Omniscient von lady_j (YuKa) ================================================================================ Kapitel 1: Irkutsk ------------------ Es war seltsam, Yuriy wiederzusehen. Kai nutzte die Zeit, in der er noch nicht bemerkt wurde, um ihn zu betrachten. Er war irgendwann in die Höhe geschossen, seine Schultern zeichneten sich unter der dünnen Jacke ab. Und sein Gesicht: Als hätte jemand alle störende Weichheit kurzerhand abgeklopft. Er sah sehr europäisch aus, fiel Kai auf, denn er war anderes gewohnt. Er hatte Japan seit einer halben Ewigkeit nicht mehr verlassen. Während der Überfahrt nach Wladiwostok standen sie nebeneinander an der Reling im Dunkeln und blickten auf das aufschäumende Wasser hinab. Die leichte Übelkeit verflog nur langsam. Sie schwiegen sich an, auch das war ungewohnt, normalerweise war Kai der einzige, der so stumm blieb. Auf seiner Zunge lagen Fragen, doch sie konnten nicht heraus, solange die Stille zwischen ihnen anhielt. Als wäre es ein Zeichen von Schwäche, zuerst zu sprechen. Erneut musterte er verstohlen Yuriys blasses Profil und falls der andere seinen Blick spürte, ließ er es sich nicht anmerken. Die blauen Augen waren auf das Meer gerichtet, das rote Haar flog im Wind. So viele scharfe Linien in diesem Gesicht. Er gab sich einen Ruck. „Yuriy”, sagte er, „Warum ich?” Selbst das Russisch fühlte sich fremd an, jetzt da er wusste, dass er es wieder alltäglich gebrauchen würde. Der Rothaarige drehte sich zu ihm und richtete sich auf, plötzlich musste Kai zu ihm hochsehen. „Das hat Boris mich auch gefragt”, entgegnete Yuriy, „Er glaubt nicht, dass du ins Team passt.” „Vielleicht hättest du auf ihn hören sollen.” Ein Grinsen, ironisch aber nicht gänzlich ohne Freude. „Ich brauchte einen starken Blader. Und ich wusste, du würdest mein Angebot nicht ausschlagen können. Deswegen habe ich dich gedrängt, obwohl du bereits in einem anderen Team warst.” Er machte eine kurze Pause. „Und deswegen bist du jetzt hier, obwohl du bereits in einem anderen Team warst.” Kai brummte. Vermutlich würde er nie eine bessere Antwort als diese erhalten. Er wollte sich schon umdrehen, um unter Deck zu gehen, als Yuriys Stimme ihn noch einmal innehalten ließ: „Gibt es noch irgendetwas, das ich wissen sollte, bevor wir einen auf Team machen?” „Was meinst du?” „Dinge die uns behindern können - Krankheiten, Verletzungen, Kindheitstraumata, Freundin -" „Ich habe keine Freundin.” Er hatte es nicht sagen wollen, nicht so, mit dieser Betonung. Doch das Wort hatte unschöne und leider viel zu junge Erinnerungen in ihm wachgerufen. „Hm?”, machte Yuriy. Kai schwieg. „...einen Freund?”, hakte der Rothaarige nach. Nun erwiderte Kai seinen Blick. „Nein. Nicht mehr.” Er wartete ab, ob noch eine Reaktion von dem anderen kam, doch an dessen Haltung veränderte sich nichts. Er wirkte höchstens milde interessiert. „Gut”, sagte er schließlich. „Und das Kindheitstrauma haben wir eh alle.” „Stimmt.” Und so war es ausgesprochen, und es war glimpflicher verlaufen als Kai erwartet hätte. Noch einmal spürte er Yuriys Blick auf sich. „Danke für deine Ehrlichkeit.“ Er hob die Schultern. Weitere Details würde er für sich behalten, und Yuriy konnte nicht einschätzen, wann er nun besonders offen war und wann nicht. Dazu waren sie sich zu fremd. „Gibt es denn etwas, das ich wissen sollte, bevor wir einen auf Team machen?”, wiederholte er nun seinerseits die Frage, und nicht, ohne einen provokanten Unterton mitklingen zu lassen. Er hatte damit gerechnet, dass Yuriy seine Worte an sich abprallen lassen würde. Stattdessen schien er sich kurz zu versteifen, wirkte beinahe ertappt. Der Moment war sofort wieder vorbei. „Nein”, sagte Yuriy, „Nichts.” Irkutsk Sie wohnten etwas außerhalb der Stadt am Ufer der Angara. Die Abtei kam als Trainingsort nicht mehr in Frage, und so hatte Team Borg sich nach anderen Möglichkeiten umgesehen. Draußen türmte sich der Schnee bis fast an die Unterkante der Fenster. Das letzte Aufbäumen des Winters hatte einen späten Schneesturm gleich in der ersten Nacht gebracht. Auch das Eis auf dem siebzig Kilometer weit entfernten Baikal war noch da, wenn auch nicht mehr so dick, dass man mit dem Laster darüber fahren konnte. Kai vermied es so gut es ging, sich die Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen, die ihn selbst mit dem See verbanden. Es gelang ihm nur mäßig. Er war ungern draußen, wo alles weiß war und die Landschaft mit ihren verschwimmenden Konturen einem ständig Streiche spielte. Mehr als einmal war er unkontrolliert zusammengezuckt, wenn unter seinen Schuhen Eis gebrochen war - meist waren es nur Pfützen, doch das Gefühl, dass der Boden unter seinem Tritt bröckelte, hatte sich in sein Gehirn gegraben, und es gab nur sehr wenige Dinge, auf die er annähernd schreckhaft reagierte. Während sie auf die Ankunft von Sergeij, Ivan und Boris aus Moskau warteten und Yuriy sich mit dem Verwalter des Gebäudes über den desaströsen Zustand ihrer „Trainingshalle“ stritt, verbrachte Kai einen Großteil der Zeit in seinem Zimmer. Die Möbel bestanden aus Spanplatten, die mit einer Folie mit Holzmaserung beklebt waren und auf dem Boden lag Fleckiges Linoleum. Das alles verströmte einen charakteristischen, abgestandenen Geruch, der sich auch mit frischer Luft nicht gänzlich austreiben ließ. In Japan gab es diesen Geruch nicht. Man hatte natürlich all die großen Männer längst von der Wand genommen. Die Porträts der jüngsten Vergangenheit waren aus dem Haus verschwunden, alle bis auf eines: Im Speiseraum hing über den Tischreihen noch immer ein Bild von Juri Gagarin. Kai hatte einige Minuten davor gestanden und es betrachtet, dabei kannte er das Motiv seit seiner frühen Kindheit. Es war in jedem Schulbuch, auf viele Häuserwände gemalt, manchmal sogar als Skulptur gegossen: Gagarins Gesicht, gerahmt vom kreisrunden Helm des Kosmonautenanzugs, sein strahlendes Lächeln mit den ebenmäßigen Zähnen, seine halb zugekniffenen Augen, die vielleicht hell waren, meist aber fast schwarz wirkten. Es war irgendwie schwer vorstellbar, dass sein rothaariger Teamchef ausgerechnet diesem Mann seinen Namen zu verdanken hatte. Es war am Abend des zweiten oder dritten Tages, als Kai in den Speiseraum kam und Yuriy genau unter dem Bild seines Namensvetters sitzend fand. Der Kosmonaut blickte über ihre Köpfe hinweg in die Ferne. Kai setzte sich Yuriy gegenüber hin und nahm sich eines der Butterbrote von seinem Teller, die in dem kalten Licht des Raumes eine so unappetitliche Färbung erhielten, dass er nur lustlos darauf herumkaute. Doch seinem Teamchef schien es da nicht anders zu gehen. „Morgen kommen die anderen”, sagte er schließlich und Kai nickte nur. Seine letzte Begegnung mit Sergeij, Boris und Ivan lag mehrere Jahre zurück und hatte unter keinem guten Stern gestanden. An diesem Tag waren ihre Aussagen für den Prozess gegen Volkov aufgenommen worden. Die Tatsache, dass Kai der Enkel des Mannes war, der Borg jahrelang finanziert hatte, war nicht gerade die beste Voraussetzung für ihre Zusammenarbeit. Es war ziemlich klar, dass Boris ihn nicht leiden konnte, doch das beruhte zu einem gewissen Grad auf Gegenseitigkeit, denn Kai hatte nicht vergessen, wie schlimm der andere Rei bei ihrem Match in Moskau zugerichtet hatte. Sergeij war in dieser Hinsicht etwas entspannter, was vielleicht auch daran lag, dass er Kai damals besiegt hatte. Ivan schließlich tickte am ehesten wie Yuriy - es nütze dem Team, wenn sie Kai aufnahmen, also war es gut. Während die anderen nach ihrem Trainingslager zur Weltmeisterschaft aufbrachen, würde Ivan zurück nach Moskau gehen. Ob er überhaupt noch bladete? „Das Training beginnt morgen Nachmittag”, fing Yuriy wieder an zu sprechen. „Das ist verbindlich.” Kai hob eine Augenbraue. „Ich habe meinen eigenen Trainingsplan”, stellte er klar, doch im Gegensatz zu Hitoshi Kinomiya prallten diese Worte an Yuriy ab. „Aha”, machte er nur und der Hohn, der darin mitschwang traf Kai an einer empfindlichen Stelle. Auf einmal veränderte sich die Stimmung. Zuvor hatte zwischen ihnen interessierte Neutralität geherrscht, nun entstand wie aus dem Nichts ein Konflikt. Es hatte so kommen müssen. Sie waren beide überzeugt von ihrem Können und ihrer Position, und beide stellten sie nicht infrage, dass sie den jeweils anderen übertrumpfen würden. Doch während Yuriy kühl blieb, schien es Kai, als begännen in seinem Magen Flammen zu züngeln. Suzaku machte sich immer schnell bemerkbar, wenn er wütend wurde. Sie starrten sich über den Tisch hinweg an, verwickelten sich in ein stummes Kräftemessen. „Kai, wenn ich sage, wir trainieren zusammen, dann hast du diese Entscheidung nicht anzuzweifeln”, sagte Yuriy, nachdem ein paar Sekunden verstrichen waren. Er biss die Zähne zusammen. „Wie kommst du darauf, dass ich mir von dir sagen lasse, wie ich zu trainieren habe?”, fragte er gereizt. Yuriy lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, nahm beinahe den ganzen Raum zwischen ihnen für sich ein. „Ganz einfach.” Seine Worte waren kaum mehr als ein Wispern und doch nahm Kai die Drohung in ihnen wahr. „Ich bin Teamcaptain. Du tust was ich dir sage.” „Ooh. Teamcaptain. Wow”, machte Kai sarkastisch. „Das heißt wohl, du bist hier das Mädchen für alles.” „Schließ nicht von dir auf andere”, erwiderte Yuriy, „Im Gegensatz zu deinen kleinen Freunden von der BBA nehmen Borg diese Rolle sehr wohl ernst.” Er konnte es nicht lassen, dem anderen Konter zu geben. Obwohl er wenig sprach, war Kais Mund manchmal schneller als seine Gedanken, gerade in Situationen wie diesen. Im Moment war ihm das egal. Er wollte Yuriy ein bisschen aus der Reserve locken. „Hm, das trifft sich gut”, sagte er deswegen, „Vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken, ob nicht ein kleiner Wechsel an der Teamspitze nötig wäre.” „Was willst du damit andeuten, Hiwatari?” „Nun, findest du nicht, dass der stärkste Blader im Team auch Captain sein sollte?” Die blauen Augen blinzelten. „Was für ein Ego. - Du denkst also wirklich, du könntest hier reinstolzieren wie ein kleiner Zarewitsch und wir tanzen alle nach deiner Pfeife.” „Spiel dich nicht so auf, Ivanov”, gab Kai zurück. Er spürte Empörung, die eher zu Suzaku zu gehören schien als zu ihm selbst. „Du warst es, der mich für sein Team wollte, schon vergessen? Ich habe auch andere Optionen.” Es überraschte ihn nicht, dass sie nun hier waren, in dieser Situation. Bisher war es sowieso viel zu friedlich zwischen ihnen gewesen. Beide hatten sie abgewartet, wie der andere sich verhielt und waren dabei gleichsam neugierig und vorsichtig. Das konnte eine ganze Zeitlang gut gehen, wenn es Abstand gab, wenn sie nicht unmittelbar aufeinander angewiesen waren. Doch in einer Konstellation wie der jetzigen gab es nichts, was sie voreinander schützen konnte - und jedes Wort barg das Potenzial, zu einem Ausbruch zu führen. Yuriy hatte zuerst diese Grenze überschritten, nun würde er mit den Konsequenzen leben müssen. Kais letzte Worte schienen ihn wenig zu beeindrucken. Er schenkte ihm ein süffisantes Grinsen. „Drohst du mir?”, fragte er, „Willst du das Team wieder verlassen? Glaubst du, Kinomiya wird dich wieder aufnehmen, wenn du zu ihm zurückgekrochen kommst?” Natürlich würde er das nicht, und das war Kai klar. Wenn er Neo Borg verließ, gab es eigentlich nur eine Möglichkeit für ihn. Und es war nicht so, als hätte er nicht lange und gründlich darüber nachgedacht. Es war einer der Gründe, warum er gezögert hatte, sich überhaupt für dieses Turnier zu registrieren. Am Ende hatte sein Ehrgeiz, und wahrscheinlich auch sein Stolz, gesiegt. Aber um Yuriy das verdammte Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, war ihm in diesem Moment jedes Mittel recht. „Nein. Ich werde einfach ganz mit dem Bladen aufhören”, sagte er und war selbst von der Kaltblütigkeit, mit der er das sagte, überrascht. Und tatsächlich veränderte sich Yuriys Miene. Sein Blick wurde forschend. „Das würdest du tun?” Nun war es an Kai, sich vorzubeugen, um das Spiel weiterzuführen. Sie kamen sich unangenehm nah, und doch wich Yuriy keinen Millimeter zurück. „Glaub mir, ich kenne meinen Wert”, stellte Kai klar, „Ich bin Kinomiyas größter Rivale. Ich bin einer der bekanntesten Blader der Welt. Die BBA verdient einiges damit, mich zur Schau zu stellen. Denk nur mal an den Aufschrei, den es geben wird, wenn die Welt erfährt, dass ich die BBA Revolution verlassen habe. Erst Schock - und dann werden die Fans sich förmlich zerreißen, denn sie können gar nicht abwarten, mich gegen mein ehemaliges Team antreten zu sehen. Und schließlich…” Er erlaubte sich nun auch ein Lächeln, „Schließlich weiß jeder Blader auf dieser Welt, dass das Team, dem ich mich anschließe, seine Chancen auf den Titel um ein Vielfaches erhöht.” Er beobachtete Yuriy jetzt ganz genau, doch der andere gab nichts Preis. „Und jetzt stell dir vor, ich höre auf”, fuhr er fort, „Ich mache es wie immer, ohne Ankündigung, ich bin einfach weg. Sicher, das Turnier wird trotzdem stattfinden. Aber was macht Kinomiya ohne seinen größten Rivalen? Was macht die BBA ohne diese Rivalität? Sie hat dann keine Story mehr, die sie verkaufen kann. Aber vor allem - was macht dein kleines Team in einem halbherzigen Turnier, bei dem ihr ohne mich höchstens bis zum Halbfinale kommt? Denkst du, ihr kommt gegen Rei an? Oder Max? Ihr, die ihr noch nie aus Russland rausgekommen seid? Also sag mir, Ivanov: Wer von uns beiden hat mehr zu verlieren?” Yuriy schloss die Augen. Irgendetwas ging in ihm vor, Kai konnte es beinahe fühlen, doch nichts davon drang an die Oberfläche. Sein Gegenüber schnaubte amüsiert. „Ich fasse es nicht, Hiwatari”, sagte er schließlich, „So viele Worte. Nur um zu zeigen, was für ein Arschloch du bist.” „Was für eine Bruchbude”, urteilte Boris und ließ mit einem lauten Knall seine Tasche auf den Boden fallen. Ivan neben ihm nickte und selbst Sergeij rümpfte die Nase. Boris ließ noch einmal den Blick wandern. „Na, aber es wird schon gehen. Hey, Yuriy!” Der Rothaarige war gerade aus einem Nebenzimmer gekommen. Kai beobachtete, wie sich die anderen begrüßten. Mehr durch Zufall hatte er gerade auf dem obersten Treppenabsatz gestanden, als die Eingangstür aufgegangen war. Noch hatten sie ihn nicht bemerkt. Sie gingen erstaunlich herzlich miteinander um. Besonders Boris zeigte offen, wie sehr er sich freute, Yuriy wiederzusehen. Auf Sergeijs Gesicht schien ein Lächeln zu liegen und Ivan zwang ihm einen Fist Bump auf, bevor er sich über die weite Anreise zu beschweren begann. Anscheinend hatte ihr Flugzeug drei Stunden Verspätung gehabt, und dann war es schwierig gewesen, eine Fahrmöglichkeit zu ihrem Trainingslager zu finden. Irgendwann würgte Sergeij ihn ab und erkundigte sich nach dem Befinden ihres Teamchefs. Doch Yuriy winkte ab. Nicht der Rede wert. Ob das die Antwort war, die sich die anderen erhofften, war fraglich, denn es breitete sich ein unangenehmes Schweigen zwischen ihnen aus. „Und?”, erklang schließlich Ivans Stimme, „Was ist mit Hiwatari?” „Bitte sag mir, dass er sich zu fein für uns war!”, fügte Boris prompt hinzu. Kai verdrehte die Augen und beugte sich über das Treppengeländer. „Ich bin hier, Kuznetsov.” „Ach, Scheiße!” „Die Freude ist ganz meinerseits.” Er stieg die Treppe hinab, blieb aber mit einigem Abstand vor ihnen stehen. Niemand schien ernsthaft froh zu sein, ihn zu sehen, aber das hatte er auch nicht erwartet. Boris seufzte theatralisch. „Ich habe dich gewarnt, Yura, also komm nicht zu mir, wenn er es vergeigt.” Yuriy machte ein unbestimmtes Geräusch und tauschte einen langen, kühlen Blick mit Kai. Dann wandte er sich abrupt ab. „Teambesprechung in einer halben Stunde”, sagte er. „Und zwar für alle!” Die anderen sahen ihm nach, als er wieder verschwand. Sie hatten sehr wohl bemerkt, dass das Verhalten des Rothaarigen eine direkte Reaktion auf Kai war und dachten sich wahrscheinlich ihren Teil. „Hmm”, machte Sergeij langgezogen. „Tja”, sagte Ivan und schulterte seinen Rucksack, „Sieht so aus, als hätte Hiwatari es schon vergeigt. Hat ja nicht lange gedauert.” Er ging an Kai vorbei und grinste ihn freudlos an. Sergeij und Boris folgten ihm, doch auch letzterer blieb noch einmal stehen, als er auf einer Höhe mit Kai war. „Ich wusste ja, dass du dumm bist”, raunte er ihm zu, „Aber es dir gleich in den ersten Tagen mit Yuriy zu verscherzen? Du machst dir das Leben wirklich schwer.” „Kümmere dich um deinen eigenen Kram”, entgegnete Kai. Doch anstatt wie zu erwarten aggressiv zu werden schien seine Antwort den anderen zu belustigen. Boris beugte sich ein wenig zu ihm, spitzte die Lippen und machte ein Kussgeräusch. Die Provokation wirkte, denn am liebsten hätte Kai ihm das blöde Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. Endlich setzte Boris seinen Weg fort, doch nicht ohne eine letzte Stichelei: „Ich hoffe, du hast dir das gut überlegt, Hiwatari. Mit Yuriy sollte man sich jedenfalls nicht anlegen.” Kai trainierte, wie er immer trainiert hatte: allein. Er verließ ihr Quartier, bevor einer der anderen bemerken konnte, wohin er ging. Das Wetter draußen war ungemütlich, der Schnee legte den Verkehr im Umland lahm. Vielleicht würde ihr Flieger nach Moskau nicht starten können, dann würden sie niemals pünktlich nach New York kommen und alles war umsonst gewesen. Es wäre die Art von ironischer Wendung, die zu seinem Leben passte. Suzaku hielt ihn warm, deswegen brauchte er nicht einmal einen Pullover überziehen. Er spürte sie eigentlich immer, so stark war das Band zwischen ihnen geworden. Doch während einer intensiven Trainingsphase oder gar während eines Turniers, in dem viele Matches aufeinander folgten, wurde ihre Präsenz beinahe unerträglich. Sie war wie eine ständige Hitze unter seinem Zwerchfell, die, wenn es schlimm kam, ihn weder schlafen noch essen ließ. Alle Blader litten mehr oder weniger unter solchen Effekten ihrer Bitbeasts. Rei zum Beispiel vibrierte regelrecht nach harten Matches, denn ihn umgab dann eine elektrostatische Aura und jeder, der ihn berührte, bekam einen Schlag. Max wurde ständig schwindelig, weil Genbu irgendwie seinen Blutdruck durcheinander brachte. Und Takao war buchstäblich durch den Wind, und das die ganze Zeit. Wenn seine und Suzakus Energien ausgeglichen waren, spürte er weitaus weniger von ihr, zumindest nicht bewusst. Dank ihr war er deutlich immuner gegen extreme Temperaturen als andere Menschen. Und so konnte er die um ihn herumwirbelnden Schneeflocken ignorieren - ebenso wie das traumatische Knirschen unter seinem Tritt, was deutlich mehr Disziplin verlangte - und sich auf sein eigentliches Ziel konzentrieren: Den Fels hinter ihrer Trainingshalle. Er stand allein ein wenig vor dem Berghang, mehrfach übermannsgroß, wie hingeschleudert. Vermutlich war er vor Jahrtausenden aus einer Felswand weiter oben gebrochen und die Flanke des Berges heruntergestürzt, hatte dabei alles Leben in seinem Weg vernichtet. Und war zum Liegen gekommen. Und ragte nun vor Kai auf wie ein Mahnmal. Er war das perfekte Ziel. Kai brauchte einen Gegner, der nicht brach. Nur wenn ein Gegner unbesiegbar schien, konnte ein Beyblader über sich hinauswachsen. Auch deswegen konnte er nicht mit den anderen Trainieren. Boris, Sergeij und Yuriy waren starke Blader, die den meisten von Dranzers Attacken standhalten konnten. Zumindest lange genug, um ihre Wirkung zu erkennen. Doch Kai wollte mehr als das. Er wollte Suzaku heraufbeschwören und sie beide an die Grenzen des Machbaren bringen. Nur so würde er Kinomiya schlagen können. Er schoss Dranzer ab und der Blade flog, verschwand zwischen den dicken Schneeflocken. Dann blitzte etwas auf und mit einer winzigen Verzögerung drang der Laut von berstendem Stein an Kais Ohr. Dranzer war abgeprallt und bohrte sich vor seinen Füßen in den Schnee. Der Felsen hielt Stand. So ging es tagelang. Und natürlich blieb den anderen nichts verborgen. Boris machte keinen Hehl daraus, was er von Kais Verhalten hielt: Er warf ihm alle möglichen Beleidigungen an den Kopf und diskutierte wann immer es ging mit Yuriy, damit der Kai, wenn auch schon nicht ganz aus dem Team, so doch zumindest auf die Bank verbannte. Selbst Sergeij bedachte ihn nun mit angriffslustigen Blicken, wobei diese wohl eher darin begründet waren, dass ihm Boris Laune auf die Nerven ging. Ivan zeigte ihm die kalte Schulter. Und Yuriy tat - nichts. Zwischen ihnen herrschte kühles Schweigen. Kai war sich sicher, der Rothaarige wusste genau, wohin er ging und warum, doch er ließ ihn gewähren. Zumindest bis zu dem Tag, an dem Yuriy auf ihn wartete, als er von seinem Training zurückkam. Er stand mit verschränkten Armen in der Eingangshalle und maß ihn mit einem Blick, den Kai nur aus Stolz erwiderte. Er war erschöpft. Suzaku versengte seine Eingeweide, seine Haut brannte vor Kälte und seine Beine fühlten sich an, als würden sie jeden Moment ihren Dienst versagen. Doch vor Yuriy wollte er keine Schwäche zeigen. „Wie lange willst du noch den einsamen Wolf spielen?”, fragte er und Kai schwieg, schloss seine Hand fest um Dranzer, der noch immer ganz warm war von der Reibungshitze. Er ging auf den Rothaarigen zu, den Blick nun gesenkt, wollte sich an ihm vorbeidrängen. Gerade als er glaubte, der andere würde ihn gehen lassen, spürte er Yuriys Griff um seinen Unterarm. Seine Finger waren lang und kalt. „Kai, du kannst nicht einfach - „ Er brach ab. Vielleicht hatte er Suzakus Feuer gespürt. Kai nutzte die Gelegenheit und riss sich von ihm los, stürmte davon, in Richtung seines Zimmers. Er konnte Yuriys Blick in seinem Nacken beinahe körperlich fühlen, was ihn nur noch schneller laufen ließ. Beinahe wäre er gestolpert. Erst als er die Tür geschlossen hatte wagte er es, durchzuatmen. Dann erlaubte er sich, auf dem Bett zusammenzubrechen. Das Gesicht in den Kissen vergraben wurde er sich der Schmerzen bewusst. Sie hatten über die letzten Tage zugenommen, doch bisher hatte er es ignorieren können. Überall stichelte und brannte seine Haut. Schwerfällig drehte er sich auf den Rücken und hob den Arm. Er war übersät mit Schnittwunden, ältere und jüngere, einige waren tief genug, dass etwas Blut aus ihnen sickerte. Je länger er seine Wunden anstarrte, desto mehr realisierte er, wie er aussehen musste. Sein ganzer Körper tat weh. War Yuriy deswegen vor ihm zurückgewichen? Danach ging es nicht mehr lange gut zwischen ihnen. Kai war leicht reizbar geworden, denn er schlief schlecht und viel zu wenig. Und es half nicht, dass Yuriy nun doch begann, sein Training zu intervenieren. Nun musste er jedes Mal an ihm vorbei, wenn er nach draußen wollte oder von dort kam. Der andere war einfach immer da, als wüsste er ganz genau, wann Kai sich wo befand. Zwar sprach er ihn nicht noch einmal direkt an, doch er warf ihm Blicke zu, Blicke, die beinahe noch schärfer waren als herumfliegende Felsensplitter. Kai stellte sich dumm. Sah erst fragend, dann auffordernd zurück. Es brachte nichts. Es ging ihm auf die Nerven. Bald wurde es so schlimm, dass er Yuriy gar nicht mehr unter die Augen treten konnte, ohne sofort bloße Wut in sich aufwallen zu fühlen. Und dann kamen die Träume. Vielleicht lag es an dem alten Gebäude, das - welche Ironie! - einmal ein Kloster gewesen war. Oder an der Anwesenheit der anderen. Was immer es war, es führte dazu, dass er nachts von alten Geistern heimgesucht wurde. Im Schlaf rannte er endlose Gänge entlang, die nur von Kerzen erhellt wurden. Er schlug Beybattle um Beybattle gegen unsichtbare Gegner, immer begleitet von dem Gefühl purer Angst. Wenn es ganz schlimm kam, tauchte irgendwann ein riesiger, schwarzer Schatten auf, und obwohl er sich abwenden und vor ihm fliehen wollte, waren seine Füße wie festgefroren. So wachte er auf, für die ersten Sekunden blieb sein Körper wie erstarrt und die Angst verwandelte sich in Panik, bevor er sich wieder rühren konnte. Das wiederholte sich Nacht für Nacht, an Schlaf war danach nicht mehr zu denken, und so stand er meist weit vor Sonnenaufgang auf, versuchte, seine Traumbilder zu verdrängen und eine nützliche Routine zu entwickeln. Besonders an letzterem scheiterte er kläglich. Und eines Morgens eskalierte es. „Was?”, fuhr er Yuriy an. Es war noch sehr früh und er hatte eigentlich nur in der Küche etwas essen wollen, bevor er wieder nach draußen ging. Er war müde und nicht darauf vorbereitet, den anderen jetzt schon zu sehen. Yuriy lehnte an der Anrichte, neben sich eine Tasse, und musterte ihn stumm. Kais Aggression schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken. Und endlich, endlich machte er den Mund auf. „Du hörst mit deinen Alleingängen auf”, sagte er, „Und zwar sofort.” Und Kai hatte angenommen, über Yuriys Teamchef-Gebaren ein für alle Mal erhaben zu sein. Er schnaubte. „Den Teufel werd ich.” Yuriy stieß sich von der Anrichte ab und überbrückte den Abstand zwischen ihnen mit wenigen, langsamen Schritten. Er stand sehr dicht vor ihm, überragte Kai, doch der war zu wütend, um sich davon beirren zu lassen. Diese Situation war nur allzu vertraut, doch es waren beinahe zwei Wochen vergangen und Kai war erschöpft und Suzakus Einfluss wesentlich stärker als zuvor. Ansonsten hätte er vielleicht erkannt, dass es klüger war, den Raum zu verlassen. „Ich brauche keinen Leader, und dich schon gar nicht”, sagte er stattdessen. „Leg dich nicht mit mir an, Hiwatari.” Der Rothaarige hob nicht einmal die Stimme. Kai hörte wohl die Warnung, doch er ignorierte sie wissentlich. „Sonst was?”, entgegnete er, „Hast du es dir doch anders überlegt? Erst kaufst du mich, und jetzt bereust du es?” Es war die alte Leier und sie waren es beide leid, doch vor dem anderen weichen wollten sie genauso wenig. „Noch ein Wort…” Yuriy wurde noch leiser. „Oh bitte, Ivanov”, unterbrach Kai ihn, „Ich habe dir doch erklärt, dass ihr ohne mich keine Chance bei der Weltmeisterschaft habt -" In diesem Moment traf ihn der Schlag. Yuriy hatte ohne Vorwarnung ausgeholt, und seine Faust landete irgendwo in Kais linker Gesichtshälfte. Sein Kopf flog herum, doch er konnte sich am Küchenschrank festhalten und so verhindern, dass er ganz zu Boden ging. Ein scharfes Zischen entwich ihm, er hatte noch nicht ganz begriffen, was soeben passiert war. Als er sich wieder zu Yuriy wandte, erwiderte der seinen Blick ausdruckslos, die Hand immer noch erhoben. Kai richtete sich auf, halb erwartend, dass noch ein Hieb kam, doch dieser blieb aus. Also drehte er sich wortlos um und ging. Er fand sich im ranzigen Waschraum wieder, betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Einer der rostigen Wasserhähne tropfte, vielleicht war es auch eine der Duschen, jedenfalls machte das Geräusch ihn ganz irre. Als er vorsichtig den dunklen Fleck berührte, der sich auf seinem Wangenknochen ausbreitete, verstärkte er nur noch den dumpfen Schmerz. Wenn das bis zum Beginn der Weltmeisterschaft nicht verschwunden war, musste er sich etwas einfallen lassen. Mit einem Veilchen würde er jedenfalls nicht vor die Kameras treten. Er ließ die Hand sinken. Die Weltmeisterschaft. Warum machte er sich noch Gedanken darüber? Alles war umsonst gewesen, das Training, die Schmerzen - die verfluchten Träume. Er hatte es verbockt. Yuriy würde ihn wohl kaum weiter im Team behalten. Also war das wohl das Ende. Verdammt. Kais Zähne knirschten, so sehr biss er sie zusammen. Er hatte angenommen, in den letzten Jahren etwas dazugelernt zu haben, doch es schien, als würde er immer und immer wieder dieselben Fehler machen. „Kai?“ Natürlich war es Yuriy. Sein Anblick löste keine Aggressionen mehr in Kai aus. Sie waren wieder bei Null. Und vielleicht, ganz vielleicht, war er ein wenig beeindruckt davon, dass der Rothaarige ihn einfach so geschlagen hatte. Das traute sich sonst niemand. Doch das musste sein Gegenüber ja nicht merken. „Was willst du?“ Kai sah ihn nicht an, sondern drehte den Wasserhahn auf und hielt ein Stück seines Schals unter den kühlen Strahl. Doch bevor er sich den Stoff auf die Wange legen konnte, war Yuriy neben ihm und hielt ihm ein Kühlpad aus dem Eisfach hin. „Zeig mal her.“ Kai tat, als hätte er nichts gehört, aber Yuriy stieß gegen seine Schulter, sodass er sich doch zu ihm umdrehen musste. Der Blick der blauen Augen lag auf seiner Wange und er wusste nicht, wo er hinsehen sollte, also musterte er Yuriys Gesicht, dessen Ausdruck irgendwo zwischen Erstaunen und leichter Belustigung schwankte. Was wollte der andere noch? Es war vorbei, das Experiment Neo Borg war wieder einmal gescheitert. Kais Kopf brummte, vermutlich würde er eine Schmerztablette brauchen. Doch abgesehen davon breitete sich eine seltsame Ruhe in seinem Körper aus. Etwas in ihm hatte in den letzten Minuten nachgegeben, oder es war unter Yuriys Schlag gebrochen. „Tut mir leid“, sagte Yuriy. Das klang nicht überzeugend. Kai nahm ihm das Pad aus der Hand und trat einen kleinen Schritt zurück. Sie sahen sich an. „Ich hätte es genauso gemacht“, sagte er, „Wenn ich Teamchef wäre.“ Diese Worte kosteten ihn weniger Mühe, als er gedacht hatte. „Also… Ich gehe dann wohl mal meine Sachen packen.” Er wollte an dem anderen vorbeigehen, doch Yuriy streckte den Arm aus und hielt ihn einfach fest. Kai spürte seinen Körper ganz nah bei sich und allein die Sinneseindrücke, die plötzlich auf ihn einströmten, ließen ihn innehalten. „Wo willst du hin?”, fragte Yuriy, „Ich habe nicht vor, dich aus dem Team zu werfen.” Kai seufzte, ob nun vor Erleichterung oder aus Müdigkeit wusste nicht einmal er selbst. „Okay.” „Aber ich bin Captain und du wirst das akzeptieren.” „...Okay.” Er hatte längst verstanden, dass er Yuriy nicht von seiner Position verdrängen konnte. Und wenn er ehrlich war, wollte er es auch nicht. Ihm war nur eines wichtig, und wenn er sich dem anderen unterordnen musste, um es zu bekommen, dann sollte es wohl so sein. Im Grunde war das die gesündeste Entscheidung. Endlich trat er einen Schritt zurück, um von Yuriys Arm loszukommen. Dieses Mal schafften sie es nicht, sich anzusehen. „Gut”, sagte Yuriy. „Nur noch eins: Wenn du lieber allein trainieren willst…“ „Sag, wann wir trainieren, und ich bin da“, unterbrach Kai. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)