The Monster inside my Veins von ginakai ================================================================================ Kapitel 15: Grausames Schicksal ------------------------------- „Nimm sofort deine Hände von ihm weg. Oder du wirst es bereuen.“, fuhr Rye in einem drohenden Tonfall fort. Er schien die überraschten Blicke auf sich zu ignorieren. Gin beschlich ein unangenehmes Gefühl. Am liebsten würde er sich einfach in Luft auflösen. Bis jetzt hatte es ihn nicht interessiert, wie jämmerlich er gerade aussehen musste. Doch jetzt von Rye so gesehen zu werden empfand er mehr als nur erniedrigend. „Aber wieso ist er hier? Er hat sicherlich nicht durch Zufall gemerkt, dass ich mich in einer misslichen Lage befinde. Und man geht auch nicht einfach so ohne Grund in einer abgelegenen Gasse spazieren, die sich dazu noch in einem Bezirk befindet, wo man noch nicht einmal wohnt.“, überlegte er verdutzt. Das alles ergab keinen Sinn. War er Rye vielleicht doch über den Weg gelaufen und er hatte ihn bloß nicht bemerkt? Und jetzt war der Kerl ihm unauffällig bis hierher gefolgt? Auch das hielt Gin für ausgeschlossen. Denn die Wahrscheinlichkeit jemanden, den man kennt, in dieser Großstadt zufällig zu begegnen war sehr gering. Unter den Menschenmassen war es so gut wie unmöglich einen Bekannten herauszufiltern. Zudem sollte Rye eigentlich nach Vermouth suchen. „Wenn ich das überlebe, ist er mir eine Erklärung schuldig...“, beschloss der Silberhaarige. Und da gab es noch viele andere Fragen, auf die Rye ihm noch Antworten schuldete. „Sieh an… du hast ja gerade noch gefehlt.“, meinte Sigma gereizt, wobei Gin ihm da ausnahmsweise zustimme. Der Griff in seinen Haaren lockerte sich nicht mal ansatzweise und auch sonst schien Sigma der Drohung keine Beachtung zu schenken. Er wirkte kein bisschen eingeschüchtert. Noch nicht. „Du hast jetzt genau zwei Möglichkeiten. Entweder du leistest meiner Aufforderung nicht folge und ich erschieße dich… oder du lässt ihn los, ich lasse dir dein Leben und wir reden vernünftig miteinander. Aber ich möchte dich warnen: Wenn du ihn tötest, werde ich dafür sorgen, dass du einen zehn Mal qualvolleren Tod erleiden wirst.“ Ryes Stimme jagte offenbar nicht nur Gin einen Schauer über den Rücken. Sie besaß einen bedrohlich tiefen Klang. Erleichtert spürte Gin, wie sich Sigmas Griff aus seinen Haaren löste. Doch dabei blieb es auch. Das Körpergewicht verlagerte er nicht und auch die Waffe blieb fest an Gins Brust gedrückt. Trotzdem nutzte Gin den neuen Bewegungsfreiraum, um den Kopf zu drehen, sodass er Rye sehen konnte. Nach diesen Worten verspürte er ein unerklärliches Verlangen den dazugehörigen Gesichtsausdruck seines Partners zu sehen. Rye war inzwischen ein paar Schritte näher gekommen und dass die beiden Handlanger ihn bedrohten, schien für ihn nicht weiter von Belang zu sein. Er tat so, als wären sie Luft und richtete sowohl seine Waffe als auch seinen durchbohrenden Blick einzig und allein auf Sigma. In Ryes weit aufgerissenen Augen leuchtete die pure Boshaftigkeit. Die bedrohliche Aura ließ ihn beinahe wie ein versessener Psychopath wirken. Für einen Augenblick fragte sich Gin, ob das mal wieder ein Teil von Ryes fassettenreicher Persönlichkeit war, den er noch nicht kannte. Dabei wurde ihm klar, dass er diesen Teil nie kennenlernen wollte. „Du hast sie doch nicht mehr alle!“, fuhr Sigma den Schwarzhaarigen aufgebracht an, welcher sich davon aber nicht beeinflussen ließ. „Ich sage es dir noch ein letztes Mal: Lass ihn los.“ Es herrschte ein paar Sekunden Stille, die sich für Gin wie eine Ewigkeit anfühlten. Die Luft schien vor Anspannung zu vibrieren. Keiner traute sich ein Wort zu sagen oder gar irgendein leises Geräusch von sich zu geben. Sigma schien über seine nächste Entscheidung genaustens nachzudenken. Er wirkte mittlerweile tatsächlich eingeschüchtert, wenn nicht sogar schon verängstigt. Zugegeben, Rye war wirklich gut darin Menschen in seinem Umfeld vor Angst erstarren zu lassen und das allein durch seine bloße Ausstrahlung. Die zwei Handlanger waren inzwischen so verunsichert, dass sie sogar wirklich daran zweifelten den Schwarzhaarigen erschießen zu können. Sonst hätten sie längst ein paar Kugeln abgefeuert. Sigma gab ihnen ebenso wenig den Befehl zu schießen. Gin versuchte währenddessen Ryes Worte auf sich wirken zu lassen und zu begreifen, aus welchem Grund sein Partner so sprach. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass Rye das für ihn tat oder besser gesagt sich wegen ihm so verhielt. Doch es gab noch etwas Anderes, das Gin komisch vorkam: Rye redete nicht wie jemand, der lediglich einen Freund beschützen wollte. Sondern wie jemand, der sein Eigentum zurück verlangte. „Na schön, hier hast du ihn!“ Plötzlich spürte Gin, wie Sigma von ihm abließ und kurz darauf seinen Kragen ergriff, um ihn mit voller Kraft zu Rye zu schleudern. Der Silberhaarige war so sehr in seine Gedanken vertieft gewesen, dass es ihm nicht gelang, rechtzeitig zu reagieren. Ehe er sich versah, war er Rye stolpernd in die Arme gefallen, welcher ihn umgehend am Arm packte und hinter sich zog. Beschämt beobachtete Gin über Ryes Schulter hinweg, wie dieser und Sigma sich gegenseitig tödliche Blicke zuwarfen. Wobei Sigma da deutlich den Kürzeren zog. „Ich wusste doch, dass du vernünftig sein kannst. Nur ich muss dich leider enttäuschen, für ein vernünftiges Gespräch hast du mich bereits viel zu sehr provoziert.“, sprach Rye während sein Tonfall immer finsterer wurde und ihm anschließend ein leises Knurren aus der Kehle entwich. Die Atmosphäre schien sich mit einem Schlag erneut zu verändern. Ohne den Blick von Sigma abzuwenden, meinte Rye leise zu Gin: „Geh zurück zur Hauptstraße und warte im Auto auf mich. Es wird nicht lange dauern.“ Kaum waren die Worte ausgesprochen, verzog der Silberhaarige missbilligend das Gesicht und erwiderte: „Warum? Du kannst nicht einfach-“ „Hast du mich nicht verstanden?! Ich hab gesagt du sollst zum Auto gehen! HAU AB!“, schrie Rye mit düsterer, kratziger Stimme und sah über seine Schulter hinweg zu Gin. Dieser erstarrte im ersten Moment vor Schreck. Was ihn dort zornig anfunkelte waren nicht mehr Ryes smaragdgrüne Augen, sondern zwei blutrot leuchtende Rubine. Im nächsten Moment fing Gin an zu rennen. Er war sich allerdings selbst nicht sicher, was ihn letztlich dazu brachte, auf dem Absatz Kehrt zu machen. Ryes befehlende Stimme, die plötzlich so fremd klang, als würde sie aus den Tiefen der Hölle entspringen? Oder die bedrohliche Aura des Schwarzhaarigen? Oder lag es daran, dass er sich von diesen roten Augen durchbohrt gefühlt hatte? Während er rannte versuchte Gin dem Gefühl in ihm einen Namen zu geben. Es war keine Angst oder Furcht. Eher Bedenken, was passieren würde, wenn er nicht auf Rye hörte. Sobald dieser Gedanke in sein Bewusstsein drang, tauchten Szenarien vor seinem inneren Auge auf, die sich abspielen könnten, wenn er woanders hinlief oder er einfach dort stehengeblieben wäre. Nachdem Gin los gerannt war, schloss Rye die Augen und wandte sich wieder seinen Gegnern zu. Er konnte sich nicht länger zurückhalten, diese auf der Stelle zu zerfetzen. Eigentlich hatte er schon mit diesem Gedanken gespielt, seit er bemerkt hatte, dass die Typen begannen, Gin zu verfolgen. Doch da er sich nicht sicher gewesen war, hatte er noch nicht eingegriffen. Erst in dem Moment, als ihm klar geworden war, dass sich Gin nicht mehr selbst aus der Lage heraushelfen konnte. „Ich wusste gar nicht, dass du ein Faible für diesen Mann hast.“, sprach einer der Kerle belustigt, offensichtlich um Zeit zu schinden. Rye konnte nicht mehr unterscheiden von wem genau dieser Satz gestammt hatte. Es war ihm auch egal. Sie würden ohnehin alle sterben. Und er würde sie höchstpersönlich zur Hölle schicken und dafür sorgen, dass sie dort niemals wieder herauskamen. „Und ich wüsste nicht, was euch das anzugehen hat.“, erwiderte Rye mit der Stimme, die ihm selbst so fremd war. Er senkte seine Waffe und steckte sie zurück in die Manteltasche. „Eigentlich nichts, aber da du uns gestört hast….“ Rye ignorierte die unvollständige Drohung. Egal, was damit angedeutet werden sollte, es spielte keine Rolle mehr für ihn. Das Einzige, was er von den Kerlen noch hören wollte, waren ihre jämmerlichen Todesschreie. Und danach nie wieder etwas. Der Schwarzhaarige knöpfte sich den Mantel auf, ließ ihn über seine Schultern gleiten und zu Boden fallen. „Was soll das werden?“, fragte eines seiner Opfer lachend, was Rye ein Schmunzeln entlockte. „Dir wird das Lachen gleich vergehen.“, dachte er hinterhältig, bevor er meinte: „Nun ja, ich hab den Mantel recht gern und ich möchte nicht, dass er schmutzig wird, wenn ich euch gleich in Einzelteile zerreiße.“ Obwohl er das todernst meinte, vernahm er kurz darauf schallendes Gelächter. Es klang wirklich unerträglich. Er beschloss die Sache so schnell wie möglich zu Ende zu bringen. Er wollte Gin nicht so lange warten lassen. „Du hältst ganz schön viel von dir. Du hast dich beim letzten Mal schon so aufgespielt. Wird Zeit, dass du auf den Boden der Tatsachen zurückkehrst, mein Lieber.“ Der Besitzer dieser Stimme schien kurz darauf mehrere Schüsse abzugeben, von denen Rye aber so gut wie nichts spürte. Er riss die Augen auf, woraufhin drei rot-orangene Gestalten in seinem Blickfeld zu sehen waren. „Was zum Teufel-?!“ „Wird eher Zeit, dass ich nachhole, was ich beim letzten Mal leider versäumt habe.“, unterbrach Rye die panische Stimme mit übel gesinnter Tonlage. Er ließ den Kerlen keine Chance zu reagieren, sondern stürzte sich direkt auf sie. Sofort übermannte ihn ein erleichtertes Gefühl. Er wusste, dass er im Nachhinein keine Reue empfinden würde. Immerhin tat er das nicht für sich. Nicht, um seinen Durst zu stillen. Das war nur Nebensache. Aber Gin würde so nie wieder von diesen abscheulichen Typen belästigt werden können und mit diesem Motiv fiel es dem Schwarzhaarigen überraschend leicht deren armseliges Leben zu beenden. Angespannt rutschte Gin auf dem Beifahrersitz in Ryes Chevrolet hin und her. Es hatte ihn überrascht, dass der Wagen nicht abgeschlossen gewesen war. Zwar war der Motor aus, doch der Schlüssel steckte noch. Vielleicht war Rye der Meinung, dass keiner auf die Idee kommen würde, diese blöde Amikarre zu stehlen. Gin würde die Kiste jedenfalls nicht freiwillig fahren. Oder generell wieder bei Rye mitfahren. „Moment mal...“ Erst jetzt begann er seinen Fehler zu realisieren, von dem er allerdings nicht wusste, wieso er ihn überhaupt erst begangen hatte. „Ich hab einfach nach seiner Pfeife getanzt...“, erkannte er, ohne sich den Grund dafür erklären zu können. Durch das Seitenfenster starrte Gin in Richtung Gasse. Rye war noch nicht zu sehen. Er könnte es also noch schaffen, abzuhauen. Sorgen machte sich der Silberhaarige um seinen Partner nicht im Geringsten. Er zweifelte nicht daran, dass Rye jeden der Kerle ohne mit der Wimper zu zucken mundtot machen würde. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance. Womöglich hatte die niemand. Das Bild von Ryes roten Augen wollte einfach nicht aus Gins Kopf verschwinden. Sich einzureden, dass es aufgrund der Dunkelheit nur Einbildung gewesen sein könnte, half auch nicht. Nach allem, was er schon in Ryes Gegenwart seit Beginn ihres ersten Treffens erleben musste, überraschte ihn allmählich nichts mehr. Plötzlich wurde die Fahrertür aufgerissen, sodass Gin vor Schreck zusammenzuckte. Rye war schneller wieder zurück als vermutet. Leider. Wortlos schlug der Schwarzhaarige die Tür hinter sich zu und startete den Motor, während er Gin dabei keines Blickes würdigte. Was diesem sofort auffiel: Die mörderische Wut in Ryes Gesichtsausdruck. „Hast du sie getötet?“, fragte Gin mit leiser Stimme, auch wenn er die Antwort längst wusste. Er bemerkte, wie schwer es ihm fiel, seinen Partner anzusprechen. Rye wirkte nämlich nicht so, als wäre er momentan für ein Gespräch zu haben. „Ja.“, antwortete er mühsam kontrolliert. „Sie haben es schließlich verdient.“ Gin nickte stumm. Ryes Stimme klang wieder so hell und weich wie normalerweise. Als hätte er sie wieder ausgewechselt. Dass sich eine Stimme so verändern konnte, war eigentlich unmöglich, außer vielleicht mit viel Übung. Aber diese düstere Stimme von vorhin hatte nicht einmal menschlich geklungen. Eher dämonisch. Das konnte nur Einbildung gewesen sein. „Schnall‘ dich an.“, befahl der Schwarzhaarige, während er bereits auf das Gaspedal trat. Der Chevrolet fuhr schlendernd mit quietschenden Reifen los. Gin krallte sich instinktiv in den Ledersitz und hielt den Atem an. Sich hier reinzusetzen war definitiv Selbstmord gewesen. Besonders da Rye innerlich mit seiner Wut zu rangeln schien und er sich von Äußerlichkeiten nicht beeinflussen ließ. Es interessierte ihn nicht mal, ob Gin seiner Aufforderung folge geleistet hatte. Ryes bleiche Hände zitterten und waren fest um das Lenkrad geklammert. Den Blick richtete er dabei starr durch die Frontscheibe. Doch seine Augen wirkten ausdruckslos. Als würde er etwas Anderes als die Straße vor sich sehen. Und genau da lag das Problem. Nachdem der Chevy wieder eine gerade Bahn fuhr, schnallte sich Gin an, wobei sein Herz beinahe schneller raste als der Wagen. Er musste Rye irgendwie beruhigen wenn er nicht hier drin sterben wollte. „Alles in Ordnung mit dir?“, versuchte er vorsichtig ein Gespräch zu beginnen. Rye presste die Lippen vor Zorn zusammen. „Das sollte ich eher dich fragen.“, erwiderte er mit angespannter Stimme, von welcher sich Gin aber nicht aus dem Konzept bringen ließ. Er zuckte mit den Schultern. „Bis jetzt schon. Aber ich weiß nicht, wie es sein wird, wenn du weiter wie ein Bekloppter fährst.“, machte der Silberhaarige seinen Partner darauf aufmerksam, die Geschwindigkeit zu drosseln, was aber nicht passierte. Unzählige Male überholte Rye irgendwelche fremden Autos, fuhr über eine rote Ampel und riss bei jeder Kurve das Lenkrad so scharf wie möglich herum. Das dröhnende Hupen der anderen Autofahrer war nur schwer auszublenden. Durch diese Fahrerei wurde ihm im wahrsten Sinne des Wortes schlecht. Er unterdrückte dieses Gefühl bestmöglich und verlangte von Rye zu erfahren: „Warum sollte ich überhaupt auf dich warten? Wo fährst du hin?“ Ihm fiel kein logisches Ziel ein. „Ich fahr dich nach Hause, wohin sonst?“, entgegnete Rye gereizt, woraufhin Gin verwirrt die Stirn in Falten legte. „Du weißt doch gar nicht, wo ich wohne.“, sagte er. „Das wirst du mir schon sagen, wenn du nicht vorhast eine lang andauernde Spazierfahrt mit mir zu machen.“, kam es gehässig von Rye. Jetzt hatte Gin genug. „Ich sag dir gar nichts, halt sofort an!“, forderte er streng. Jedoch traf diese Forderung auf taube Ohren. „Damit die nächsten Kandidaten, mit denen du noch eine offene Rechnung hast, kommen und dich kidnappen oder gar umbringen? Vergiss es.“, fuhr Rye ihn spöttisch an. „Die gibt es nicht.“ Das stimmte tatsächlich. Ein solcher Fehler war Gin sonst nie unterlaufen. All seine Gegner und Feinde der Organisation waren längst tot. Bei Sigma handelte es sich ausschließlich um ein Missverständnis. „Das soll ich dir glauben?“ Rye ließ sich nicht so einfach überzeugen. „Halt die Karre an und lass mich aussteigen!“ Gin ging nicht auf die Frage ein. Für eine Diskussion hatte er jetzt erst recht keine Nerven übrig. Schlimm genug, dass Rye so uneinsichtig war und ihn herumkommandierte. Als ob er das nötig hätte. Gin entwich ein frustriertes Seufzen. Sich aufzuregen würde ihn auch nicht weiter bringen. Und da Rye offenbar begann ihn zu ignorieren, musste er sich was Neues einfallen lassen. „Kannst du wenigstens irgendwo parken und eine Pause machen? Wenn du wieder runtergekommen bist, darfst du mich gern nach Hause fahren.“, bot Gin seinem Partner im freundlichen Tonfall an. Wobei diese Aussage natürlich gelogen war. Bei der nächstbesten Gelegenheit würde er die Flucht ergreifen. Da lockerten sich Ryes Hände am Lenkrad auf einmal. Er zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Gedanklich betete Gin, dass sich der Schwarzhaarige auf den Kompromiss einlassen würde. Womöglich musste er erst mal etwas von der Wut in seinem Inneren vertreiben, um eine Entscheidung treffen zu können. „Einverstanden.“, meinte Rye nach einer Weile tonlos. Gin spürte förmlich wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Er wurde von dem Gefühl der Erleichterung eingehüllt, als sein Partner in eine Lücke am Straßenrand einparkte und der Chevy zum Stillstand kam. Rye stellte den Motor aus, woraufhin sich Gin kraftlos im Sitz zurückfallen ließ. Er genoss die einkehrende Stille und hoffte, dass Rye diese nicht unterbrechen würde. Mit geschlossenen Augen atmete er ein paar Mal tief durch, um seinen rebellierenden Magen zu beruhigen. Dabei bemerkte er, dass Ryes Atem zittrig klang. Gin drehte leicht den Kopf und sah, wie der Schwarzhaarige schweigend den Autohimmel beobachtete. Sein Blick war leer. Er versuchte in der Dunkelheit Ryes Augenfarbe zu erkennen. Sie waren wieder zu einem leuchtenden Grünton gewechselt und schimmerten im schwachen Licht einer Straßenlaterne, die sich außerhalb des Chevys befand. Immerhin war es ihm erfolgreich gelungen Rye zum Anhalten zu bringen. Jetzt musste er es nur noch schaffen, den Wagen zu verlassen. Jedoch glaubte er, dass das nicht so einfach war. Ryes Persönlichkeit war viel zu wachsam, als dass er sich heimlich abschnallen und schnell die Autotür aufreißen konnte. Also blieb nur, dass sie gemeinsam den Chevy verließen und er sich dann unauffällig aus dem Staub machte. „Aber wie? Welchen Vorwand kann ich benutzen, um ihn vom Aussteigen zu überzeugen?“, überlegte Gin. Er beugte sich vor und ließ den Blick durch die nahe Umgebung schweifen. Ringsherum gab es nicht viel, was ihm helfen könnte. Das lag wohl daran, dass sie sich längst nicht mehr an einer Hauptstraße befanden. Doch Gin erkannte im Rückspiegel plötzlich seine Rettung. Ein leuchtendes Eingangsschild eines Ramenrestaurants mit der Aufschrift ‚Geöffnet‘. Das traf sich eigentlich ganz gut, denn er hatte den ganzen Tag noch nichts Anständiges gegessen und seinen verstimmten Magen würde es bestimmt auch gut tun. Prüfend sah er zu Rye und erschauderte, als sich ihre Blicke trafen. Sein Partner musterte ihn verwundert, bevor er fragte: „Ist was?“ Zu Gins Beruhigung klang Rye schon viel entspannter. „Naja, es ist spät… und ich hab noch nichts gegessen.“ Er machte eine Handbewegung in Richtung des Restaurants, woraufhin sich Rye umdrehte und dieses ebenso entdeckte. „Wenn du willst, können wir dort was essen...“, schlug der Schwarzhaarige in einem nachdenklichen Tonfall vor. Gin verdrehte gedanklich die Augen. „War ja klar, dass er unbedingt mitkommen will, diese lästige Klette..“, dachte er murrend. Aber bevor er nach Hause konnte, musste er das wohl über sich ergehen lassen. Vielleicht würde er die Gelegenheit nutzen können, um Rye während des Essens ein paar Fragen zu stellen. Es interessierte ihn unter Anderem brennend, wieso Rye zufällig in der Nähe gewesen war, um ihm aus der Klemme helfen zu können. „Meinetwegen.“, meinte Gin seufzend. Er schnallte sich ab und stieg aus. Kaum hatte er die Tür zu geschlagen, stand Rye schon neben ihm. Der Kerl war definitiv schneller als erlaubt und das bei Allem, was er tat. Mit abgewendetem Blick ging Gin an ihm vorbei zielgerichtet zum Restaurant. Durch die Glastür konnte er erkennen, dass nur wenige Gäste drinnen speisten. Rye betrat das Restaurant zuerst und hielt Gin die Tür auf, was dieser aber ignorierte. Die Tische waren an der Wand in einer Reihe aufgestellt, gegenüber von der Theke. Die Lampen an der Decke leuchteten in einem schwachen Orangeton und erzeugten mit den braunen Holzwänden eine warme, gemütliche Atmosphäre. Es war recht still, da nur die Angestellten miteinander redeten und die Gäste sonst vereinzelt verteilt im Raum saßen. Wortlos setzte sich Gin an den leeren Tisch am Ende der Reihe und schnappte sich auch gleich eine von den Speisekarten, die auf dem Tisch herumlagen. Kurz darauf nahm Rye gegenüber von ihm Platz, jedoch rührte er die Karte nicht an. Nach wenigen Minuten kam auch schon eine Kellnerin herbeigeeilt und fragte mit einem übertriebenen Lächeln auf den Lippen: „Guten Abend. Haben die Herren sich schon entschieden?“ Sie sah dabei hauptsächlich Rye mit einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck an, wurde jedoch nicht von ihm beachtet. Stattdessen waren Ryes Augen ununterbrochen auf Gin gerichtet, welcher deswegen peinlich berührt den Kopf senkte und tonlos sagte: „Ich nehm die Shoyu-Ramen und eine Bloody Mary.“ Nachdem die Kellnerin die Bestellung wortlos notiert hatte, fragte sie Rye im zuckersüßen Tonfall: „Und was ist mit Ihnen?“ Allmählich ging ihre Art Gin auf die Nerven. Die Frau machte den Eindruck, als würde sie Rye jeden Moment um den Hals fallen. Dieser wandte nur unwillig den Blick von dem Silberhaarigen ab und meinte: „Danke, ich möchte nichts essen.“ Die Kellnerin zog überrascht eine Augenbraue nach oben. „Und was zu trinken?“, hakte sie nach. Rye setzte ein weiches Lächeln auf und erwiderte freundlich: „Nein, auch nicht.“ Die junge Frau schien kurz wie benommen, bevor sie verdattert nickte. Gin hingegen verkniff sich ein Kopfschütteln. Wie musste der Kerl bitte auf sie wirken? „Na gut. Falls Sie es sich anders überlegen, rufen Sie einfach.“, gab die Kellnerin augenzwinkernd Bescheid und entfernte sich anschließend vom Tisch. Womöglich musste sie erst mal die Fassung wiedererlangen, die ihr bei Ryes Anblick offenbar verloren gegangen war. „Wieso wolltest du überhaupt mitkommen, wenn du sowieso nichts essen willst?“, wollte Gin von seinem Gegenüber wissen. Er verstand es nicht. Normale Menschen würden wenigstens ein Wasser bestellen. Aber Rye war ja kein normaler Mensch. „Ich wollte nur sichergehen, dass niemand dir dein Essen vergiftet oder auf die Idee kommt irgendwas gegen dich zu verwenden.“, entgegnete er schmunzelnd und stützte den Kopf in seiner Handfläche ab. „Aha. Ich kann es aber nicht leiden, wenn man mir beim Essen zuguckt.“ Gin glaubte, dass Rye ihn jetzt die ganze Zeit so verträumt anstarren würde. Und das würde ihn zunehmend stören. Der Kerl brachte auch ihn so langsam aus der Fassung. Vor gerade mal 15 Minuten hatte der Schwarzhaarige vor Wut förmlich gekocht und jetzt saß er ihm mit einer weichen Miene seelenruhig gegenüber, als sei nie etwas gewesen. „Ich auch nicht.“, meinte Rye ruhig. Das erklärte wohl alles. Wobei Gin jetzt wieder einfiel, dass Ryes Kühlschrank zu Hause komplett leer gewesen war. Wenn er also in der Wohnung kein Essen hatte und nicht gern in der Öffentlichkeit aß, wann und wo nahm er dann seine Mahlzeiten ein? „Was interessiert‘s mich...“ Momentan schwirrten Gin wirklich wichtigere Fragen im Kopf herum, als über Ryes Essensgewohnheiten. Er wusste gar nicht, welche er zuerst stellen sollte. Jedoch war es weniger motivierend, dass Rye wahrscheinlich jeder Frage ausweichen würde. Das wollte sich Gin von jetzt an nicht mehr gefallen lassen. „Kannst du mir eigentlich mal erklären, woher du wusstest, wo ich war?“, fragte er seinen Gegenüber direkt. Rye blinzelte ihn aufgelöst an. „Ich war nur zufällig in der Nähe und hab dich von weitem gesehen.“, antwortete er und Gin durchschaute die Lüge sofort. Es war auch nicht wirklich gut gelogen. Der Silberhaarige verengte die Augen. „Okay, wie du willst.“, meinte er unbekümmert und erhob sich von seinem Stuhl. Er war es leid sich andauernd diese Ausreden anhören zu müssen, besonders wenn Rye ihn dann immer wie den Schuldigen behandelte. Es wunderte ihn bereits, wieso der Kerl ihm noch keine Vorwürfe machte oder nicht auf ihn einredete. „Nein, warte!“, hörte Gin plötzlich Ryes Stimme hinter sich. Der Schwarzhaarige hatte sich über den Tisch gebeugt und hielt Gin nun am Ärmel fest. „Bitte setz dich wieder.“, fügte Rye in einem leiseren Tonfall hinzu. „Warum? Ich hab keine Lust mich ständig von dir belügen zu lassen.“ Gin wollte seinen Arm wegziehen, doch Ryes Griff war unerbittlich. „Ich werde dich nicht mehr anlügen, versprochen.“, entgegnete er, woraufhin Gin ihm einen misstrauischen Blick zuwarf. Innerlich war er jedoch erstaunt über Ryes indirektes Geständnis, dass er ihn bisher wirklich immer angelogen hatte. Das Versprechen konnte unmöglich ernst gemeint sein, auch wenn Ryes verletzt wirkender Gesichtsausdruck gegen diese Annahme sprach. „Gibt es ein Problem?“ Beide Männer drehten sich überrascht zu der Kellnerin, die mittlerweile mit der Bestellung zurück war. Eine Weile verharrten sie noch in der Position und sahen sich an, bevor Rye langsam Gins Ärmel wieder losließ. „Nein, alles in Ordnung.“, teilte er der Frau beschwichtigend mit und wandte sich Gin mit einer unschuldigen Miene zu. „Nicht wahr?“ „Hmh.“, kam es von diesem gereizt. Beide setzten sich wieder hin, wobei Gin dies nur widerwillig tat. Die Kellnerin ließ den kleinen Streit unkommentiert und nachdem sie Gin die Shoyu-Ramen und die Bloody Mary hingestellt hatte, verschwand sie wieder. „Also, ich höre?“, bezog sich Gin wieder auf seine Frage, was Rye offensichtlich gar nicht passte. Seine Lippen formten eine gerade Linie, sodass keine Antwort aus ihnen entweichen konnte. So ganz wollte er nicht mit der Wahrheit rausrücken, weshalb Gin ihm mit einer weiteren Frage entgegen kam: „Hast du mich verfolgt?“ Ertappt drehte Rye den Kopf zur Seite, um Gins eindringlichem Blick auszuweichen. „Nicht ganz, also…“, begann er und brach den Satz mittendrin ab. Gin wartete aufmerksam, bis sein Gegenüber nach ein paar Sekunden fortfuhr: „Ich hab dich in der Bibliothek gesehen, du mich aber nicht… Und als ich draußen bemerkt habe, dass diese Typen anfingen dir hinterherzulaufen, konnte ich nicht anders…“ „Und was wolltest du in der Bibliothek?“ Gin gab sich mit dieser Erklärung vorerst zufrieden, auch wenn er eine weitere Lüge witterte. Zumindest waren in der Bibliothek wirklich viele Menschen gewesen und er hatte sich auch nicht genauer dort umgesehen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sowohl er, als auch Rye, zufällig zur selben Zeit in der Bibliothek gewesen sein sollen, war immer noch sehr gering. „Ich hab da nach etwas gesucht, aber nicht gefunden. Und jetzt frag mich bitte nicht wonach, denn das geht dich wirklich nichts an.“, antwortete Rye ernst. „So eine Frage ist doch viel zu langweilig. Da gibt es noch dutzend interessantere, die ich dir stattdessen stellen kann.“, meinte Gin mit einem Grinsen auf den Lippen, woraufhin Rye die Stirn runzelte und skeptisch erwiderte: „Wieso hab ich das Gefühl, dass sich das zu einem Verhör entwickeln wird?“ Gins hämisches Grinsen wurde breiter. Zum ersten Mal glaubte er, dass er bei seinen Fragen auch nützliche und vor allem halbwegs ehrliche Antworten von Rye erhalten würde. Denn anscheinend wollte der Schwarzhaarige aus unerklärlichen Gründen auf keinen Fall, dass Gin einfach ging. Doch um das zu verhindern, musste er ehrlich antworten. Ihm blieb also keine Wahl. Im nächsten Moment vernahm Gin ein Seufzen von seinem Gegenüber. Dessen darauffolgende Worte kamen überraschend: „Es tut mir leid.“ „Was?“, fragte Gin verwirrt, woraufhin Rye den Kopf senkte. „Dieser Kerl von vorhin… das war doch der Anführer dieser seltsamen Gruppe von dem Meeting im Westin Hotel. Es ist meine Schuld, dass er dir auflauern konnte…“ Während Rye sprach, nahm Gin den Löffel in die Hand und begann langsam die Ramen zu essen. Wenn ihm der leckere Duft nicht in die Nase gestiegen wäre, hätte er beinahe vergessen, dass sie überhaupt dort standen. „Wieso sollte es deine Schuld gewesen sein?“ Er konnte seinem Partner immer noch nicht ganz folgen. „Ich habe ihn verfolgt. Und als ich ihn fast erwischt hatte, kam es zu der zweiten Explosion und ich entschied mich dafür, dir zur Hilfe zu eilen. So ist der Kerl mir entkommen, bevor ich ihn töten konnte.“, schilderte Rye die vergangenen Ereignisse, wie Gin sie bisher noch nie betrachtet hatte. Zwar hatte er mitbekommen, dass Rye ihm zur Hilfe gekommen war, jedoch nicht was dieser dafür aufgeben musste. „Letztlich wäre es egal gewesen, welche Wahl ich getroffen hätte. Wenn ich Sigma weiter verfolgt hätte, wärst du von seinen Leuten noch am selben Abend erschossen worden. Doch weil ich den Kerl habe entkommen lassen, konnte er dich jetzt im Nachhinein aufspüren. In beiden Fällen wärst du früher oder später gestorben.“ Ryes Stimme klang verzweifelt und verriet, dass er sich selbst verfluchte und für das Geschehene verantwortlich fühlte. Gin ließ den Löffel in die Brühe fallen und starrte den Schwarzhaarigen mit großen Augen an. Ryes Worte hatten ein undefinierbares Gefühl in ihm ausgelöst. Zu wissen, dass er ohne Rye keine Chance auf ein Leben gehabt hätte. Ohne Rye wäre er bereits tot und würde jetzt nicht vor ihm sitzen. Es so vor Augen gehalten zu bekommen, sorgte dafür, dass Gin allmählich anfing, die Rettung wertzuschätzen. Auch wenn Rye in vielerlei Hinsicht ein unerträglicher Geselle war, musste sich Gin eingestehen, dass sein Partner viel für ihn riskierte. Vielleicht sogar alles. Aus irgendeinem Grund schien er Rye wirklich wichtig zu sein. Doch Gin konnte und wollte das nicht nachvollziehen. Er behandelte den Schwarzhaarigen meistens von oben herab und war nie sonderlich nett zu ihm. Deshalb konnte er sich nicht ansatzweise erklären, wieso Rye ihn auf irgendeine Weise mochte. Oder hatte er diesbezüglich auch Hintergedanken? Wollte er etwas Bestimmtes von ihm und war nur deswegen so zuvorkommend und hilfsbereit? „Eigentlich hab ich ja nichts, was er wollen könnte.“ Da machte sich Gin keine Illusionen. „Das Schicksal ist immer so grausam zu mir.“, murmelte Rye plötzlich vor sich hin. Mit einem schmerzvollen Lächeln starrte er nach wie vor auf die Tischplatte. Gin fühlte sich jedes Mal aufs Neue von Ryes Worten überwältigt. Und diesmal konnte er sie nicht richtig deuten. An so etwas wie Schicksal glaubte er nicht einmal. „Was soll mein Leben mit deinem Schicksal zu tun haben?“, fragte er mit hoch gezogener Augenbraue. Rye blickte überrascht zu ihm auf. Als wäre ihm nicht bewusst, dass seine Worte gehört worden waren. „Vergiss es einfach… Nimm nicht immer alles so ernst, was ich sage.“ „Das tu ich auch nicht, glaub mir.“ Wo wäre Gin da bereits gelandet, wenn er das täte. Obwohl er viele Worte von Rye im Gedächtnis behielt. Womöglich auch zu viele. Die in Rätsel gesprochenen Worte waren eben eins von vielen Dingen, die Rye interessant wirken ließen. Nach kurzem Schweigen fügte der Silberhaarige noch leise hinzu: „Aber… trotzdem danke… dass du mich gerettet hast.“ Irgendwie fühlte er sich zu einem Dank gezwungen. Jedoch war es ihm noch nie so schwer gefallen, einen Satz auszusprechen. Es war ihm nicht nur peinlich sich zu bedanken, sondern auch den Tatsachen offen ins Auge zu blicken. Denn eigentlich hasste er es von jemanden gerettet werden zu müssen und Rye hatte dies inzwischen schon drei Mal getan. Das waren definitiv drei Male zu viel gewesen. Aber vielleicht würde Rye eher dazu tendieren ihm die Wahrheit zu sagen, wenn er ein ehrlich gemeintes Danke zu hören bekam. „Von welchem Mal sprichst du jetzt?“, fragte Rye scherzhaft, bevor er begann leicht zu lachen. Gin wandte vor Scham den Blick ab. Natürlich musste der Kerl die ohnehin peinliche Lage noch verschlimmern. „Nein im Ernst… wie hast du es geschafft so lange ohne mich am Leben zu bleiben bei den ganzen Gefahren, die du anziehst?“ Trotz der ersten drei Worte klang Ryes Tonlage ironisch und auch etwas arrogant. Jetzt ging er wirklich zu weit. Als ob Gin nicht ohne diesen Trottel überleben konnte. Immerhin entstanden die Gefahren meistens durch ihn. „Übertreib‘s nicht.“, meinte Gin trocken, woraufhin sich Rye die Hand vor den Mund hielt, um nicht erneut lachen zu müssen. „Mal was Anderes… was war vorhin eigentlich mit dir los?“ Nachdem der Silberhaarige diese Frage gestellt hatte, wurde Ryes Miene umgehend wieder ernst. „Ich war nur wütend, nichts weiter.“, spielte er es herunter. „Aber deine Augen und deine Stimme…“, begann Gin zögernd. Er wusste, dass der vollständige Satz wieder mal lächerlich klingen und Rye dementsprechend darauf reagieren würde. Obwohl er versprochen hatte nicht mehr zu lügen. Jetzt konnte Gin überprüfen, ob das Versprechen auch wirklich ernst gemeint war. „Was war damit?“, hakte sein Gegenüber mit angespannter Stimme nach. „Deine Augen waren plötzlich rot… und deine Stimme klang so anders. Viel tiefer. Als wär‘s nicht mehr deine gewesen.“ Gin bemühte sich die Worte so zurechtzulegen, dass es nicht völlig verrückt klang. Aber letztlich musste er feststellen, dass es immer verrückt klingen würde, unabhängig von der Formulierung. Und auch wenn er wusste, was er gesehen hatte, kam er sich dabei total bescheuert vor. Jedes Mal wieder. „Du denkst dir aber auch immer wieder was Neues aus…“, erwiderte Rye seufzend. „Das sagt ja der Richtige… elendiger Lügner.“ Gin konnte nicht verhindern, dass langsam die Wut in ihm aufkam. Der Kerl war mit seinen Anschuldigungen unverbesserlich. „Ich bin enttäuscht, dabei sagtest du eben noch, du willst nicht mehr lügen.“, erinnerte Gin seinen Partner, welcher genervt entgegnete: „Was nicht bedeutet, dass ich deinen Wahnvorstellungen zustimme. Wenn du mal rational denken würdest, würdest du merken, dass das, was du mir vorwirfst gar nicht möglich sein kann.“ „Aber du meintest doch eben du wirst nicht mehr lügen. Damit hast du indirekt zugegeben, dass du mich bisher immer nur angelogen hast. Also kann ich keine Wahnvorstellungen gehabt haben.“, wandte Gin ein. Es fiel ihm zunehmend schwerer ruhig zu bleiben. Er ertrug es nicht, dass Rye so mit ihm sprach. „So war das nicht gemeint.“, behauptete dieser jetzt auf einmal. „Nicht gemeint? Willst du mich verarschen?“ „Du konfrontierst mich ständig mit solchen blödsinnigen Sachen und beschwerst dich, wenn ich es abstreite. Es ist nicht nett mir so was vorzuwerfen und dann noch zu verlangen, dass ich es zugebe.“ Rye verschränkte beleidigt die Arme und lehnte sich im Stuhl zurück. Gin war mittlerweile mit seiner Geduld am Ende. Das Maß war voll. Als ob er sich so ein Verhalten bieten lassen musste. Was war so schwer daran einfach die Wahrheit zu sagen? Stattdessen musste er sich wieder rechtfertigen und als den Schuldigen abstempeln lassen. Gin verzog vor Wut das Gesicht und betrachtete Rye missbilligend. Er konnte diesen arroganten Mistkerl keine Sekunde länger ertragen, ohne dass er nicht auf ihn einschlagen würde. Mit einem Ruck erhob sich der Silberhaarige vom Stuhl, wobei er von Rye erstaunt angesehen wurde. Da es Gin ohnehin bereits in den Fingern juckte, griff er spontan nach seinem vollen Glas mit Bloody Mary und meinte verächtlich: „Nicht nett? Soll ich dir zeigen, was nicht nett ist?“ Kurz darauf kippte er den Inhalt des Glases in Ryes Gesicht und knallte es anschließend wieder auf den Tisch. Der Schwarzhaarige starrte ihn fassungslos an, während ihm die rötliche Flüssigkeit über sein Gesicht lief und anschließend vom Kinn auf seinen Kragen tropfte. Gin ignorierte die entsetzten Blicke der Angestellten und die Aufmerksamkeit der wenigen Gäste, die er mit dieser Geste auf sich gezogen hatte und fügte kalt hinzu: „Halt dich bloß von mir fern. Ich will nichts mehr von dir hören oder sehen. Mir reicht es, mach doch, was du willst!“ Als Rye diese Worte hörte, durchfuhr ihn ein Stich. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Gin drehte sich längst weg und entfernte sich mit schnellen Schritten von ihm. Den Silberhaarigen gehen zu sehen, schmerzte. Dessen Worte schmerzten. Von ihm abgewiesen worden zu sein schmerzte. Alles schmerzte. Rye spürte förmlich, wie etwas in ihm zerbrach und kurzerhand die Wut von ihm Besitz ergriff. Mechanisch nahm er eine von den Servietten und wischte sich das übel riechende Getränk aus dem Gesicht. Dann stand er auf. Gehen ließ ihn eine der Angestellten jedoch nicht. „Junger Herr, Sie müssen noch…“ Rye warf der Frau einen mörderischen Blick zu, ohne dass er sich dessen selbst bewusst war. Seine Gesichtszüge fühlten sich wie versteinert an. Die Frau beendete ihren Satz nicht. Womöglich war sie zu sehr eingeschüchtert. Rye überkam das Bedürfnis ihr auf der Stelle den Hals umzudrehen. Er hörte, wie ihr das Herz bis in die Fingerspitzen schlug. Doch bevor er das tun konnte, verließ er wortlos das Restaurant. Niemand wagte es, ihn nochmal aufzuhalten. Draußen konnte er es nicht lassen, sich nach seinem silberhaarigen Partner umzusehen. Aber zu seiner Enttäuschung erblickte er ihn nirgends mehr. Waren sie jetzt überhaupt noch Partner? Konnte er ihn noch so nennen? Oder war es ihm überhaupt noch erlaubt ihn anzusprechen? Rye durchfuhr ein weiterer Stich. Zwar war Gins Abweisung nicht mit einer Regel gleichzusetzen – er hielt sich sowieso nie an Regeln – doch was nützte es ihm, wenn Gin ihn trotzdem ablehnte? „Letztlich bin ich doch selbst Schuld… Ich hab ihn provoziert und obwohl ich weiß, dass er recht hat, schieb‘ ich ihm alles zu...“, dachte Rye verzweifelt und wurde sich über seinen Fehler im Klaren. Doch ändern konnte er daran nichts mehr. Die Worte, die er Gin zugeschleudert hatte, konnte er nicht wieder zurücknehmen. Eigentlich hatte Rye vor zurück zum Auto zu gehen, doch seine Beine trugen ihn nicht dort hin. Stattdessen bog er in eine Seitengasse ein, die sich neben dem Restaurant befand und ging ein Stück geradeaus. Er bekam gar nicht mit, wie er einen Schritt nach dem Anderen setzte. Irgendwann blieb er mit gesenktem Kopf stehen. „Eine Entschuldigung wird er bestimmt nicht mehr annehmen.“, vermutete er. Gin war eben niemand, der sich zweimal auf jemanden einließ. Der Schwarzhaarige hatte es endgültig bei ihm verbockt. „Ich bin so ein Idiot!!“, fluchte er unkontrolliert und schlug impulsiv gegen eine Mauer neben der er gerade stand. Dabei hatte er seine Kraft versehentlich unterschätzt. Das harte Gestein zerbrach sofort und einige Risse erstreckten sich über die Wand. Mit schockgeweiteten Augen beobachtete Rye, wie einer der Risse immer weiter nach oben kroch, bis ein Teil der Mauer in sich zusammenfiel. Er starrte auf seine Faust, welche begann, vor Wut zu zittern. Die Wut galt jedoch ihm selbst. Alles machte er kaputt. Ohne es zu wollen. Immer sagte er Dinge, die er im Nachhinein bereute. Was sollte er tun, wenn Gin ihn nicht wollte? Dieser Mann war immerhin das, was er wollte. Um jeden Preis. Er hatte seine Existenz noch nie als ein Leben bezeichnet. Doch wenn er so etwas wie einen Lebenssinn gehabt hatte, dann war dieser jetzt fort. Er konnte das Gefühl, welches er dadurch empfand nicht zuordnen. Und weil er das nicht konnte, wandelte er es in zusätzliche Wut um. Denn Wut war das einzige Gefühl, das er zuordnen konnte. Es war ihm so vertraut. Am liebsten würde er schreien. Aber ihm entwich kein einziger Laut aus der Kehle. Dafür schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und ließ sich langsam zu Boden sinken. Zum Glück war niemand hier, der ihn so sehen konnte. Trotz seinem Vorhaben, sich beruhigen zu wollen, gelang es ihm einfach nicht. Er konnte nicht verhindern, dass er in eine Gedankenspirale verfiel. „Aber… warum hab ich das wortlos hingenommen?“, fragte er sich. „Warum hab ich mich abweisen lassen?“ Eine Antwort auf diese Fragen fand er nicht. Er hatte sich noch nie von jemandem so respektlos behandeln lassen. Das durfte sich jetzt nicht plötzlich ändern. „Er darf mich nicht abweisen…“, beschloss Rye. Er war Gin in allen Dingen überlegen. Gin war schwach im Vergleich zu ihm. Er konnte nichts ausrichten, geschweige denn sich wehren. Er war ihm ausgeliefert und konnte nichts dagegen tun. „Wenn er mich nicht will, dann werde ich dafür sorgen, dass er mich will.“, schwor sich Rye. Er würde Gin dazu zwingen. Zur Not auch mit Gewalt. Vielleicht würde er ihn irgendwo einsperren. Dann hätte er ihn für sich allein und er könnte mit ihm tun, was auch immer er wollte. Fest entschlossen richtete sich Rye mit geballten Fäusten wieder auf und sprach übel gesinnt in Gedanken zu Gin: „Wenn du mich nicht willst, wirst du auch keinen anderen haben dürfen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)