Wenn wir Vögel wären von WhiteMaid ================================================================================ Prolog: -------- Wir stehen am Fenster. Er hat die Hände flach gegen die Scheibe gepresst. Seine schlanken Finger hinterlassen Abdrücke auf dem polierten Glas. Ich kann die Blicke der anderen im Rücken spüren, doch er hat den Kopf in den Nacken gelegt und spät zum Himmel hinauf. „Wenn ich ein Vogel wär“, sagt er, „würde ich so hoch fliegen, dass alle Menschen nur noch winzige Punkte wären.“ „Wenn ich ein Vogel wär“, gebe ich zurück, „würde ich irgendwo da oben ein Nest bauen und nie zurückkommen.“ „Wenn wir Vögel wären“, setzt er nach, „dann würden wir zusammen in dem Nest wohnen.“ Nur leider sind wir keine Vögel. Kapitel 1: ----------- Dicke weiße Wolken türmten sich über mir am Himmel auf. Zu Tieren, zu Schiffen, zu Burgen. Ich hatte es immer schon gemocht, dem Wolkenspiel dort oben zuzusehen – obwohl ich wusste, dass es kindisch war. Vielleicht war ein kleiner Teil von mir einfach hoffnungslos romantisch. Es war einer dieser ersten Tage im Frühling, an denen man nie sicher sagen kann, ob es zu warm oder zu kalt ist. Während die Strahlen der Sonne mein Gesicht streichelten, zerrte ein unangenehm frischer Wind an meiner Jacke. Meine Arme waren mit mehreren flachen Kisten aus grünem Plastik beladen, die ich übereinander gestapelt hatte, während ich wie ein Schlafwandler ganz selbstverständlich meinen Weg die Straße entlang fand. Erst als ich nach rechts in eine Seitengasse bog, löste ich den Blick vom blauen Himmel über mir. Und da sah ich ihn. Das Sonnenlicht, das sich in seinem kurz geschnittenen Haar brach, ließ es noch heller wirken als es ohnehin schon war. Eine weißblonde Pracht, die es sich zur Aufgabe gemacht zu haben schien, mit der Sonne um die Wette zu strahlen. Kians Eltern kamen aus Schweden, genau wie sein Name. Obwohl er mir den Rücken zugekehrt hatte, wusste ich, dass er die blausten Augen hatte, die es je gegeben hat. Sie hatten mich in ihren Bann gezogen, damals schon, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, in dieser Vorlesung über Ökonomie. Ich glaube, wieso wir diesen Unsinn einmal studiert hatten, wussten wir beide nicht mehr. Wahrscheinlich hatte einfach keiner von uns so recht gewusst, was er mit diesem langen Leben anfangen sollte, das noch vor uns lag. Kian schien meine Ankunft nicht zu bemerken. Er war ganz offensichtlich zu sehr damit beschäftigt, die große Schaufensterscheibe des Cafés, das sich still und heimlich zwischen die Wohnhäuser zu beiden Seiten geschlichen zu haben schien, mit einem gelben Schwamm abzuschrubben. Ich blieb stehen und ließ den Blick hinauf zur Leuchtreklame wandern, die über Kians Kopf prangte. Colors. Jeder Buchstabe in einer anderen Farbe geschrieben. Das Café war unser kleiner Traum. Es war nicht leicht gewesen, den Kredit für die Erstausstattung bewilligen zu lassen. Niemand hatte zwei Studenten Geld geben wollen, die als Sicherheit nicht mehr als einen Traum zu bieten hatten. Aber irgendwie hatten wir es doch geschafft. Seit fast einem Jahr hatte das Colors nun seine Pforten geöffnet. Für Künstler, für Studenten, für alle Freigeister der Stadt. Wir hatten Kaffee, Bagels und eine angenehme Atmosphäre zu bieten – und der Laden lief gut. Erstaunlich gut, wenn man bedachte, dass keiner von uns Erfahrung in Betriebswirtschaft oder der Gastronomie hatte. Es war ein warmes, erfüllendes Gefühl. Wir hatten den Laden und wir hatten uns. Wir hatten alles, was wir brauchten. Plötzlich stieg mir der scharfe Geruch von Terpentin in die Nase und riss mich aus meinen Gedanken. Hätte ich eine Hand freigehabt, hätte ich sie mir zugehalten, doch so blieb mir nichts weiter übrig, als den Gestank mit der Luft einzusaugen, die ich zum Atmen brauchte. „Was machst du da?“, fragte ich mit gequälter Stimme und Kian wirbelte überrascht herum. „Leon.“ Seine Stimme schwankte leicht. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter hin zum Schaufenster, dann sah er zurück zu mir. Das wäre die passende Stelle für eine Erklärung gewesen, doch er sagte nichts. Ich konnte die kleine Falte sehen, die sich immer zwischen seine Augenbrauen schlich, wenn er besorgt war. Normalerweise brachte Kian nichts so leicht aus der Ruhe. Gemessen an seiner sonst so besonnenen, selbstsicheren Art war sein Verhalten mehr als verdächtig. Statt weiter nachzubohren, trat ich zwei Schritte zur Seite und späte an seiner Schulter vorbei auf den Teil der Scheibe, den sein Rücken vor meinen Blicken verborgen gehalten hatte. Ich konnte spüren, wie sich meine Augenbrauen unwillkürlich zusammenzogen. Schon wieder. Sie hatten es schon wieder getan. An der sonst makellos sauberen Scheibe waren trotz Kians Bemühungen, sie zu entfernen, die Spuren roter Farbe deutlich zu erkennen. Der obere Teil der Botschaft war unleserlich verschmiert, doch weiter unten konnte ich die Buchstaben immer noch deutlich sehen. … kein Platz für Homos! Die Luft um mich her schien mit einem Mal merkwürdig dünn geworden. Unwillkürlich wandte ich den Kopf, spähte links und rechts die Straße entlang – doch natürlich war von den Tätern keine Spur mehr zu sehen. Sie mussten heute Nacht gekommen sein, im Schutz der Dunkelheit. Doch der Hass, den sie mit sich getragen hatten, hing immer noch in der Luft. Er würde nicht so schnell wieder verfliegen. „Mach mir mal die Tür auf“, hörte ich mich plötzlich sagen. Meine Stimme klang fern und heiser, beinahe so als gehörte sie nicht mehr mir. Die Kisten in meinen Armen waren nur eine Ausrede. Es war die Feindseligkeit, die aus den Buchstaben an der Scheibe hervor sickerte, die mich in den Schutz des Cafés trieb. Wie eine Schlinge zog sie sich immer enger, immer fester um meinen Hals. Ich zählte die Sekunden, bis Kian die Tür zum Café aufgeschlossen hatte und sie für mich aufhielt – dann flüchtete ich ins Innere. Die Kisten voller Kräuter und Gemüse ließ ich achtlos im Eingangsbereich stehen. Zwei oder drei Sekunden lang schloss ich die Augen; atmete tief durch, um das flaue Gefühl, das sich in meiner Magengegend ausgebreitet hatte, abzuschütteln, doch es wollte einfach nicht vergehen. Im Augenwinkel konnte ich sie sehen: die Fetzen der Botschaft an der Scheibe. Hass in Spiegelschrift. Er war immer noch da. Auch hier noch konnte ich ihn deutlich spüren … Kian war mir gefolgt. Behutsam zog er die Tür hinter sich zu. Das kleine Glöckchen, das er bei der Eröffnung an der Decke angebracht hatte, klingelte sanft. Im Halbdunkel des Gastraums konnte ich Kians Gesicht kaum erkennen. Keiner von uns hatte Licht gemacht und die wenigen Sonnenstrahlen, die von schräg oben in die schmale Seitengasse fielen, schienen fast vollständig an den Schaufensterscheiben abzuprallen. Beinahe so, als wären sie nicht aus Glas, sondern Beton, als schirmten sie uns vollständig ab. Mit einem Mal gab es zwei Welten – die da draußen, die Welt der anderen, und die hier drinnen, unsere Welt. Ich konnte hören, wie Kian Luft holte, um etwas zu sagen, doch ich wollte es nicht hören. Mit zwei Schritten war ich bei ihm, drängte ihn mit dem Rücken an die Wand, presste meine Lippen auf die seinen. Meine Hand fand wie von selbst den Weg in Kians helles Haar. Mit der Zunge teilte ich seine Lippen. Er schmeckte süß – wie schwarzer Tee mit Honig. Ich konnte spüren, wie sich Kians Körper eine Sekunde lang versteifte, doch dann ließ er sich auf mich ein, ließ sich von mir die Worte nehmen, die ihm auf der Zunge gebrannt hatten. Seine Arme schlangen sich um meinen Rücken, zogen mich näher zu sich heran, hielten mich so lange, bis ich mich schließlich langsam aus unserem Kuss löste. Ein oder zwei Herzschläge vergingen, bis Kian seine Stimme wiederfand. Doch als er sprach, war sie gedämpft und brüchig wie ein vergilbtes Stück Pergament. „Wenn du mich küsst, fühlt es sich immer so an, als wäre es das letzte Mal.“ „Das stimmt nicht“, gab ich rasch zurück, obwohl ich wusste, dass es stimmte. Ich hatte Angst, von ihm getrennt zu werden. Jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde. Ganz gleich wie nahe wir einander auch sein mochten. Seine Haut zu berühren, seine Lippen zu küssen – das alles genügte nicht, um den Sturm zu bezwingen, der in meiner Brust tobte; mich zu versichern, dass wir wirklich für immer zusammen sein konnten. Für immer. Ich konnte mir nicht einmal eine grobe Vorstellung davon machen, wie lange das sein mochte. Ich spürte Kians Blick mehr, als dass ich ihn im Halbdunkel des Cafés sehen konnte. Seine Lippen kräuselten sich zu einem sanften, aufmunternden Lächeln. Er wusste, was in mir vorging, auch ohne dass ich es ihm sagen musste. Ich wusste, dass er es wusste. Und er wusste, dass ich wusste, dass er es wusste. „Mach dir nicht so viele Gedanken“, sagte er leise, doch ich hörte kaum zu. Noch einmal zog ich ihn an mich, drückte mein Gesicht in die Beuge zwischen seinem Hals und seiner Schulter, sog seinen Geruch in mich ein. Meine Hüfte presste sich gegen seine, während meine Hände unter den Saum seines Pullovers krochen. Es war mir gleich, dass er nach Terpentin stank. Ich wollte mich seiner versichern; ich wollte ihn. Jetzt. Hier. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, er würde sich mir entziehen, doch dann gab er nach, lehnte sich an mich, schloss die Augen, während meine Hand die nackte Haut an seinem Rücken entlang strich. Ich konnte den Puls seiner Halsschlagader spüren. Immer schneller und schneller pochte er gegen meine Lippen. Meine Zunge glitt über seine Haut. Das Blut rauschte in meinen Ohren, erstickte alle Geräusche um mich her … Plötzlich fasste Kian mich bei den Schultern und drückte mich von sich. Verständnislos tasteten meine Augen im Halbdunkel über sein Gesicht, suchten nach einer Spur von Widerwillen, nach irgendeiner Erklärung, doch da war nichts. „Was ist los?“, fragte ich mit heiserer Stimme und Kian ruckte leicht mit dem Kopf in Richtung Tresen. „Das Telefon.“ Da hörte ich es auch. Eine schrille, durchdringende Melodie, die sich nach zwei kurzen Takten wiederholte. Kian strich sich eine Strähne seines weißblonden Haars aus dem Gesicht – dann eilte er hinüber zum Tresen und nahm das schnurlose Telefon von der Station. „Colors, Kaffee und mehr. Was kann ich für Sie tun? … Ah, ja. Ja. … Ja, da kann man nichts machen. Ja … Danke für den Anruf.“ Ein leises Piepen kommentierte das erneute Andocken des Telefons an der Ladestation. Noch einige Sekunden länger starrte Kian auf das kleine Gerät, dessen grünlich beleuchtetes Display schließlich erlosch. Dann erst wandte er sich wieder zu mir um. „Die Autorin für die Lesung heute Abend hat gerade abgesagt.“ Ich ballte die Hände zu Fäusten, bis meine Fingernägel in meine Handflächen schnitten. Das musste ein Alptraum sein. „Hat sie gesagt warum?“ „Ihr ist was dazwischen gekommen.“ Ich musste Kian nicht einmal in die Augen sehen, um zu wissen, dass er genauso wenig daran glaubte wie ich. Wahrscheinlich hatte man sie eingeschüchtert. Oder sie war zu dem Schluss gekommen, dass eine Lesung in unserem Café ihrem Image nicht gerade zuträglich wäre. So oder so – es lief auf dasselbe hinaus. Irgendwann hatte es sich etabliert, dass wir das Colors jeden zweiten Montag im Monat außerhalb der regulären Öffnungszeiten für eine Lesung öffneten. Wir hatten für den Abend heute Reservierungen angenommen und waren fast komplett ausgebucht. Es wäre schlimm genug gewesen, allen Gästen absagen zu müssen, aber wir hatten ja nicht einmal ihre Telefonnummern notiert. Wie automatisch zog ich mein Handy aus der hinteren Hosentasche und warf einen kurzen Blick auf das Display. Es war schon beinahe Nachmittag. „Was sollen wir jetzt machen?“, fragte ich mehr an mich selbst, denn an Kian gewandt, doch das hielt Kian nicht davon ab, mir trotzdem zu antworten. „Wir könnten versuchen, einen Ersatz zu finden.“ „So kurzfristig?“ Zwischen Kians Augenbrauen bildete sich eine winzige Falte. Trotz des dämmrigen Lichts konnte ich sie ganz deutlich erkennen. „Vielleicht über Facebook.“ Die Idee war nicht schlecht. So konnten wir auch gleichzeitig unsere Gäste über die Planänderung informieren – oder jedenfalls den Teil davon, der auf Facebook angemeldet war. Also nickte ich. Kians Lippen kräuselten sich zu seinem typischen, sanften Lächeln. Ich konnte spüren, wie seine Zuversicht auf mich übersprang. Vielleicht war dieser Abend noch nicht verloren. Ohne noch mehr Zeit zu verschwenden, aktivierte ich noch einmal das Display meines Handys und tippte einen kurzen Beitrag für unsere Facebook-Seite, den ich dann auch auf meiner privaten Chronik teilte. Einige Sekunden lang starrte ich auf das leere Kommentarfeld – dann gab ich es auf. Wir würden ein wenig Geduld haben müssen. „Ich kümmere mich dann mal weiter um die Scheibe“, sagte Kian in diesem Augenblick und nickte in Richtung des Schaufensters. Er hatte Recht. Wir konnten nicht mit den Vorbereitungen warten, bis sich jemand auf den Beitrag hin meldete. Bis zum geplanten Veranstaltungsbeginn blieben uns kaum mehr drei Stunden Zeit. „Dann geh ich mal in die Küche“, gab ich zurück und endlich fand meine Hand den Weg zum Lichtschalter. Die Glühbirnen in den tief über den kleinen Tischen hängenden bunten Schirmlampen leuchteten auf und tauchten den Gastraum in warmes, gelbes Licht. Kian würde später durchwischen und eindecken. Der Gastraum war von Anfang an sein Hoheitsgebiet gewesen, während ich für meinen Teil es eher vorzog, mich hinter den Kulissen zu verstecken. Ich war mir sicher, dass Kian einer der Gründe war, wieso das Colors von Anfang an so gut angelaufen war. Er strahlte diese ganz bestimmte Mischung aus Zurückhaltung und Herzlichkeit aus, die das Colors zu so einem warmen, freundlichen Ort machte. Gedankenverloren bückte ich mich nach den Gemüsekisten neben dem Eingang und trug sie in die kleine Küche hinüber, die sich vor den Blicken der Gäste verborgen hinter einer Tür an der Rückseite des Tresens versteckte. Ich hatte beim Großhändler frischen grünen Spargel entdeckt und mich spontan dazu entschlossen, unseren Gästen heute Abend eine saisonale Minestrone zu servieren. Während ich Zwiebeln, Möhren, Fenchel, Tomaten und natürlich auch den Spargel in feine Würfel schnitt, warf ich immer wieder einen kurzen Blick auf das Display meines Handys, das ich eine gute Armlänge von mir entfernt auf der Anrichte abgelegt hatte. Nach und nach trudelten die ersten Kommentare ein. Enttäuschte und entrüstete Stimmen über die kurzfristige Absage der Autorin. Doch niemand, der anbot, ihren Platz einzunehmen. Mein Messer glitt durch das Gemüse wie die Klinge eines geschliffenen Schwerts. Ich musste noch einmal an die Botschaft an der Scheibe denken. Auch die Sympathiebekundungen auf Facebook konnten sie nicht fortwischen. Kian hatte gewusst, dass es mich nicht loslassen würde – das war der Grund, wieso er versucht hatte, es vor mir zu verbergen. Da draußen gab es Menschen, die uns aus tiefstem Herzen verachteten. Uns und unseren Traum. Natürlich hätte ich es niemals zugegeben, aber es war mir nicht gleichgültig, was andere Menschen über mich dachten. Ich konnte ihren Hass beinahe körperlich spüren. Dabei wollten wir doch einfach nur so sein wie wir waren; dabei hatten wir doch nie irgendjemandem etwas getan … „Hat sich schon jemand gemeldet?“ Kians Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Er ging hinter mir vorbei hinüber zum Spülbecken, wo er sich den Terpentingeruch mit Seife und Bürste von den Händen schruppte. Resigniert schüttelte ich den Kopf. Natürlich konnte Kian die Geste nicht sehen, während er auf seine Hände unter dem Wasserstrahl hinab starrte, doch er wusste auch so, was mein Schweigen bedeutete. Kian nahm sich die Zeit, seine Fingernägel ausgiebig zu bürsten, bevor er den Hahn abdrehte und seine Hände an einem der Küchenhandtücher trocken rieb, das er sich daraufhin über die Schulter warf, um es später in die Wäsche zu geben. Dann erst wandte er sich langsam wieder zu mir um. Einen kurzen Augenblick lang tasteten seine hellblauen Augen mein Gesicht ab – dann öffneten sich zögerlich seine Lippen: „Ich könnte lesen.“ Als hätte jemand meinen Muskeln den Strom abgedreht, hielt mein Messer mitten in der Bewegung inne. Ich musste an das türkise Notizbuch denken, das Kian beinahe jeden Tag mit sich herum trug. Er hatte noch nie etwas veröffentlicht – ja er hatte es nicht einmal zugelassen, dass ich einen Blick auf die Seiten im Inneren des Büchleins erhaschte. Doch er schien es sich gut überlegt zu haben, während seine Hand immer und immer wieder mit dem Schwamm über die Rückstände der roten Farbe an der Schaufensterscheibe geschrubbt hatte. „Bist du sicher, dass du das willst?“, fragte ich leise, und Kian nickte. Seine Entschlossenheit ließ mich erschaudern. Er war wie ein Fels in der Brandung: fest und unumstößlich. Wahrscheinlich hatte ich seinen Schutz nicht verdient, doch ich konnte einfach nicht umhin, mich auf ihn zu verlassen. Wie oft hatte er mich schon gerettet, wenn ich kurz vor dem Ertrinken gewesen war? Ein Blick in seine Augen genügte, um zu wissen, dass der Weg, den er mir zeigte, auch dieses Mal der richtige war. Die Stunden vergingen wie ein einziger Wimpernschlag. Ehe ich es recht begreifen konnte, waren die kleinen Tische des Gastraums voll besetzt. Ich hatte mir eine schwarze Schürze um die Hüften gebunden und schwärmte wie eine Biene von einem Tisch zum nächsten, um Getränke zu servieren und Bestellungen aufzunehmen. Ich half nur selten im Gastraum aus, doch heute war mir wohl oder übel nichts anderes übrig geblieben. Die Küche und gleichzeitig die Gäste zu betreuen, war eine echte Herausforderung. Glücklicherweise war mein Mise en place formidabel, sodass ich mich hauptsächlich auf das Bedienen konzentrieren konnte. Und zu meiner Überraschung schienen die meisten Gäste trotz meiner mangelnden Erfahrung im Service mehr oder minder zufrieden mit mir. Kian hatte in dem großen Ohrensessel am Fenster Platz genommen, der den Autoren unserer Lesungen vorbehalten war. Die kleine Lampe auf dem hölzernen Beistelltischchen schnitt scharfe Schatten in sein Gesicht. Trotzdem konnte ich die leichte Röte sehen, die sich auf seine Wangen geschlichen hatte. Seine Brust hob und senkte sich langsam, so als versuchte er, tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen. Ich wünschte ihm allen Mut und alles Glück dieser Welt. Als Kian schließlich zu lesen begann, war seine Stimme so leise, dass sie beinahe vom Klappern der Löffel in den halb geleerten Tellern Minestrone verschluckt wurde. Ich hielt einen Augenblick inne, um zu lauschen – und ich war nicht der einzige. Überall im Raum verstummten die Gespräche. Löffel wurden zur Seite gelegt, Gläser abgestellt, bis es vollkommen still war. Gedichte. Ich konnte die tiefe Sehnsucht spüren, die daraus hervor sickerte, die Verzweiflung, die Begeisterung. Mit jedem Luftzug, den ich tat, strömten Kians Worte in meine Lungen, bis sie mich vollkommen ausfüllten. Ich hatte nicht gewusst, dass er so lyrisch sein konnte. Er war wie ein Vogel hoch oben am Himmel. Jedes Mal, wenn seine Flügel die Wolken streiften, verwandelten sie sich in Tiere, in Schiffe, in Burgen; lebendiger und schöner als in jeder meiner Tragträumereien. Nie zuvor hatte ich etwas Ähnliches gefühlt … Als Kians Stimme schließlich verstummte, hinterließ sie eine merkwürdige Leerstelle im Klanggefüge des Raumes. Es war wie das Erwachen aus einem Traum. Überrascht ruckte mein Kopf nach oben; meine Blicke huschten hektisch durch den Gastraum – doch da war niemand, der wütend nach mir winkte, um eine Bestellung aufzugeben oder die Rechnung zu verlangen. Das Publikum saß einfach nur da, die Blicke fest auf Kian geheftet, der langsam den Kopf senkte und das türkise Notizbuch, aus dem er gelesen hatte, zuschlug. Zögerlich stand er auf. Er wankte leicht, als wollten seine Beine ihn nicht tragen. Dann begann es. Erst leise, in einer der hinteren Ecken des Raumes, dann zunehmend lauter. Immer schneller breitete es sich aus, bis es jeden Winkel des Gastraums ausfüllte. Der Applaus rieselte auf uns hinab wie ein lauer Sommerregen. Sanft und warm. Ich konnte das Funkeln in den Augen der Gäste sehen, das Lächeln auf ihren Lippen. Das hier war unsere Welt. Die Welt, in der wir unsere Träume mit anderen teilten, in der jeder sein konnte, wer er sein wollte. Wir hatten die Kraft, sie zu beschützen, mit unseren eigenen Händen, mit unseren Herzen. Wenn wir nur stark genug waren, wenn wir nur fest genug daran glaubten, würde es uns gelingen. Und während ich das dachte, konnte der Hass der Bewohner der anderen, fremden Welt da draußen vor dem Fenster mich zum ersten Mal in meinem Leben nicht mehr berühren. Es war bereits kurz vor Mitternacht, als alle Gäste das Colors verlassen hatten und wir das gröbste Durcheinander, das ich in meiner Unbeholfenheit hinter dem Tresen angerichtet hatte, beseitigt hatten. Ich konnte Kian leise seufzen hören, während er sich auf seinen Besen stützte. Er wirkte müde, aber deshalb nicht weniger glücklich. Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu, legte ihm mein Geschirrtuch um den Nacken und zog ihn näher an mich heran. „Du warst großartig“, sagte ich sanft, den Blick fest in seine blauen Augen gerichtet. Dann küsste ich ihn. Dieses Mal war er es, der meine Lippen mit der Zunge teilte. Seine Hand klammerte sich an meine Schulter und ich konnte spüren, wie er sich an mich lehnte. Es war, als wollte er mir sein Gewicht zu tragen geben, als hätte er endlich den Mut, eine schwere Last, die er schon lange mit sich herum trug, mit mir zu teilen. Mit einem Mal konnte ich meinen eigenen Herzschlag hören. Langsam, dröhnend wie der stetige Klang einer Trommel, der meinen Körper beben ließ. Es war seltsam. Seit ich Kian zum ersten Mal begegnet war, hatte ich ständig in der Angst gelebt, von ihm getrennt zu werden. Ich hatte es deutlich gespürt, jedes Mal, wenn ich ihm nahe war, wenn meine Fingerspitzen seine Haut berührten, von ihr abprallten als wäre sie aus Glas. Nie zuvor war Kian mir so nackt erschienen, so unmittelbar. Ich wollte ihn nicht, um mich seiner zu versichern. Ich brauchte ihn, um vollständig zu sein. Plötzlich zerschnitt ein helles Klingeln Luft. Das Glöckchen über der Tür … Reflexartig befreite ich mich aus Kians Armen und wandte mich um. „Wir haben schon geschlossen“, sagte ich wie automatisch. Dann erst fokussierten meine Augen den Eingangsbereich – und mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Der Mann, der dort neben der Tür stand, war kein einfacher Nachtschwärmer, der sich verlaufen hatte. Ich konnte nicht einmal genau sagen, ob er tatsächlich ein Mann war. Er trug einen schwarzen Pullover, dessen Kapuze er sich über den Kopf gezogen hatte, während Mund und Nase hinter einem schwarzen Dreieckstuch verborgen waren, sodass ich nur die Partie um die Augen herum ausmachen konnte. Sein Blick war kalt wie Eis. Und er war nicht allein. Nacheinander marschierten drei weitere Gestalten in den Gastraum. Dieselben Pullover, dieselben Tücher. Einer von ihnen wog einen Baseballschläger in den Händen. Instinktiv schob ich Kian hinter mich. Die Aggressivität, die von den Männern ausging, ließ mich erschaudern. Wie automatisch wanderte mein Blick an den Gestalten hinab bis zu ihren schwarzen Stiefeln. Weiße Schnürsenkel … „Hey, ihr Schwuchteln, ihr seid ja immer noch hier. Ich dachte, wir hätten uns klar genug ausgedrückt. Sowas wie euch brauchen wir hier nicht“, blaffte der Typ mit dem Baseballschläger uns an. Er war ein wenig untersetzt, einen halben Kopf kleiner als seine Kumpane vielleicht, aber immer noch groß genug, um mir in die Augen zu sehen, ohne das Kinn anheben zu müssen. Meine Hände zitterten und ich schob sie in die Taschen meiner Jeans, um es zu verbergen. Das Colors hatte keinen Hinterausgang, also führte unser einziger Fluchtweg durch die Tür im Rücken der Gang. Ich konnte spüren, wie Kians Hand sich von hinten in meinen Pullover krallte. Auch ohne sein Gesicht zu sehen, wusste ich, dass er dasselbe dachte wie ich: Wenn wir Schwäche zeigten, waren wir Beute. Ich ballte die Hände zu Fäusten und kratzte all meinen Mut zusammen, drängte das nervöse Flattern meines Herzens an den Rand meiner Wahrnehmung zurück. Dann schenkte ich den Eindringlingen den herablassendsten Blick, den ich zustande brachte. „Ihr seid also die Typen, die unsere Scheibe beschmiert haben“, schmetterte ich ihnen entgegen. „Nur zu eurer Information: Wir zeigen euch wegen Sachbeschädigung und Nötigung an. Und wenn ihr nicht auf der Stelle verschwindet, kommt noch eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch oben drauf.“ Einen kurzen Augenblick lang war es vollkommen still. Meine Stimme verklang im Raum ohne jeden Widerhall, beinahe so als hätte die aggressive Atmosphäre sie vollständig verschluckt. Dann plötzlich begann der Typ mit dem Baseballschläger bellend zu lachen. Die anderen fielen ein. Ein Klang wie das Jaulen eines Rudels ausgehungerter, tollwütiger Hunde. „Habt ihr gehört? Er zeigt uns an“, äffte der Typ, der offenbar ihr Anführer war, mich nach. „Mal sehen, ob morgen früh noch genug von ihm übrig ist, um zu den Bullen zu rennen.“ Der Baseballschläger sauste auf uns nieder, ehe wir es überhaupt begreifen konnten. Instinktiv stoben Kian und ich auseinander. Mit einem hässlichen Geräusch schlug der Schläger auf dem Tresen hinter uns auf, doch das massive Holz hielt dem Aufprall stand. Die Augen des Anführers blitzten. „Haltet euch für zwei große Helden, was? Die Nummer läuft bei uns nicht“, bellte er, während er Kian in eine Ecke drängte. Seine freie Hand packte Kian am Kinn. „Wer von euch beiden ist wohl die Frau? Du?“ Kian bebte. Ich wusste, dass er die Kiefer zusammenpresste, um nicht vor Wut zu schreien. „Wahrscheinlich sind beide Frauen“, grunzte einer der Kumpane nahe des Eingangs und die anderen lachten. Sie waren so sehr mit ihren stupiden Blödeleien beschäftigt, dass keiner von ihnen bemerkte, wie ich vorsichtig mein Handy aus meiner hinteren Hosentasche fischte. Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren. Wenn es mir gelingen würde, unauffällig Hilfe zu rufen, hätten wir gewonnen. Aber wenn nicht … Ganz langsam drehte mich ein Stück nach rechts, um zwischen meiner Hüfte und dem Tresen einen kurzen Blick auf das Display meines Handys zu erhaschen. Keine Tasten, kein Druckpunkt. Ich musste die Ziffern sehen, um die richtige Nummer zu wählen. 110 Ich wartete. Einen Herzschlag lang, zwei. Ob schon jemand abgenommen hatte? Um zu telefonieren, musste ich das Handy ans Ohr nehmen … Ich warf Kian einen hilfesuchenden Blick zu, doch er schüttelte den Kopf. Ein kleines Ablenkungsmanöver hätte mir vielleicht genügend Zeit für das Telefonat verschaffen können. Vielleicht. Und wenn nicht?, fragten Kians Augen. Ich ballte die freie Hand zur Faust. Ich musste es einfach versuchen. Ganz langsam hob ich das Handy an mein Ohr. Im Augenwinkel konnte ich sehen, wie Kian noch einmal den Kopf schüttelte. „Was is denn mit dem los? Platte gesprungen?“ „Alter, der andere hat ‘n Handy!“ Verdammt, verdammt! So schnell ich konnte versuchte ich, das Handy zurück in meine Hosentasche zu schieben, doch die Typen waren schneller. Eine Faust traf mich in den Bauch, presste alle Luft aus meinen Lungen. Reflexartig krümmte sich mein Körper zusammen. Der Schmerz ließ Sterne vor meinen Augen tanzen. Ich spürte kaum wie eine zweite Faust mir das Handy aus der Hand schlug. Es prallte mit einem hässlichen Knirschen auf dem Boden auf. Das Display war gesprungen. Ich konnte Kian schreien hören, doch seine Worte drangen nicht zu mir durch. Es war dieser Augenblick, in dem ich wusste, dass wir verloren hatten. „Nehmt die ganze Scheißbude auseinander!“ Jemand drehte mir die Arme auf den Rücken und hielt mich so fest gepackt, dass es schmerzte. Die schwarzen Gestalten um mich her verschwammen vor meinen Augen zu schemenhaften Silhouetten. Tische wurden umgestoßen, Stühle zersplitterten, Lampen wurden aus der Decke gerissen. Mit einem ohrenbetäubenden Klirren zersplitterten die Glühbirnen unter der Wucht der aufprallenden Baseballschläger. Der Lärm musste in der halben Straßen zu hören sein – doch hinter den Fensterscheiben der umliegenden Wohnhäuser, die ich durch die Schaufensterscheibe hindurch ausmachen konnte, blieb es dunkel. Niemand kam, um uns zu helfen. Eine große, breitschultrige Gestalt trat neben mich. Er hatte seinen Pullover abgestreift und ihn um die Hüfte gebunden. Seine nackten Oberarme waren von Tätowierungen bedeckt. Runen und Zeichen, die ich nicht verstand. Sie brannten sich in meine Netzhaut ein. Ein gefrorener Augenblick, ein Bruchstück aus dem Auge eines tosenden Sturms. Jede Sekunde erwartete ich den Schmerz. Einen neuen Schlag in die Magengegend, ins Gesicht vielleicht – doch nichts geschah. Die Pranken des Runenmanns schlossen sich um das türkise Notizbuch, das auf dem Tresen neben mir gelegen hatte. Etwas blitzte. Weißblondes Haar. Kian packte den Unterarm des Runenmanns mit beiden Händen und riss ihn zurück. Ich hatte nicht einmal gesehen, wie er sich aus dem Griff des Anführers befreit hatte. „Fass das nicht an!“, schrie er, doch der Runenmann lachte nur. Ein kaltes, freudloses Lachen. Er schlug das Notizbuch auf, blätterte spielerisch durch die Seiten. Kian versuchte, es ihm zu entreißen, während er noch immer den massigen Arm umklammert hielt, doch er konnte es nicht erreichen. „Gehört das etwa dir? Das tut mir jetzt aber leid.“ Das hässliche Geräusch von reißendem Papier fuhr mir durch Mark und Bein. Der Runenmann hatte begonnen, bogenweise Seiten aus dem Notizbuch zu reißen. Vier, acht, sechzehn, immer weiter, immer weiter. Kian schrie. Es war kein wütender Schrei, keiner der Sorte, die nach Vergeltung dürsten – es war ein Schrei von körperlichem Schmerz. Er schlug in mir eine Saite an, von der ich nicht gewusst hatte, dass sie existierte, füllte meinen ganzen Körper mit ihrem Klang, von den Fingerspitzen bis zu den Zehen: laut und schrill und voller Entsetzen. Ich konnte Kians Augen funkeln sehen. Die Augen eines verletzten Tiers, das um sein Leben kämpft. Seine Hände krampften sich fester um den Arm des Runenmanns. Dann versetzte er ihm mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, einen Tritt in die Kniekehle. Der Runenmann jaulte, schrill und hoch wie ein getretener Hund. Das Notizbuch entglitt dem Griff seiner Pranken, schlug im Tumult wie geräuschlos auf dem Boden auf. Kian streckte den Arm danach aus, wollte es packen, es festhalten – doch seine Hand sollte es nie erreichen. Arme packten ihn von hinten bei den Schultern, rissen ihn herum. Eine Faust schlug nach seinem Gesicht, doch Kian taumelte rückwärts und entging dem vernichtenden Hieb um Haaresbreite. „Verdammte scheiß Schwuchtel!“ Zwei Hände prallten gegen Kians Brust und stießen ihn zurück. Die Wucht des Aufpralls hob Kian beinahe von den Füßen. Er versuchte, sich zu fangen, doch auf dem von Trümmern bedeckten Boden fanden seine Füße keinen Halt. Ich konnte sehen, wie sein Körper eine seitliche Drehung vollführte, aus dem Gleichgewicht geriet, taumelte, stürzte. Immer weiter, immer weiter auf die Schaufensterscheibe zu. Mit einem Mal sah ich alles wie in Zeitlupe. Unzählige winzige Scherben wirbelten durch die Luft, reflektierten den Schein der verbliebenen Lampen, die Gesichter der Meute, tausende und abertausende Male gebrochen wie in den Facettenaugen eines Insekts. Einen kurzen Augenblick lang schien Kian zu schweben. Zerbrochen, ein Fragment, die Augen weit aufgerissen. Doch ich sah nicht mehr, wie er auf dem Boden aufschlug. Mein Instinkt, hatte die Kontrolle über meinen Körper übernommen. Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, versetzte ich dem Typen, der mich gepackt hielt, eine Kopfnuss gegen sein Kinn. Ich konnte hören, wie sein Unterkiefer knirschte, doch der Schmerz, der durch meine Schädeldecke hätte hämmern sollen, blieb aus. Der Griff um meine Handgelenke löste sich und ich war frei. Meine Augen fixierten die Tür. Dann rannte ich. Mit der Schulter stieß ich ein oder zwei der Gestalten auf meinem Weg zur Seite. Sie waren zu überrascht, um zu versuchen, mich aufzuhalten. Meine Hand schloss sich um den metallischen Türgriff. Das Glöckchen an der Decke schrillte. Dann stürzte ich auf den Gehsteig hinaus. Kian lag auf der Seite, die Knie angezogen wie ein Kind, umgeben von einem Meer aus Scherben. Ich ließ mich neben ihm auf den Boden sinken. Splitter bohrten sich durch den Stoff meiner Hose, schnitten in meine Haut, doch ich spürte es kaum. Mein Herz schrie. Es schrie so laut, dass es alles andere übertönte. Vorsichtig drehte ich Kian auf den Rücken. Er sah mich an, der Blick verschwommen. Aus seiner Schulter sickerte Blut. Immer weiter, immer weiter. Es wollte einfach nicht aufhören. „Das ist nicht so schlimm“, sagte er leise. Seine Stimme kratzte in seiner Kehle. Ich musste eine Sekunde lang die Augen zukneifen, um nicht völlig den Verstand zu verlieren. „Sag das nicht“, brachte ich hervor; meine Stimme genauso schwach wie seine. Ich streifte mir mein Sweatshirt über den Kopf, presste es zu einer Kugel zusammen und drückte es auf seine Wunde, doch es blutete einfach weiter. Meine Sicht verschwamm. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Mit jeder Sekunde, die verstrich, zerfiel die Welt, die ich kannte, mehr zu Staub. Was sollte ich tun, wenn am Ende nichts mehr davon übrig war? Was sollte ich tun in einer Welt, in der Kian nicht mehr existierte? Hinter mir hörte ich noch einmal das Türglöckchen schrillen. Dann Schritte. Die Schritte vieler Paar Füße. Reflexartig riss ich meinen Oberkörper herum. Da standen sie. Drei Lakaien im Halbrund um ihren untersetzten Anführer, dessen Baseballschläger an seine Hand angewachsen zu sein schien. Nacheinander starrte ich in all ihre verhüllten Gesichter, in ihre Augen, die kalt auf uns hinabzulächeln schienen. „Verpisst euch!“, schrie ich. Ich war wie ein Spiegel. Ein Spiegel, der all ihren Hass in sich aufsog, um ihn auf sie zurückzuwerfen. Ich wusste nicht, wie viel von mir selbst darunter noch übrig war. Sollten sie sich doch alles nehmen. Die Möbel, das Geld aus der Kasse, unseren Traum. Aber Kian würde ich ihnen nicht überlassen. Kian nicht. Eine Sekunde lang schien die Meute irritiert, verunsichert. Dann begannen sie zu lachen. Schallend, demütigend, entblößend. Sie waren viele. Wir waren allein. Der Anführer wog seinen Baseballschläger in den Händen. Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, war ich sicher, dass er bis zu den Ohren grinste. Er hatte Spaß an unserer Gegenwehr. Er liebte es, seine Beute zu jagen, bevor er sie in Stücke riss. Wie beiläufig schwang er den Schläger über seine linke Schulter. Dieses Mal würde er auf meinen Kopf zielen. Dieses Mal hatte er genug von mir. Reflexartig kniff ich die Augen zusammen – doch der erwartete Schmerz blieb aus. Überrascht blinzelte ich. Die Gestalten um mich her hatten begonnen, sich zu zerstreuen. Immer wieder sahen sie sich nach allen Richtungen um. Sie erinnerten mich an Tiere, die von einem Waldbrand eingekesselt worden waren. Und dann hörte ich es. Noch fern und leise, aber doch unverkennbar. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde es lauter. Das Heulen von Sirenen. „Wir hauen ab!“, stieß der Anführer mit dem Baseballschläger endlich hervor und rannte voraus in eine Seitenstraße, tiefer in die kleinen Gassen des Viertels hinein, fort von der Hauptstraße. Die drei anderen Männer folgten ihm. Ich starrte ihnen nach, auch dann noch, als ihre schwarzen Kapuzenpullover längst schon aus meinem Blickfeld verschwunden waren. Ich wusste, ich hätte erleichtert sein müssen, doch meine Brust war vollkommen leer. Mit einem Mal berührte etwas meine Hand. Kian. Seine Finger waren so schrecklich kalt. Mein Blick wanderte von seiner Hand den unverletzten Arm hinauf bis hin zu seinem Gesicht. Seine Augen waren noch immer so strahlend blau wie ich sie in Erinnerung hatte. Und doch waren sie nicht mehr dieselben. Ein dunkler Schatten hatte sich in ihre Iris geschlichen. Keine Farbe. Ein Gefühl. Und während ich versuchte, ihn mit meinen Blicken zu durchdringen, wusste ich, dass Kian dasselbe dachte wie ich. Wir hatten verloren. Epilog: -------- Wir stehen am Fenster. Er hat die Hände flach gegen die Scheibe gepresst und spät zum Himmel hinauf. Vor uns dreht eine große Maschine auf dem Rollfeld. Boeing 737-900. Ich rufe die Typbezeichnung aus dem Gedächtnis ab wie eine Vokabel. „Das ist unsers, oder?“ Seine Stimme klingt gepresst, kratzt trocken in seiner Kehle. Wir haben unser ganzes Erspartes zusammengekratzt für diesen Augenblick. Es reicht nicht für den Rückflug. „Wenn ich ein Löwe wär“, sagt er plötzlich, den Blick zum ersten Mal seit wir die Sicherheitskontrolle passiert haben wieder auf mein Gesicht geheftet, „dann würde ich kämpfen für das, woran ich glaube.“ „Wenn wir Vögel wären“, gebe ich leise zurück, „dann wären wir frei.“ „Willst du ein Vogel oder ein Löwe sein?“ Sein Blick durchbohrt mich. Ich spüre den Schmerz in meiner Brust wie den eines gut gezielten Pfeils. Blut rauscht in meinen Ohren, verschlingt die von der hohen Decke der Halle widerhallenden Stimmen und Lautsprecherdurchsagen. „Die Passagiere für den Flug LH4857 werden gebeten, sich beim Gate einzufinden. Ich wiederhole: Die Passagiere für den Flug LH4857 …“ Ich nehme seine Hand. Seine Finger sind kalt wie Eis und doch kann ich seine Wärme spüren. Diese Wärme, die nur er mir geben kann; diese Wärme, die nur wir miteinander teilen. Ich kann den Abgrund sehen, der sich vor uns auftut – tief und schwarz und unergründlich – und mein Herz zieht sich zusammen. Wenn wir Vögel wären, könnten wir darüber hinweg schweben. Nichts dort unten am Boden ginge uns je wieder etwas an. Wir könnten davon fliegen, alles aufgeben, frei sein – wir könnten Feiglinge sein für den Rest unseres Lebens. „Lass uns gehen“, höre ich mich sagen, irgendwo ganz weit entfernt. Er lächelt mich an. Sein schönstes, mildestes Lächeln. Ich kann sehen, wie die Boeing hinter der Scheibe ans Gate andockt. Die Anzeigetafel über dem Schalter springt auf „Boarding“. Wir kehren ihr den Rücken zu. Weil wir Löwen sind, beginnt heute unser Kampf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)