aber letztlich wollte er aus irgendeinem Grund immer meine Anerkennung… Er hat mir immer versucht zu helfen und mir so oft das Leben gerettet… dafür kann ich ihn nicht hassen… Vielleicht, wenn ich ihn besser verstehen würde, dann… aber dafür muss ich…“ Egal, wie sehr Gin versuchte zu einer klaren Antwort zu gelangen: Er fand keine. Zumindest nicht jetzt, in diesem Moment. Nicht, wenn Rye so ungeduldig auf ihn hinab schaute. „In Wahrheit ist er so verletzlich, doch er versucht es immer zu überspielen… vielleicht hätte ich mehr Rücksicht nehmen sollen…“, wurde dem Silberhaarigen klar. Aber dafür war es zu spät. Er konnte es zukünftig nur besser machen. „Gib mir etwas Zeit.“, forderte er schließlich. Sofort breitete sich Enttäuschung in Ryes Gesicht aus, bevor er verwirrt fragte: „Warum?“ „Weil ich erst darüber nachdenken muss.“ Nach dieser knappen Erklärung entwich Rye ein Seufzen, doch er schien zu Gins Erleichterung endlich lockerzulassen. „Dann werde ich dich morgen nochmal fragen.“, erwiderte er, während er die festen Griffe um Gins Handgelenke löste und sich innerhalb einer Sekunde wieder aufrichtete. Dem Silberhaarigen überkam daraufhin eine weitere Welle der Erleichterung. Doch er stutzte, als er sich Ryes Antwort nochmal durch den Kopf gehen ließ. Ruckartig setzte er sich auf und wollte widersprechen: „Was?! Das ist-“ „Lang genug.“, fiel Rye ihm jedoch mit strengem Tonfall ins Wort. Gin hatte keine andere Wahl, als das zu akzeptieren. Trotzdem konnte er ein gereiztes Stöhnen nicht zurückhalten. Er senkte den Kopf und dachte: „Ich kann froh sein, dass er sich überhaupt darauf eingelassen hat.“ Im nächsten Moment wandte Gin den Blick, bevor er aufstand und sich ungläubig in alle Richtungen umsah. Rye war spurlos verschwunden. Offenbar hatte dieser ihn einfach ohne ein weiteres Wort zurückgelassen. „Das ist nicht sein Ernst…“ Der Silberhaarige lief aufgebracht in Richtung Tür und riss diese auf. Er verließ die Halle und ließ draußen seinen Blick durch die Umgebung schweifen. Viel erkennen konnte er nicht mehr, da es mittlerweile dunkel geworden war. Abgesehen von dem ruhigen Meeresrauschen herrschte Stille. Nichts deutete darauf hin, dass sich Rye noch in der Nähe befand. Sogar der Chevy stand nicht mehr an der Stelle, wo er zuvor von dem Schwarzhaarigen geparkt worden war. Genervt fuhr sich Gin durch den Pony. „Na toll, jetzt muss ich den ganzen Weg zurücklaufen!“, beschwerte er sich gedanklich, als ihm einfiel, dass er seinen Porsche ungewollt zurückgelassen hatte. 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