Unfälle passieren von Schangia ================================================================================ Kapitel 1: Der erste Tag ------------------------ Es war keine Stunde her, dass Lucci, Blueno und Kumadori von ihrer Mission nach Enies Lobby zurückgekehrt waren, und in der Zeit hatte Spandam es geschafft, sich viermal an seinem Kaffee zu verbrennen, zweimal fast die Treppe hinunterzufallen und sich einmal den Finger in seiner Schreibtischschublade einzuklemmen. Nicht unbedingt der ruhige Empfang, den Lucci sich erhofft hatte, nachdem Kumadori während ihrer Reise zurück gefühlt zwei Dutzend Kabukiszenen aufgeführt und erst dann aufgehört hatte, als er ihm ohne Vorwarnung an die Kehle gesprungen war. Recht bedacht war es vermutlich Bluenos beherztem Eingreifen zu verdanken, dass sie sich nun kein neues Mitglied als Ersatz suchen mussten, sondern weiterhin auf Kumadori setzen konnte, der den Angriff nur leicht traumatisiert überstanden hatte. Es verlangte Lucci all seine hart antrainierte Selbstkontrolle ab, diesen Schwachkopf, der durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle nun einmal ihr Vorgesetzter war, nicht mit dem Gesicht voran in seinen lächerlich großen Schreibtisch zu rammen. Und Lucci bezog großen Stolz aus seiner Selbstkontrolle, also wollte er sie nicht wegen so einer Nichtigkeit einbüßen. Ein Mann von Klasse tat das nicht. Männer wie Jabra, ja, aber der hatte auch noch nie Klasse besessen. Der Gedanke ließ Lucci einen Mundwinkel nach oben ziehen. Spandams unflätiges Geschrei hatte er schon lange ausgeblendet, aber er hatte seit einigen Monaten Gefallen daran gefunden, ihn in seinem Kopf neu zu synchronisieren. Während Spandam also in seinen Gedanken etwas von Unkrautentfernern und verstopften Abflüssen faselte, nickte Lucci nur ab und an, um wenigstens den Anschein zu erwecken, als würde er zuhören. Auf seiner Schulter fiel es Hattori bereits schwer, noch die Augen offen zu halten. Dann sagte Spandam plötzlich etwas, das ihn tatsächlich aufhorchen ließ. »Eure nächste Mission tretet ihr alle gemeinsam an.« Lucci hob fragend eine Augenbraue. Das Grinsen auf seinen Lippen verbarg seine Vorfreude. »Ein Massaker besonders großen Ausmaßes?«, fragte er. Spandam sah nicht auf, sondern betrachtete stattdessen weiterhin seine Fingernägel. »Nein, Undercover.« Und damit hatte es sich dann auch mit seiner Aufmerksamkeit. Während Lucci wieder dazu überging, Spandam in seinem Kopf noch dämlichere Dinge sagen zu lassen, als er ohnehin schon tat, lachte Jabra amüsiert auf und lehnte sich auf dem Sofa nach vorne. »Wir alle zusammen auf Undercover-Mission? Klingt nach 'ner schlechten Idee.« »Aber nur, wenn jemand von uns nicht die Klappe halten kann, chapapa.« »Dieser Jemand bist doch du, du blöde Eule!« Kalifa rückte ihre Brille zurecht und bedachte ihren Vorgesetzten mit einem skeptischen Blick. »Ich gebe Jabra ungern recht, aber es stimmt, dass einige von uns besser für Undercover-Missionen geeignet sind als andere.« Spandam winkte mit einer unwirschen Handbewegung ab. Er wirkte genervt, konnte aber unmöglich so genervt sein, wie Lucci sich hinter all seiner Professionalität fühlte. »Beschwert euch nicht, es ist schon beschlossene Sache.« Das Thema schien damit für ihn tatsächlich vom Tisch zu sein, denn statt weiter seine abgekauten Fingernägel zu bestaunen, begann er nun, gelangweilt mit Streichhölzern zu spielen. Lucci wünschte sich, dass er das lassen würde, immerhin sollte ihr Vorgesetzter genauso wenig mit Feuer spielen wie ein blinder Dreijähriger. Außerdem lagen verdammt viele Dokumente vor ihm verstreut, die potenziell Feuer fangen konnten. Aber im Prinzip war es Lucci auch egal, ob der Schwachkopf in Flammen aufging oder nicht. Wenn er sich vor Schreck die Zunge abbiss und dann nicht in der Lage war, einen Rettungsbefehl zu brüllen, könnte er vielleicht damit davonkommen, ihn jämmerlich verbrennen zu lassen. Wenn die anderen seine Sorge – oder Hoffnung, ganz wie man es sehen wollte – teilten (was sie tun sollten, wenn sie keine Vollidioten waren), ließen sie es sich nicht anmerken. Blueno versuchte sogar, zur Abwechslung etwas Produktives aus ihrem Vorgesetzten herauszukriegen. »Gibt es schon mehr Informationen zum nächsten Auftrag?« »Jup.« Spandam spielte weiterhin mit den Streichhölzern, fummelte eins nach dem anderen sehr umständlich aus der Box und ließ die Hälfte mindestens einmal fallen, bevor er sie anzündete und die Flamme gefährlich nah an seine Finger ließ, ehe er sie spuckend ausblies. Unsicher sah Blueno zu Lucci, der nun offensichtlich genervt mit den Augen rollte und selbst nachfragte. Irgendetwas musste seine Autorität ja wert sein. »Und werden diese Informationen auch an uns weitergeleitet?« »Jetzt seid doch nicht so ungeduldig! Alles zu seiner Zeit.« Das bedeutete, sie würden erst am Tag ihrer Abreise erfahren, worum es eigentlich ging. Oder besser gesagt einige Minuten nach der Abreise, sobald Blueno dank seiner Teufelskräfte zurück in Spandams Büro geeilt war, um den Teil der Dokumente an sich zu nehmen, den der Volltrottel ihnen vorher vergessen hatte zu geben. Das war bereits öfter vorgekommen, als dass alles reibungslos verlaufen war, aber für eine genaue Zahl würde er Fukurou fragen müssen. »Es ist aber etwas anderes, als ihr bisher gemacht habt, also freut euch drauf«, versuchte Spandam derweil davon abzulenken, dass er absolut keine Ahnung mehr von den Details ihres nächsten Auftrags hatte. Vermutlich handelte es sich sowieso um einen über die Maßen dämlichen Auftrag, für den sie ohnehin überqualifiziert waren. Auch das war häufiger vorgekommen als nicht. Lucci wollte sich gerade darüber beschweren, wie nervtötend es war, unter solchen Bedingungen zu arbeiten, als das geschah, was er hatte kommen sehen: Spandam passte nicht auf, wie schnell die Flamme am Streichholz hinab leckte, verbrannte sich und ließ das immer noch brennende Stück Holz vor Schreck auf den Haufen Dokumente fallen, der vor ihm ausgebreitet war. Dennoch schien er mehr mit seinem Finger beschäftigt zu sein als damit, dass das Papier immer schneller Feuer fing und mittlerweile lichterloh brannte. Ein rascher Blick zu seinen Kollegen bestätigte Luccis Vermutung, dass keiner von ihnen wirklich scharf darauf war, Spandam ohne ausdrücklichen Befehl zu helfen. Sie alle beobachteten nur mit mäßigem Interesse, wie ihr unterqualifizierter Boss wieder unterbewusst alles tat, sich selbst arbeitslos zu machen. Lucci hatte lange nichts so Befriedigendes gehört wie den verzweifelten Schrei, den ihr Vorgesetzter plötzlich ausstieß. Vielleicht biss er sich ja jetzt noch die Zunge ab, dann könnten sie alle einfach gehen und so tun, als hätten sie gar nicht bemerkt, wie er verreckt. »Was sitzt ihr denn so nutzlos rum?! Helft mir!« Wäre ja auch zu schön gewesen. Trotz des doch sehr expliziten Befehls zögerten sie alle. Schließlich spürte Lucci die erwartungsvollen Blicke der anderen Agenten auf sich, also seufzte er nur (unverhohlen genervt) und erhob sich langsam. So gemächlich wie möglich, ohne dabei widerwillig zu wirken, ging er auf den überdimensionalen Schreibtisch zu, hinter dem Spandam nur wüst mit den Händen wedelte, seit er von seinem Sessel aufgesprungen war. Lucci wollte gerade zur Tat schreiten, als Spandam tatsächlich so etwas wie Eigeninitiative zeigte, nach seinem Glas Wasser griff und es dynamisch auf die Flammen schüttete, um das Feuer selbst zu löschen. Leider konnte er selbst auf diese geringe Entfernung nicht zielen, und so landete das Wasser nicht auf den Dokumenten, sondern mit einem lauten Klatschen mitten in Luccis Gesicht. Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Selbst das Feuer schien leiser zu knistern. Dann jaulte Jabra laut auf und lachte so hysterisch, dass Lucci einen dumpfen Aufprall hinter sich hörte. Die Töle war wohl vor Lachen vom Sofa gefallen. »Ah«, Spandam blinzelte unsicher, »tut mir leid, Lucci.« Lucci konzentrierte sich darauf, das Feuer zu löschen, um seine Hände beschäftigt zu halten und Spandam nicht aus Versehen die Kehle zu punktieren. Er traute seiner Stimme nicht ganz, also sagte er erst einmal gar nichts, bis er seine Wut wieder unter Kontrolle hatte. »Die hier nehme ich dann mal an mich, wenn Sie gestatten.« Als er schließlich nach den Streichhölzern griff und sich wieder zutraute, diesem Idioten nicht den Kopf abzureißen, bemühte er sich sogar um ein Lächeln. Wenn er jedoch nach Spandams angsterfülltem Gesicht ging, versagte er auf ganzer Linie. Nun gut, nicht weiter schlimm. Ihm war sowieso nicht nach einem Lächeln zumute. Er drehte sich um und stellte Augen rollend fest, dass die anderen ihr Bestes taten, seinem Blick auszuweichen. Kaku zog sogar die Schultern nach oben und versteckte das Gesicht hinter seinem Kragen. Nur Jabra lag weiterhin lachend am Boden, als hätte er niemals etwas Witzigeres erlebt. Vielleicht hatte er das auch wirklich nicht, immerhin gab es in ihrer Laufbahn selten etwas zu lachen. Dennoch verpasste Lucci ihm einen kräftigen Tritt in die Seite, als er an ihm vorbei auf die Tür zuging. Er wartete noch, bis Hattori sich wieder auf seiner Schulter niederließ und verließ dann den Raum, bevor er sich nicht mehr im Griff hatte. Luccis Vorschlag, den er den anderen etwa eine Stunde später unterbreitete, löste nicht den Begeisterungssturm aus, den er sich erhofft, ja gar erwartet hatte. Stattdessen sahen die anderen ihn an, als hätte er vorgeschlagen, zusammen eine Mariachi-Band zu gründen und damit durchs Land zu ziehen, anstatt Menschen umzubringen. Dabei hatte er lediglich ausgesprochen, was sie alle dachten – zumindest hoffte er das, denn wenn nicht musste er am Verstand seiner Kollegen zweifeln. Er konnte nicht glauben, dass die anderen nicht sofort zugestimmt hatten, Spandam umzubringen und es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Der Mann war eine Schande für den Namen CP9 und war nur durch Vitamin B und seinen genauso nutzlosen Vater zu seiner jetzigen Position gekommen, obwohl er für den Posten vollkommen ungeeignet war und auch sonst nur mit Inkompetenz glänzen konnte. Sein Tod wäre wahrlich kein Verlust für die Menschheit, ganz im Gegenteil. Und für sie wäre es auch besser, wenn sie endlich unter jemandem arbeiten könnten, für den sie sich nicht schämen mussten. Das alles hatte er nur gedacht und nicht laut ausgesprochen, aber Lucci war sich sicher, dass die anderen das auch so sahen. Oder zumindest ebenfalls der Ansicht waren, dass Spandam ihnen tot mehr brachte als lebendig. Pustekuchen. Sie sahen ihn nur schweigend an, ihre Blicke irgendwo zwischen prüfend und unsicher – je nachdem, wie viel Angst sie vor ihm hatten. Innerlich rollte er mit den Augen; diese Idioten wussten wirklich nicht, was das Richtige für sie war. Lucci hing zwar an einigen von ihnen nicht sonderlich, aber er würde es dennoch hassen zu sehen, wie einer von ihnen wegen Spandams Inkompetenz bei einem Auftrag ums Leben kam. Schließlich war es Kalifa, die zuerst sprach. »Ich bin mir sicher, dass niemand von uns Einwände hat, was Spandams grausamen Tod angeht—« »Grausam hat er nicht gesagt«, unterbrach Jabra sie skeptisch, doch sie fuhr ungerührt fort. »—aber ist es den Aufwand wert?« Ach ja, der Aufwand. Effizienz und quid pro quo. Jeder von ihnen dachte in den meisten Fällen so, immerhin hatte man ihnen das seit frühster Kindheit eingebläut, aber Kalifa war mit Abstand am schlimmsten. Deswegen war sie perfekt für den Job als Iceburgs Sekretärin geeignet gewesen, aber in diesem Moment war das wirklich nicht zuträglich für Luccis Stimmung. Aber was war gerade schon zuträglich für seine Stimmung, von Mord und Blutvergießen mal abgesehen? Kumadoris eifriges Nicken ganz bestimmt nicht. »Wir können unsere freie Zeit auch einfach genießen. Es ist eine Weile her, dass wir alle zusammen in Enies Lobby waren.« Gerade deswegen war es ja die perfekte Gelegenheit. Sie konnten ihn gemeinsam ausschalten und sich so gegenseitig Alibis geben, falls die Marine überhaupt ermittelte, doch vermutlich würden die genauso froh über Spandams Ableben sein wie sie selbst. Außerdem wollte er – anders als Kumadori – nicht mehr Zeit mit den anderen Mitgliedern verbringen als nötig. Schon gar nicht, wenn ihnen eine Undercover-Mission bevorstand, die sie zusammen absolvieren sollten. Wie stellte Spandam sich das überhaupt vor? Sie wussten immer noch nicht, wohin es sie überhaupt treiben würde, aber Lucci befürchtete schon das Schlimmste. Sie alle auf einem Haufen bei einem lächerlichen Versuch, nicht als Assassine aufzufallen, konnte doch nur Chaos geben. Wenn sie aufflogen, bevor sie ihre Mission überhaupt richtig beginnen konnten, hätte das obendrein fatale Auswirkungen auf ihren Ruf. Am Ende durften sie dann wahrscheinlich ein ganzes Dorf oder gleich eine ganze Insel auslöschen. Was ist mit dem Aufwand, Kalifa? Hast du daran gedacht? Nein, natürlich nicht, weil Lucci der Einzige von ihnen war, der so weit dachte. Aber er musste jetzt ruhig bleiben, wenn er sie überzeugen wollte, also atmete er einmal tief durch, ehe er antwortete. »Sicherlich wäre es mit Aufwand verbunden, ihn umzubringen. Aber jeder Vorgesetzte, den wir danach zugewiesen bekommen, wird uns am Ende während seiner gesamten Amtszeit weniger Aufwand machen als Spandam in einer Woche.« Wieder waren die anderen still, aber Lucci wusste auch ohne ihre Zustimmung, dass er recht hatte. Kaku nickte nach einer Weile schließlich langsam, doch das wunderte Lucci nicht, immerhin war er der einzige Kollege, auf den er sich verlassen konnte. Nun gut, auf Blueno auch, aber der war ihm auch hörig. »Wenn man es so betrachtet, hat er recht. Ich bin es schon lange leid, unter ihm arbeiten zu müssen. Ihr doch auch.« »Sicher bin ich es leid, aber so dumm, wie der Typ ist, erledigt sich das Problem irgendwann schon von allein. Vorhin hätte er sich schließlich fast selbst in Brand gesteckt«, warf Jabra ein. Lucci musste ihm widersprechen (nicht nur aus Prinzip und Reflex, sondern weil er wie so oft falsch lag); solange dieser Schwachkopf in seiner unnötig durchdringenden Stimme weiterhin nach Hilfe rufen konnte, waren sie gezwungen, ihn zu retten, auch wenn sie eigentlich nicht wollten. Er wollte gerade etwas erwidern, als Jabra ihn spöttisch angrinste. »Oder ist das dein Problem, Lucci? Dass er dich hat dastehen lassen wie einen begossenen Kater?« Es waren Pudel, aber Jabra war noch nie gut darin gewesen, sich Sprichwörter zu merken. Es war eine dumme Provokation, auf die er wirklich nicht eingehen wollte. Fukurou legte derweil den Kopf schief. »Meinst du? Würde Lucci wirklich unseren Boss umbringen wollen, nur weil er seinen Stolz verletzt hat? Das wäre ziemlich armse—« Bevor er den Satz beenden konnte, zog Kaku ihm den Reißverschluss zu und hoffte vermutlich, dass er schnell genug gewesen war, um Lucci nicht unnötig zu reizen. Jabra lachte höhnisch auf und fixierte Lucci derweil mit einem herausfordernden Blick. »Ich rieche deinen verletzten Stolz bis hier.« »Wenigstens stinke ich nicht wie ein nasser Köter.« Da ging sie hin, seine Selbstbeherrschung, aber er hatte wirklich nicht länger die Nerven, weiterhin still zu sein. Es war ja ohnehin klar gewesen, dass ihre Diskussion so endete, sobald Jabra den Mund aufmachte. Wie erwartet sprang der auch sofort auf seine Antwort an, war in drei langen Schritten bei ihm und versuchte sich möglichst bedrohlich vor dem Sessel aufzubauen, in dem Lucci saß. Doch Lucci stand nur gelassen auf, schob den anderen mühelos zur Seite und machte sich auf den Weg zur Tür, um zum zweiten Mal an diesem Tag einen Raum zu verlassen, bevor er sich vergaß. Er legte die Hand auf die Türklinke und drehte sich noch einmal zu den anderen um. »Ich gebe euch noch ein wenig Zeit, den Plan zu überdenken«, sagte er mit einem warnenden Unterton in der Stimme, drückte die Türklinke herunter und öffnete die schwere Holztür. Lucci fand seinen zweiten Abgang noch besser als den ersten, wenn er ehrlich war. Er hatte allerdings auch nicht die letzten Worte eines sehr verwirrten und genervten Jabras gehört, der einen fragenden Blick in die Runde warf. »Von welchem Plan redet er denn? ›Lasst uns Spandam töten‹ ist nun wirklich kein Plan.« Kapitel 2: Der zweite Tag ------------------------- Obwohl Lucci bereits gerne am Vortag einen vollständig ausgereiften Plan gehabt hätte, nahm er die überraschende Unentschlossenheit der anderen mit Fassung. Schließlich lag es nicht daran, dass sie ihm nicht grundsätzlich zustimmten – jeder von ihnen wollte Spandam tot sehen, und Lucci war sich auch ziemlich sicher, dass jeder von ihnen gerne derjenige sein wollte, der ihm den Hals letzten Endes umdrehte –, sondern an der Faulheit, die sie erstaunlicherweise alle an den Tag legten. Wäre Lucci nicht so unendlich genervt mit Spandam gewesen, hätte er Jabra vielleicht sogar recht gegeben und einfach still auf den Tag gewartet, an dem der Idiot sich selbst außer Gefecht setzte. Die Zeit hatte er nun allerdings nicht mehr, weil wer wusste schon, welcher Horror ihn auf einer Undercover-Mission erwartete, an der sie alle teilnahmen? Die Hälfte von ihnen hatte er zumindest schon überzeugen können; Kaku war intelligent genug um ihn erstens nicht zu reizen und zweitens ohnehin in den meisten Angelegenheiten seiner Meinung zu sein, und Blueno folgte jedem seiner Befehle fast blind. Fukurou hatte deutlich gemacht, dass ihn die ganze Angelegenheit nicht wirklich interessierte und er sich einfach dem Mehrheitsentschluss fügen würde, was Lucci zumindest mit ihm Zeit einsparte. Blieben Kumadori, Kalifa und Jabra. Kumadori zu überreden würde sich noch am einfachsten gestalten. Dazu musste er nur ein paar dramatische, idealistische Reden darüber schwingen, wie Spandam seine Macht schändlichst missbrauchte und dass seine Ideen mit wahrer Gerechtigkeit nichts zu tun hatten. Was ja auch der Wahrheit entsprach, aber manchmal hatte Lucci das Gefühl, er wäre der Einzige, dem das eigentlich bewusst war. Aber gut, für Kumadori würde ihm etwas einfallen. Er war immerhin ein überzeugender Schauspieler. Kalifa zu überreden war an sich auch nicht schwer, solange er Argumente hatte, die sie überzeugten. Es musste sich für sie schlichtweg lohnen, dieses Risiko in Kauf zu nehmen, aber sobald er ihr mit seiner zumeist unschlagbaren Logik erklärte, warum Spandam endlich verrecken musste, würde sie schon mitmachen. Oder ihn nach getaner Arbeit zumindest nicht verpfeifen. Das wirkliche Problem stellte Jabra dar, weil er einfach nur aus Prinzip gegen Luccis Vorschlag war. Jabra hasste Spandam genauso sehr wie jeder andere von ihnen auch – vielleicht sogar ein bisschen mehr, weil ihr schwachköpfiger Boss regelmäßig Witze über Hunde riss, die er selbst zugegeben sehr amüsant fand –, aber er konnte halt nicht zugeben, dass Lucci recht hatte. Wie immer eigentlich. War ja auch nicht das erste Mal, dass sie sich in so einer Situation befanden, obwohl das letzte Mal bestimmt zehn Jahre zurücklag. Lucci seufzte schwer und schloss kurz die Augen. Er konnte die drei natürlich auch bedrohen und sie dazu zwingen, bei seinem Vorhaben mitzumachen, aber wenn ihnen eine gemeinsame Mission von wer weiß wie vielen Jahren bevorstand, war das wohl nicht die beste Idee. Nicht, dass ihm Harmonie innerhalb der Gruppe besonders wichtig war, aber er hatte wirklich keine Lust darauf, wochenlang so zu tun, als würden ihm die missbilligenden Blicke und das Zungenschnalzen der anderen nicht auffallen. Und es konnte doch nicht so schwer sein, einen Weg zu finden, die drei Sturköpfe zu überzeugen. Unter normalen Umständen wäre es das auch nicht gewesen, aber derzeit hatte Lucci ja nicht einmal in seinem eigenen Zimmer seine Ruhe. Seit bestimmt einer Stunde jammerte Jabra nun schon im Gemeinschaftsraum, weil er wieder bei irgendeiner Dame abgeblitzt war und er das nicht verkraftete. Zwischen dem Gemeinschaftsraum und seinem eigenen Zimmer lagen ein langer Gang und zwei Sätze dicker Steinwände, also war es fast schon wieder eindrucksvoll, wie laut die Töle heulte. Aber auch nur fast. Als Jabra ein besonders lautes Jaulen ausstieß, riss Lucci endgültig der Geduldsfaden. Er war ja gerade schlimmer als Spandam, verdammt noch mal. Er erhob sich so plötzlich, dass Hattori ihm beleidigt gurrend von der Schulter flog, und lief schnurstracks auf die Den Den Mushi zu, die auf seinem Schreibtisch stand. Es war an der Zeit, dass er endlich zu härteren Mitteln griff, denn so konnte es schlichtweg nicht weitergehen. Ein professioneller Hundetrainer stand noch am selben Nachmittag vor der Tür. Jabra war sogar derjenige, der ihm die Tür öffnete, und Lucci hatte ihn lange nicht so verwirrt gesehen. Vermutlich roch er, dass sein Gegenüber mit Hunden zu tun hatte – zumindest für Lucci stank der untersetzte Mann mit Halbglatze ganz fürchterlich. Darüber konnte er jedoch hinwegsehen, denn der abschätzige Blick, mit dem der kleine Mann Jabra musterte, war unbezahlbar. »Mein Name ist Korasu. Ich bin der Hundetrainer, den Sie so dringend heute noch sehen wollten.« »Hundetrainer?!« »Wie schön, dass Sie es noch geschafft haben«, schaltete Lucci sich ein, damit er etwas zu tun hatte, das ihn davon abhielt, laut loszulachen. Jabras Gesichtsausdruck machte es ihm schwer, sich weiterhin zusammenzureißen. Korasu rollte nur mit den Augen, nachdem er Lucci ebenfalls gemustert hatte. »Sie haben sehr deutlich gemacht, dass ich keine Wahl habe, wenn ich den nächsten Tag noch erleben möchte. Ihretwegen musste ich einem Stammkunden absagen.« »Das wird er Ihnen schon verzeihen«, sagte Lucci so freundlich wie möglich und versuchte immer noch vehement, sein Lachen zu unterdrücken. »Aber Sie werden verstehen, warum ich Ihre Hilfe noch heute benötige.« Korasu seufzte so genervt, wie Lucci sich seit gestern fühlte. Obwohl er es wirklich nicht erwartet hatte, war irgendetwas an der subtil menschenverachtenden Art des Hundetrainers ihm bereits ans Herz gewachsen. »Na gut, wo ist denn der Härtefall, von dem Sie erzählt haben?« »Er steht direkt vor Ihnen.« »Ha?!« Jabras teils empörter, teils erschrockener Ausruf klang noch schöner in seinen Ohren als Spandams erbärmliches Jammern gestern, als er fast in Flammen aufgegangen wäre. Sein Gesichtsausdruck, als er zu ihm herumwirbelte und ihn entgeistert anstarrte, machte Lucci glücklicher als all die Geburtstagsgeschenke der letzten fünf Jahre, die er von seinen Kollegen bekommen hatte (mit Ausnahme des Trimm-Rasierers, den Kaku ihm einst geschenkt hatte). »Du hast doch den Schuss nicht gehört!« Auf Jabras Brüllen hin hob Korasu eine Augenbraue und warf einen prüfenden Blick in Richtung Lucci, so als wollte er noch ein letztes Mal sichergehen, dass er sich nicht verhört hatte. »Na warte, du blöder Plüschball, jetzt kannst du was erleben!« Damit verwandelte Jabra sich und sprintete so schnell auf Lucci zu, wie seine kratzbürstig beharrten Wolfsbeine ihn tragen konnten. »Du hast einen Hundetrainer gerufen, weil Jabra nicht sofort zugestimmt hat, Spandam zu töten?« »Nein. Ich habe einen Hundetrainer gerufen, weil Jabra mir mit seinem Gejaule schon mein Leben lang auf die Nerven geht.« »Du musst zugeben, dass das Timing einen anderen Schluss zulässt.« Kaku sah ihn skeptisch an, ehe er wieder beobachtete, was sich seit einigen Minuten in ihrem Gemeinschaftsraum abspielte. Korasu hatte schnell geschaltet, als Jabra plötzlich zu einem Wolf geworden war. Wie aus dem Nichts hatte er eine Leine samt Halsband hervorgezaubert und Jabra mit so viel Übung um den Hals gelegt, dass selbst Lucci milde beeindruckt gewesen war. Der anschließende Stromschlag, den er dem Wolfsmenschen verpasst hatte, war noch überraschender gekommen, aber je länger Lucci darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab es. Korasu arbeitete zwar mittlerweile primär mit Hunden von sehr reicher Kundschaft, aber in jüngeren Jahren hatte er häufiger mal mit Wildtieren zu tun gehabt, bei denen solche Maßnahmen durchaus angemessen waren. Es war offensichtlich, dass Korasu kein großer Freund von Menschen war, aber von Hunden schien er auch nicht sonderlich begeistert zu sein. Lucci hinterfragte zwar die Berufswahl des kleinen Mannes, aber das änderte nichts daran, dass er ihm immer sympathischer wurde. Jedenfalls hatte der Hundetrainer nun mit den ersten Lektionen begonnen und Lucci wusste bereits jetzt, dass dieses Erlebnis jeden Beli des überteuerten Honorars wert war, das Korasu dreist verlangt hatte. Wenn Jabra Zeit gehabt hätte, hätte er ihm bestimmt einen bösen Blick nach dem anderen zugeworfen, doch Korasu hielt ihn so beschäftigt, dass er sogar damit aufgehört hatte, ihn versucht einschüchternd anzuknurren. Das Halsband hatte er Jabra immer noch nicht abgenommen, weil er ihm anscheinend nicht vertraute, ohne keine Dummheiten anzustellen – was eine weise Entscheidung war; Lucci hätte es nicht anders gemacht. Allgemein schlug Jabra sich aber nicht allzu gut. Auf Kommandos wie Sitz, Platz und Komm hörte er überhaupt nicht. Seine einzige Reaktion war in den meisten Fällen eine Beleidigung, die je nach Härtegrad einen kraftvollen Ruck an der Leine oder gleich einen Stromschlag zur Folge hatte. Als Korasu es mit Bleib versuchte, funktionierte das tatsächlich, aber Jabra war halt ein fauler Mistkerl, also wunderte Lucci das nicht. Der Hundetrainer war ferne der Ansicht, dass es unentbehrlich war, Jabra Nein und Aus beizubringen, für den Fall, dass er mal etwas in den Mund nahm, was dort nicht hineingehörte. An diesem Punkt musste Lucci sich für einige Sekunden von den anderen abwenden, weil er sein Lachen kaum zurückhalten konnte. Mittlerweile war er sich sicher, dass dies die beste Idee war, die er je gehabt hatte. Es wäre grandios gewesen, wenn nicht nur Kaku und er selbst, sondern auch die anderen Jabra so hätten sehen können. Blueno, Fukurou und Kumadori waren sonst wo, aber Kalifa war vor einiger Zeit in den Raum getreten, war minimal verwirrt stehengeblieben und hatte skeptisch zwischen Jabra und ihm hin und her gesehen, ehe sie sich die Brille gerichtet hatte und wieder gegangen war, ohne ein Wort zu sagen. Lucci war sich sicher, dass sie ihn missbilligend gemustert hatte, aber was kümmerte ihn das, wenn er dafür Zeuge von Jabras ultimativer Demütigung sein konnte. Zehn frustrierend fruchtlose Minuten später hatte Korasu anscheinend genug. Er seufzte genervt, rieb sich die Schläfe und winkte Kaku zu sich hinüber, damit dieser ihm eine Sprühflasche mit Wasser füllen konnte. Kaku zögerte zwar, tat aber wie geheißen und trat schließlich gemeinsam mit Lucci näher ans Geschehen heran. Lucci hatte eine Ahnung, was nun passieren würde, und er konnte es kaum erwarten. Dass Korasu Ahnung von seinem Beruf hatte, obwohl er Tiere nicht sonderlich zu mögen schien, wurde besonders dann deutlich, wenn er ihnen nebenher erklärte, welchen Sinn seine Übungen hatten. Die meiste Zeit hatte Lucci sich zwar auf Jabras wütendes Gesicht konzentriert, doch der nächste Satz ließ ihn aufhorchen. »Es ist wichtig, dem Hund bewusst zu machen, dass er in Ihrem Rudel an letzter Stelle steht. Wollen Sie es mal versuchen?« Korasu nickte in Kakus Richtung, der etwas unschlüssig den Kopf schief legte und fragend auf sich selbst zeigte. Korasu winkte ihn ungeduldig heran. »Nun kommen Sie, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit und jeder von Ihnen muss dazu in der Lage sein, ihn zu disziplinieren.« »Disziplinieren?! Ich hab mich wohl verhört, du alter— hey!« Ohne mit der Wimper zu zucken, spritzte Korasu Jabra eine Ladung Wasser ins Gesicht, die ihn erfolgreich zum Schweigen brachte. Dann reichte er die Flasche an Kaku weiter, der immer noch mit sich zu hadern schien. »Und jetzt Sie«, sagte er salopp. Als er bemerkte, dass Kaku noch immer zögerte, rollte er mit den Augen und wurde etwas energischer. »Seien Sie nicht zimperlich. Wenn das Tier könnte, würde es dasselbe mit Ihnen machen.« Jabra knurrte, wie nur ein gedemütigtes und in die Ecke gedrängtes Tier knurrte. »Worauf du wetten kannst, du elende— Kaku!« Jabras Augen schienen vor Wut zu brennen, als Kaku ihm zunächst zögerlich, aber dann zunehmend selbstbewusster Wasser ins Gesicht spritzte. Sogar Korasu schien zufrieden, nickte leicht und ließ die Sprühflasche im weiteren Verlauf des Trainings ganz in Kakus Obhut, der zunehmend mehr Spaß an seiner neuen Aufgabe fand. Lucci ging bei dem Anblick fast das Herz auf. Zumindest glaubte er das; er wusste ja nicht einmal, ob er überhaupt noch eins besaß. Das Training dauerte noch eine gute Stunde, nachdem Lucci dem Hundetrainer eine zusätzliche Entlohnung versprochen hatte. Kurz bevor Korasu seine Ausrüstung dann endgültig zusammenpackte, schaute Blueno noch im Gemeinschaftsraum vorbei, wenn auch sichtlich verwirrter als Kalifa. In einem seltenen Anflug von Wohlwollen wollte Lucci ihn für seine konstante Loyalität belohnen, also durfte auch Blueno Jabra Wasser ins Gesicht spritzen, wann immer dieser eine Übung nicht zu Korasus Zufriedenheit ausführte – was ziemlich häufig vorkam, wenn man bedachte, dass er es eigentlich besser wissen müsste. Lucci hatte Bluenos Augen noch nie so funkeln sehen und machte sich deswegen auch keine Sorge darüber, dass sie Jabras Training vielleicht schleifen lassen könnten, sobald der Hundetrainer sie verlassen hatte. Wenig später verabschiedete Korasu sich mit der höflichen und zugleich herabwürdigenden Distanz, die Lucci selbst nach der kurzen Zeit so an ihm zu schätzen gelernt hatte. Er bat ihn ebenfalls darum, beim nächsten Mal doch bitte im Voraus einen Termin zu vereinbaren, obwohl er durchaus verstehen konnte, warum Lucci ihn so gedrängt hatte. Korasu wünschte ihm außerdem viel Erfolg bei Jabras weiterer Erziehung, was Lucci zugleich sehr umgänglich und urkomisch fand. Und dann war der Tag auch schon zu Ende und sie hatten noch immer nicht versucht, Spandam umzubringen. Lucci war dank Jabras jämmerlichem Geheule so sehr mit ihm beschäftigt gewesen, dass er den anderen Schwachkopf völlig vergessen hatte. Erstaunlicherweise hatte Spandam sich aber auch den ganzen Tag nicht blicken lassen, was höchst ungewöhnlich war. Aber vielleicht war das auch der Grund, aus dem er Fukurou und Kumadori nicht gesehen hatte. Lucci war angefressen darüber, dass er nicht die Zeit und Ruhe gehabt hatte, sich einen ordentlichen Plan zu überlegen. Auch wenn er zugeben musste, dass der Hundetrainer seine beste Idee seit langem gewesen war. Aber gut. Jabra dürfte er für die nächsten Tage erst einmal gefügig gemacht haben, und sobald sie einen richtigen Plan hatten, war der wirkliche Mord eine Frage von Minuten. Sie hatten noch genügend Zeit. Kapitel 3: Der dritte Tag ------------------------- Als Lucci an diesem Morgen aufwachte, war seine Laune im Keller, dabei wusste er noch nicht einmal, dass er heute den schlimmsten Streit seines Lebens mit Jabra haben würde. Seine unterirdische Laune – die selbst Hattori dazu veranlasste, sich erst eine gute Viertelstunde nachdem er aufgestanden war auf seine Schulter zu setzen – hatte jedoch noch nichts mit Jabra zu tun, ganz im Gegenteil. Die Erinnerung an das Training am Vortag hob seine Stimmung sogar so weit, dass er sich ein Grinsen erlaubte, bevor er sein Zimmer verließ, um irgendetwas Essbares aufzutreiben. Und das war ein Fehler gewesen. Spandam hatte ihn zwar gestern in Ruhe gelassen (etwas, das ihm immer noch komisch vorkam, aber wer war er, dass er sich darüber beschwerte), aber dafür beglückte er ihn heute, sobald er die Küche betrat. Also, nicht persönlich, dafür war es noch zu früh, aber einer von Spandams Sekretären stand wartend neben der Kaffeemaschine. Eine gewagte Geste, die entweder von Mut oder Dummheit zeugte, aber Lucci versuchte sich zu beherrschen und dem aus der Nähe betrachtet doch sehr eingeschüchterten Mann nicht noch mehr Angst einzuflößen. Lucci fragte den Sekretär erst, was genau er von ihm wollte, nachdem er die erste Tasse Kaffee in einem langen Schluck geleert hatte. Sein Idiot von Vorgesetzter wollte ihn anscheinend so schnell wie möglich sehen, doch bevor Lucci nach Details fragen kann, war der andere Mann schon aus der Küche gesprintet. Herrlich. Mit einem entnervten Seufzen – er war schließlich allein und unbeobachtet – machte er sich daran, etwas in den Magen zu bekommen, bevor er sich seinem Schicksal fügte und zu Spandams Büro begab. Es hatte Lucci überrascht, dass Spandam überhaupt schon wach war, denn für gewöhnlich schlief er zu dieser Tageszeit noch tief und fest. Weniger überrascht war er davon, das Büro leer vorzufinden. Der Sekretär hatte zwar nicht spezifiziert, wo genau Spandam auf ihn wartete, aber Lucci hatte sich erlaubt zu hoffen, dieses Desaster auf zwei Beinen nicht schon wieder in seinen persönlichen Schlafgemächern treffen zu müssen. Da ihm aber anscheinend keine andere Wahl blieb, machte er sich nun noch ein wenig unglücklicher auf den Weg dorthin. Im Treppenhaus begegnete er Kaku, der aussah, als wollte er ihn auf seinen finsteren Gesichtsausdruck ansprechen, es sich dann aber rasch anders überlegte und ihm lediglich kurz zunickte. Vor Spandams Schlafzimmer angekommen klopfte Lucci einmal und trat dann ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Nichts, was er ungewollt zu sehen bekommen könnte, konnte schlimmer sein als alles, was ihm bisher auf seinen Missionen unter die Augen gekommen war. Hoffte er zumindest. Der Anblick von Spandam, wie er in einem mintgrünen Schlafanzug samt passender Mütze im Bett saß und sich sein Frühstück in den Mund schaufelte, ließ ihn allerdings kurz an seiner Entschlossenheit zweifeln. Doch er war ein Profi, also überwand er seinen Ekel gewohnt elegant und ging mit langen Schritten aufs Bett zu, bis er vor dessen Ende zum Stehen kam. Spandam würgte gerade bestimmt fünf Gabeln Rührei hinunter, aber das hielt ihn nicht davon ab, mit Lucci zu sprechen. Dieser versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr in der Anblick anekelte, aber trotz aller Professionalität konnte er nicht sagen, ob er damit Erfolg hatte oder nicht. Er verstand auch kaum, was genau Spandam ihm eigentlich (im wahrsten Sinne des Wortes) vorkaute, denn anstatt nach dem Schlucken mit leerem Mund weiterzureden, stopfte er sich direkt die nächste Gabelladung in den Rachen. Letzten Endes musste ein weiterer Sekretär, der sichtlich unglücklich neben dem Kopfende des Bettes stand, für Spandam übersetzen. Luccis Augen weiteten sich minimal, als man ihm verkündete, dass Spandam der Sinn nach einer Shoppingtour in San Faldo stand und er Lucci als Bodyguard (und Packesel) mitnehmen wollte. Obwohl Lucci sich sofort wieder fasste und den Befehl mit einer angedeuteten Verbeugung entgegennahm, ehe er sich umdrehte und den Raum verließ, schrie er innerlich so laut, dass er damit sogar Jabra hätte wecken können. Lucci wusste, was es bedeutete, Spandam auf eine seiner Shoppingtouren zu begleiten. Für einen Moment zog er ernsthaft in Betracht, aus dem nächsten Fenster hinaus ins Meer zu springen, doch er riss sich zusammen. Es würde zwar härter werden, als jede Mission, die er in den letzten zehn Jahren gehabt hatte, aber wenn er kurz davor stand, schreiend Amok zu laufen, konnte er sich ja zumindest in Erinnerung rufen, wie Kaku einen vor Wut schäumenden Jabra mit einer Wasserflasche bespritzte und hoffen, dass ihn das beruhigte. San Faldo war eine wunderschöne Stadt voller Farben, großartiger Architektur, ausgefallener Mode und unzähligen Menschen. Kurzum, ein perfekter Ort, um Spandam entweder umzulegen, ohne dass es jemand bemerkte, oder ihn zufällig in der Menschenmasse zu verlieren und dann für die nächsten drei Stunden zu suchen. Letzteres war bereits häufiger vorgekommen, als Lucci und die anderen Mitglieder zugeben wollten, dafür, dass ihre Ausbildung und Erfahrung so etwas eigentlich hätte verhindern sollen. Lucci erlaubte sich, für einen Moment die Augen zu schließen und die salzige Luft einzuatmen, als er vor Spandam aus dem Zug stieg. Er mochte San Faldo, wirklich, aber die Vorstellung, mit seinem Idioten von Boss durch die vor Menschen nur so überquellenden Gassen zu streifen, während dieser vor jedem Schaufenster stehenblieb und laut überlegte, ob er sich den darin befindlichen Schwachsinn kaufen oder nicht kaufen sollte, bescherte ihm jetzt schon hohen Blutdruck. Das Schlimmste war allerdings, dass sich ihm hier die perfekte Gelegenheit bot, Spandam umzubringen, er es aber nicht konnte, solange nicht alle anderen Mitglieder entweder auf seiner Seite waren oder es ihnen zumindest so weit egal war, dass sie dicht hielten, sofern die Regierung dem Fall wirklich nachgehen würde. Sein Leid hätte heute ein Ende finden können, aber nein, Jabra, Kalifa und Kumadori mussten ihm ja einen Strich durch die Rechnung machen. Dafür würde er Jabra erst einmal eine Stunde mit dem Halsband schocken, das Korasu ihnen dagelassen hatte. Was er mit Kumadori und Kalifa machen wollte, um seiner Wut und Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen, wusste er noch nicht, aber er war ja kreativ, da fiel ihm bestimmt etwas Schönes ein, bis er wieder in Enies Lobby war. Genug Zeit zum Nachdenken hatte Lucci definitiv. Offiziell war er zwar als Spandams Bodyguard hier, aber es hatte bisher noch nie ein versuchtes Attentat in San Faldo gegeben. Sicher, die Insel kannte Verbrechen genauso wie jeder andere Teil der Welt, aber die spielten sich meist in dreckigen Gassen zwischen eng beieinanderstehenden Häusern ab, fernab vom bunten Treiben der Hauptstraßen. Spandam war leider so sicher wie in keiner anderen Stadt, und das wurmte ihn gewaltig. Ein wenig Abwechslung wäre angenehm gewesen, denn so war der Ausflug furchtbar langweilig für ihn. Alles, was Spandam kaufte, war im Prinzip Schrott in verschiedenen Farben und Größen. Und der einzige Grund, aus dem Lucci hatte mitkommen müssen, war, um besagten Schrott für ihn zu tragen. Ein CP9-Mitglied konnte halt so viel tragen wie ein Dutzend gewöhnlicher Soldaten, und Lucci konnte davon noch einmal das Doppelte schleppen. Was er dank Spandams unersättlicher Gier nach Schnickschnack auch tat. Der sinnvollste Teil seiner Ausbeute war bisher die kunstvoll verzierte Maske, die er sich vor vier Geschäften gekauft hatte, und die zumindest seine lächerliche Fratze vor der Welt verbarg. Zu schade, dass er sie nur an die Wand in seinem Arbeitszimmer hängen wollte. Lucci hatte sich mittlerweile mit seinem Schicksal abgefunden, er konnte ja ohnehin nichts dagegen tun. Und solange Spandam damit beschäftigt war, jede noch so offensichtliche Touristenfalle leer zu kaufen, sprach er wenigstens nicht mit ihm. Man musste in allem das Positive sehen, hatte Kaku mal zu ihm gesagt, auch wenn er sich sicher war, dass er es anders gemeint hatte. Also hoffte er einfach stumm darauf, dass sie bald nach Enies Lobby zurückkehren konnten und der Tag nicht ganz verschwendet war. Seine gesamte mentale Kapazität ging nämlich dafür drauf, Spandam so weit zu ignorieren, dass er ihn nicht aus schierem Versehen umbrachte. Somit hatte er nicht einmal die Möglichkeit, die Zeit sinnvoll zu nutzen und sich einen ausgereiften Plan für den Rest der Woche zu überlegen. Als sie endlich den Heimweg antraten, war es bereits später Nachmittag, also würden sie erst gegen Abend ankommen. Wäre Lucci nicht so versessen darauf gewesen, auch jetzt noch ein tadelloses Beispiel an Professionalität zu sein, hätte jeder Passant die Wellen des puren Hasses spüren können, die von ihm ausgingen. Und dann geschah es. Worüber genau Spandam stolperte, wusste er nicht – schließlich hatte er ihn ignoriert und nur ab und an genickt –, doch plötzlich kam der Schwachkopf so sehr ins Wanken, dass er sich aus Reflex an Lucci festklammerte, der schräg hinter ihm lief (wie auch immer er das schaffte war ihm ein Rätsel), und ihn mit sich zog, als er laut und ziemlich erbärmlich schreiend zu Boden ging. Lucci entkam einem Kontakt mit dem Boden so elegant, wie es ihm in der Situation möglich war, aber Spandam landete unter lautem Krachen und Gejammer auf der Hälfte der Päckchen und Tüten, die Lucci hatte fallen lassen – nicht, weil er sie nicht alle hätte festhalten können, sondern weil er hoffte, dass irgendetwas davon kaputt ging. Die anderen Soldaten, die sie begleiteten, waren im ersten Moment zu geschockt, um zu reagieren. Auch Lucci weigerte sich schlicht, Spandam aufzuhelfen, weil er genau wusste, dass jede Berührung seinerseits in einem Shigan durch Spandams Kehle enden würde. Stattdessen hob er also gemächlich die verstreuten Einkäufe auf und warf Spandam einen drohenden Blick zu, als dieser sich darüber beschweren wollte, dass Lucci ihm nicht aufhalf. Erstaunlicherweise verstand Spandam, hielt den Mund und stand ohne Hilfe auf. Lucci unterdrückte ein verzweifeltes Knurren. Wenn er sich nicht etwas mehr Mühe gab, seine Abneigung gegenüber seinem Vorgesetzten zu verbergen, würde auch der beste Plan nicht verbergen können, wer Spandam umgebracht hatte. Als sie endlich wieder in Enies Lobby angekommen waren, war Lucci so kurz vor einem Tobsuchtsanfall wie noch nie zuvor. Er schaffte es noch, Spandams Einkäufe in dessen Zimmer zu tragen und sich standesgemäß mit einer angedeuteten Verbeugung zu entschuldigen, aber eine weitere Bemerkung von seinem Vorgesetzten und er wäre explodiert. Alles, was er jetzt noch wollte, war sich in sein Zimmer zurückzuziehen, etwa eine halbe Stunde über Hattoris Köpfchen streicheln (Lucci hatte ihn Zuhause gelassen, weil er bei ihrem letzten Besuch in San Faldo einen Streit mit einer lokalen Taubenschar begonnen hatte), und dann vielleicht noch über einen Plan nachdenken, wie er ihrem Elend ein Ende setzen konnte. Lucci hatte nicht geplant, einen Blick in ihren Gemeinschaftsraum zu werfen, auch wenn er auf seinem Weg lag. Als er jedoch sah, wie Kaku vor dem Eingang herumlungerte, stutzte er. Er roch verdächtiges Verhalten zehn Kilometer gegen den Wind, besonders bei seinen Kollegen, und Kakus auffällige Reaktion, sowie er Lucci bemerkte – ein alarmiertes Flüstern in das Innere des Raums und ein panischer Gesichtsausdruck –, wäre streng betrachtet eine Schande für die CP9. Er ahnte Schlimmes, wenn sogar Kaku sich so verhielt. »Lucci, schon zurück?« Auf Kakus Frage hob er eine Augenbraue und beobachtete zunehmend irritiert, wie der andere sich zwischen ihm und dem Durchgang aufbaute, um ihm die Sicht ins Innere zu versperren. »Offensichtlich«, antwortete er flach und nickte in Richtung Gemeinschaftsraum. »Was geht hier vor?« »Ist das Lucci? Lass ihn rein, Kaku, ich warte schon seit heute Mittag darauf, dass er seinen Pelzarsch wieder hierher schwingt!« Jabras Stimme, die plötzlich aus dem Inneren des Raums tönte, ätzte sich wie Säure in seine Gehörgänge. Lucci war ohnehin schon kurz davor, das Gebäude in Trümmer zu legen, da war Jabras lächerliche Provokation genau das Richtige, um ein wenig Dampf abzulassen. Mühelos schob er Kaku beiseite, der ihn fast schon anflehte, den Raum nicht zu betreten, und bereitete sich innerlich darauf vor, dass sie sich vielleicht doch ein Ersatzmitglied besorgen mussten. Der Gemeinschaftsraum sah nicht anders aus, als er ihn das letzte Mal verlassen hatte – bis auf ein Detail. Lucci warf einen kurzen Blick auf die anderen Mitglieder, die tatsächlich alle anwesend waren. Fukurou und Kalifa saßen etwas abseits und schienen beide nicht sonderlich interessiert an dem Geschehen, auch wenn zumindest Fukurous Blick beunruhigt gen Boden huschte, als er Lucci sah. Kumadori ging in einer unnötig dramatischen Episode auf die Knie und murmelte irgendetwas, von dem er sich nicht die Mühe machte, es zu hören. Blueno war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, womit er noch entsetzter aussah als Kaku, der ihm in den Raum gefolgt war. Nur Jabra, dieses Aas, stand in der Mitte des Raums neben einer Box und grinste ihn provozierend bis über beide Ohren an. Genau das, was Lucci in seinem momentanen Gemütszustand brauchte. Er hätte Kaku einfach ignorieren und weitergehen sollen. Stattdessen ging er einige Schritte weiter auf Jabra zu und fixierte ihn mit einem Blick, der sonst nur für Spandam reserviert war. Lucci wusste genau, was dieses schreckliche Ding neben Jabra war, aber er musste dennoch sichergehen. Und wenn er es nur tat, um sich mit irgendetwas zu beschäftigen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. »Was ist das?« Jabra lachte rau auf und Lucci schwor, dass er sich nur im Griff hatte, weil er starr war vor Wut. »Schlägt das Alter dir auf die Augen? Ein Katzenklo.« Auf Jabras Gesicht breitete sich das höhnischste Grinsen aus, das er je gesehen hatte. »Ich hab gehört, ihr Katzen sitzt gerne in Boxen.« Das Schlimmste daran war, dass Lucci tatsächlich manchmal den Drang verspürte, sich in Boxen zu setzen, doch er besaß auch genügend Selbstkontrolle, sich davon abzuhalten. Anders als Jabra, der pünktlich zu jedem Vollmond so laut jaulte, dass er sie alle aufweckte und in seltenen Fällen sogar zum Revierpinkler wurde. Luccis Stolz auf seine Selbstbeherrschung kannte keine Grenzen, aber nachdem er bereits den ganzen Tag mit Spandam verbracht hatte, war er so nah dran, Jabra mit seinem Halsband zu Tode zu schocken. Damit würde er auch eher davonkommen als Spandam zu ermorden. Keines der anderen Mitglieder wagte, etwas zu sagen. Bis auf Luccis stetig lauter werdendes Knurren war es totenstill im Raum. »Was ist, hat's dir die Sprache verschlagen?« Jabra besaß die Dreistigkeit, auf ihn zuzukommen. Nur ein bisschen näher und Lucci würde sich vergessen. »Willst du's nicht mal ausprobieren? Oder bist du dir zu vornehm, vor uns aufs Töpfchen zu gehen?« Am Rande nahm er wahr, wie Kaku einen Schritt auf ihn zumachte, ignorierte es aber, so wie er Kaku schon vor einigen Minuten hätte ignorieren sollen. Lucci war nur eine dumme Bemerkung davon entfernt, Jabra an die Kehle zu springen und ihn zu erledigen, und das ganz ohne Teufelskräfte. Er war so unendlich wütend, dass er mit seinen eigenen Zähnen spüren wollte, wie er dem anderen das Genick brach. Die Luft war zum Zerreißen gespannt, als plötzlich Spandam laut jammernd in den Raum kam, wie immer völlig unempfänglich für die Situation, in die er hineingerannt war. »Lucci! Wir müssen zurück nach San Faldo und meine neue Tischlampe umtauschen. Sie ist kaputtgegangen, als du sie hast fallen lassen.« Das war's. Lucci spürte, wie ihm jegliche Professionalität aus den Gesichtszügen wich. Alle Anwesenden waren zu fassungslos, um etwas zu sagen. Nur Jabra sah kurzzeitig aus, als wollte er am liebsten laut loslachen, doch als er einen Blick in Luccis Gesicht warf, verschluckte er sich beinahe an der eigenen Spucke. Hätte er sich in seiner Wolfsform befunden, wäre er bestimmt mit dem Schwanz zwischen den Beinen getürmt. Spandam hingegen bemerkte die Gefahr natürlich erst, als sie ihm in Form eines kurz vorm Explodieren stehenden Luccis ins Gesicht starrte. »Sicher, dass das nicht passiert ist, als Sie wegen Ihrer gewohnten Inkompetenz gestolpert sind und sich mit dem Hinterteil zuerst darauf gesetzt haben?«, knurrte Lucci ihm entgegen und spürte, wie sich seine Hände in Pranken verwandelten. Mit dem letzten Bisschen Kontrolle zwang er sich dazu, Spandam zu siezen. Er konnte sich nicht vorstellen, was für ein Gesicht er machte, aber er musste so furchteinflößend wirken, dass Spandam sich doch tatsächlich einnässte, als er ihn sah, sich schreiend umdrehte und so schnell den Raum verließ, wie ihn noch niemand von ihnen je hatte rennen sehen. Für einen Moment hatten die anderen aufgehört zu atmen. Alle Blicke waren auf Lucci gerichtet und jeder von ihnen war bereit, im Ernstfall zu verschwinden, bevor sie zu dem armen Bastard wurden, der seine Wut jetzt auf sich zog. Jedes Mitglied zuckte zusammen, als Lucci sich wieder an sie richtete. »Morgen früh um acht werden wir einen Plan besprechen. Ich dulde keine Widerrede.« Bei diesen Worten sah er jedem von ihnen nacheinander in die Augen, um sicherzugehen, dass seine Nachricht unmissverständlich angekommen war. Dann drehte er sich um und wollte gerade den Raum verlassen, als ihm ein Gedanke kam. Lucci warf einen Blick über die Schulter zu Jabra, der hart schluckte und nur mit Mühe ein Winseln unterdrücken konnte. »Und schaff mir dieses Ding aus den Augen. Wenn es morgen noch hier ist, wirst du dir wünschen, dass ich dir stattdessen meinen Schuh ins Maul ramme.« Kapitel 4: Der vierte Tag ------------------------- Das einzig Gute, was der vergangene Tag gebracht hatte, war, dass jetzt alle auf seiner Seite waren. Es war das erste Mal seit langem, dass sie sich alle so früh im Gemeinschaftsraum befanden, und Lucci wäre fast stolz auf sie gewesen, wenn ihm nicht noch so lebhaft im Gedächtnis geblieben wäre, wie sie sich in den vorangegangenen Tagen gegen ihn gestellt hatten. Aber da waren die meisten von ihnen aus dem gleichen Holz geschnitzt; anstatt vergeben und vergessen hieß es für sie in der Regel erinnern und nachtragen. Ihnen ihre fehlende Kooperation nachzutragen war jedoch etwas, das er in Angriff nehmen konnte, sobald sie Spandam endlich ausgeschaltet hatten. Die Hälfte ihrer Woche in Enies Lobby war bereits verstrichen und bis auf die Tatsache, dass er ihren Vorgesetzten beinahe in einem Tobsuchtsanfall vor Zeugen erledigt hätte, war nicht viel geschehen, worüber es sich zu reden lohnte. (Wenigstens trug Hattori es ihm nicht mehr nach, dass er ihn nicht mit nach San Faldo genommen hatte.) Keines der anderen Mitglieder sagte zunächst etwas, als sie Lucci teils erwartungsvoll, teils unruhig ansahen und darauf warteten, dass er endlich mit ihnen sprach. Obwohl die Zeit drängte, wollte Lucci diesen Moment so lang hinauszögern wie er konnte. Die anderen konnten ruhig ein wenig ins Schwitzen geraten, immerhin hatten sie ihn auch lang genug warten lassen. Und, wenn er ehrlich war, genoss er die Stille. Natürlich konnte dieser wunderschöne Moment nicht ewig anhalten. »Also«, Jabra lehnte sich in einem letzten Akt der Provokation in seinem Sessel zurück, »wie sieht dein genialer Plan aus?« Lucci hätte lang und breit erklären können, dass der fehlende Plan einzig und allein ihre Schuld war. Schließlich hatte er oft genug versucht, in Ruhe über ihr Vorgehen nachzudenken, war jedoch immer von seinen werten Kollegen unterbrochen worden. Aber er sparte sich den Atem, immerhin hatten sie dafür nun wirklich keine Zeit. Er konnte ihnen später noch Vorwürfe machen. Außerdem hatten diese Saboteure keinen ausgefeilten Plan verdient; sie sollten ihre Köpfe selbst anstrengen und sich etwas überlegen. »Da ich weiß, dass einige von euch nur in Aktion treten, wenn etwas für sie dabei rumspringt, machen wir einen Wettstreit aus dem Ganzen.« »Einen Wettstreit?« Ihm war klar, dass er mit dieser Formulierung zumindest Jabra für sein Vorhaben interessieren konnte. Aber selbst Kalifa rückte versucht beiläufig ihre Brille zurecht und Kaku und Blueno tauschten vielsagende Blicke aus. Fukurou sah wie erwartet weiterhin recht desinteressiert aus, doch das war ihm recht, solange er dicht hielt. Kumadori stampfte einmal mit seinem Stab auf den harten Boden. »Ein nobler Wettstreit unter Ehrenmännern!« ›Ehrenmänner‹ war etwas weit hergeholt, wie Lucci fand, aber wer war er, seinem enthusiastischen Kollegen zu widersprechen? Nachdem seine Worte bei allen ein wenig gesackt waren, fuhr er mit seiner Erklärung fort. Es gab keine festgelegte Methode, wie sie Spandam ermorden sollten, sodass jeder nach eigenem Ermessen handeln konnte. Das einzige Kriterium war, dass es wie ein Unfall aussehen musste, damit sie nicht vor Gericht aussagen mussten und nachher noch bestraft wurden, nur weil sie der Welt einen Gefallen getan hatten. Jabra lehnte sich nach vorne und stützte seine Ellbogen auf den Knien ab. »Und was gibt es zu gewinnen?« »Einen Preis von unermesslichem Wert. Oder, wahlweise, einen Wunsch, den ich euch ohne Zögern erfüllen muss«, antwortete Lucci und beobachtete mit Vergnügen, wie Jabras Augen blitzten. Dabei bluffte er nur. Selbst wenn sie einen Preis verdient hätte, besaß er nichts, was sich als Preis gelohnt hätte. Und angenommen, einer der anderen brachte Spandam tatsächlich um, hatte er dennoch nicht im Sinn, ihnen einen Wunsch zu erfüllen. Auch das hatten sie nicht verdient. Ob sie nun ahnten, dass er sie nur anlog oder nicht, sie schienen dennoch alle soweit mit seiner Idee einverstanden zu sein – oder hatten zumindest keine Einwände, solange sie keinen Finger krümmen mussten. Besonders Jabra wirkte, als wäre er zu allem bereit. Doch es war Blueno, der sich zuerst erhob und einen entschiedenen Schritt nach vorne machte. »Ich fange an.« Jabra murmelte etwas in seinen Bart, das verdächtig nach einer Beleidigung klang, aber Lucci beachtete ihn nicht weiter. Stattdessen grinste er Blueno an und warf dann einen Blick in die Runde. »Ganz wie du willst. Wir treffen uns zum Sonnenuntergang wieder hier.« Dass Lucci Blueno den Rest des Tages unbemerkt wie ein Schatten folgte, bedeutete nicht, dass er ihn nicht dazu in der Lage hielt, Spandam zu töten. Er vertraute jedem Mitglied gleich wenig, mit wenigen, situationsbedingten Ausnahmen. Aber er wollte zum einen einfach sichergehen, dass Blueno es auch wirklich so durchzog, wie er es sich vorstellte, und zum anderen wollte Lucci dabei sein, wenn Spandam endlich den Löffel abgab. Letzteres war etwas Persönliches und das nicht erst, seit Spandam ihm Wasser ins Gesicht gepfeffert hatte. Es dauerte eine Weile, bis Blueno nach seiner heroischen Verkündung zur Tat schreiten konnte, was größtenteils daran lag, dass Spandam ein Langschläfer war. Das war er immer, aber gerade heute schlief er noch länger als sonst, vermutlich weil er sich am Vortag mal zur Abwechslung körperlich betätigt hatte. Bluenos erste Chance kam gegen Mittag, als Spandam endlich von seinem Schlafzimmer in sein Arbeitszimmer kroch und es dabei doch tatsächlich schaffte, eine Kanne brühenden Kaffees zu tragen, ohne etwas zu verschütten. Sowie er Blueno erkannte, gestikulierte er träge in dessen Richtung und gähnte ihm entgegen, dass er ihm gefälligst assistieren sollte. Wobei genau war weder Blueno noch Lucci klar, denn immerhin tat Spandam selten etwas, bei dem ein kompetenter Mensch Assistenz benötigen würde – aber vermutlich war das der Knackpunkt. Lucci konnte nur ahnen, welcher Plan in Bluenos Kopf heranreifte. Hätte er raten müssen, wäre er wohl davon ausgegangen, dass Blueno ihren Boss irgendwie dazu bringen wollte, sich den Kaffee über den Körper zu schütten, und während Spandam wie am Spieß schrie, würde er mit dem weitermachen, was hinterher am natürlichsten aussah. Aber eigentlich wollte Lucci gar nicht raten, am Ende war er ja doch nur enttäuscht. Es geschah, als Spandam noch etwa drei Meter von seinem Schreibtisch entfernt war. Blueno stellte ihm unauffällig ein Bein, obwohl Spandam noch so verschlafen war, dass er auch einem offensichtlichen Hindernis zum Opfer gefallen wäre. Wie erwartet stolperte Spandam, wirbelte aber unerwartet so stark herum, dass er den Kaffee stattdessen Blueno ins Gesicht schüttete. Nun, Blueno hätte ausweichen können. Er war ein Mitglied der CP9 mit fast gottgleichen Reflexen und jahrelangem Training. Er hatte die Rokushiki gemeistert und unzählige Missionen zur Zufriedenheit aller ausgeführt. Also nutzte er eine der Techniken, die er gelernt hatte – aber nicht Soru, so wie jeder von ihnen es vermutlich getan hätte (es war die schlauste Idee, fand Lucci), sondern Tekkai, weil Blueno simpel war und immer instinktiv Tekkai nutzte, wenn er sich in einer brenzligen Lage fand. Zumindest zuckte er nicht einmal mit den Wimpern, als ihn die heiße Flüssigkeit mit einem ebenso lauten Klatschen im Gesicht traf, wie Luccis Hand, die dieser sich gegen die Stirn schlug. So viel also zum ersten Versuch. Der Ansatz für Bluenos zweiten Versuch war nicht schlecht, das musste Lucci ihm lassen. Spandam war niemand, den man mit spitzen, scharfen oder leicht entflammbaren Gegenständen herumhantieren lassen sollte, aber da er viel an seinem Schreibtisch saß, um zumindest so zu tun, als hätte er etwas von Bedeutung zu erledigen, ergaben sich über den Tag verteilt unzählige Möglichkeiten, die mit etwas Hilfe eskalieren konnten. Außerdem hatte Spandam Blueno ohnehin dazu verdonnert, ihm den Rest des Tages zu helfen. Normalerweise war das leider Luccis Job, weil Spandams einzige Stärke darin lag zu erkennen, welcher seiner Untergebenen am kompetentesten war, aber er hatte wohl zu viel Angst, ihn zu fragen, nach dem, was am Vortag geschehen war. War Lucci nur recht. Wenn Blueno jetzt an seiner Stelle litt, war das in seinen Augen nur ausgleichende Gerechtigkeit. Während Spandam ihm also mit irgendeiner Nichtigkeit in den Ohren lag, ließ Blueno den Blick über dessen Schreibtisch wandern, um ein geeignetes Werkzeug zu finden. Es war das tückische Blitzen des Brieföffners, das schließlich seine Aufmerksamkeit auf sich zog, und Lucci verstand seine Wahl durchaus. Spandam schnitt sich regelmäßig an der zugegeben nicht allzu scharfen Klinge; solange Blueno es irgendwie so hinbiegen konnte, dass er sich das Ding vielleicht selbst in die Kehle rammte, konnte der Plan durchaus gelingen. Als Bluenos Versuch jedoch damit endete, dass Spandam den Brieföffner statt in seinen eigenen Körper fast durch Bluenos Hand jagte (das arme Stück Metall hatte keine Chance gegen seinen Tekkai), fragte Lucci sich für einen kurzen Moment, ob er eigentlich nichts Besseres zu tun hatte, als seinem Kollegen beim Versagen zuzusehen. Als Blueno seinen dritten Versuch startete, hatte Lucci die Hoffnung ehrlich gesagt schon aufgegeben. Es musste auch mehr eine Kurzschlussreaktion seinerseits gewesen sein als ein ausgeklügelter Plan, zumindest wollte Lucci das sehr für ihn hoffen. Es war bereits später Nachmittag, als Spandam sich eine Belohnung in Form von Kuchen für seine harte Arbeit genehmigen wollte (Lucci hatte ihn den ganzen Tag lang beobachtet; von welcher harten Arbeit er sprach, war ihm schleierhaft), und deswegen zusammen mit Blueno sein Büro verließ. Blueno sah so fertig mit der Welt aus, wie Lucci ihn selten gesehen hatte, aber nach allem, was er an diesem Tag schon hatte ertragen müssen, wunderte ihn das nicht. Als sie an der Treppe angekommen waren, funkelten Bluenos Augen plötzlich fast schon manisch. Lucci hatte ein ungutes Gefühl, besaß aber weder genug Mitgefühl noch hatte er sonderlich Lust, Blueno vor einem eventuellen Fehltritt zu bewahren. So endete es damit, dass Lucci wie in Zeitlupe miterlebte, wie ein Mitglied des weltweit gefürchtetsten Assassinkommandos so massiv versagte, dass es eigentlich schon nicht mehr lustig war. Lucci konnte nur vermuten, dass Blueno Spandam die Treppe hatte herunterstoßen wollen. Was stattdessen geschehen war, entzog sich seinem eigenen Verständnis, aber irgendwie hatte Spandam es geschafft, sich nicht nur an Blueno festzukrallen, während er panisch schrie, sondern diesen auch noch so zu drehen, dass er an seiner Stelle die Treppen hinabstürzte. Ohne an Tekkai zu denken, wenn Lucci nach dem Brüllen ging, das er hatte hören können. Entgegen all seinen Erwartungen war Lucci fast von Spandam beeindruckt. Es verlangte schon ein gewisses Genie, ein Mitglied der CP9 die Treppe herunterfallen zu lassen. Als die Zeit für ihr abendliches Treffen gekommen war, war Blueno der Letzte, auf den sie warteten. Es hätte Lucci nicht gewundert, wenn er sich mit seiner Abwesenheit die Schande ersparen wollte zu erklären, wie Spandam ihm gleich dreimal überlegen gewesen war, aber einige Minuten später tauchte er tatsächlich auf, das Gesicht grimmig und die Stirn in Falten gelegt. Jabra musterte ihn skeptisch. »Du bist zu spät. Wir haben gesagt, dass wir uns zum Sonnenuntergang treffen.« »Im Gegensatz zu dir kann ich die Sonne noch sehen, du verlauster Zwerg«, entgegnete Blueno mürrisch, ohne Jabra anzusehen. Lucci war noch nie so stolz auf ihn gewesen, besonders als er sah, dass Jabra zu geschockt war, um etwas zu erwidern. Fukurou und Kaku lachten sogar leise. Eigentlich hatte Lucci zuvor noch überlegt, ob er Blueno auf seine beschämenden Fehltritte ansprechen sollte, doch für diese Aussage wollte er ihm die Schmach ersparen. Stattdessen wartete er, bis sich alle beruhigt hatten, und begann dann zu reden. »Wir haben noch zwei Tage, bevor wir versetzt werden.« Er warf einen prüfenden Blick in die Runde. »Irgendwelche Vorschläge?« »Wir können den ganzen Mist auch einfach abblasen«, maulte Jabra, der sich wieder gefangen hatte und sich nun mit einem Finger im Ohr pulte. Lucci rollte mit den Augen. »Ernstgemeinte Vorschläge?« »Das war ernstgemeint, du sturer Kuschelkater!« Darauf hob er nur abschätzig eine Augenbraue. War es Jabra überhaupt wert, dass er darauf antwortete? Lucci blickte den anderen lange beinahe ausdruckslos an und wandte schließlich wortlos den Kopf ab. »Wie ich bereits sagte—« »Ignorier mich nicht!« Wie immer besaß Jabra null Selbstbeherrschung, aber daran störte Lucci sich nicht. »Zwei Tage dürften eigentlich genug Zeit für uns sein.« Die anderen nickten zustimmend. Vermutlich kratzte es auch ein wenig an ihrem Stolz, dass Blueno so eine lächerlich simple Aufgabe nicht hatte erledigen können. Die CP9 versagte nicht – schon gar nicht, wenn sie lediglich jemanden wie Spandam ausschalten mussten. »Spandam hatte schon immer mehr Glück als Verstand«, meinte Kaku nachdenklich. »Vielleicht bringt es mehr, wenn wir zu zweit agieren?« An sich kein dummer Gedanke, aber bevor jemand darauf eingehen konnte, fuhr Jabra dazwischen. »Du willst mit jemandem zusammenarbeiten? Kriegst du's allein nicht auf die Kette?« Kaku mochte auf seine Provokation zwar nicht anspringen, doch Lucci ließ es sich nicht nehmen. Er sah darin eine Möglichkeit zu bekommen, was er in diesem Fall wollte, und das ohne große Anstrengung oder Widerstand. »Dann nehme ich an, dass du dich dazu in der Lage siehst, Spandam allein auszuschalten?« Mit einem selbstgefälligen Grinsen auf den Lippen plusterte Jabra sich auf und schlug sich mit einer Faust gegen die Brust. Blueno verdrehte die Augen und Lucci musste sich Mühe geben, sein eigenes Grinsen zurückzuhalten. »Darauf kannst du wetten, Plüschball!« Kapitel 5: Der fünfte Tag ------------------------- Lucci hätte wissen müssen, dass Jabra einmal mehr nichts weiter als große Töne gespuckt hatte. Das tat er immer, wenn er sich in seiner Ehre gekränkt sah, aber wirklich etwas tun, um ihm das Gegenteil zu beweisen, tat er selten. Er plusterte sich lediglich auf, so wie die Wölfe in diesen grausamen (aber durchaus erheiternden) Märchen, und ließ dann am Ende dennoch andere die Drecksarbeit erledigen. Erneut begann er den Tag also mit schlechter Laune. Hattori flog ihm schon gar nicht mehr auf die Schulter, sondern beobachtete ihn nur aufmerksam von der Fensterbank aus, so als wollte er sichergehen, dass von ihm keine Gefahr ausging. Lucci rollte mit den Augen – als würde er Hattori etwas tun – und öffnete seine Zimmertür. Sie hatten zwar nun endlich eine Art Plan, aber es ging dennoch nicht so voran, wie er es gerne gehabt hätte. Die Zeit lief ihnen davon, also hatte er eigentlich erwartet, dass die anderen Schlange stehen würden, um Spandams Leben zu einem Ende zu bringen, wenn Jabra es schon nicht tat. Als er jedoch die Küche erreichte, um sich am besten gleich drei Tassen Kaffee zu genehmigen, ehe er sich mit den anderen Mitgliedern herumschlug, hörte er ein vertrautes Jaulen aus dem Gemeinschaftsraum, gefolgt von einigen vertrauen Stimmen. Lucci hob eine Augenbraue, leerte schnell zumindest eine Tasse des schwarzen Gebräus und folgte dann dem Lärm. Er ahnte, dass das schnell in einen Fehler ausarten konnte, der sich hätte vermeiden lassen, aber er hatte noch genau zwei Tage, um Spandam umzubringen, und an diesem Punkt war ihm alles andere schlichtweg egal. Als er den Gemeinschaftsraum betrat, musste er sich gar nicht lange umschauen, um die Geräuschquelle zu finden. Von Kalifa war wie erwartet keine Spur zu sehen, und auch Blueno war (vermutlich aus Scham) nicht anwesend. Fukurou hatte sich auf den Sessel niedergelassen, der am weitesten von dem jammernden Häufchen Elend entfernt war, und versuchte, in Ruhe ein Buch zu lesen. Kaku und Kumadori saßen auf der großen Couch in der Mitte des Raumes, während Jabra sich auf einem der breiten Sessel zusammengerollt hatte und laut jammerte. Für einen Moment sah es so aus, als würde er sich am liebsten über die Distanz hinweg an Kumadoris Schulter werfen, aber vielleicht bildete Lucci sich das auch nur ein, weil er immer das Schlechteste von dem anderen dachte. »Warum nur hat sie mich zurückgewiesen?!« Mehr Informationen brauchte Lucci nicht, um zu verstehen, was hier gerade vor sich ging. Mit großen Schritten ging er auf die anderen zu und ließ sich in einem der Sessel nieder. »Ist das etwa immer noch ein Thema?« Er schlug die Beine übereinander und musterte Jabra abschätzig. »Weil dein Fell verfilzt ist, Straßenköter. Deshalb.« »Kann ja nicht jeder sein ganzes Gehalt in Haarpflegeprodukte stecken!«, keifte er zurück, bevor er den Kopf von Lucci abwandte. Kaku hob eine Augenbraue. »Aber rechtfertigen tut er sich nicht?« »Er weiß, dass Lucci recht hat«, erwiderte Fukurou aus seiner Ecke, ohne von seinem Buch aufzusehen. Kumadori hingegen schlug sich mit der Faust auf die Brust und räusperte sich. »Solange man einen edlen Geist hat, macht es nichts, ob die Haare filzig oder seidig weich sind.« Ob Jabra nun einen edlen Geist hatte oder nicht, war nichts, was Kaku beurteilen konnte oder wollte. Der Gedanke weckte jedoch eine Erinnerung in ihm. Er dachte daran zurück, wie Pauli einst tatsächlich so dumm gewesen war, Luccis Haare anfassen zu wollen und danach eine Woche nicht zur Arbeit hatte kommen können. Er dachte auch daran zurück, wie Lucci vor vielen, vielen Jahren so ausgelaugt von ihrem Training gewesen war, dass er an seiner Schulter lehnend eingenickt war. Luccis Haare an seiner Wange und seinem Hals hatten sich wirklich unglaublich weich angefühlt, so unwirklich fast, dass Kaku jetzt für einen kurzen Moment zweifelte, ob er sich das nicht alles nur einbildete; aber das gehörte nicht hierher. Lucci indes besah sich das Trauerspiel eine Weile schweigend. Jedes Mitglied der CP9 mochte brandgefährlich sein, aber das schloss nicht aus, dass mehr als die Hälfte von ihnen schlichtweg Idioten waren. Er dachte eine Weile darüber nach, wie er weiter vorgehen sollte und seufzte dann hörbar. »Also kann ich davon ausgehen, dass du heute genauso nutzlos sein wirst, wie die vergangenen Tage auch schon.« Es war eine Aussage, keine Frage, ausgesprochen mit der trockenen Stumpfheit eines Mannes, der in den letzten Tagen mehrmals darüber nachgedacht hatte, nicht doch den Beruf zu wechseln. Das war allerdings nicht wirklich eine Option, also musste er sich etwas einfallen lassen. Aber erst musste er sich davon abhalten, Jabra für seinen empörten Gesichtsausdruck zu verprügeln. »Ich bin ja wohl nicht in der emotionalen Verfassung, jetzt jemanden umzubringen!« Lucci verdrehte die Augen und stand wortlos auf. Alles musste man in diesem Saftladen selbst machen. Eigentlich plante Lucci den Großteil seiner Vorhaben vor ihrer Ausführung durch. Er konnte auch durchaus gut improvisieren – musste er in seinem Geschäft auch –, aber Spontanität war nichts, mit dem er sich rühmen wollte. Dann wiederum durfte er diesen Tag nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sein erster Weg führte ihn also zu Spandams Büro. Kurz überlegte er, ob er sich zumindest einen groben Plan zurechtlegen sollte, aber er beschloss schnell, einfach einzutreten. Irgendetwas würde ihm schon einfallen. Er öffnete die Tür ohne zu klopfen und war milde überrascht, dass sich nur Spandam im Raum befand. Normalerweise hatte er immer mindestens einen Sekretär um sich, den er eigentlich gar nicht brauchte, aber diesmal beugte er sich ohne jegliche Gesellschaft über ein Dokument und sah allen Ernstes so aus, als würde er arbeiten. Spandam hob sogar mit einem genervten Schnalzen den Kopf und wollte sich für die Störung beschweren, doch die Worte blieben ihm umgehend im Hals stecken, als er Lucci erkannte. Lucci stellte mit Genugtuung fest, wie seinem Gegenüber sofort jede Farbe aus dem Gesicht wich. Dann wanderte sein Blick kurz hinter Spandam; das riesige Fenster an der ihm gegenüberliegenden Wand war weit geöffnet, um die frische Morgenluft in das sonst eher stickige Zimmer zu lassen. Die Idee kam ihm, ohne dass er groß darüber nachdenken musste. »Irgendwelche Aufgaben, Chef? Wir langweilen uns ein wenig ohne Auftrag.« Die Hände in den Hosentaschen war er der Inbegriff von eleganter Lässigkeit, während Spandam sich mit jeder verstreichenden Sekunde mehr anzuspannen schien. Dabei lagen bestimmt noch drei Meter Abstand und ein unnötig großer Schreibtisch zwischen ihnen. »Euer nächster Auftrag beginnt in ein paar Tagen. Warum entspannt ihr euch nicht einfach?« Spandam war selten wirklich misstrauisch, schließlich wog er sich mit den Mitgliedern seines eigenen kleinen Killerkommandos um sich herum immer beschützt. Die vergangenen Erlebnisse mit Lucci schienen ihn jedoch so traumatisiert zu haben, dass er jetzt zögerte. Probeweise machte Lucci einen Schritt nach vorne und beobachtete, wie Spandam sich wiederum weiter zurücklehnte. Ob er ihn wohl dazu bringen konnte, aus reiner Angst vor ihm aus dem Fenster zu springen? Wenn nicht war es auch nicht tragisch. Dann musste er ihn halt selbst dazu überreden und er hatte großes Vertrauen in seine Überredungskünste. Er musste nur herausfinden, wie er am besten auf das Thema zu sprechen kommen konnte. »Wir sind Mörder. Unser Blutdurst lässt uns nie zur Ruhe kommen.« Spandam rutsche unruhig auf seinem Sessel herum. »Ist das so?« Wie zur Antwort ging Lucci noch einen Schritt auf ihn zu. Er verbarg das Grinsen, das an seinen Mundwinkeln zog, so gut wie möglich; er hatte jetzt schon zu viel Spaß an dieser Herausforderung. »Wir wissen nicht mehr, womit wir uns ablenken sollen«, sagte er, nachdem Spandam nichts erwiderte. »Einigen ist so langweilig, dass sie sich neue Dinge beibringen. Kalifa hat sogar vor zwei Tagen begonnen, eine neue Fremdsprache zu lernen.« Er ging noch einen Schritt vorwärts, doch anstatt zu flüchten, presste Spandam sich nur weiter in seinen Sessel. Vermutlich konnte Lucci also lange darauf warten, dass er von sich aus sprang. Dann musste er eben schwerere Geschütze auffahren. »Dann lern doch auch was Neues. Kann in eurem Geschäft ja nicht schaden.« Spandam versuchte zu sehr, seine Worte beiläufig klingen zu lassen, doch Lucci hätte ihm auch blind ansehen können, wie unwohl er sich fühlte. Mit vorgetäuschtem Interesse hob er eine Augenbraue. »Zum Beispiel?« »Was weiß ich«, Spandam zuckte mit den Schultern und vermied es, ihn anzusehen, »Fremdsprachen hat Kalifa ja schon abgedeckt, dann kümmere du dich doch ums Tanzen.« Erneut hob Lucci seine Augenbraue, doch diesmal war er ehrlich überrascht. Er wusste nicht, was Spandam ihm mit dem Vorschlag sagen wollte, also entschied er sich, darüber hinwegzusehen und weiterzumachen, wie geplant. »Oder etwas, das eine größere Herausforderung darstellt.« Betont beiläufig (er machte das um Längen besser als sein Vorgesetzter) sah er sich im Raum um, bis Hattori zufällig durch das geöffnete Fenster in Spandams Büro flog und sich zufrieden gurrend auf Luccis Schulter niederließ. Ein Grinsen unterdrückend kraulte Lucci ihm das Köpfchen und nahm sich vor, ihm später ein besonders leckeres Abendessen zusammenzustellen. Dann sah er Spandam direkt ins Gesicht und machte sich nicht mehr die Mühe, das Grinsen zu verbergen. »Fliegen zu lernen erscheint mir sinnvoll.« »Als ob ein Mensch Fliegen lernen könnte.« Als ob Lucci es überhaupt lernen wollte, aber darum ging es jetzt nicht. Sonst besaß dieser Idiot doch auch nicht so viel gesunden Menschenverstand. »Sind Sie sich sicher?« Er setzte sein überzeugendstes Raubtierlächeln auf. »Unsere Körper sind zu viel mehr imstande, als wir denken.« Damit hatte er sein Interesse geweckt. Das konnte Lucci daran sehen, wie Spandams Augen sich weiteten und der Mund ihm leicht offenstand. »Meinst du das ernst?« »Selbstverständlich.« Erneut ging er einen Schritt nach vorne und diesmal lehnte Spandam sich auch vor. Jetzt hatte er ihn. Dabei redete er absoluten Schwachsinn. Menschen konnten nicht fliegen wie Vögel, obwohl Spandam ihm vielleicht noch voraushatte, dass zumindest sein Kopf hohl war, wenn es seine Knochen schon nicht waren. »Man braucht nur die richtige Technik, aber das Prinzip bleibt gleich.« Bevor Spandam Zeit dazu hatte, seine Worte erneut infrage zu stellen, fuhr er fort: »Wir beherrschen Geppo, und streng genommen schweben wir damit durch die Luft.« Taten sie nicht, aber das wusste Spandam ja nicht. Eigentlich setzte seine Position voraus, dass er die Rokushiki zumindest als Techniken verstand, wenn er sie schon nicht selbst ausführen konnte, aber das wäre bei Spandam nun wirklich zu viel verlangt gewesen. Für Lucci war es einer der seltenen Momente, in denen das fehlende Fachwissen seines Vorgesetzten ihm tatsächlich gelegen kam, denn so verdächtigte er ihn nicht annähernd so sehr, wie er eigentlich sollte. »Also meinst du wirklich, dass man mit der richtigen Technik fliegen könnte?« »Wenn ich es Ihnen doch sage.« Seine Stimme wurde tiefer, verschwörerisch. »Soll ich es demonstrieren?« »Du hast es schon ausprobiert?!« Anstatt zu antworten, ging Lucci nur gemächlichen Schrittes auf das Fenster zu. Ohne noch groß zu zögern, sprang Spandam aus dem Sessel und trat ebenfalls näher ans Fenster. Lucci musste sich zurückhalten, ihn nicht einfach jetzt schon zu schubsen, aber für den Fall, dass sein Plan nicht funktionierte, war das seine Notlösung. Lucci fasste sich gespielt entrüstet an die Brust. »Meinen Sie, ich würde Ihnen diesen Vorschlag unterbreiten, wenn ich nicht absolut davon überzeugt wäre?« Spandam sah ihn mit großen Augen an, als wäre er der Messias selbst. Luccis Worte schienen Sinn für ihn ergeben zu haben, also überlegte er jetzt, bis er entschlossen nickte, sich mit einer Hand am Fensterrahmen festhielt und schon einmal einen Fuß auf die Fensterbank stellte. »Und was genau muss ich tun?«, fragte er, den Blick nach oben in den Himmel gerichtet. Lucci hörte Engel singen – oder Hattori gurrte ihm ein neues Lied ins Ohr, das mochte auch sein. Jedenfalls war er seinem Ziel noch nie näher gewesen. Er wollte gerade zu seinem finalen Schlag ansetzen, als die Tür zu Spandams Büro mit so viel Schwung geöffnet wurde, das sie gegen die steinerne Wand knallte. Während die Engel wieder verstummten gab Lucci sich der Hoffnung hin, dass Spandam sich vielleicht so sehr erschreckte, dass er von sich aus fiel, aber nein, ganz im Gegenteil; er zuckte zwar zusammen, stieg dann jedoch wütend von der Fensterbank und ging zurück zu seinem Schreibtisch. »Was ist denn los, Jabra?«, fuhr er den Störenfried empört an. Jabra. Natürlich. Ganz langsam drehte Lucci sich um und machte sich nicht die geringste Mühe, seine Mordlust aus seinen Augen zu verbannen. Spandam stand ohnehin mit dem Rücken zu ihm. Jabra hingegen stoppte abrupt in seiner Erklärung, die Lucci geflissentlich ausgeblendet hatte, und brauchte fünf Sekunden zu lang für Luccis Geschmack um zu realisieren, dass er gerade seinen Plan durchkreuzt hatte. Lucci war fest entschlossen, diese Woche mit einem Toten enden zu lassen. Und wenn es nicht Spandam war, den er ausschalten konnte, würde er sich auch mit Jabra begnügen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)