Freak von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 6: ----------- „Jetzt konzentrier dich!“ Er hatte die Worte nicht aussprechen wollen, hatte sie lediglich denken wollen, und seine Stimme war auch kaum mehr als ein Flüstern gewesen. Dennoch hatte Alva ihn gehört. Und wieder spürte Victor eine Hand auf seiner Kehle. „Was hast du gesagt?“, fragte Alva, er klang gleichzeitig aggressiv und seltsam entrückt. Mit zusammengekniffenen Augen beugte er sich vor, was Victor einen Blick auf seine halb heruntergezogene Hose ermöglichte. Victor antwortete er nicht. Er hätte es auch gar nicht gekonnt, denn Alvas Griff um seine Kehle war derart fest, dass bereits schwarze Punkte vor seinen Augen zu tanzen begannen. Aber er durfte nicht noch einmal bewusstlos werden. Er musste sich konzentrieren. Konzentrieren auf die einzige Möglichkeit, die er gegenwärtig hatte, um sich gegen seinen zugedröhnten, ihm körperlich bei weitem überlegenden, aggressiven und durchgeknallten Angreifer zu wehren… Die einzige Möglichkeit. Und nur dann, wenn er es richtig anstellte. Die einzige Möglichkeit, die einzige Chance. Der Griff um seine Kehle lockerte sich etwas, anscheinend hatte Alva registriert, dass er keine Antwort von jemandem bekommen würde, der grade dabei war zu ersticken. „Was du gesagt hast, habe ich gefragt“, murmelte er, nun wieder in diesem widerwärtigen, sanften Tonfall, und gerne hätte Victor ihm einfach ins Gesicht gespuckt. Aber das wäre ein Fehler gewesen. Er hatte etwas Besseres. Wenn er es nur schaffte, richtig… Seine rechte Hand lag nun neben seiner Hüfte, noch immer den Stock umklammernd. Er war wirklich morsch, zu morsch vielleicht, vielleicht war das alles eine absolut sinnlose Hoffnung, ein Lichtblick, der bloß durch pure Verzweiflung zustande kam, in Wahrheit absolut irrational war… „Hör auf“, versuchte er, sich zu beruhigen, doch selbst seine Gedanken klangen nervös, das war nicht hilfreich. Langsam, ganz langsam, hob er den Arm, den Stock dabei so in der Hand haltend, dass Alva ihn nicht sehen konnte. Wie gut könnte er schon zielen, mit rechts? Das war sinnlos, das war vollkommen… „Wenn ich dir eine Frage stelle, dann ist das der einzige Moment, in dem zu zu reden HAST!“ Paradoxerweise war es nun Alvas Stimme, die Victor davon anhielt, endgültig in Panik zu geraten. Alva, in dessen Augen ein irres Funkeln lag, beugte sich noch ein Stück vor, und das war, zum ersten Mal, etwas Gutes. Gradezu erwartungsvoll starrte er Victor an, mit einem Blick, der gradezu zu schreien schien: „Antworte! Antworte, du wertloses Stück Dreck! Antworte! Antworte!“ „Ich sagte“, erwiderte Victor, und er war selbst überrascht, wie fest seine Stimme klang. Keine Spur eines Zitterns, kein Anzeichen von Angst. Oh, er HATTE Angst, aber zumindest konnte Alva das nicht hören. Dennoch fehlte ihm für einen Augenblick der Atem, es war, als läge irgendetwas schweres auf seiner Lunge, das zu sprechen unendlich schwierig machte. Er konzentrierte sich auf den Stock, drehte ihn langsam in seiner Hand. Allmählich schwand das Gefühl von Gewicht, sein Atem ging wieder leichter. Also sprach er weiter, darauf bedacht, Alva direkt anzusehen, um den von dem abzulenken, was er grade tat: „Ich habe gesagt, dass du mich nicht anfassen sollst! Tu das nie, NIE wieder!“ Mit Sicherheit hätte Alva auch darauf entweder mit Verblüffung oder aber mit noch stärkerem Zorn reagiert. Vielleicht hätte er wieder angefangen, Victor zu würgen, vielleicht hätte er ihm erneut ins Gesicht geschlagen, vielleicht hätte er auch wieder sein Messer zum Vorschein gebracht. All diese Optionen blitzten innerhalb von Sekundenbruchteilen in Victors Kopf auf, doch keine von ihnen hatte eine Bedeutung, keine von ihnen war derart intensiv, dass sie ihn innehalten ließ in dem was er tat. Dafür ging alles zu schnell. Sein rechter Arm zuckte nach oben, und in der Bewegung schob Victor den Stock weiter nach vorne, zwischen Zeige- und Mittelfinger hindurch, ohne dabei den Blick von Alva zu lenken, von seinem Gesicht und von der Stelle, auf die er zielte. Dass er wirklich traf, überraschte ihn selbst. Es gab ein seltsam matschiges Geräusch, als die Spitze des Stockes auf Alvas Augapfel traf, zuerst die Hornhaut und dann die Iris durchbohrte, gefolgt von den dahinter liegenden Fasern tiefer in den Glaskörper. Der Widerstand war nicht wirklich stark, dennoch fiel es Victor schwer, seinen Griff und den Druck zu halten, seine Position war suboptimal, verdreht, und sein Arm begann bereits zu zittern… Dennoch hätte er wahrscheinlich weitergedrückt, so lange vielleicht, bis der Stock so tief in Alvas Schädel gedrungen wäre, dass er sein Gehirn verletzt hätte. Bis er tot umgekippt wäre. Das wäre keine bewusste Handlung gewesen, in diesem Augenblick war Victor nur bedingt bewusst, was er eigentlich tat, aber leid getan hätte es ihm im Nachhinein wohl sicher nicht. Alva hätte umgekehrt wohl kaum gezögert, seinen Gegenüber abzustechen, wenn auch erst, nachdem er sich genug mit ihm vergnügt gehabt hätte. Nein, das hier war nichts, was Victor in irgendeiner Weise leid tat. Irgendein Teil seines Verstandes, ganz tief hinten in seinem Kopf, schien zwar zu protestieren, ihm zu sagen, dass das nicht richtig war, doch dieser Teil war unbedeutend, leicht zu ignorieren. Aber der Stock brach. Das morsche Holz gab nach, als ungefähr die Hälfte in Alvas Auge verschwunden war - Alva, der bisher nicht schrie, noch nicht einmal zu verstehen schien, was überhaupt passierte, sein Gesichtsausdruck drückte nichts weiter als pure Verwirrung aus. „Oh“, machte er, hob eine Hand und strich sich über die Wange, über die dünne Rinnsale von Blut und einer weißlichen Flüssigkeit liefen. Er schien Victors Anwesenheit vergessen zu haben, wenn er auch keinerlei Anstalten machte, aufzustehen, vollkommen verständnislos betrachtete er seine Finger. Der Blick seines verbliebenden Auges flackerte, zuckte hin und her, und ganz allmählich schien in seinem Gehirn anzukommen, was geschehen war. „Mein Auge“, flüsterte er. Seine Finger berührten das abgebrochene Ende des Stockes, und ein heftiges Zucken ging durch seinen Körper, dennoch schrie er nicht. Was immer er sich eingeworfen hatte, es wirkte offenbar hervorragend gegen Schmerzen. Victor hatte nicht vor, darauf zu warten, dass Alva vollends verarbeitet hatte, was geschehen war. Es reichte, dass Alva aus dem Konzept gebracht war, dass er für den Moment kaum etwas begriff, wenn er auch nicht wie erhofft vor Schmerzen zusammengebrochen war. Aber das reichte. Es MUSSTE reichen. Wieder war da der stechende Schmerz in seiner Schulter, als Victor seinen linken Arm bewegte. Dieses Mal zielte er bei weitem nicht so gut wie mit dem Stock, und um ein Haar hätte er Alvas Kehlkopf verfehlt - was dann passiert wäre, wollte er sich gar nicht vorstellen. Aber er traf, wenn auch nicht mit voller Kraft. Alva, der grade dabei gewesen war seinen zerfetzten Augapfel zu betasten, stieß ein seltsam blecherndes Husten aus. Er krümmte sich zusammen, zog pfeifend die Luft sein, dann kippte er zur Seite, landete mit dem Gesicht im Matsch. Schlamm spritzte, und ganz kurz spürte Victor noch einmal Alvas Finger an seiner Kehle, wahrscheinlich tastete der blind nach irgendetwas, das ihm Halt geben könnte. Bemüht darum, nicht aufzuschreien, vor Schmerz oder Schock oder weshalb auch immer, richtete Victor sich auf. Alles um ihn herum drehte sich, verzog sich und verschwamm, und sein Herz begann wieder zu rasen. Es fühlte sich an, als wäre da nicht genügend Sauerstoff in der Luft, nicht genügend zum atmen… „Nun komm, jetzt dreh nicht noch durch!“, zischte er. Seine eigene Stimme erschreckte ihn, nun klang sie kein bisschen gefasst mehr, sonder ebenso ängstlich und verzweifelt, wie er sich fühlte. Das war bescheuert, er musste doch einfach bloß rennen; Alva war abgelenkt, zumindest für einige Sekunden… Unter größter Anstrengung kniete Victor sich hin, wartete, dass das Schwindelgefühl nachließ, während er neben sich Alva heiser wimmern hörte. Alvas Wimmern - das klang wie ein einziger Widerspruch in sich. Alva BRACHTE Leute zum Wimmern, zum Weinen, zum Schreien. Aber Alva wimmerte nicht. „Oh doch, das tut er.“ Dieses Mal sprach Victor nicht laut, und seine Gedanken klangen zumindest ein wenig ruhiger, als er sich fühlte. „Er liegt da wie ein kleines Kind und weint, und zwar wegen dir! Also sieh zu, dass du hier endlich weg kommst! Er ist vielleicht nicht so überlegen, wie er dachte, aber du solltest wirklich nicht abwarten, bis er sich wieder gesammelt hat!“ Das war ein wirklich überzeugendes Argument. Victor schloss die Augen, während er aufstand, in der Hoffnung, das würde ihn davor bewahren, auf der Stelle wieder zusammenzubrechen. Es fühlte sich seltsam an, zu stehen, so als habe er das seit Jahren nicht mehr getan, als habe er beinahe verlernt, wie das ging… Aber die Schwärze war unangenehm. Bedrohlich. Also öffnete er die Augen wieder. Alva lag noch immer da, eine Hand auf sein zerfetztes Auge gedrückt, mit einem Gesichtsausdruck, der gradezu krampfartig zwischen Entsetzen und Zorn hin und herschwankte. Er sah aus, als wolle er etwas sagen, aber alles, was er hervorbrachte, war ein heiseres Krächzen, aus dem keinerlei Worte auszumachen waren. „Ja, jetzt weißt du, wie ich mich gefühlt habe!“, schoss es Victor durch den Kopf, während er einen Schritt zurück machte, wobei sein Blick auf seine Schultasche fiel, die, gemeinsam mit den Kopfhörern, irgendwann in den letzten Minuten im Dreck gelandet war. Laut sagte er: „Fass mich nie wieder an. Komm mir einfach nie wieder zu nahe!“ Er wusste nicht, ob diese Warnung irgendeine Wirkung auf Alva haben würde, und er wusste ebenfalls nicht, wie ernst er sie wirklich meinte. Aber wenn er einfach so ging, dann konnte er auf jeden Fall damit rechnen, dass Alva ihm bei der nächstbesten Gelegenheit wieder auflauern würde. Dass er beenden würde, was er angefangen hatte. Dass Alva nichts sagte, ihn einfach bloß ansah, mit seinem einen Auge das er noch hatte, nahm Victor als ein irgendwie gutes Zeichen. Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass Alva Adkins über eine Situation keinerlei Kontrolle mehr besaß. Dass nicht er es war, der die Oberhand hatte und die Schläge austeilte. Trotzdem wäre es nicht klug, länger zu bleiben. Auch Victors Bedürfnis, Alva irgendetwas noch tiefer ins Auge bis ins Gehirn zu stechen, war mittlerweile abgeebt, was ihn Selbst zugegebenermaßen beruhigte, und so wandte er sich ab, griff nach seiner Tasche und hängte sie sich über die Schulter, bevor er seinen Weg in Richtung Straße, raus aus dem Duma Park lenkte. Er kam knapp drei Meter weit, bevor seine Beine unter ihm wegknickten. Es fühlte sich an, als wäre auf einen Schlag sämtliche Kraft aus seinem Körper gewichen, ohne Vorwarnung, ohne eine Chance, irgendwie zu reagieren. Er sackte zu Boden, schrie heiser auf, verkrampfte sich. Das Gefühl von Schwindel war wieder da, ließ die Welt um ihn herum verschwimmen… „Weiter!“, fauchte die Stimme in seinem Kopf. „Steh auf! Weiter!“ Irgendwie schaffte er es, diese Anweisung zu befolgen. Richtete sich wieder auf, auch wenn er dafür drei oder vier Versuche brauchte, verharrte einige Sekunden an einen Baum gelehnt, um wieder zu Atem zu kommen und darauf zu warten, dass seine Sicht wieder klarer wurde, krallte die Finger in die Rinde… Hinter sich hörte er Alva stöhnen. Das war es, was ihm die Kraft gab, endlich loszulaufen. Zwar war es viel mehr ein Humpeln, und für die ersten Meter brauchte er eine gefühlte Ewigkeit, aber danach schien sein Körper sich wieder daran erinnert zu haben, wie Bewegung funktionierte.
Es war gut, dass der Schmerz noch nicht spürbar war. Dass die Taubheit dafür sorgte, dass er einfach laufen konnte, ohne sich von seinen Verletzungen zu sehr beeinflussen zu lassen. Hätte er all das in diesem Moment nicht ausblenden können, so wäre er auf der Stelle zusammengebrochen, vermutlich bewusstlos geworden… und sehr wahrscheinlich dank Alva nie wieder aufgewacht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)