Das Lied des Regens von Zeilengestöber ================================================================================ Kapitel 4 – Calista ------------------- Ihre bis auf die letzte Faser nasse Kleidung sollte es eigentlich unmöglich machen, aber dennoch spürte Calista kalten Schweiß über ihren Rücken laufen. Ihr Blick haftete wie ein ausgeworfener Anker samt Rettungsleine an den beiden Gestalten, die inzwischen einige dutzend Schritt vor ihr immer öfter hinter Biegungen und Baumreihen verschwanden. Nur mit Mühe konnte sie mit ihnen Schritt halten – sie einzuholen … Calista schwante Übles, aber sie weigerte sich, den Gedanken zu weit zu verfolgen, der unweigerlich zu ihrem Quell führte, der vor zwei Stunden noch so verlässlich wie ein Fels in der Brandung auf sie gewirkt hatte. Doch nun? Ihre magische Kraft knarrte in ihren Gliedern wie eine überspannte Birke, an der ein Sturm riss und die jeden Moment entzwei brechen würde. Aber anstatt die Unsichtbarkeit, in die sie sich gehüllt hatte, aufzugeben, hielt sie an ihr nur umso verbissener fest. Dabei ging es noch nicht einmal mehr darum, nicht gesehen zu werden, sondern darum, ihre magischen Fähigkeiten wieder in Ordnung zu bringen. Wenn nötig auch mit blanker Willenskraft, die hier im Nirgendwo der Menschenwelt auf eine harte Probe gestellt wurde. Sie biss die Zähne aufeinander und verbot sich ein Stöhnen, das ihr in der Kehle saß. Wieder ein Schritt. Und noch einer. Es konnte doch nicht mehr weit sein, oder? Die Menschen folgten weiter dem befestigten Weg, der sie bislang durch die dunklen Wälder geführt hatte, und verschwanden soeben hinter einer Biegung. Calistas Blick sackte zu Boden, der mit rostbraunen Nadelblättern bespickt war. Kleine Bläschen blubberten bei jedem Schritt unter ihren Sohlen hervor. Selbst der Grund unter ihren Füßen sah aus, als hätte er den Regen unlängst satt. Mit diesem Gedanken und ihren zu Fäusten geballten Händen verlor sie sich für einige Momente in ihrem innerlichen Mantra, einen Fuß vor den anderen zu setzten, bis auch sie die Biegung erreichte und ihre beiden noch unwissenden Helfer sowie in einiger Entfernung vor ihnen ein Haus in Sicht kamen. Zitternd blieb sie stehen und harrte aus. Pure Erleichterung rauschte durch Calistas Körper, als die beiden Gestalten zielstrebig auf das Haus zugingen. Als die Türe ins Schloss gedrückt wurde, nachdem die beiden im Inneren verschwunden waren, stolperte sie zum nächstbesten Dickicht. Sie stürzte im schlammigen Waldboden auf ihre Knie und Hände und japste vor Anstrengung nach Luft. Die Unsichtbarkeit fiel von ihr ab, als würde jemand eine wärmende Decke von ihrem Körper reißen. Der Regen, der auf ihren Kopf und Rücken prasselte vermischte sich mit dem kalten Schweiß, der ihr im Nacken saß. Calista fühlte sich ausgelaugt. Nicht als hätte sie sich für ein oder zwei Stunden ihrer Magie bedient, sondern seit Tagen. Von wegen sie hatte ihre Magie wie gewohnt in der Hinterhand! Sie mochte sich ungenutzt wie immer anfühlen, doch der unsichtbare Marsch hatte unnatürlich viel Kraft und in den letzten Minuten jeden Funken Konzentration gekostet, den sie hatte aufbringen können. Müde lehnte sie sich zurück saß nun auf ihren Fersen. Sie hatte sich vollkommen verschätzt! War die magische Entladung doch schlimmer gewesen als gedacht? Nein, das konnte nicht sein. Jede von der Entladung betroffene Magie müsste wieder in ihrer alte Bahn gefunden haben. Calista schluckte heftig.  War es vielleicht keine Entladung gewesen? Was, wenn ihr Quell beeinflusst war … Ihr Herz begann mit dem Prasseln des Regens zu rasen. Sie musste zurück zur Anderwelt, dringender als zuvor! Sie musste zu einem Heiler und … Caliste kniff die Augen zusammen und zwang die aufkeimende Furcht mit ruhigen Atemzügen zurück. Sie durfte jetzt nicht den Kopf verlieren. Die Furcht hielt sie so vielleicht in Schach, die Wut über sich selbst jedoch nicht. Sie hätte sich mehr beeilen sollen! Und warum hatte sie gestern nicht schon ihre Magie auf eine ordentliche Probe gestellt? Sie hätte viel früher … Ein zorniges Fauchen entkam ihr, bevor sie sich fing. Sie konnte nichts mehr daran ändern. Dafür musste sie nun mehr Finesse und Zügigkeit an den Tag legen. Sie musste die beiden Menschen also … Bei den Göttern. Wenn sie so blind für ihren Zustand in die Begegnung mit den beiden gegangen wäre … nicht auszudenken, wohin ihre unzuverlässige Magie geführt hätte! Ihr Charme würde sie vermutlich ebenso anstrengen und zweifelsohne hätte sie darauf zurückgegriffen. Schließlich brauchte sie die Hilfe der beiden, wenn nicht freiwillig, dann eben auch mit magischem Nachdruck. Und dann? Keine zwei Stunden und von der magischen Geneigtheit, ihr zu helfen, würde nichts übrig bleiben. Grimmig blickte sie auf ihre dreckigen Hände, die der Regen binnen weniger Augenblicke sauber wusch. „Verflucht!”, zischte sie. Mit dieser Aussicht musste sie die beiden auf einem anderen Weg überzeugen. Doch wie? Hilfsbereit war zumindest einer von ihnen, so wie der dem anderen in die Fluten nachgesprungen war. Doch ob sie ihn mit einer fadenscheinigen Lüge auf eine mehrere Tage andauernde Reise würde locken können? Sie bezweifelte es. Was nun? Irgendetwas musste sie den beiden auftischen. Vielleicht ein anderes Dorf, das in den Fluten versank? Ihre Familie, die sie retten musste und nun nur auf fremde Hilfe hoffen konnte? Ein … ein armes Tier, das in einem Brunnen festsaß und Rettung bedurft? Nein, ein Tier wäre wohl zu leicht zu missachten. Ein Kind! Ha! Noch besser, eine Schar Kinder! Calista zog die Nase kraus. „Darauf fällt doch keiner rein”, murmelte sie und sah zu dem Haus, hinter dessen Fenster inzwischen ein warmer Lichtschein zu erkennen war. Vielleicht war es ein Versuch wert, ihren Charme für ein paar Minuten zu testen, sodass sie endlich aus dem Regen kam und ihre Kleider eine Chance erhielten von klatschnass zu nass zu gelangen. Oder … Nach einem tiefen Atemzug stand Calista schwerfällig auf und schleppte sich nun auch zum Haus. Dort vor der vor Nässe noch dunkler wirkenden Eingangstür hielt sie inne. Mit den Fingern kämmte sie sich ihre Haare zurück und straffte ihre Schultern. Sie würde es drauf ankommen lassen, entschied sie und klopfte drei Mal an. Es dauerte einen Augenblick, bevor ihr die Tür geöffnet wurde. Irritation zeichnete sich auf dem Gesicht des Menschen ab, der zuvor seinen Gefährten aus den Fluten gerettet hatte. Sie lächelte ihn an und setzte alles auf eine Karte. „Hallo, ich bin Calista. Ich bin ein Fae und brauche eure Hilfe. Darf ich reinkommen?” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)