Well of Lies von Swanlady (Historia-centric) ================================================================================ Kapitel 1: arrival ------------------ Das Buch, dessen Seiten bereits vergilbt und zerknittert waren, war ihr einziges Gepäck. Fest, wie ein Schutzschild, drückte sie es gegen ihre Brust, doch selbst das konnte sie nicht vor dem Anblick bewahren, der sich ihr bot. Die Siedlung, die sich vor ihr auf dem dürren Land erstreckte, breitete sich wie ein grauer Teppich vor ihr aus. Die unordentlich aufgestellten Zelte, Holzkarren und Heuhaufen wirkten, als hätte man sie abgestellt und vergessen. Überall tummelten sich Menschen, trugen Wassereimer oder Decken, pfiffen nach ihren Reittieren oder riefen nach Familienmitgliedern. Der Gestank, der Historia entgegenwehte, war eine Mischung aus Schweiß, Blut, Schlamm und Pferdemist. Irgendwo in der Ferne, verborgen zwischen den Zelten und improvisierten Wäscheleinen, hörte sie einen Säugling weinen. Wie erstarrt stand sie da, versuchte das Bild vor ihren Augen zu verarbeiten. Das rege Treiben erinnerte sie an einen Ameisenhaufen, dem sie zu nahe gekommen war. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich auf ihren Armen aus, als sie sich vorstellte, wie die kleinen Tierchen über ihre Haut krabbelten, bis Stück für Stück nichts mehr von ihr zu sehen war. War dies der Plan ihres Vaters? Sie in dieser Menschenmasse untergehen zu lassen, bis sie alt genug war, um dem Militär beizutreten? Historia warf einen Blick über die Schulter, doch die Kutsche, die sie hierhergebracht hatte, war längst nicht mehr da. Zurückgeblieben waren nur die Räderspuren im matschigen Boden des Pfads, der am Brunnen vorbeiführte. An diesem entdeckte Historia einen Jungen, der in etwa in ihrem Alter war und einen löchrigen Strohhut trug. Er stand gegen den Stein gelehnt da und beobachtete sie. Unsicher vergrub sie ihre Finger zwischen den Seiten ihres Buchs, klemmte sie dort ein und presste es noch kräftiger an ihren Körper. Der Blick des Jungen war ihr unangenehm, weshalb sie sich wieder der Siedlung zuwandte. Langsam setzte sie sich in Bewegung. Niemand hatte ihr gesagt, wohin sie gehen sollte. Gab es ein Zelt für sie oder musste sie draußen schlafen? Noch ehe sie den ersten Unterschlupf erreichte, sauste jemand, schnell wieder Wind, an ihr vorbei. Erschrocken blieb Historia stehen, als sich ihr der Junge vom Brunnen in den Weg stellte. „Wer bist du?“, fragte er argwöhnisch. Er musterte sie von Kopf bis Fuß und sein Blick blieb an den goldenen Haaren hängen, die locker in ihrem Nacken zusammengebunden waren. Im Gegensatz zu ihren, waren seine rostig braun und verstaubt. Über seine Schulter hinweg sah Historia die erschöpften Gesichter der anderen Menschen, die hier wohnten. Sie waren blass, schmutzig und fahl. Es war kein Wunder, dass sie das Interesse des Jungen geweckt hatte – mit ihrer frischen Kleidung und den glänzenden Haaren hob sie sich deutlich vom Rest ab. „Mein Name ist Hi–“, wollte sie sich vorstellen, stockte aber im allerletzten Moment. Historia riss die Augen auf und spürte, wie ihr Puls beschleunigte. Sie durfte sich nicht mit ihrem wahren Namen vorstellen. Ihr Vater hatte ihr einen anderen gegeben, den sie annehmen musste. Während sich Historia noch rechtzeitig an das Verbot erinnerte, waren es jedoch nicht die strengen Augen ihres Vaters, die sie im Nacken spürte, sondern die hasserfüllten, leeren und toten ihrer Mutter. „Krista Lenz. Mein Name ist Krista Lenz.“ Nach anfänglichem Zögern stellte sich der Junge als Ludolf vor. Er behauptete, für die Aufsicht über das Camp verantwortlich zu sein. Historia glaubte ihm nicht, hinterfragte seine Aussage jedoch nicht. „Du bist also neu hier, richtig? Ich hab‘ gesehen, wie die Kutsche dich hierher gebracht hat.“ Ihr Magen zog sich unangenehm zusammen. Die Menschen hier waren nicht mit Fahrzeugen, der Großteil nicht einmal mit Pferden hergekommen. Die plattgetretene Grünfläche, die das Gelände umgab, war ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass die meisten zu Fuß hierher geflüchtet waren, als die Mauer Rose gefallen war. „Sie… sie haben mich aufgegabelt“, log Historia und senkte den Blick auf Ludolfs Füße. Selbst seine Schuhe wirkten abgenutzter als ihre. „Und dann hierher gebracht. Sie haben gesagt, dass ich hier Zuflucht finden werde.“ Unsicher schielte sie zu Ludolf hinauf. Historias Herz schlug wie verrückt in ihrer Brust. Dies war das erste Mal, dass sie sich mit jemandem unterhielt, der nicht auf der Farm wohnte. Seine braunen Augen starrten sie unverhohlen an. Wieso tat er das? Historia versuchte sich an irgendeine Geschichte zu erinnern, in der ein Junge ein Mädchen so lange und intensiv ansah, um sein Verhalten zu deuten, doch es wollte ihr keine einfallen. „Verstehe“, sagte er schließlich und schob die Unterlippe vor. „Dann ist ja alles in Ordnung. Man kann nie vorsichtig genug sein, nicht wahr?“ Er schenkte ihr ein breites Grinsen. Historias Gesichtsausdruck blieb gleich, doch er schien sich nicht daran zu stören, sondern packte sie am Handgelenk. „Komm, ich zeige dir die Siedlung. Und dann suchen wir ein Zelt für dich“, verkündete er und zog Historia mit sich. Verdutzt stolperte sie ihm hinterher. Das Buch, das man ihr erlaubt hatte mitzunehmen und zu diesem Zeitpunkt, abgesehen von ihrer Kleidung, ihr einziges Hab und Gut war, rutschte ihr fast aus den Händen. Es war ihre einzige Erinnerung an ihr Leben vor diesem Tag. Ein Leben, das sie vergessen musste. Sich zwischen den Menschen und Zelten hindurchzuzwängen war nur halb so schlimm, wie sie sich vorgestellt hatte. Die Dichte der provisorischen Unterschlüpfe sorgte dafür, dass es wärmer war als auf der offenen Wiese beim Brunnen. Niemand außer Ludolf schenkte ihr Beachtung, weshalb sich Historia ungeniert mit großen Augen umsah und versuchte, die Eindrücke zu verarbeiten. Sie war nun ein Teil des Ameisenhaufens. Flink wie ein Wiesel eilte ihr Ludolf voraus, sprang über Zelthaken und Leinen. Historia musste aufmerksamer sein, um nicht zu stolpern. „Es ist hier immer etwas los“, erklärte Ludolf. „Jeder hat eine Aufgabe. Ich bin Überwächter.“ „Du bist was?“ „Na, Überwächter! Ich überwache alles.“ Er schenkte ihr abermals ein stolzes Grinsen und Historia bemerkte, dass ihm ein Zahn fehlte. Sie öffnete unschlüssig den Mund, schloss ihn aber sogleich wieder. „Was ist dein Talent?“, erkundigte sich Ludolf und seine Augen leuchteten vor Neugier auf. Er wirkte, als würde er es kaum erwarten könnten, Historia ihre Aufgabe zuzuteilen. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie reflexartig, während sie über eine Holzkiste kletterten, die im Weg stand. „Ich habe keins.“ Ludolf blieb ruckartig stehen und erschrocken stieß Historia gegen ihn, als sie auf der anderen Seite hinuntersprang. „Na hör mal“, beschwerte er sich und achtete nicht darauf, dass sie sich die schmerzende Schulter rieb. „Jeder hat eins! Ich kann gut schwimmen und überwachen.“ Er reckte das Kinn und schielte Historia überlegen an, als wäre er mindestens zwei Köpfe und nicht nur zwei Zentimeter größer als sie. „Ich…“, nuschelte sie, den Blick senkend. Sie hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, ob es etwas gab, das sie gut konnte. Auf dem Bauernhof hatte sie hart gearbeitet, weil man es von ihr erwartet hatte. Niemals war sie für irgendetwas in ihrem Leben gelobt worden. Woran merkte man, dass man talentiert war? Ludolf schien Historias Schweigen zu lange zu dauern, weshalb er ungeduldig mit der Zunge schnalzte. „Komm schon! Was machst du gerne?“, formulierte er seine Frage anders, erhielt aber weiterhin nicht mehr als ein Stirnrunzeln seitens Historia. „Was machst du oft?“, startete er einen letzten Versuch und funkelte sie frustriert an. Historias Gesicht hellte sich auf. „Lesen“, sagte sie atemlos und deutete auf das Buch, das sie mitgebracht hatte. Begeistert, dass sie doch etwas gefunden hatte, das ihr Talent war, strahlte Historia Ludolf an. Dieser schenkte ihr aber nicht mehr als einen skeptischen Blick. „Lesen? Wie langweilig“, brummte er. „Das können hier alle Erwachsenen.“ Enttäuscht sackten Historias Schultern hinab. Darauf wusste sie nichts zu erwidern. „Was machst du sonst noch so? Also, was hast du getan, bevor –“ Ludolf stolperte über die Silben und verstummte. Neugierig musterte sie ihn und seinen bedrückten Gesichtsausdruck. Die vielen verschiedenen Regungen, dessen Zeuge sie in den letzten Minuten bereits gewesen war, ließen ihren Kopf schwirren. Historia war noch nie jemandem begegnet, der ihr seine Emotionen so offen zeigte. Ihre Haut kribbelte und ihr Herz pochte schnell, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, wieso. Historia dachte an die Geschichte aus ihrem Buch zurück. Wie würde sich die Protagonistin in einer solchen Situation verhalten? „Bevor man uns unser Zuhause weggenommen hat?“, ergänzte sie Ludolfs Satz und schenkte ihm einen zögerlichen Blick, der Mitleid und Verständnis beinhaltete. Unsicher hielt sie den Atem an, weil sie nicht abschätzen konnte, ob ihre Gesichtszüge dies ausdrückten, was von ihnen erwartet wurde. „Genau!“, erwiderte er, mit Tränen in den Augenwinkeln und einer Bitterkeit im Blick, die Historia tief im Herzen traf. „Aber zusammen schaffen wir das“, schniefte er und wischte sich mit dem zu kurzen Ärmel über die Augen. Fasziniert beobachtete Historia ihn. Ihre Worte schienen die richtigen gewesen zu sein, denn langsam verzogen sich seine spröden Lippen wieder zu dem frechen Grinsen, das zu ihm passte. Sie hatte ihm nichts weiter als ein wenig Verständnis gezeigt – und dies war genug gewesen, um ihn aufzuheitern. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. Es war beeindruckend, was Krista konnte. Sie war ein so viel talentierteres Mädchen als Historia. „Ich habe viel auf dem Hof geholfen. Ich kann Tiere verpflegen“, erzählte sie, während sie weitergingen. Dieses Mal lief ihr Ludolf nicht voraus, sondern ließ sie zu ihm aufholen. „Ich wusste doch, dass du ein Talent hast“, erwiderte er triumphierend, als hätte er persönlich es entdeckt. „Um die Tiere muss man sich ständig kümmern.“ Ludolf nickte entschlossen und besiegelte damit Historias Werdegang in der Flüchtlingssiedlung. „Ich wohne hier“, sagte er schließlich, als sie an einem der letzten Zelte ankamen. „Du kannst mich jederzeit besuchen.“ Mechanisch nickte Historia. Es hatte sie noch nie jemand zu sich eingeladen. „Wo werde ich wohnen?“, fragte sie ihn. „Warte hier, ich hole meinen Cousin. Er heißt Wulfric und teilt die Zelte zu!“ Ludolf wirkte stolz auf die Arbeit, die sein Familienmitglied verrichtete. Bevor Historia noch etwas sagen konnte, schlüpfte er bereits um das Zelt herum und verschwand zwischen anderen Lagern. Der Ameisenhaufen pulsierte immer noch voller Leben, doch plötzlich allein inmitten all der fremden Gesichter, die sie keines Blickes würdigten, fühlte sich Historia verloren. Nervös krallten sich ihre Finger in den Stoff ihres schlichten, braunen Rocks und sie machte sich klein, um von niemandem zertrampelt zu werden. Gleichzeitig starrte sie hier niemand an, weil sie anders war. Noch hatte niemand mit Steinen nach ihr geworfen. Ludolf kam ein paar Minuten später zurück, seinen Cousin hatte er im Schlepptau. Es handelte sich um einen jungen Mann, der schlaksig und hochgewachsen war. Seine Gesichtsbehaarung wirkte fehl am Platze, weil die pechschwarzen Bartstoppeln nicht zu seinen rundlichen und bubenhaften Gesichtszügen passen wollten. Seine grauen Augen strahlten eine Angst aus, die er hinter einem freundlichen Lächeln verbarg. „Das ist Krista“, stellte Ludolf sie enthusiastisch vor. Ob er die stumme Pein seines älteren Cousins bemerkt hatte? Ob er sie einfach nur ignorierte, weil er diesen Gesichtsausdruck schon länger trug? Der junge Mann ging in die Knie, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein. „Willkommen, Krista. Mein Name ist Wulfric. Lud hier hat mir gesagt, dass du eine Bleibe brauchst.“ Historia nickte und starrte wie gebannt die leeren Augen an, die genauso gut einem alten Mann hätten gehören können, der bereits auf dem Totenbett lag. „In Ordnung, dann suchen wir dir ein freies Zelt. Komm mit.“ Wulfric tätschelte ihr aufmunternd die Schulter und schenkte ihr einen wissenden Blick, dessen Sinn sich Historia nicht erschloss. Es war ein Blick, den man einem Verbündeten, einem Kameraden oder Freund zuwarf, der einen wortlos verstand. Doch das tat sie nicht. Sie war es nicht, die Trost brauchte, sie war es auch nicht, die sein Leid kannte. Sie war nur ein Mädchen, das sich anstrengen musste, um das wohlwollende Lächeln auf dieselbe Weise zu erwidern. „Es ist nicht viel“, gab Wulfric zögernd zu, als er den Stoff des kleinen Zeltes zur Seite schob und Historia einen Blick hineinwerfen konnte. Tatsächlich passte nicht allzu viel hinein. Eine abgenutzte, braune Decke lag auf dem Boden und nahm die Hälfte des Platzes ein. Der Anblick löste rein gar nichts in Historia aus, weshalb sie nur mechanisch nickte. Oder hätte sie lieber mit dem Kopf schütteln sollen? „Ich bin klein“, murmelte sie hastig und sah dabei zu, wie Ludolf um ihre neue Bleibe herumtänzelte. „Ich werde dich ganz oft besuchen, Krista!“, verkündete er. „Bei uns ist auch nicht viel Platz, weil wir zu viert in ein Zelt passen müssen.“ Ludolf zuckte mit den Schultern. Weil Historia darauf nichts zu erwidern hatte, blinzelte sie ihn lediglich an. Sie hatte noch nie Besuch bekommen und obwohl ihr Zelt nicht größer als eine Abstellkammer war, flatterte ihr Herz aufgeregt bei dem Gedanken, dass es nur ihr gehörte – und jemand unerwartet davor auftauchen konnte, um sie zu sehen. „Lud, ich zeige Krista den Rest. Du solltest dich langsam an die Arbeit machen“, mahnte Wulfric und versuchte den Jungen mit einer ungeduldigen Handgeste zu verscheuchen. „Aber…!“, protestierte Ludolf und plusterte die Wangen auf. „Sofort“, wies Wulfric ihn an. In seiner Stimme lag mehr Resignation als Schroffheit. Ludolf schob die Unterlippe vor und warf seinem Cousin einen beleidigten Blick zu. „Hmpf“, stieß er aus und wandte sich ab. „Ah… ähm…“, machte Historia unbeholfen auf sich aufmerksam und ehe sie sich versah, war sie Ludolf bereits zwei Schritte gefolgt. „Ich habe eine Frage.“ Hellauf begeistert drehte sich Ludolf um. Wichtigtuerisch drückte er den Rücken durch und hob die Brust an. „Als Überwächter beantworte ich dir alle Fragen der Welt!“, versprach er feierlich. „Du hast gesagt, ich darf dich besuchen.“ Er nickte. „Und du hast gesagt, dass du mich besuchen wirst.“ Wieder ein Nicken. „Wer… fängt an?“ Statt eines Nickens folgte dieses Mal ein verwirrtes Stirnrunzeln, als hätte er die Frage, die Historia logisch vorkam, nicht verstanden. „Ist doch völlig egal!“, kam schlussendlich die glucksende Antwort, die von einem Feixen begleitet wurde. Mit dieser für Historia unzureichenden Erwiderung ließ er sie mit Wulfric allein. Als sie fragend zu ihm aufsah, begegneten ihr abermals nur leere Augen, obwohl er seine Lippen zu einem steifen Lächeln verzog. Als er sich in Bewegung setzte, stolperte Historia ihm hastig hinterher. Sie starrte die schmalen, hängenden Schultern an, lauschte den schweren, schlurfenden Schritten und versuchte den dezenten Hauch von Alkohol, der ihm hinterher wehte, zu ignorieren. „Völlig egal“, wiederholte sie Ludolfs Worte tonlos. Kapitel 2: stay --------------- Warme, von sich aufblähenden Nüstern ausgestoßene Luft steifte ihre Wange und holte Historia aus ihrer Starre. Sie hatte sich der provisorisch, mit Brettern und Holzpfählen errichteten Koppel gedankenverloren genähert und nicht bemerkt, dass sich eins der Reittiere zu ihr gesellt hatte. Historia streckte den Arm aus, um das neugierige Pferd zu tätscheln. Es war nicht das erste Mal, dass ein unbekanntes Tier ihre Nähe suchte, ohne dass sie etwas dafür tun musste. Früh hatte Historia gelernt, dass man sich mit ihnen anfreunden konnte, einfacher als mit Menschen, die mit Steinen und gehässigen Worten warfen. „Ich weiß, du bist erschöpft“, flüsterte sie und streichelte über das schmutzige, verstaubte Fell. „Ich suche dir später einen Apfel, versprochen.“ Das Pferd schnaufte, als hätte es ihre Worte verstanden. Historia wandte sich ab und ließ ihren Blick zum Haufen Heu hinüber wandern, der nahe der Koppel gelagert wurde. Es gab hier keinen Stall, der die Tiere und das Futter vor Regen oder Wind schützte. Es gab lediglich ein wackliges Holzdach auf vier modrigen Pfählen, unter dem ein paar Kinder im Stroh spielten. Eine Weile sah Historia ihnen aus der Ferne zu. Ludolf entdeckte sie nicht unter ihnen und vermutete, dass er mit seinen Pflichten als Aufpasser beschäftigt war. Drei Jungen und ein Mädchen tollten lachend im Heu herum, jagten einander um die Holzkonstruktion und schienen den Rest der Welt vergessen zu haben. Unter dem winzigen Dach schien es keine Obdachlosigkeit, keinen Hunger und keine Sorgen zu geben und Historia wünschte sich insgeheim, ein Teil davon zu sein, dazuzugehören – selbst wenn es nur für einen Augenblick war. Ehe sie sich versah, trugen sie ihre Füße bereits in Richtung der ausgelassenen Freudenrufe. Zunächst zögerlich und unauffällig am Zaun entlang, doch dann lugte sie offen und neugierig in den zum Spielplatz verwandelten Futterspeicher. Ein flatterndes Gefühl von Euphorie ergriff von ihr Besitz, denn sie war nicht mehr Historia. Diese Kinder kannten das Mädchen, das auf der Farm half und von den Nachbarsjungen gehänselt wurde nicht – und würden es auch nicht kennenlernen. Als die Gruppe schließlich auf sie aufmerksam wurde, wandten sich sofort alle Köpfe in ihre Richtung um. Beide Seiten starrten – unsicher, vorsichtig, nicht ohne Argwohn, aber auch mit einer unverkennbaren Neugier. Es war ein hochgewachsener Junge, der das angespannte Schweigen brach. „Wie heißt du?“, fragte er. Es war eine simple Frage und keine einzige Silbe trug Gehässigkeit in sich. „Krista“, nuschelte sie. „Ich bin Ivo. Das sind Milo und Romilda“, stellte er alle nacheinander vor, auf einen rundlichen Jungen und ein schwarzhaariges Mädchen deutend. „Du bist neu hier, oder?“ Historia nickte. „Möchtest du mit uns spielen?“ Langsam weiteten sich Historias Augen. Sie war sich sicher, etwas sehr Wichtiges verpasst zu haben, denn zwischen Wie heißt du? und Möchtest du mit uns spielen? lag normalerweise ein Abgrund, der mit unzähligen anderen Fragen, Antworten und Worten gefüllt werden musste. Zwischen diesen Fragen lagen Zäune, sehnsuchtsvolle Blicke und die Gewissheit, die andere Seite doch nie zu erreichen. Völlig paralysiert stand sie da und öffnete den Mund, doch sie brachte kein Wort hervor. Sei brav, Historia, erinnerte sie sich unwillkürlich an eine Frauenstimme in ihrem Kopf, die sie jedoch keinem Gesicht zuordnen konnte. Sie wusste nur, dass die Stimme warm und wohlwollend klang. Sie erinnerte an die Geborgenheit eines weichen Bettes, das sanfte Streicheln einer Sommerbrise und an den Geruch von Buchseiten. Es war nicht die Stimme ihrer Mutter. Zum ersten Mal in ihrem Leben verzog Historia die Lippen zu einem so breiten Lächeln, dass ihre Mundwinkel schmerzten. „Gerne.“ Freudig hellten sich die Gesichter der drei Kinder auf und Historia kam sich vor, als hätte sie einen Schlüssel gefunden, der eine Tür öffnete, die bisher stets verschlossen geblieben war. Der Gedanke, dass diese fremden Menschen sie mögen könnten, wenn sie sich geschickt anstellte, versetzte ihr Herz in Aufruhr. Historia würde brav sein. Sie würde das bravste und netteste Mädchen sein, das es auf dieser Welt gab. „Wo warst du den ganzen Tag?“, empörte sich Ludolf, als er Historia am abendlichen Lagerfeuer antraf. Sie saß reglos da und hielt den Stock, auf den sie einen mickrigen Fisch gespießt hatte, über das Feuer. Verwundert blickte Historia auf und sah sich mit Ludolfs beleidigtem Blick konfrontiert. „Ich habe meine Aufgaben verrichtet und dann gespielt“, fasste sie zusammen und in ihrem Bauch kribbelte es immer noch angenehm, wenn sie an den Nachmittag dachte, den sie mit Ivo, Milo und Romilda verbracht hatte. Die drei waren ihr, nach einer Runde Verstecken und Fangen, zum Apfelbaum gefolgt, um ein paar Früchte für die Pferde zu pflücken. Historia hatte diese unter den Tieren verteilt. Milos „Wow, du kannst unheimlich gut mit Pferden umgehen!“ hallte noch immer berauschend in ihren Ohren wider. „Mit wem hast du gespielt?“, fragte Ludolf und der spitze Unterton in seiner Stimme ließ Historia die Stirn runzeln. „Mit Ivo und den anderen“, erklärte sie und wandte ihren Blick wieder dem Fisch zu, den sie nicht versehentlich im Feuer verbrennen wollte. „Aha“, quittierte Ludolf gedehnt und Historia wartete darauf, dass er etwas über die Kinder erzählte, mit denen sie Zeit verbracht hatte, doch er verlor kein weiteres Wort darüber. Sie hörte ihn nur wütend mit dem Fuß auf dem Boden scharren. „Aber halt dich von Noah fern, okay? Der ist nämlich gemein.“ „Ich weiß nicht, wie er aussieht“, erwiderte Historia, die nicht verstand, weshalb er von einem anderen Kind sprach, das sie nicht kannte. „Ich zeige ihn dir“, versprach Ludolf und salutierte wie ein Soldat, dem man eine ehrenvolle Aufgabe zugeteilt hatte. Historia nickte und zog den Stock zurück, um zu überprüfen, ob der Fisch bereits durch war. „Wer hat dir das beigebracht?“, wollte Ludolf wissen. „Wie man Essen zubereitet?“ „Ich habe es auf der Farm gelernt“, antwortete sie, ging aber nicht weiter darauf ein, um ihr Geheimnis zu wahren. Bevor Ludolf weiter nachhaken konnte, ertönten leise, schleppende Schritte und Wulfric gesellte sich zu ihnen. Im flackernden Licht des Lagerfeuers wirkten seine Augenringe beinahe unheimlich, aber Historia erkannte den Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen. Er setzte sich ihnen gegenüber und streckte die Hände der Wärmequelle entgegen. „Ich habe gehört, dass du die Pferde gefüttert hast“, sagte er an Historia gewandt. Mit blankem Gesichtsausdruck starrte sie zurück, krampfhaft überlegend, welche Reaktion angebracht war. Was würde ein braves Mädchen sagen? „Mit Äpfeln. Hätte ich das nicht tun sollen?“, versuchte es Historia zögerlich und durfte beobachten, wie sich Wulfrics Schultern lockerten. Er lächelte breiter und schüttelte den Kopf. „Nein, keine Sorge. Futtervorräte sind, so wie alles andere hier auch, spärlich gesät, weshalb sich nur eine Person um die Pferde kümmern sollte. Wie es scheint, haben wir eine neue Expertin für diese Aufgabe gefunden. Theo wird sich freuen, er mag Tiere nicht besonders.“ Wulfric starrte eine Weile ins Feuer, sodass Historia den Schatten auf seinem blassen Gesicht beim Tanzen zusehen konnte. Obwohl sachliche Worte aus seinem Mund kamen, schienen seine Gedanken in anderen Sphären zu schweben. „Krista, du musst mir nach dem Essen helfen!“, mischte sich Ludolf ein. Er sprach lauter als nötig, schien ihre Aufmerksamkeit um jeden Preis wieder für sich gewinnen zu wollen, weshalb Historia ihm den Gefallen tat und ihn neugierig anblinzelte. „Womit?“ „Mit meinem abendlichen Rundgang“, verkündete er stolz. „Das ist eine große Ehre, weißt du?“ Wusste sie nicht, aber sie nickte trotzdem. „Seid vorsichtig“, verabschiedete sich Wulfric eine halbe Stunde später von ihnen und hob die Hand, ehe er sich seinem Zelt zuwandte und im Inneren verschwand, Ludolf – und seiner heutigen Begleiterin – die abendliche Sicherheitsüberprüfung des Camps überlassend. „Hmpf“, schnaufte Ludolf. „Gefahren können mir nichts anhaben.“ „Was gibt es hier für Gefahren?“, fragte Historia, woraufhin Ludolf sie mit großen Augen ansah und rot wurde. Er schnaufte erneut und wandte den Blick in die andere Richtung. Ohne ihr zu antworten, stapfte er los. Verwirrt folgte Historia ihm. Zuerst führte ihr schweigsamer Weg an den Zelten entlang, doch als sie die Wiese erreichten, auf der allmählich das Gras wieder zu wachsen begann und die kleinen, weißen Blüten der Gänseblümchen im schwachen Mondlicht glänzten, vergaß Ludolf sein spontanes Schweigegelöbnis. „Das ist der beste Aussichtspunkt!“, verkündete er und deutete auf den Brunnen, an dem er vor ein paar Tagen gestanden hatte, als Historia aus der Kutsche gestiegen war. Es stimmte, dass man den leichten Abhang als Aussichtspunkt verwenden konnte, denn von hier aus sah man, wo noch Lagerfeuer brannten, ob die Tiere im Gehege waren und ob sich am gegenüberliegenden Waldrand etwas tat. Mit ausdruckslosem Gesicht beobachtete Historia, wie er auf den Steinrand kraxelte und sich am Gerüst der Holzpumpe festhielt. Zu spät fiel ihr ein, dass ein braves Mädchen sich um seine Sicherheit sorgen sollte. Bevor Historia ihren Fehler korrigieren und den Mund öffnen konnte, erzählte er ihr bereits, was er von seiner persönlichen Aussichtsplattform aus sah. „Die Familie Truck ist noch beim Abendessen. Wulf ist in seinem Zelt und seine Öllampe brennt. Im Gehege sind drei Pferde.“ Historia hörte ihm zu, auch wenn sie nicht davon ausging, dass diese Informationen wichtig waren. Gerade, als sie vorschlagen wollte, dass sie zurück ins Camp gingen, japste Ludolf auf. „Was geht dort vor?“ Die Augen zusammenkneifend und in die Richtung blickend, in die er aufgeregt deutete, erkannte Historia eine Gruppe Menschen, die sich versammelt hatten und aufgebracht diskutierten. Einige von ihnen hatten brennende Fackeln bei sich und eilten los, verteilten sich in alle Himmelsrichtungen. „Komm, lass uns nachsehen!“, rief Ludolf aufgeregt, sprang vom Brunnen und ergriff Historias Handgelenk. Er zog sie unnachgiebig mit sich, den Hügel hinab und an den Zelten vorbei. Die Atmosphäre, die unter den versammelten Campbewohnern herrschte, ließ sogar Ludolf urplötzlich anhalten. Historia kam sich noch immer wie eine Außenseiterin vor, eine stumme Beobachterin, die nichts mit diesem Leben hier zu tun hatte – womöglich löste die Spannung, die in der Luft lag, deshalb nichts in ihr aus. Als Ludolf sie alarmiert ansah, versuchte sie seinen Gesichtsausdruck zu imitieren. „Wir müssen den Verantwortlichen finden!“, rief eine wütende Stimme. „Das ist unerhört! Eine solche Dreistigkeit gehört bestraft!“, warf eine andere ein. „Was ist passiert?“, quiekte Ludolf, der seine Kühnheit in Anbetracht der empörten Erwachsenen vergaß. Das spitzbübische Funkeln aus den braunen Augen war verschwunden, stattdessen strahlten sie Unsicherheit aus. Außer der alten Bäckerin, die aus seiner ehemaligen Wohngegend kam, schenkte ihm niemand Beachtung. „Misch dich nicht ein, Ludolf, das ist keine Angelegenheit für Kinder“, versuchte sie ihn ungeduldig zu verscheuchen. Historia konnte nicht sagen, ob er vor Schreck erstarrt war oder es eine bewusste Entscheidung war, doch er rührte sich nicht von der Stelle. „Sie suchen jemanden“, murmelte sie ihm zu. „Ich kann helfen!“, brüllte er über die Stimmen der Erwachsenen hinweg, die noch immer wirr untereinander sprachen. Es zeigte Wirkung, denn mit einem Schlag legte sich Stille über die Versammelten und sämtliche Köpfe wandten sich den zwei Kindern zu. „Ich habe doch den besten Überblick…“ Im Vergleich zu seinen vorherigen lauten Worten, klang Ludolf nun beinahe eingeschüchtert. Er hatte sich die Aufmerksamkeit aller eingeholt, wusste aber nicht damit umzugehen. „Hör auf zu nerven, Kleiner“, knurrte einer der Männer. „Wir suchen einen Dieb. Du kannst uns nur helfen, wenn du weißt, wem das gehört.“ Der bärtige Mann, dessen krumme Nase ihn im flackernden Licht des Feuers schaurig erscheinen ließ, warf Ludolf etwas abwertend vor die Füße – so wie man einem streunenden Köter magere Knochen vor die Schnauze warf, um das irritierende Winseln nicht länger ertragen zu müssen. Im ersten Moment erkannte Historia nicht, was es war. Sie hörte lediglich, wie Ludolf neben ihr scharf die Luft einzog. Als sie genauer hinsah, entdeckte sie einen viereckigen Gegenstand, der im Staub lag. „Na? Kannst du uns sagen, wem das gehört, du neunmalkluges Gör?“ In Historias Ohren rauschte es, als sie beobachtete, wie Ludolf sich mit zitternden Händen hinab beugte und ihr Buch aufhob. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)