Omniscient von lady_j (YuKa) ================================================================================ Kapitel 4: Madrid ----------------- Baihuzu vs. F Sangre Neo Borg vs. PPB All Starz BBA Revolution vs. Barthez Soldiers Dranzer zog sirrend Kreise in der Bowl. Kai stand auf dem Podest und beobachtete seinen Blade aus halb geschlossenen Augen. Es war wie Meditation. Beinahe konnte er die ausgeglichenen Schwingungen körperlich fühlen. Selbst die schwelende Hitze Suzakus in seinen Eingeweiden war hinnehmbar. Da er in der letzten Runde nicht ernsthaft gekämpft hatte, war er erstaunlich ausgeruht, doch der Preis dafür war einfach zu hoch gewesen. Ja, er hatte Daichi unterschätzt, doch wenn Kai eines von sich behaupten konnte, dann, dass er nicht zweimal denselben Fehler machte. Und so trainierte er seitdem verbissen in jeder freien Minute. Von Madrid hatte er noch gar nichts gesehen, mit Ausnahme des Hotels und des Stadions, das sie außerhalb der Wettkämpfe zum Trainieren nutzen durften. Es wurde eine Liste geführt, sodass nicht zwei Teams zur gleichen Zeit die Arenen beanspruchen konnten, und Yuriy hatte ihnen gleich mehrere Zeitfenster gebucht. Andere Coaches wie Hitoshi Kinomiya oder Judy Mizuhara waren darüber gar nicht erfreut gewesen, doch ihre Einwände waren bei der Turnierleitung auf taube Ohren gestoßen. Es gab ein wenig weiter weg noch mehr Trainingsmöglichkeiten, die beinahe so gut ausgestattet waren wie das Stadion. Selbst Boris und Sergeij hatten sich amüsiert gezeigt, als sie davon hörten. Gerade Boris, der die Technikerrolle in ihrem Team übernommen hatte, profitierte von den Geräten, die ihm hier zur Verfügung standen. Sie würden als nächstes gegen die PPB All Starz antreten, gegen Max und Rick. Kai stellte fest, dass er sich auf das Match freute. Er hatte in der Vergangenheit viel zu selten gegen Max gebladet, selbst in Übungskämpfen. Und er wusste, dass der immer für eine Überraschung gut war. Das machte die Matches interessant. Rick hingegen war langweilig und nervtötend. Alles was er konnte war eine Attacke nach der anderen auszuführen, und das war mental mindestens genauso kräftezehrend wie körperlich. Kai war froh, dass Yuriy dieses Match übernehmen würde. Sein Teamchef war pragmatischer als er selbst, er würde gegen jeden antreten, den man ihm vor die Nase setzte. Just in diesem Moment betrat Yuriy die Halle. Kai brauchte sich nicht umzudrehen, er erkannte ihn inzwischen am Geräusch seiner Schritte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der andere neben ihn trat und ebenfalls zu Dranzer blickte, der gerade waghalsige Haken schlug. „Lass uns mal ein Doppel probieren”, sagte Yuriy. Kai ließ Dranzer in seine Hand springen und wandte sich ihm zu. „Ein Doppel?” „Ja. Du hast das Match gestern doch gesehen. Das könnte uns auch irgendwann passieren. Und dann will ich darauf vorbereitet sein.” „Hm”, machte Kai. Yuriy hatte schon recht: Das Battle zwischen Baihuzu und F Sangre hatte wohl alle aus dem Konzept gebracht. Noch dazu, als erstere verloren. Rei und Lai hatten, wie auch Yuriy und Kai, schon in ihrer Kindheit zusammen gebladet und man müsste annehmen, dass sie ein Doppel perfekt beherrschten. Doch nur eine kleine Irritation reichte, um das Gleichgewicht zu stören. Trotzdem war Kai skeptisch. „Ich sage dir, was passieren wird, wenn wir den Novae Rog und den Blazing Gig verbinden: Die Arena wird aussehen wie Moskaus Straßen bei Tauwetter.” „Und um genau das zu verhindern, sollten wir trainieren”, entgegnete Yuriy aufgeräumt. Kai zögerte noch immer. Er hatte nie im Doppel gespielt und würde selbst bei einer Herausforderung auch alles daran setzen, dass es so blieb. Aber sein Leader hatte durchaus einen Punkt, und außerdem war er wohl einer der wenigen Menschen, denen Kai überhaupt zutraute, ein Partnermatch mit ihm austragen zu können. „Also schön”, seufzte er schließlich. Sie starteten gemeinsam. Dranzer und Wolborg landeten gleichzeitig in der Arena und begannen, sich zu umkreisen. Dann scherte Wolborg aus, vollführte ein paar Kurven, und Kai verstand, dass er folgen sollte. Er ließ Dranzer aufschließen. Es war überraschend leicht für sie, sich synchron zu verhalten. Sie kannten die Bewegungsmuster des jeweils anderen, und außerdem waren beide Blades Ausdauertypen. Irgendwann individualisierten sie ihre Moves wieder, ohne jedoch vom übergreifenden Rhythmus abzuweichen: Mal zog Dranzer eine etwas längere Runde, mal umkreise Wolborg ihn spielerisch, bevor er wieder in die eigene Bahn zurückkehrte. „So weit, so gut”, sagte Yuriy, „Dann lass uns mal eine Attacke starten.” Und hier begannen die Schwierigkeiten. Sobald Yuriy die Kraft seines Bit Beasts kanalisierte, breitete sich Kälte rund um die Bowl aus. Eiskristalle wuchsen über die glatten Flächen und Wolborgs Rotation löste einen schneidend kalten Windzug aus. Als Kai dann jedoch Suzaku rief, passierte genau das, was er vorausgesehen hatte: Sie wurden in ein Wechselbad aus Heiß und Kalt getauscht. Das Eis schmolz und bildete Pfützen, durch die beide Blades schlingerten. Es wurde so schlimm, dass sie gezwungen waren, die Runde zu beenden. „Hm”, machte Yuriy nur, „Noch mal.” So vergingen einige Versuche. Es war unmöglich, das Feuer und Eis ihrer Bitbeasts zu vereinen, ohne dass dabei eine riesige Sauerei entstand. Noch dazu schienen sich ihre Attacken gegenseitig die Kraft zu rauben, sich zu neutralisieren statt einander zu verstärken. Hatte diese Ironie sie anfangs noch zu müdem Grinsen hingerissen, so wurden sie nun immer frustrierter. Und das war nicht gerade förderlich für ihre Leistung. Schließlich sahen sie sich ratlos an, die Blades surrten währenddessen unbeirrt durch die Arena. „Scheiße”, sagte Yuriy schlicht. Kai verzog den Mund und hockte sich an den Rand der Bowl, folgte der Bahn ihrer Blades mit Blicken. Dann rief er Dranzer zurück. Um sie herum hatten sich überall Wasserlachen gebildet, vermutlich würden sie bald die Arena wechseln müssen, denn es sah ganz so aus, als würde sich am Boden der jetzigen ein kleiner See bilden. Wolborg wirbelte das Wasser auf und einige der Spritzer trafen Kai ins Gesicht. Was war nur los? War Wolborg zu schwach? Immerhin hatte Yuriy auch gegen Daichi verloren. Vielleicht war er nicht mehr stark genug, um mit ihren Gegnern mitzuhalten? So ganz glaubte Kai selbst nicht daran - außerdem war Yuriy noch immer die Ruhe selbst. „Letzter Versuch”, beschloss Kai grimmig und stellte sich wieder aufrecht hin. Sie starteten, und wie immer fanden die Blades schnell zu ihrem Rhythmus. Allein das würde genügen, um weniger geübte Blader zu verunsichern, aber hier spielten sie auf Weltniveau und brauchten unbedingt eine Attacke. Sie konnten sich kein Doppel leisten, wenn sie ihre Gegner nicht angreifen konnten. Kai spürte Suzaku, deren Wärme sich nun überall in ihm ausgebreitet hatte. In diesem Augenblick jedoch war es nicht unangenehm. Ohne wirklich zu merken, was er tat, ließ er sie frei und sie stieg als unförmige Präsenz über seinem Blade auf. Er konnte sich nicht lang an ihrer Anwesenheit erfreuen, denn nun wurde auch Wolborg von der Aura seines Bitbeasts umschlossen. Dabei entstand erschreckend plötzlich ein Tosen, das alle anderen Geräusche schluckte. Die Luft geriet in Bewegung wie zuvor, fuhr in ihre Kleidung, Kais langer Schal peitschte wild in seinem Rücken hin und her. Er blinzelte gegen die Böen an, wagte nicht, den Blick abzuwenden und nachzusehen, was Yuriy trieb. Die beiden Präsenzen berührten sich, verschränkten sich ineinander und Kai hatte Mühe, Suzaku unter Kontrolle zu behalten. Das Machtgefälle zwischen ihnen drohte, zu Gunsten seines Bit Beasts umzuschlagen. Sie zerrte an ihm, auf seiner Haut breitete sich ein Brennen aus, als würde er von tausenden kleiner Sandkörner getroffen. Die Bit Beasts erkannten einander, Kai fühlte, wie sein Phönix zu dem Wolf gezogen wurde, wie sie ihm zu entgleiten drohte. Er hielt sie zurück, es fühlte sich an, als würde er gegen einen Blizzard ankämpfen. Was zur Hölle machte Yuriy? Warum ließ er zu, dass Wolborg ihn so drangsalierte? In diesem Moment realisierte er, dass kein Sand auf ihn einprasselte, sondern winzige, scharfe Eiskristalle. Er kniff die Augen zusammen, um sich besser konzentrieren zu können. Sehen konnte er in dem Wirbel der Elemente sowieso nichts mehr. Suzaku beherrschte seine Gedanken, während Wolborgs eisige Winde immer wieder über ihn hinwegfegten. „Kai!” Das war Yuriys Stimme, irgendwo schräg hinter ihm. „Kai, hör auf, so abzublocken, verdammt!” Kai schüttelte leicht den Kopf, noch immer war er auf Suzaku fokussiert. Was sollte das heißen? Er fühlte, wie Frost sich in seine Haut brannte. Wolborg kam ihm immer näher und Suzaku schien ihn nicht vor dem Wolf beschützen zu wollen. Das einzige, was Wolborg aufhielt, war Kais Wille. Plötzlich spürte er eine Berührung. Yuriy hatte die Hand auf seine Schulter gelegt, packte ihn in einem festen Griff. Und damit brach Kais mentale Barriere. Er machte einen scharfen Atemzug. Yuriy stand vor ihm, die blauen Augen riesig in seinem Kindergesicht. Der Pullover, den er trug, war ihm viel zu groß und als er sprach, stand sein Atem sichtbar in der Luft. „Volkov sagt, dass wir zusammen kämpfen”, sagte er, und Kai war geschockt, wie hoch seine eigene Stimme klang, als er antwortete: „Aber wer bekommt das schwarze Beyblade?” Daraufhin veränderte sich Yuriys Miene, wurde grimmig und entschlossen. „Der Stärkere natürlich, Dummkopf.” Kai wurde wieder in die Gegenwart katapultiert. Sein Geist war wie ein leckendes Gefäß, strömte ungehindert, all die Gedanken flossen aus ihm heraus: Die Angst, gegen Kinomiya zu verlieren oder erst gar nicht das Finale zu erreichen; die Freude, die es machte, in einem Turnier anzutreten, über dem kein bedrohlicher Schatten lag; die Unsicherheit darüber, dass er Yuriy anziehender fand als ihm lieb war. - All das offenbarte er bevor er noch realisieren konnte, was überhaupt gerade passierte. Er spürte nun beide Bitbeasts, ihre konträren Kräfte, die doch, irgendwie, in diesem Moment eine Einheit bildeten. Und dann war da noch etwas, das er zuerst nicht einordnen konnte. Yuriy selbst. Sie waren durch Suzaku und Wolborg miteinander verbunden und es war seltsam, denn Kai konnte sich keinen Reim auf die Signale machen, die ihn erreichten. Sie waren so vielfältig, so wirr. Da waren Nervosität und Aufregung und eine Energie wie von einer frostigen Windbö. Es war, als erhaschte Kai einige von Yuriys Gedanken, die direkt auf ihn gerichtet waren, doch der Moment war so schnell vorbei, dass er nicht sicher sein konnte. Und unter alledem lag etwas Dunkles, Bedrohliches, wie ein Abgrund aus Angst und Wut. Intuitiv lehnte Kai sich vor, als wollte er in diese Schwärze spähen - Etwas traf ihn, das sich anfühlte wie ein Schlag geballter Energie. Mit einem Mal wich alle Luft aus seinen Lungen und für einen Augenblick stieg Panik in ihm hoch, dann konnte er wieder atmen. Er hörte seinen Puls in seinem Schädel wiederhallen, Yuriys Finger, kalt wie immer, krallten sich in seine Schulter. Die Signale verebbten. Hatte Yuriy sich ihm verschlossen? Hatte er ihn absichtlich zurückgedrängt? In diesem Moment ging ein Wirbel aus Feuer und Eis über sie hinweg, das Ergebnis der vereinten Kräfte ihrer Bitbeasts. Er musste sich wegdrehen und schützte seinen Kopf reflexartig mit den Armen. Nach nur ein paar Sekunden war es vorbei. Suzaku sank wieder in ihn zurück und unbewusst ächzte er, als sie wie Lava in alle Winkel seines Körpers schoss. Doch schon senkte sich die Temperatur auf ein erträgliches Maß. Sein Bit Beast war zufrieden mit sich. Kai blinzelte. Rund um die Arena waren der Boden vollkommen zerkratzt, die Bowl hatte einen großen Sprung. War ihre Attacke wirklich so stark gewesen? Er drehte sich zu Yuriy um, der die Hand halb erhoben hatte, als wollte er sie an seine Stirn legen. Sein Gesicht entspannte sich in diesem Moment und er öffnete die Augen, um Kai anzusehen. Die Luft zwischen ihnen vibrierte förmlich, er konnte den Blick nicht von ihm lassen und Yuriy schien es ähnlich zu gehen. Was hatte er gespürt? War alles, das Kai entglitten war, bei ihm angekommen? Und was war dieses Dunkel, auf das er gestoßen war? „Das war...intensiv”, brachte er schließlich mit heiserer Stimme hervor. Als Yuriy daraufhin nickte, löste sich endlich der Bann. Kai stieß die Luft aus und merkte, wie sein Atem dabei zitterte. Dann drang ein Geräusch an seine Ohren. Er machte einen Schritt auf die Arena zu, um ihren Boden sehen zu können. Dort waren ihre Blades, kreiselten ruhig in der Mitte. „Was...machst du für einen Scheiß, Kai”, sagte Yuriy hinter ihm, „Warum hast du Wolborg so lange abgeblockt?” „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du dein Bit Beast auf mich hetzen wirst?”, entgegnete Kai. „Auf dich hetzen? Es ist der Sinn eines Doppels, dass sich unsere Kräfte vereinen!” „Wolborgs Kräfte sind aber konträr zu Suzakus”, erklärte er sich, „Was hätte denn bitte aus einem direkten Zusammenstoß entstehen können?” Sein Teamchef sah ihn an als hätte er den Verstand verloren. „Verdammt noch mal, Kai, du weißt doch ganz genau, dass… Nein.” Seine Augen weiteten sich. „Nein, du weißt es nicht. Scheiße, gibt es überhaupt Erinnerungen in deinem Hirn, die dir etwas nützen?” Vielleicht wollte er anfangen zu lachen, doch dann zuckte er plötzlich zusammen und keuchte. „Was ist?”, fragte Kai alarmiert. Yuriy stand noch immer vornüber gebeugt und strich sich langsam mit der Hand über das Gesicht. „Nichts, uh…” Er hielt kurz inne. „Nichts.” Die Vorhänge waren zugezogen, als Kai gegen Abend das Hotelzimmer betrat. Er wusste instinktiv, dass etwas nicht stimmte. „Yuriy?“, fragte er leise in den Raum herein und erhielt eine Antwort aus Richtung des Bettes seines Teamchefs. „Alles in Ordnung?“ Rascheln von Laken. „Nein.“ „Was ist los?“ Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Selbst im Halbdunkel sah Yuriy furchtbar aus. „Hast du was Falsches gegessen?“, fragte er, versuchte, belustigt zu klingen und scheiterte, weil er ahnte, dass es so einfach nicht war. „Nein, das ist…eine Art Migräne.“ „Aber du hattest nie Migräne!“, sagte er und merkte selbst, wie dumm das klang. Hatte der andere bei ihrem Doppel doch mehr abbekommen als gedacht? Ihm selbst war schon den ganzen Tag lang schwindelig und weder frische Luft noch Wasser hatten es besser gemacht. Auf Yuriys Gesicht breitete sich ein müdes Lächeln aus. „Eine Erinnerung an Volkov“, sagte er, „Es ist schon ewig nichts mehr passiert, ich hatte gehofft, dass es von allein weggegangen ist. Vielleicht hat unser Match heute Morgen irgendetwas ausgelöst.“ Bei Volkovs Namen war Kai hellhörig geworden. Automatisch legte er dem anderen eine Hand auf die Stirn, doch statt Fieber spürte er kalten Schweiß. „Wie lange dauert es, bis es vorbei ist?“, fragte er. Obwohl es ihm offensichtlich ziemlich schlecht ging, brachte Yuriy ein trockenes Lachen zustande. „Es hat noch gar nicht richtig angefangen.“ Die nächsten Stunden waren grausam. Kai konnte nicht viel tun. Am Anfang saß er nur da und redete mit Yuriy, weil er glaubte, dass die Gesellschaft ihn vielleicht ablenkte, doch er merkte, dass es dem anderen immer schlechter ging. Seine kläglichen Versuche, etwas für seinen Leader zu tun scheiterten an seinem mickrigen Wissen über Hausmittel und an Yuriys Zynismus. Es hilft doch sowieso nicht. Mach dir nicht die Mühe. Irgendwann hörte er, dass Boris und Sergeij wieder in ihr Zimmer kamen, das gleich nebenan lag, also ging er zu ihnen, widerwillig, doch die beiden wussten mit Sicherheit eher, was nun zu tun war. Boris kam auch sofort, wühlte ein wenig in Yuriys Sachen herum und hielt plötzlich die stärksten Schmerztabletten in der Hand, die Kai je gesehen hatte. „Vielleicht helfen sie ja wieder ein bisschen“, brummte er, „Es ist ja lange nichts mehr passiert.“ Dann brauchte er jedoch noch ein paar Minuten, um ihren Teamchef davon zu überzeugen, sie wirklich zu nehmen. Yuriy schien einen ausgewachsenen Ekel gegen diese Tabletten zu hegen. Es war das erste Mal, dass sie nicht stritten, nicht einmal stichelten. Boris und Kai saßen auf dem Sofa, hielten Yuriy im Blick und sagten gar nichts. Ihr Teamchef schlief eine Weile, eingelullt von den Tabletten, dann stand er plötzlich auf, stürzte ins Bad und erbrach sich heftig. Sie sprangen beide auf, doch Boris hielt ihn zurück. „Für drei Menschen ist da drin eh kein Platz.” Kai hörte leises Gemurmel, bevor sie zusammen wieder zurückkamen, Yuriy hatte sich auf Boris gestützt. Während der ihn wieder auf das Bett sinken ließ, füllte Kai ein Glas mit Wasser, das er ihm reichte. Er trank nur ein paar kleine Schlucke, bevor er sich mit einem leisen Stöhnen wieder nach hinten sinken ließ und die Augen schloss. Wieder schien er wegzudämmern und Kai und Boris nahmen erneut ihre Plätze auf dem Sofa ein. „Was ist passiert?”, fragte Kai schließlich. „Wir wissen es nicht”, antwortete Boris und seufzte. „Nach dem Untergang von Borg haben sie unser Blut untersucht. Ich habe die Ärzte damals reden gehört. Yuriy war vollgepumpt mit irgendwelchem Zeug. Sie haben nie vollständig herausgefunden, was alles in ihm drin war.” Er machte eine kurze Pause, weil Yuriy sich bewegte. Er drehte aber nur den Kopf und lag dann wieder still. „Diese...Migräne begann später. Zuerst war sie auch noch ganz leicht. Aber mit jedem Mal wurde es stärker, bis es ihn komplett umgeworfen hat. Manchmal tagelang. Die Ärzte haben einiges mit ihm angestellt, aber es gab nie ein eindeutiges Ergebnis. Kyrill Pavlowitsch vermutet, dass durch eine der Behandlungen von Borg die Blutgefäße in seinem Gehirn geschädigt wurden. Vielleicht, als sie ihn in den verdammten Inkubator gesteckt haben, um ihn mit Informationen vollzustopfen. Das Gehirn hält diese Belastung irgendwann nicht mehr aus. Und um das auszugleichen, haben sie ihm vielleicht zwei, drei Gegenmittel gegeben, die die Migräne verschleierten. Ohne Volkov gab es nach dem Zusammenbruch von Borg natürlich keine Medikamente mehr, aber die Gefäße bilden sich nun einmal nicht zurück.” Kai machte einen langen, müden Atemzug, doch ansonsten sagte er nichts. „Wir dachten trotzdem, es würde besser werden”, fuhr Boris fort, „Sergeij und mir geht es gut, und Yuriy hatte seit Monaten keine Anfälle mehr. Die letzten waren auch nicht so stark. Wahrscheinlich ist es der Stress hier bei der Meisterschaft, der es jetzt so schlimm macht.” Kai dachte an ihr Training. „Er spricht die ganze Zeit davon, dass wir unbedingt gewinnen müssen”, sagte er, „Als würde es für ihn um mehr gehen als nur den Titel.” „Das ist mir auch schon aufgefallen”, sagte Boris. „Weißt du, warum?” „Nein. Ich hatte gehofft, er hat mit dir darüber gesprochen. Wo ihr doch das Tagteam seid und alles.” „Ich hatte die gleiche Vermutung, nur umgedreht”, entgegnete Kai, „Weil du sein bester Freund bist.” „Tja. Sieht aus, als dürften selbst wir nicht alles wissen.” Für eine Weile herrschte Stille. Sie dachten wohl beide über das nach, was sie gerade erfahren hatten. Wahrscheinlich, so vermutete Kai, verfluchte Boris Yuriy innerlich gerade genauso heftig wie er selbst. Doch das brachte jetzt alles nichts. „Er sollte sich schonen”, meinte er schließlich und nickte in Richtung des Bettes. Boris lachte freudlos. „Viel Spaß dabei, ihm das zu erklären. Außerdem ist er da nicht der einzige. Es ist spät, Kai“, fügte er hinzu, und tatsächlich, es war inzwischen nach Mitternacht, „Geh rüber und sag Sergeij, er soll herkommen. Morgen früh ist ein Meeting. Da musst du hingehen. Wir kümmern uns um Yuriy.“ Er machte eine kleine Pause. „Du kannst in meinem Bett schlafen.“ Doch Kai schlief nicht. Er lag auf dem Rücken auf dem Sofa in Boris‘ und Sergeijs Zimmer und starrte die Decke an, aber von nebenan war nichts mehr zu hören. Am nächsten Morgen ging er zu dem Meeting, müde, gereizt. Die anderen Manager und Daitenji sahen ihn besorgt an, aber er behauptete, Yuriy arbeitete an einem neuen Blade und brauche die Zeit. Er wich Judys mütterlichen Fragen aus. Dann ging er zurück und löste Boris und Sergeij ab. Er musste seine ganze Autorität aufbringen, um sie davon zu überzeugen, ebenfalls ein paar Stunden zu schlafen. Yuriy döste. Sein Gesicht war zerfurcht, als hätte sich der Schmerz mit einer Klaue hineingegraben. Vielleicht spürte er Kais Blick, denn seine Lider begannen zu zucken, dann drehte er den Kopf und sah ihn müde an. „Wie geht es dir?”, fragte Kai leise. Yuriy ächzte, aber er zog einen Mundwinkel nach oben. „Weißt du, eigentlich … ist es erstaunlich, wie man sich daran gewöhnen kann“, antwortete er rau, „An den Schmerz, meine ich. Es fängt im Kopf an, dann ist es überall. Aber irgendwie … übersteht man es. Es wird langsam besser.“ „Ich hasse Volkov ... „ Er hatte nicht wirklich darüber nachgedacht, die Worte, dieser Name, waren einfach herausgekommen. Yuriy schloss die Augen wieder und nickte nur. In Kais Brust verknotete sich die Wut und ein Stück tiefer spie Suzaku kleine, brennende Funken aus. „Ich habe Träume”, sagte Yuriy ohne die Augen zu öffnen. Er lag sehr still da, als würde die kleinste Bewegung neue Schmerzen auslösen. „Wenn ich so bin wie jetzt, träume ich oft von dem Inkubator. Weil ich mich darin nicht bewegen konnte. Ich … konnte nicht einmal alleine atmen. Aber ich war wach. Auf eine seltsame Art.” Kais Hals war auf einmal trocken. Was Volkov genau mit Yuriy gemacht hatte, wusste er nicht - er hatte nie gewagt, danach zu fragen. Ein paar wirre Informationen hatte er schon hier und da aufgeschnappt, aber so wirklich verstanden hatte er es nie. Doch nun konnte er sich nicht länger dagegen wehren, und was Yuriy gesagt hatte, brach über ihn herein wie eine heiße Welle. Was der andere erlebt haben musste - er konnte und wollte es sich nicht vorstellen. „Ich verrate dir was, Kai”, sagte Yuriy in diesem Augenblick und er hob den Kopf, um ihm wieder ins Gesicht sehen zu können. „Ich beneide dich um deine Amnesie. Ich würde gern ein paar meiner Erinnerungen ausradieren. Aber scheinbar ist es mir nicht vergönnt, zu vergessen.” Suzaku, wie immer angestachelt von seiner Wut, ließ ihre Energie durch ihn fließen. Er hasste sein Vergessen. Er hasste es, dass sich sein Hirn noch immer gegen seine Erinnerungen versperrte. Liebend gern hätte er den Preis in Schmerz bezahlt, wenn es bedeutete, endlich die Barriere zwischen sich und den anderen loszuwerden. Sein Magen verkrampfte sich und am liebsten hätte er irgendwo hineingeschlagen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Verzweifelt versuchte er, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, sich zusammenzunehmen. Sagen konnte er nichts mehr. Er atmete tief ein und blinzelte, dabei fiel sein Blick auf Yuriys Hand, die auf den dunklen Laken lag. Er griff danach, umschloss Yuriys Finger mit seinen. Seine Haut war eiskalt und beinahe wäre Kai erschauert, doch die Berührung beruhigte ihn, also ließ er nicht gleich wieder los. Yuriy blickte ihn verwirrt an. „Frag nicht“, brachte er hervor. Nach einer Weile fühlte er, wie der andere sich in seinem Griff bewegte, wie sein Daumen über Kais Hand strich. Dieses Mal bekam er wirklich eine Gänsehaut. „Du bist warm”, sagte Yuriy und drehte den Kopf müde zur Seite. „Das tut gut …” In der zweiten Nacht kamen die Schmerzen in Intervallen. Kai sah es daran, wie Yuriy sich verkrampfte und wieder entspannte. Der Rothaarige war in einem Delirium aus Müdigkeit und Erschöpfung. Er war eigentlich kaum wach, aber Schlaf konnte man das auch nicht nennen. Kai wagte es nicht, von seiner Seite zu weichen, er konnte ihn einfach nicht aus den Augen lassen. Die meiste Zeit leisteten Boris und Sergeij ihm Gesellschaft. Sie sprachen über das bevorstehende Match. Boris schlug vor, dass weder Yuriy, noch Kai antreten sollten, doch Kai schüttelte nur den Kopf. „Er wird kämpfen wollen“, sagte er und nickte in Yuriys Richtung. Boris seufzte. „Ja, das befürchte ich auch.“ Als es langsam hell wurde, schlief Yuriy für zwei, vielleicht drei Stunden tief und fest. Boris und Sergeij waren auf dem Sofa ebenfalls eingenickt. Als Kai bemerkte, dass die Krämpfe aufgehört hatten, spürte er das erste Mal seine eigene Müdigkeit. Es wurde Zeit, einen Kaffee zu machen, sonst würde er das Match heute nicht überstehen. Doch es blieb bei dem Gedanken. Ohne dass er es wirklich bemerkte, sank sein Kopf auf seine verschränkten Arme. Er erwachte, als ihn jemand an der Schulter berührte. Das grelle Tageslicht blendete ihn, als er nach oben blinzelte, doch er erkannte Yuriy sofort, der über ihn gebeugt stand. In seinem Gesicht waren deutlich die Spuren der vergangenen Tage und Nächte zu sehen. Er war so blass, dass selbst sein Sonnenbrand nicht mehr bemerkbar war. „Oh Gott, du lebst wieder!“, stellte Kai fest und konnte nicht verhindern, dass er erleichtert klang. Yuriy lächelte. „Gerade rechtzeitig“, sagte er. Kai fuhr sich durch die Haare und stand langsam von seinem Stuhl auf. „Du willst also bladen“, sagte er dann, „Dir ist klar, dass wir das nicht zulassen werden? Boris wird für dich antreten…“ „Kai…“ „Ich will keinen Einwand hören. Du bladest heute nicht.“ „Kai.“ „Nein!“ Yuriy umarmte ihn. Einfach so. Vielleicht hielt er sich auch nur an ihm fest, denn Kai spürte, wie wackelig er auf den Beinen war. Doch es war, wie es war, Yuriy drückte ihn an sich und er bemerkte, dass er die Hand in sein Shirt gekrallt hatte. Er hielt ihn fest. Es war seltsam, ihm so nahe zu sein, seinen Körper zu fühlen, seinen Duft einzuatmen. „Ich bin der Teamchef, Kai“, sagte Yuriy leise, „Respektiere meine Entscheidungen.“ „Irgendwann wirst du an deinen Entscheidungen draufgehen.“ „Sagt der Richtige.“ Einen Blader wie Rick hatte selbst Kai in seiner langen Laufbahn noch nicht erlebt. Judy Mizuharas neuer Star hatte die Energie eines Rammbocks und in etwa den gleichen Effekt auf alle, die sich ihm in den Weg stellten. Zuerst bekam Max seine Wut zu spüren. Kai beobachtete, wie der Blonde nach ihrem Match zu seinem Team zurückkehrte und wie Rick ihn grob packte. Er konnte nicht ganz verhindern, dass dabei seine Hand zuckte und Suzaku, die durch den Kampf sowieso erstarkt war, ließ eine kurze Stichflamme durch seinen Brustkorb schießen. Es kostete ihn einige Willenskraft, sich einfach abzuwenden und den Platz für das zweite Match freizumachen. Dann schaffte Rick es, Yuriy – ausgerechnet Yuriy! – mit einem Angriff ins Aus zu katapultieren. Er war direkt auf Wolborg losgegangen und hatte einen fatalen Schlag gelandet. Kai war sich sicher, wenn sein Teamchef nicht noch geschwächt wäre, hätte er es kommen sehen und ausweichen können. Doch so wurde das elektrische Feld am Rande der Bowl ihm zum Verhängnis. Die Zuschauer nahmen diesen Sieg nicht gerade gnädig auf. Die PPB kämpfte schon seit Beginn des Turniers mit Beschimpfungen, und das war allein Rick zu verdanken, aber heute schien es besonders schlimm zu sein. Selbst Kais Ansage hatten sie nach diesem zweiten Battle komplett vergessen und buhten sich die Hälse wund. Als sie sich unterhalb der Bowl trafen, war Yuriy die Erschöpfung genauso deutlich anzusehen wie die Fassungslosigkeit angesichts seiner schnellen Niederlage. „Scheiße“, murmelte er. Im Hintergrund stand Rick auf dem Podest und grinste überheblich zu ihnen hinunter. Kai wandte sich von ihm ab, um Yuriy anzusehen. „Ich mach das“, sagte er. Yuriy blieb eine Zeitlang stumm, vielleicht versuchte er, in seiner Mimik zu lesen. „Keine direkten Angriffe“, sagte er dann und Kai nickte. Er wollte schon seinen Weg zu Rick fortsetzen, da spürte er noch einmal die Hand des anderen auf der Schulter. „Kai.“ Ihre Blicke trafen sich erneut. „Davai!“, sagte Yuriy, und irgendein Mikrofon musste in diesem Moment auf sie gerichtet sein, denn seine Stimme klang auf einmal laut durch das ganze Stadion. Kai hätte das ignoriert, wäre dabei nicht die Atmosphäre auf den Rängen umgeschlagen. Vereinzelt nahmen Menschen das Wort auf und während er zur Bowl ging und sich bereit machte, hörte er zum ersten Mal die Rufe, die von da an jeden seiner Kämpfe begleiten sollten: Davai, Kai! Sein Gegner hingegen war wütend. Es war diese Wut, die Rick stark machte. Kai wusste, dass Dranzer Rock Bison in Sachen Stärke komplett unterlegen war. Außerdem war er müde - so verdammt müde nach den letzten Tagen - und seine Gedanken gingen kreuz und quer. Nicht gerade die besten Voraussetzungen. Sein Gesicht fühlte sich verkrampft an. Er wusste, seine Miene war wie versteinert, und doch brandete der Jubel der Menge um ihn herum. Wie zu erwarten ging Rick sofort auf ihn los. Rock Bison stürmte vor, doch Dranzer wich mit einem Schlenker aus. Das stachelte Rick nur weiter an. Kai blickte ihm direkt ins Gesicht, während sich ihre Blades schlugen. Er musste nicht hinsehen. Rock Bison war laut und schwer. Wieder ging er zum Angriff über, und jetzt musste Dranzer einstecken - er prallte vom Rand der Bowl ab und schoss zu seinem Gegner zurück. Es war Max’ Technik, einfach und doch effizient. Die Zuschauer hatten es wohl auch erkannt, denn das Geschrei nahm zu. Nun, es konnte niemand behaupten, er wäre nicht lernfähig ... Als sein Gegner sich wieder auf ihn stürzen wollte, beugte Kai sich vor. Dranzer spiegelte diese Bewegung und Rock Bison flog wie auf einer Rampe über ihn hinweg - direkt hinein in das elektrische Feld zwischen den Bullenhörnern der Arena. Das Geschehen wurde begleitet von einem erneuten Aufschrei der Fans, der in Kais Ohren rang. Beinahe hätte sich ein Grinsen auf seine Lippen geschlichen. Es begann ihm zu gefallen, wie er die Massen beeinflussen konnte. Doch so einfach gab Rick sich nicht geschlagen. Mit bloßer Kraft riss sein Blade sich von der Elektrizität los. Kai war beeindruckt, doch er hatte beinahe mit so etwas gerechnet. Rock Bison schlug gegen Dranzer und katapultierte ihn aus seiner Bahn. Noch während sich die Blades im Fall befanden, startete Rick seinen Drop Rock. Es war der Augenblick, auf den Kai gewartet hatte. Er wusste, der Blazing Gig war zu schwach gegen den Drop Rock. Eine volle Breitseite würde ihm nichts bringen. Wenn er aber seinen Gegner in einem bestimmten Winkel traf… Suzaku breitete ihre Schwingen aus. Sie wusste, was zu tun war. Mit jedem Kampf wurde ihre Verbindung stärker und so war es, als würde sie auf seine bloßen Gedanken reagieren. Kais Blick schärfte sich und die Bewegungen seines Gegners schienen langsamer zu werden, während er jedes Detail wahrnehmen konnte. Auf seinen Befehl hin schoss Suzaku davon, um den Blazing Gig Zan auszuführen, der Ricks Attacke kurzerhand spaltete. Rock Bison kam von seinem Kurs ab und fiel wie ein Stein aus der Luft. Er kam außerhalb der Bowl zum Liegen, während Dranzer sich abfing und den Schwung in Geschwindigkeit umwandelte. Es schien unmöglich, dass die Lautstärke nach diesem Sieg noch einmal zunahm. Der Applaus rang in Kais Ohren nach und es kostete ihn einige Kraft, ruhig dabei zu bleiben. Nur langsam gingen seine Sinneswahrnehmungen wieder auf ihr übliches Maß zurück. Von Suzaku blieb wie immer eine brennende Hitze, die gegen seine Rippen drückte. Er fing Dranzer auf und drehte sich um. „Ein passendes Stadium für einen Stierkampf”, murmelte er. Yuriy stand noch immer dort, wo er ihn verlassen hatte. Er sah zu ihm auf und Kai erwiderte seinen Blick. Dann meinte er, ein kaum merkliches Lächeln im Gesicht seines Leaders zu erkennen. Suzaku verließ seinen Brustkorb und nistete sich als heißes Brodeln in seinem Magen ein, und dieses Gefühl war beinahe aushaltbar. Sie verloren kein Wort mehr über Yuriys Niederlage, aber Kai wusste, dass mit dem nächsten Tag ein noch härteres Training beginnen würde. Es war ihm nur Recht. Yuriy erholte sich beinahe genauso schnell von seiner „Migräne“, wie sie gekommen war. Es ging ihm zusehends besser. Wenn sie ihr Match noch einen Tag später ausgetragen hätten, hätten sie vermutlich kein Entscheidungsbattle nötig gehabt. Aber es war egal, sie hatten gewonnen und es ging wieder bergauf. Ihren letzten Abend in Madrid verbrachten sie vor dem Fernseher. Nach dem Stress der letzten Tage hatten sie wenig Lust, sich überhaupt zu bewegen. Boris und Sergeij hingegen hatten tatsächlich beschlossen, sich auch einmal in der Stadt umzusehen, wenn sie schon mal hier waren. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa, die Füße auf den niedrigen Tisch gelegt, und sahen englischsprachige Programme. Kai versuchte, sich darauf zu konzentrieren, schweifte aber immer wieder ab. Er fühlte sich ausgelaugt, emotional mehr als körperlich. Die letzten Tage hatten ihm mehr abverlangt als alles andere, was passiert war, seitdem er Japan verlassen hatte. Und er ahnte, dass zumindest die Matches ab jetzt nur noch härter wurden. Er blinzelte träge, beinahe merkte er nicht, wie sein Kopf nach vorn fiel, doch dann konnte er sich gerade noch so fangen. Das Bild im Fernseher wurde wieder scharf. „Du kannst dich auch anlehnen, wenn du willst”, sagte Yuriy leise. Es wirkte, als hätte er gar nicht mit ihm gesprochen, denn er sah noch immer geradeaus. Kai zögerte, fragte sich, was genau diese Worte bedeuteten und ärgerte sich dann über sich selbst. Langsam lehnte er sich an Yuriys Schulter. Sie waren sich so nahe, dass Kai das Waschmittel in seinem Shirt riechen konnte. Und das Duschgel in seinen Haaren. Und seine Haut. Er erlaubte sich, die Augen zu schließen. Ich will sagen, er ist genau dein Typ. Die Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Wer hatte das gesagt, Max? Nun, jedenfalls war es schön, Yuriy nahe zu sein. Ihn zu berühren. In letzter Zeit hatte er das oft gedacht, und genauso oft hatte er diese Gedanken wieder verworfen, weil sie absolut fehl am Platz waren. Kai hatte nicht vor, sich während des Turniers von irgendetwas ablenken zu lassen. Er wollte sich nur aufs Bladen konzentrieren und endlich den Titel gewinnen. Dafür hatte er schließlich erst das Team gewechselt! Dass seine Knie weich wurden, wenn Yuriy ihn anlächelte oder ihm einen spöttischen Blick aus seinen ach-so-blauen Augen zuwarf, war nicht vorgesehen. - Allerdings auch nicht, dass er an ihn geschmiegt auf einer Couch landen würde. Kai blinzelte, als der andere wieder von ihm wegrückte. Bevor er aber heimlich bedauern konnte, dass der Moment zwischen ihnen vorbei war, legte sich Yuriys Arm um seine Schultern. Seine Hand strich über Kais Haut, vorsichtig und doch selbstverständlich. Ihm wurde warm, und diesmal hatte Suzaku rein gar nichts damit zu tun. In diesem Augenblick wusste Kai nicht, ob er sich überhaupt auf irgendetwas, das er wahrnahm, verlassen konnte, oder ob sämtliche Sinne ihm einen Streich spielten. Womöglich waren Yuriys Gesten für diesen nur freundschaftlich gemeint und es steckte nichts dahinter. Doch da spürte Kai wieder seine Fingerspitzen am Oberarm und eine Sekunde lang konnte er gar nichts denken. Und dann lehnte Yuriy auch noch den Kopf an seinen. Er sollte etwas sagen. Er sollte Yuriy klarmachen, dass es ihn verunsicherte, wenn sie so miteinander umgingen. Schließlich wusste sein Teamchef, dass er Männer mochte und deswegen Dinge auch ganz leicht falsch verstehen konnte… Oder war hier vielleicht gar nichts falsch zu verstehen? Er nahm die Füße vom Tisch und setzte sich auf, in der festen Absicht, einen Grund zu finden, um das Sofa zu verlassen. Alles war besser als sich hier in irgendetwas reinzusteigern. Er öffnete den Mund zu einer Ausrede, als Yuriy schlicht „Bleib doch hier.” sagte. Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Augenblicklich konnte er sich nicht mehr rühren. Sein Puls übertönte beinahe alle äußeren Geräusche. Yuriy lehnte sich nun auch vor und kam auf seine Augenhöhe. Sie saßen sehr dicht beieinander, ihre Knie stießen zusammen, sie sahen sich an. Wenn es davor noch eine vage Chance gegeben hatte, die Situation rein freundschaftlich zu betrachten, wurde diese in genau diesem Moment zunichte gemacht. Denn Yuriy streckte die Hand aus und legte sie auf Kais. Der war kurz wie erstarrt, ließ die Berührung aber zu. In seinem Kopf war sowieso alles im Nebel. Er betrachtete Yuriys Gesicht, das eine eigentümliche Ruhe ausstrahlte. Dieses schöne Gesicht. Die Miene des anderen veränderte sich. Er senkte den Blick und kurz wirkte es so, als wolle er etwas sagen. Doch er blieb stumm. Kai registrierte jedes Detail, für ihn verging die Zeit viel langsamer, als Yuriys Lider sich wieder hoben und er ihm noch näher kam. Der Griff seiner Hand wurde fester, und dann berührten sich ihre Lippen. Langsam. Neugierig. Ausgiebig. Als Kai am nächsten Morgen die Augen aufschlug, glaubte er zunächst, alles nur geträumt zu haben. Yuriys Mund auf seinem. Das hatte sich verdammt echt und verdammt gut angefühlt. Dann wurde er wach genug um zu verstehen, dass es tatsächlich passiert war. Sie hatten sich geküsst. Wie erstarrt blieb er auf dem Rücken liegen und sah zur Decke hoch. Scheiße. Langsam drehte er den Kopf und spähte zu dem anderen hinüber. Der schien noch zu schlafen, denn er hatte das Gesicht von ihm abgewandt und rührte sich nicht. Gut. So blieb ihm etwas Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Nach dem Kuss hatten sie nicht mehr viel gesagt. Kai hatte einfach zugelassen, dass Yuriy mit den Fingern die Konturen seines Gesichts nachzog und ihn musterte, als sähe er ihn zum ersten Mal. Irgendwann hatte er es geschafft, aufzustehen. Er hatte Yuriys Hand genommen und ihn hochgezogen. Hatte sich gereckt, um ihn noch einmal zu küssen, federleicht, dann waren sie, wie in einem stillen Einverständnis, in ihre Betten gegangen. Und nun schälte er sich möglichst leise aus seiner Decke und schlich ins Bad. Er wollte vorbereitet sein, wenn Yuriy wach wurde, irgendwie jedenfalls. Kurzentschlossen schlug er sich kaltes Wasser ins Gesicht, um nicht sein Spiegelbild anstarren zu müssen. Er hatte immer gehofft, Situationen wie diese vermeiden zu können. Yuriy war sein Leader, sein Tagteampartner. Sie hatten sich für dieses Turnier zusammengetan, weil es ihnen beiden gerade gut passte, und dass sie sich viel besser verstanden als sie zu hoffen gewagt hatten, war ein kleiner Luxus, der ihnen das Leben erleichterte. Nichts weiter! Yuriy war ein Gedankenspiel, eine Fantasie vielleicht, aber doch keine ernsthafte Option. Oder? Nun, leugnen ließ sich jetzt jedenfalls nichts mehr. Kais Barrieren waren gestern von einer Sekunde auf die andere einfach zusammengefallen. So zu tun, als ginge ihn das alles nichts an, war also unmöglich. Außerdem war er sich sicher, dass Yuriy das nicht nur getan hatte, um herauszufinden, wie es war, einen Mann zu küssen. Er würde nie ihre von ihm so hochgeschätzte Zusammenarbeit für so etwas auf’s Spiel setzen. Das bedeutete dann wohl… Kais Blick traf sich selbst im Spiegel. Die letzten Tropfen liefen an seinem Kinn hinab, doch er beachtete sie nicht. Sein Gesichtsausdruck schwankte irgendwo zwischen Erstaunen und Ungläubigkeit. „Heilige Scheiße”, murmelte er. Er traute sich nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Ein leises Klopfen ließ ihn den Kopf herumreißen. „Kai?” Das war Yuriys Stimme auf der anderen Seite der Tür. „Sag mir bitte, dass du dich nicht gerade dort drin ersäufst.” Er hatte das Wasser laufen lassen. „N-Nein, alles gut!”, antwortete er. Schnell drehte er den Hahn zu und griff endlich nach einem Handtuch, um sich das Gesicht zu trocknen. Dann atmete er noch einmal tief durch und verließ das Bad. Yuriy stand am Fenster und hatte sich ihm zugewandt. Er war noch immer ganz zerzaust vom Schlafen, wirkte ansonsten aber sehr wach und...nervös? Kai schloss die Tür und lehnte sich gegen sie. Sie musterten sich stumm. „Und jetzt?”, fragte Kai schließlich. „Tja…”, setzte Yuriy an. Doch da war es schon zu spät. Kai stieß sich ab, machte zwei, drei Schritte auf ihn zu, packte ihn am Shirt und zog ihn in einen weiteren Kuss. Er fühlte die kühlen Hände an seinem Gesicht, in seinen Haaren, dann schlang er die Arme um Yuriys Taille. Beinahe hätten sie das Gleichgewicht verloren. Ab und an lösten sie sich voneinander, um nach Luft zu schnappen, aber ihre Lippen trafen sich immer wieder. Es schien unmöglich, aufzuhören. Irgendwann spürte Kai erneut die Tür des Badezimmers in seinem Rücken, und endlich wurde der Boden unter seinen Füßen wieder fest. Yuriy musste gemerkt haben, dass er ihn einengte, denn er nahm etwas mehr Abstand zu ihm ein. So wurde auch ihr Kuss unterbrochen. „Also”, sagte Kai heiser, „Was wolltest du sagen?” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)