Freak von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 3: ----------- Noch ein Schnitt, dann ließ er das Messer sinken. Betrachtete sein Werk, dann lockerte er seinen Griff, wahrscheinlich, um Victor die Möglichkeit zu geben, genug Luft zu bekommen um seine Frage zu beantworten. Victor jedoch lag einfach nur da, wie erstarrt. All seine Konzentration war in diesem Augenblick darauf gerichtet, nicht loszuweinen, denn wenn er das getan hätte, dann hätte Alva ihn ganz sicher umgebracht. Aber es war so schwierig, die Tränen zurückzuhalten; er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal ein derart starkes Bedürfnis verspürt hatte, zu weinen. Er fühlte sich nicht einfach bloß schlecht. Er fühlte sich, als wäre irgendetwas in ihm zerbrochen. Alvas Stimme drang wie durch einen Schleier zu ihm, dumpf und fern, aber dennoch deutlich zu verstehen: „Ja, jetzt fällt dir nichts mehr ein, Freak! Jetzt solltest du dich mal selber sehen! Das passiert, wenn man mir so blöde kommt wie du! Und glaub nicht, dass ich mit dir fertig bin…“ Einen Augenblick lang war Victor sich sicher, dass er nun in Ohnmacht fallen würde. Vielleicht wäre das sogar gut so, denn er glaubte nicht, dass er einen weiteren Schnitt oder einen Schlag würde ertragen können; nicht wegen der Schmerzen, sondern wegen der Demütigung. Dann jedoch wurde sein Blick wieder klarer, die Konturen seiner Umwelt schärfer, und am liebsten hätte er einfach seine Augen geschlossen und abgewartet. Aber da war die Erinnerung an die Messerklinge, die sich in sein Gesicht direkt unter seinem Auge gestochen hatte. Die Vorstellung, dass sie das nächste mal nicht bloß Haut, sondern seinen Augapfel durchstechen und schmutzig-graue Glaskörperflüssigkeit statt Blut hervorquellen würde, war grauenhaft... Also ließ er seine Augen geöffnet. Starrte Alva an, sich mittlerweile so weit vorgebeugt hatte, dass sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter entfernt war und Victor im ersten Moment nichts weiter als seine Augen sehen konnte. Diese Augen, die voller Genugtuung und sadistischer Freude waren… Es war jedoch nicht dieser Anblick, der Victor einen Schauer über den Rücken jagen und Übelkeit in ihm aufsteigen ließ gefolgt, von einer Panik, gegen die alle vorigen Empfindungen von Unwohlsein vollkommen verblassten. Der Ausdruck in Alvas Augen war unangenehm, ja. Schlimmer jedoch war seine andere Reaktion. Die Reaktion zwischen seinen Beinen. In den letzten Minuten war Alva aus seiner ursprünglich knienden Position immer näher gekommen, bis er letztlich beinahe lag, und so spürte Victor diese Reaktion nur allzu deutlich, und beinahe hätte er sich aus Schock, Ekel und Panik auf der Stelle übergeben. Die Schmerzen waren irrelevant. Das Gefühl des Blutes auf seiner Haut unangenehm, der metallische Geschmack in seinem Mund nebensächlich, die Vorstellung, dass Alva ihm das halbe Gesicht zerschnitten hatte grauenhaft. Aber die Tatsache, dass Alvas Sadismus so weit ging, dass diese Situation ihn geil machte, war absolut und vollkommen unerträglich. Das war das zweite Mal an diesem Tag, dass Victor das Gefühl hatte, dass irgendetwas in ihm brach. Es war nicht schmerzhaft, es war nicht einmal wirklich spürbar. Und vielleicht war brechen auch nicht das richtige Wort, aber etwas Besseres viel ihm nicht ein, um es zu beschreiben, und in diesem Augenblick erschien ihm eine akkurate Benennung dessen auch nicht wirklich vorangig. Und nun wünschte er sich doch, er wäre wirklich ohnmächtig geworden. Er merkte, wie sein Herz begann, schneller zu schlagen. Wieder war da dieses Bedürfnis, zu weinen, und um ein Haar hätte er dem nachgegeben, warum auch nicht – jetzt schien ohnehin alles egal zu sein. Alva lächelte. Es war eine andere Art des Lächelns als zuvor, noch immer sadistisch und irre, doch zugleich unangenehm wissend Und… erwartungsvoll. „Nicht, dass du jetzt falsche Schlussfolgerungen ziehst…“, murmelte er, mit einer Stimme, die kaum noch eine Spur der vorigen Boshaftigkeit, sondern stattdessen eine perverse Sanftheit enthielt, die noch viel, viel schlimmer war. „Normalerweise bist du so gar nicht mein Typ. Ich steh eigentlich eher auf Weiber, aber na ja… wenn jemand so hilflos aussieht und so verzweifelt und…“ „Mudak!“, fauchte Victor, und in diesem Moment war es ihm vollkommen egal, ob es klüger wäre, einfach still zu sein und abzuwarten, was passierte. Scheiße, er wollte nicht wissen, was passieren würde, denn so, wie Alva ihn ansah, wie er sprach, wäre es die bessere Alternative, wenn er ihn einfach abstechen würde. Victor hätte gerne noch mehr gesagt, doch er hatte kaum den letzten Buchstaben des Wortes, das er als Kind selbst so oft von den anderen Kindern in Russland zu hören bekommen hatte, hervorgebracht, als er bereits wieder die Klinge an seiner Kehle spürte. Wäre er nicht derart erschrocken gewesen, und hätte die nächste Welle der Panik ihn nicht gelähmt, dann hätte er vielleicht trotzdem weitergesprochen, in der Hoffnung, dass Alva ihm einfach die Kehle aufschneiden und ihm so den Rest ersparen würde. Aber dazu war er einfach nicht fähig. „Was soll das?“, hörte er Alva fragen, und der nahezu enttäuschte Tonfall erschreckte ihn noch mehr. Alva Atkins klang beinahe ernsthaft traurig. „Ich glaube langsam, du möchtest hier gar nicht lebend rauskommen.“, murmelte Alva, und nun richtete er sich wieder ein Stück auf, was jedoch keinesfalls beruhigend wirkte. Victor antwortete nicht. Er hätte es gerne getan, wirklich gerne, doch er war vollkommen erstarrt, wie in Stase verfallen. In seinem Kopf kreischte eine Stimme, laut und hysterisch, er solle sich bewegen, doch so gerne er dem auch Folge geleistet hätte; es ging einfach nicht. Er konnte gar nichts tun. Nicht reden. Sich nicht bewegen. Sich nicht wehren. Bloß daliegen und Alva ansehen, mit weit aufgerissenen Augen in denen sich sehr wahrscheinlich panische Angst wiederspiegelte. Zumindest ließ Alvas nun wieder zufriedener Gesichtsausdruck dies vermuten. „Ich will doch einfach nur, dass du dich benimmst, dann lass ich dich vielleicht am Leben.“, wisperte er, während er mit der Hand, die nicht das Messer hielt, einen Augenblick lang mit festem Griff Victors Schulter umklammerte. Wieder ein Knacken, wieder ein unbedeutender Schmerz. „Verdammt, stich doch einfach zu, du Arschloch!“, schoss es Victor durch den Kopf, während er mit dem kläglichen Rest seiner Selbstbeherrschung einen erneuten Aufschrei unterdrückte, ein Zeichen von Schwäche, das er seinem Gegenüber nicht zugestehen wollte. „Wenn du das vorhast, was ich glaube, dass du es vorhast, dann will ich hier gar nicht lebend rauskommen…“ Im ersten Moment klang dieser Gedanke hart, aber wenn er genauer darüber nachdachte, dann merkte er, dass das der Wahrheit entsprach. Alvas vorangegangene Worte waren schlimmer gewesen als alle Schläge, die er ihm verpasst hatte, schlimmer als die Schnitte. Schmerzen und Verletzungen war Victor gewohnt. Das war nichts Neues, das war lange Zeit Alltag gewesen, und auch heute noch hatte er ein gewisses Talent dafür, sich mit den falschen Leuten anzulegen, was diese Situation hier wohl mehr als deutlich bewies. Doch die Vorstellung, wie erregend Alva diese Situation zu finden schien, und zu was ihn das bringen würde, konnte er nicht ertragen. Alva betrachtete ihn weiterhin, und mit jeder Sekunde, die verstrich, wirkte sein Gesichtsausdruck widerlicher und abstoßender. Mit einer langsamen, im Grunde vollkommen sanften Berührung, die kaum mehr war als ein Windhauch, fuhr er mit der Hand über Victors Arm, hinunter bis zum Handgelenk, welches er dann mit festem Griff umfasste. Seine Stimme war zu einem Säuseln geworden; ein Klang, der ebenso unangenehm klang wie das kreischende Geräusch einer nahenden Kreissäge: „Ja, jetzt fällt dir nichts mehr ein… jetzt hast du mich endlich verstanden, ja? Gut… gut… sehr gut…“ Er zog Victors Arm zu sich heran, und die Stimme in Victors Kopf kreischte hysterisch auf. Er wollte den Arm zurückziehen, doch noch immer schien sein Körper ungewillt, seinen Wünschen zu gehorchen, und so konnte er einfach bloß daliegen, mit rasendem Herzen und angstgeweiteten Augen, während seine Hand auf der Beule in Alvas Schritt platziert wurde. Unwillkürlich – vielleicht war es logisch, vielleicht aber auch bloß eine surreale Schutzreaktion seines Gehirns – musste Victor an die Unterrichtsstunde vor drei oder vier Monate denken, in denen Mrs. Amber mit ihnen über Gewalt und sexuellen Missbrauch gesprochen hatte. Er konnte die Szene deutlich vor sich sehen, wie ein Foto – die Schüler, die mehr oder weniger aufmerksam auf ihren Stühlen gesessen und die Schilderungen der lehrerin gelauscht hatten, bis Antonia Buffolino schließlich die Hand gehoben und eine Frage gestellt hatte, die wohl einigen der Jugendlichen bei Mrs. Ambers Erzählungen durch den Kopf gegangen waren: „Aber wieso wehrt man sich nicht einfach, wenn man angegriffen wird? Also, ich würde dem Typen eine reinhauen, wenn mich wer so anfasst! Und wenn er nicht aufhört, würde ich schreien, bis mir jemand hilft!“ Einige Schüler hatten zustimmend genickt, und Mrs. Amber hatte Antonia mit einem Blick bedacht, der irgendetwas zwischen Mitleid und Traurigkeit ausgedrückt hatte. „Ja, das sagst du jetzt“, hatte sie erwidert, und ihre Stimme hatte brüchig geklungen, zumindest kam es Victor retrospektiv so vor. Als wäre sie an etwas erinnert worden, was sie gerne vergessen hätte. „Das stellt man sich immer so einfach vor, wenn man nicht in dieser Situation ist. Und vielleicht schaffst du das auch Antonia, ich würde es dir wünschen, auch wenn ich nicht hoffe, dass du jemals in eine Situation gelangst, in der das nötig sein wird. Aber falls doch, falls jemandem von eich so etwas passieren sollte, und wenn ihr es nicht schafft, euch zu wehren, dann ist es wichtig, dass euch klar ist, dass das nicht eure Schuld ist. Es ist möglich, dass ihr vollkommen erstarrt sein werdet. Dass ihr keinen Ton herausbringt, und dass ihr absolut nichts tun könnt. Das ist nicht eure Schuld, das ist wichtig! Das ist eine Schutzreaktion eures Körpers, es ist Schock, es ist Angst. Das bedeutet nicht, dass es eure Schuld ist, was passiert. Wie gesagt, falls es nötig sein wollte, dann wünsche ich euch, dass ihr in der Lage sein werdet, euch zu wehren oder um Hilfe zu schreien. Aber so einfach ist das im Zweifel einfach nicht.“ Antonia hatte nicht wirklich überzeugt gewirkt, aber sie hatte genickt. Für Victor hingegen hatten Mrs. Ambers Worte logisch geklungen, er war bereits einige Male in Situationen gewesen, in denen er sich hatte wehren wollen, es jedoch einfach nicht gekonnt hatte. Allerdings war nichts davon vergleichbar gewesen mit dem hier. „Schreien bis mir jemand hilft“, hatte Antonia gesagt, aber Antonia hatte damals in der Schule gesessen, und Victor konnte nicht schreien, er konnte nicht einmal flüstern. Er konnte überhaupt nichts tun. Sein gesamter Körper fühlte sich seltsam taub an, und zugleich brennend an den Stellen, an denen Alva in berührte; Alva, der nun die Hand mit dem Messer von Victors Kehle zurückzog… „Er merkt, dass es nicht mehr nötig ist, mir die Klinge an den Hals zu halten.“ Diese Gedanken waren, im Gegensatz zu Victors sonstigen aktuellen Empfindungen, vollkommen klar. Sie hatten etwas resignierendes an sich, etwas endgültiges, und vor allem: sie entsprachen der Wahrheit. Es war nicht mehr nötig, dass Alva ihn bedrohte, denn Victor konnte absolut nichts tun, so sehr er es auch wollte; nicht schreien, nicht schlagen, kratzen oder beißen; gar nichts. Bloß abwarten. Abwarten und hoffen, dass es vorbeiging. Als Alva ihn das nächste Mal berührte, war das Messer aus seiner Hand verschwunden. Victor wusste nicht, ob er es weggesteckt oder zur Seite gelegt hatte, aber solange er es nicht selbst in seiner Hand hielt, spielte das auch keine große Rolle. Alvas Finger strichen über seine aufgeschnittene Wange. Victor konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie das Blut daran kleben blieb, und dann war da wieder Alvas Stimme, und dieser heiße alkoholisierte Atem der mit jeder gesprochenen Silbe noch intensiver zu werden schien: „Ist doch gar nicht so schlimm, oder? Siehst du… du musst dich doch einfach nur benehmen… dann wird es auch nicht so wehtun…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)