Well of Lies von Swanlady (Historia-centric) ================================================================================ Kapitel 2: stay --------------- Warme, von sich aufblähenden Nüstern ausgestoßene Luft steifte ihre Wange und holte Historia aus ihrer Starre. Sie hatte sich der provisorisch, mit Brettern und Holzpfählen errichteten Koppel gedankenverloren genähert und nicht bemerkt, dass sich eins der Reittiere zu ihr gesellt hatte. Historia streckte den Arm aus, um das neugierige Pferd zu tätscheln. Es war nicht das erste Mal, dass ein unbekanntes Tier ihre Nähe suchte, ohne dass sie etwas dafür tun musste. Früh hatte Historia gelernt, dass man sich mit ihnen anfreunden konnte, einfacher als mit Menschen, die mit Steinen und gehässigen Worten warfen. „Ich weiß, du bist erschöpft“, flüsterte sie und streichelte über das schmutzige, verstaubte Fell. „Ich suche dir später einen Apfel, versprochen.“ Das Pferd schnaufte, als hätte es ihre Worte verstanden. Historia wandte sich ab und ließ ihren Blick zum Haufen Heu hinüber wandern, der nahe der Koppel gelagert wurde. Es gab hier keinen Stall, der die Tiere und das Futter vor Regen oder Wind schützte. Es gab lediglich ein wackliges Holzdach auf vier modrigen Pfählen, unter dem ein paar Kinder im Stroh spielten. Eine Weile sah Historia ihnen aus der Ferne zu. Ludolf entdeckte sie nicht unter ihnen und vermutete, dass er mit seinen Pflichten als Aufpasser beschäftigt war. Drei Jungen und ein Mädchen tollten lachend im Heu herum, jagten einander um die Holzkonstruktion und schienen den Rest der Welt vergessen zu haben. Unter dem winzigen Dach schien es keine Obdachlosigkeit, keinen Hunger und keine Sorgen zu geben und Historia wünschte sich insgeheim, ein Teil davon zu sein, dazuzugehören – selbst wenn es nur für einen Augenblick war. Ehe sie sich versah, trugen sie ihre Füße bereits in Richtung der ausgelassenen Freudenrufe. Zunächst zögerlich und unauffällig am Zaun entlang, doch dann lugte sie offen und neugierig in den zum Spielplatz verwandelten Futterspeicher. Ein flatterndes Gefühl von Euphorie ergriff von ihr Besitz, denn sie war nicht mehr Historia. Diese Kinder kannten das Mädchen, das auf der Farm half und von den Nachbarsjungen gehänselt wurde nicht – und würden es auch nicht kennenlernen. Als die Gruppe schließlich auf sie aufmerksam wurde, wandten sich sofort alle Köpfe in ihre Richtung um. Beide Seiten starrten – unsicher, vorsichtig, nicht ohne Argwohn, aber auch mit einer unverkennbaren Neugier. Es war ein hochgewachsener Junge, der das angespannte Schweigen brach. „Wie heißt du?“, fragte er. Es war eine simple Frage und keine einzige Silbe trug Gehässigkeit in sich. „Krista“, nuschelte sie. „Ich bin Ivo. Das sind Milo und Romilda“, stellte er alle nacheinander vor, auf einen rundlichen Jungen und ein schwarzhaariges Mädchen deutend. „Du bist neu hier, oder?“ Historia nickte. „Möchtest du mit uns spielen?“ Langsam weiteten sich Historias Augen. Sie war sich sicher, etwas sehr Wichtiges verpasst zu haben, denn zwischen Wie heißt du? und Möchtest du mit uns spielen? lag normalerweise ein Abgrund, der mit unzähligen anderen Fragen, Antworten und Worten gefüllt werden musste. Zwischen diesen Fragen lagen Zäune, sehnsuchtsvolle Blicke und die Gewissheit, die andere Seite doch nie zu erreichen. Völlig paralysiert stand sie da und öffnete den Mund, doch sie brachte kein Wort hervor. Sei brav, Historia, erinnerte sie sich unwillkürlich an eine Frauenstimme in ihrem Kopf, die sie jedoch keinem Gesicht zuordnen konnte. Sie wusste nur, dass die Stimme warm und wohlwollend klang. Sie erinnerte an die Geborgenheit eines weichen Bettes, das sanfte Streicheln einer Sommerbrise und an den Geruch von Buchseiten. Es war nicht die Stimme ihrer Mutter. Zum ersten Mal in ihrem Leben verzog Historia die Lippen zu einem so breiten Lächeln, dass ihre Mundwinkel schmerzten. „Gerne.“ Freudig hellten sich die Gesichter der drei Kinder auf und Historia kam sich vor, als hätte sie einen Schlüssel gefunden, der eine Tür öffnete, die bisher stets verschlossen geblieben war. Der Gedanke, dass diese fremden Menschen sie mögen könnten, wenn sie sich geschickt anstellte, versetzte ihr Herz in Aufruhr. Historia würde brav sein. Sie würde das bravste und netteste Mädchen sein, das es auf dieser Welt gab. „Wo warst du den ganzen Tag?“, empörte sich Ludolf, als er Historia am abendlichen Lagerfeuer antraf. Sie saß reglos da und hielt den Stock, auf den sie einen mickrigen Fisch gespießt hatte, über das Feuer. Verwundert blickte Historia auf und sah sich mit Ludolfs beleidigtem Blick konfrontiert. „Ich habe meine Aufgaben verrichtet und dann gespielt“, fasste sie zusammen und in ihrem Bauch kribbelte es immer noch angenehm, wenn sie an den Nachmittag dachte, den sie mit Ivo, Milo und Romilda verbracht hatte. Die drei waren ihr, nach einer Runde Verstecken und Fangen, zum Apfelbaum gefolgt, um ein paar Früchte für die Pferde zu pflücken. Historia hatte diese unter den Tieren verteilt. Milos „Wow, du kannst unheimlich gut mit Pferden umgehen!“ hallte noch immer berauschend in ihren Ohren wider. „Mit wem hast du gespielt?“, fragte Ludolf und der spitze Unterton in seiner Stimme ließ Historia die Stirn runzeln. „Mit Ivo und den anderen“, erklärte sie und wandte ihren Blick wieder dem Fisch zu, den sie nicht versehentlich im Feuer verbrennen wollte. „Aha“, quittierte Ludolf gedehnt und Historia wartete darauf, dass er etwas über die Kinder erzählte, mit denen sie Zeit verbracht hatte, doch er verlor kein weiteres Wort darüber. Sie hörte ihn nur wütend mit dem Fuß auf dem Boden scharren. „Aber halt dich von Noah fern, okay? Der ist nämlich gemein.“ „Ich weiß nicht, wie er aussieht“, erwiderte Historia, die nicht verstand, weshalb er von einem anderen Kind sprach, das sie nicht kannte. „Ich zeige ihn dir“, versprach Ludolf und salutierte wie ein Soldat, dem man eine ehrenvolle Aufgabe zugeteilt hatte. Historia nickte und zog den Stock zurück, um zu überprüfen, ob der Fisch bereits durch war. „Wer hat dir das beigebracht?“, wollte Ludolf wissen. „Wie man Essen zubereitet?“ „Ich habe es auf der Farm gelernt“, antwortete sie, ging aber nicht weiter darauf ein, um ihr Geheimnis zu wahren. Bevor Ludolf weiter nachhaken konnte, ertönten leise, schleppende Schritte und Wulfric gesellte sich zu ihnen. Im flackernden Licht des Lagerfeuers wirkten seine Augenringe beinahe unheimlich, aber Historia erkannte den Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen. Er setzte sich ihnen gegenüber und streckte die Hände der Wärmequelle entgegen. „Ich habe gehört, dass du die Pferde gefüttert hast“, sagte er an Historia gewandt. Mit blankem Gesichtsausdruck starrte sie zurück, krampfhaft überlegend, welche Reaktion angebracht war. Was würde ein braves Mädchen sagen? „Mit Äpfeln. Hätte ich das nicht tun sollen?“, versuchte es Historia zögerlich und durfte beobachten, wie sich Wulfrics Schultern lockerten. Er lächelte breiter und schüttelte den Kopf. „Nein, keine Sorge. Futtervorräte sind, so wie alles andere hier auch, spärlich gesät, weshalb sich nur eine Person um die Pferde kümmern sollte. Wie es scheint, haben wir eine neue Expertin für diese Aufgabe gefunden. Theo wird sich freuen, er mag Tiere nicht besonders.“ Wulfric starrte eine Weile ins Feuer, sodass Historia den Schatten auf seinem blassen Gesicht beim Tanzen zusehen konnte. Obwohl sachliche Worte aus seinem Mund kamen, schienen seine Gedanken in anderen Sphären zu schweben. „Krista, du musst mir nach dem Essen helfen!“, mischte sich Ludolf ein. Er sprach lauter als nötig, schien ihre Aufmerksamkeit um jeden Preis wieder für sich gewinnen zu wollen, weshalb Historia ihm den Gefallen tat und ihn neugierig anblinzelte. „Womit?“ „Mit meinem abendlichen Rundgang“, verkündete er stolz. „Das ist eine große Ehre, weißt du?“ Wusste sie nicht, aber sie nickte trotzdem. „Seid vorsichtig“, verabschiedete sich Wulfric eine halbe Stunde später von ihnen und hob die Hand, ehe er sich seinem Zelt zuwandte und im Inneren verschwand, Ludolf – und seiner heutigen Begleiterin – die abendliche Sicherheitsüberprüfung des Camps überlassend. „Hmpf“, schnaufte Ludolf. „Gefahren können mir nichts anhaben.“ „Was gibt es hier für Gefahren?“, fragte Historia, woraufhin Ludolf sie mit großen Augen ansah und rot wurde. Er schnaufte erneut und wandte den Blick in die andere Richtung. Ohne ihr zu antworten, stapfte er los. Verwirrt folgte Historia ihm. Zuerst führte ihr schweigsamer Weg an den Zelten entlang, doch als sie die Wiese erreichten, auf der allmählich das Gras wieder zu wachsen begann und die kleinen, weißen Blüten der Gänseblümchen im schwachen Mondlicht glänzten, vergaß Ludolf sein spontanes Schweigegelöbnis. „Das ist der beste Aussichtspunkt!“, verkündete er und deutete auf den Brunnen, an dem er vor ein paar Tagen gestanden hatte, als Historia aus der Kutsche gestiegen war. Es stimmte, dass man den leichten Abhang als Aussichtspunkt verwenden konnte, denn von hier aus sah man, wo noch Lagerfeuer brannten, ob die Tiere im Gehege waren und ob sich am gegenüberliegenden Waldrand etwas tat. Mit ausdruckslosem Gesicht beobachtete Historia, wie er auf den Steinrand kraxelte und sich am Gerüst der Holzpumpe festhielt. Zu spät fiel ihr ein, dass ein braves Mädchen sich um seine Sicherheit sorgen sollte. Bevor Historia ihren Fehler korrigieren und den Mund öffnen konnte, erzählte er ihr bereits, was er von seiner persönlichen Aussichtsplattform aus sah. „Die Familie Truck ist noch beim Abendessen. Wulf ist in seinem Zelt und seine Öllampe brennt. Im Gehege sind drei Pferde.“ Historia hörte ihm zu, auch wenn sie nicht davon ausging, dass diese Informationen wichtig waren. Gerade, als sie vorschlagen wollte, dass sie zurück ins Camp gingen, japste Ludolf auf. „Was geht dort vor?“ Die Augen zusammenkneifend und in die Richtung blickend, in die er aufgeregt deutete, erkannte Historia eine Gruppe Menschen, die sich versammelt hatten und aufgebracht diskutierten. Einige von ihnen hatten brennende Fackeln bei sich und eilten los, verteilten sich in alle Himmelsrichtungen. „Komm, lass uns nachsehen!“, rief Ludolf aufgeregt, sprang vom Brunnen und ergriff Historias Handgelenk. Er zog sie unnachgiebig mit sich, den Hügel hinab und an den Zelten vorbei. Die Atmosphäre, die unter den versammelten Campbewohnern herrschte, ließ sogar Ludolf urplötzlich anhalten. Historia kam sich noch immer wie eine Außenseiterin vor, eine stumme Beobachterin, die nichts mit diesem Leben hier zu tun hatte – womöglich löste die Spannung, die in der Luft lag, deshalb nichts in ihr aus. Als Ludolf sie alarmiert ansah, versuchte sie seinen Gesichtsausdruck zu imitieren. „Wir müssen den Verantwortlichen finden!“, rief eine wütende Stimme. „Das ist unerhört! Eine solche Dreistigkeit gehört bestraft!“, warf eine andere ein. „Was ist passiert?“, quiekte Ludolf, der seine Kühnheit in Anbetracht der empörten Erwachsenen vergaß. Das spitzbübische Funkeln aus den braunen Augen war verschwunden, stattdessen strahlten sie Unsicherheit aus. Außer der alten Bäckerin, die aus seiner ehemaligen Wohngegend kam, schenkte ihm niemand Beachtung. „Misch dich nicht ein, Ludolf, das ist keine Angelegenheit für Kinder“, versuchte sie ihn ungeduldig zu verscheuchen. Historia konnte nicht sagen, ob er vor Schreck erstarrt war oder es eine bewusste Entscheidung war, doch er rührte sich nicht von der Stelle. „Sie suchen jemanden“, murmelte sie ihm zu. „Ich kann helfen!“, brüllte er über die Stimmen der Erwachsenen hinweg, die noch immer wirr untereinander sprachen. Es zeigte Wirkung, denn mit einem Schlag legte sich Stille über die Versammelten und sämtliche Köpfe wandten sich den zwei Kindern zu. „Ich habe doch den besten Überblick…“ Im Vergleich zu seinen vorherigen lauten Worten, klang Ludolf nun beinahe eingeschüchtert. Er hatte sich die Aufmerksamkeit aller eingeholt, wusste aber nicht damit umzugehen. „Hör auf zu nerven, Kleiner“, knurrte einer der Männer. „Wir suchen einen Dieb. Du kannst uns nur helfen, wenn du weißt, wem das gehört.“ Der bärtige Mann, dessen krumme Nase ihn im flackernden Licht des Feuers schaurig erscheinen ließ, warf Ludolf etwas abwertend vor die Füße – so wie man einem streunenden Köter magere Knochen vor die Schnauze warf, um das irritierende Winseln nicht länger ertragen zu müssen. Im ersten Moment erkannte Historia nicht, was es war. Sie hörte lediglich, wie Ludolf neben ihr scharf die Luft einzog. Als sie genauer hinsah, entdeckte sie einen viereckigen Gegenstand, der im Staub lag. „Na? Kannst du uns sagen, wem das gehört, du neunmalkluges Gör?“ In Historias Ohren rauschte es, als sie beobachtete, wie Ludolf sich mit zitternden Händen hinab beugte und ihr Buch aufhob. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)