The Eye of Horus von BlackSpark ================================================================================ Kapitel 2: Gebrochene Maske --------------------------- Der Tag konnte für Chloe garnicht schnell genug vorbei gehen. Als endlich die letzte Glocke ertönte und sie vom Unterricht erlöste, hatte sie das Gefühl einen 100 Meilen langen Marathon gelaufen zu sein. Sie war ausgelaugt. Körperlich, wie geistig.   Sie verließ das Schulgebäude und wartete, anders als sonst, nicht auf Lucy, sondern begab sie schnurstracks in Richtung Grundschule um Tommy von der Nachmittagsbetreung abzuholen. Der Junge saß schon vor der Schule auf einer Sitzbank und wartete.   Sie bemühte sich eine fröhliche Miene aufzusetzen, als sie ihn begrüßte.   „Hey, Krümel. Wie war die Schule?“   Er sah auf und Chloe hatte kurz den Eindruck, ihn aus sehr tiefen Gedanken gerissen zu haben. Doch dann lächelte Tommy wieder auf seine vertraute Art und Weise und hüpfte von der Bank.   „Super cool. Wir haben in Kunst einen Frosch gemalt.“ Er hielt ein großes Blatt hoch, das neben ihm gelegen hatte. Es stellte ein sehr merkwürdiges, grünes Etwas da, das höchstens Picasso als Frosch erkannt hätte. Lucy hätte dazu wohl einen dämlichen Kommentar vom Stapel gelassen, aber Chloe hielt sich zurück. Tommy schien sehr stolz auf sein „Werk“ zu sein und dass letzte was sie wollte, war seine Gefühle zu verletzen.   „Oh wow. Das ist ja cool. Hast du das ganz alleine gemalt?“   „Yup. Und in Sport haben wir Fußball gespielt. Mein Team hat gewonnen.“   Chloe grinste. Tommy war in nichts so gut wie im Fußball. Er kannte alle Spielzüge, alle Aufstellungen der Europäischen Nationalmannschaften und spielte in jeder freien Minute die er hatte.   „Also, wenn du groß bist, wirst du entweder Nationalspieler oder der nächste Da Vinci.“ Sagte sie und meinte es auch so. Fast alle Jungen in Tommys Alter wollten heutzutage Fußballer werden, aber er hatte wirklich Talent. Wenn sie mit ihm vor der Garageneinfahrt spielte, zog er sie immer ab. Obwohl sie viel größer war und schneller laufen konnte.   Sie gingen lachend und sich locker unterhaltend nach Hause und Chloe musste ausführlich von ihrem Schultag berichten, wobei sie die peinliche Situation mit Jack im Geschichtsunterricht allerdings nur streifte. Im Nachhinein war ihr nicht mehr so ganz klar, worüber sie sich eigentlich so aufgeregt hatte. Es war erst das zweite Mal in ihrem ganzen Leben, dass sie mit Jack geredet hatte und, anders als beim ersten mal in der Grundschule, war die Konversation ganz zivilisiert abgelaufen. Ob es daran  lag, dass er ihr damals wie ein blöder Angeber vorgekommen war? Oder an seinem Ruf als Schürzenjäger? Hübsch war er ja schon…   Chloe ohrfeigte sich mental für diese Gedanken. Sie kannte Jack nicht wirklich. Und sie würde, bis sie ihn ein wenig besser kannte, neutral über ihn urteilen. Gutes Aussehen und zweifelhafter Ruf hin oder her. Sie hatte sowieso keine Zeit für einen Freund.   Also verbannte sie Jack aus ihren Gedanken und konzentrierte sich stattdessen darauf, was es heute zu essen geben sollte. Da sie sich ja vorgenommen hatte, für Lucy nicht mehr mit zu kochen, konnte sie endlich mal ein Gericht wählen auf das sie so richtig Lust hatte. Gekochtes Hähnchenfleisch mit Kartoffelbrei? Fisch und Chips? Chickenwings mit Reis und Möhrengemüse? Pizza? Schon bei dem Gedanken an all die Köstlichkeiten auf die sie schon so lange verzichtet hatte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Oh ja, sie hatte gerade so richtig Appetit auf eine Pizza mit dick Schinken und Käse. Eine Vorstellung die auch Tommy begeisterte.   „Yeah. Für mich extra Käse!“ jubelte er, als sie ihm die Idee vorschlug.   Also machten sie einen kleinen Umweg zur örtlichen Pizzeria. Es gab nicht viele Imbissbuden in der Stadt, daher war ‚Amandos‘ immer gut besucht.  Während sie anstanden schien Tommy erst aufzufallen, das Lucy nicht mit von der Partie war.   „Sie wird keine Pizza wollen. Was kriegt sie denn?“ fragte er, etwas verwirrt.  „Wir haben alles da was sie braucht, sie kann sich ihr Essen selber machen.“  Chloe hatte sich bemüht, ihren Gesichtsausdruck neutral zu halten, aber etwas von ihrem, bei der Erwähnung ihrer Schwester, erneut hochkochendem Groll musste sich bemerkbar gemacht haben. Tommy sah sie jedenfalls ziemlich erschrocken an.   „Aber sie kann doch garnicht kochen.“  „Es wird Zeit, dass sie es lernt. Wenn sie immer Extragurken haben will, soll sie sich selber drum kümmern.“  Ihr kleiner Bruder sah betreten zu Boden.   „Bist du ihr immer noch böse?“   Chloe atmete tief durch. ‚Immernoch‘ war eine Untertreibung. Wenn sie genau darüber nachdachte, war sie schon seit Jahren böse auf Lucy. Seit sie sich dazu entschlossen hatte, Chloe das Leben noch zusätzlich schwer zu machen, statt ihr wenigstens etwas unter die Arme zu greifen, wie man es von einer Schwester erwarten konnte. Aber sie war sich nicht ganz sicher wie Tommy diese Erklärung aufnehmen würde.   „Ja.“ Antwortete sie stattdessen knapp.   „Sie hat den Bogen heute endgültig überspannt.“  Der Rest des Nachhausewegs verlief größtenteils in Schweigen. Chloe bemühte sich zuerst das lockere Gespräch von zuvor wieder aufzunehmen, aber Tommy war jetzt deprimiert und daran konnte auch der Geruch der drei frischen Käsepizzas, die Chloe nun in Händen trug, nichts ändern. Sie sah ihn an, wie er wie ein verprügeltes Hündchen neben ihr her lief, und ihr wurde fast schlecht von dem schlechten Gewissen, das nun an ihr nagte. Wenn sie eins noch mehr hasste als wenn es Tommy schlecht ging, dann wenn sie der Auslöser war.   Sie kahmen bei ihrem Haus an, ein kleiner Backsteinbau mit Garagenauffahrt und einem winzigen Vorgarten, und Chloes zermürbtes Nervenkostüm bekam einen weiteren Schlag ab. Lucy hatte keinen eigenen Schlüssel. Also hatte sie vor der Haustür auf Chloe, die als einzige von den dreien einen besas, warten müssen. Ausnahmsweise einmal blieb sie stumm und starrte Chloe nur vorwurfsvoll an. Gut. Böse Blicke waren leichter zu ignorieren als der, sonst übliche, Tobsuchtsanfall. Chloe war sicher, hätte Lucy jetzt ihre übliche Szene gemacht, hätte sie ihr eine rein gehauen. Schon ihr Anblick reichte und in Chloe kochte es. Sie wusste nicht mal ob sie mehr Wut auf ihre Schwester, ihre Mutter oder sich selbst hegte. Aber der Vulkan stand kurz vor dem Ausbruch.   Am besten, wenn sie nach dem essen joggen ging und dann noch eine kalte Dusche nahm, bevor sie zu Bett ging.   Eine Taktik die es bisher noch immer geschafft hatte Chloes Gemüt zu beruhigen. Und eine, die sie in letzter Zeit sehr häufig hatte einsetzen müssen, wie sie irgendwo in ihrem Hinterkopf bemerkte.  Auf ihrer Unterlippe kauend, schloss Chloe die Tür auf. Sie schmiss ihren Rucksack in die Ecke, lud die  Pizzen auf dem Esstisch ab und holte für sich und Tommy Teller. Lucy setzte sich ebenfalls an den Tisch und starrte auf die Pizzaboxen, als würde sie erwarten, dass sie jeden Augenblick zum Leben erwachen und über sie herfallen würden.    „Was zum Teufel ist das?“ fragte sie.  „Käsepizza.“ Antwortete Chloe knapp.   Lucys Gesichtsausdruck wandelte sich von misstrauisch zu angewidert.   „Du weist das ich so was nicht esse! Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich Veganerin bin?“ presste sie zwischen zusammen gepressten Lippen hervor.   Chloe gab ihr bestes um ungerührt zu bleiben.   „Wenn du nicht willst,  dann lass es bleiben. Mach dir einen Obstsalat, es sind reichlich Bananen und Äpfel da.“  Darauf bekam sie keine Antwort. Und Chloe selbst ritt auch nicht weiter auf dem Thema herum. Stattdessen teilte sie die erste Pizza auf und legte Tommy das erste Stück auf den Teller. Der Junge war noch immer zu bedrückt zum reden. Also verlief auch das essen in Schweigen. Was Chloe garnicht passte, aber sie hatte keine Ahnung wie sie die Stimmung heben könnte.  Irgendwann, nach dem ihr scheinbar klar geworden war, das da sitzen und Schmollen ihr nichts zu essen auf den Tisch zaubern würde, erhob Lucy sich und holte sich die Obstschale von der Theke.   Chloe konnte deutlich hören, wie sie wieder leise zu schimpfen begann und war sehr froh, das sie sich selbst mit einem Apfel den Mund stopfte, bevor sie etwas vom Stapel lies, dass ihr sehr schnell leidtun würde.   Die erste Pizzabox lichtete sich langsam zwischen Tommy und ihr und Chloes Drang raus zu rennen und für ein paar Stunden von dieser erdrückenden Stille weg zu kommen, wurde mit jeder Sekunde stärker.   ‘Noch ein halbes Stündchen aushalten.’ Mahnte sie sich in Gedanken. ‘Erst noch spülen und die Hausaufgaben.’  Tommy schob als erster seinen Teller weg.  „Bin satt.“ Murmelte er. Und musste rülpsen. „Ups. Sorry.“   „Du kleines Ferkel!“ rief Chloe aus und konnte nicht anders als zu grinsen. Jungs und Tischmanieren. Gespielt angewidert rutschte sie von dem Jungen weg und wedelte mit der Hand vor ihrer Nase, um den nicht vorhandenen Gestank zu vertreiben. Tommy errötete leicht und fuhr sich, peinlich berührt mit den Fingern durch seine struppigen, nussbraunen Haare. Auf seinen Mundwinkeln zeichnete sich die Spur eines verlegenen Lächelns ab. Einen Augenblick schien es, als ob sich die Stimmung heben würde.  Im Nachhinein wohl nur tiefes Wunschdenken. Denn natürlich gab Lucy im schlechtest möglichen Augenblick, den dümmst möglichen Kommentar ab.   „Ihr zwei seit sowasvon ekelhaft!“   Es währen nicht mal sehr verletzende Worte gewesen, hätten ihr Gesichtsausdruck und die Art wie sie das verbleibende Obst von sich wegschob, nicht deutlich gesagt, dass sie es genau so gemeinte, wie sie es gesagt hatte. Der Hauch von Lächeln auf Tommys Gesicht erstarb und er wurde noch roter.   Chloe rollte die Augen und verkniff sich die bissigen Gegenkommentare, die ihr auf der Zunge lagen. Lucy Humor- und Taktlosigkeit vorzuwerfen, währe jetzt nicht all zu produktiv. Nicht wenn sie die nächste, halbe Stunde in Frieden hinter sich bringen wollte.  Also stand sie auf, sammelte das Besteck ein und begab sich ans Spülen. Tommy folgte ihr, wie auf ein unsichtbares Kommando und griff nach dem Spühltuch um abzutrocknen. Während Lucy natürlich wieder sitzen blieb und eine Schnute zog. Wie eine Prinzessin, deren Diener ihr nicht schnell genug arbeiteten.   Chloes Griff um den ersten Teller wurde so fest, das sie ihn wohl zerbrochen hätte, hätte sie noch etwas mehr Kraft. Tommy war der kleinste, aber er musste arbeiten, während ihre Hoheit keinen Finger rührte!   Aus einem Grund den Chloe sich nicht ganz erklären konnte, war dieses dumme, von Lucy inzwischen völlig normale Verhalten, der Tropfen der das Fass zum überlaufen brachte.   Erst die Szene heute Morgen, dann schmiss Lucy ihre Brotdose nach ihr und jetzt versuchte sie tatsächlich immer noch ihre übliche, ‚verwöhnte Göre‘ -Masche durchzuziehen, als währe nichts passiert und ihr Verhalten in irgendeiner Form gerechtfertigt! Statt Tommy den Teller zum Abtrocknen zu reichen, knallte Chloe ihn auf den Tresen und befahl; „Genug Tommy. Geh an deine Hausaufgaben!“   Er starrte sie mit großen Augen an, erschrocken über ihren aggressiven Tonfall. Und irgendwie versagte es zum ersten Mal seit langem darin, Chloe nahezugehen. Ihre Wut war einfach an einem Siedepunkt angelangt und die Kernschmelze hatte eingesetzt. Die Explosion war nur noch eine Frage von Sekunden.   „Lucy! Komm her!“   Der Tatsache geschuldet, das selbst die zickige Diva Lucy ordentlich zusammenfuhr als sie sprach, musste Chloe sich wirklich genauso wütend anhören wie sie sich fühlte.   Langsam stand das jüngere Mädchen auf und kam zur Spüle herüber. Chloe hielt ihr das Spültuch und den nassen Teller entgegen.   „Abtrocknen!“ befahl sie.   Lucy nahm die beiden Gegenstände praktisch in Zeitlupe entgegen, wobei ihre Lippen zitterten, als ob sie mit dem Impuls kämpfte sich zu beschweren. Ein Kampf den sie, wie eigentlich vorauszusehen, schon nach einigen Minuten verlor. Lucy trug nunmal ihr Herz auf der Zunge. Sie hatte noch nie für längere Zeit die Klappe halten können. Irgendwann begann der Wasserfall immer wieder zu quasseln. Vor allem, wenn ihr etwas nicht passte. Oder sie etwas nervös machte.  Wie jetzt.  „Was zum Henker ist los mit dir?“ platzte sie piepsig hervor und hielt den Teller dabei fast schon wie einen Schild vor sich.   Chloe hielt in ihrem Tun inne und drehte sich langsam wieder zu Lucy um.   „Was mit mir los ist?“ knurrte sie und mit jedem Wort das sie hervorquetschte, brach der Damm hinter dem sie jahrelang ihre Gefühle angestaut hatte, weiter auf. Die Wahrheit stürzte wie eine Flutwelle heraus und nichts hätte sie jetzt noch zurückhalten können.  „Ich kümmere mich seit zwei Jahren jeden einzelnen, verdammten Tag um dich und Tommy! Ich koche für euch, ich putze für euch und räume hinter euch her! Ich habe keine echte Freizeit mehr, keine Freunde mehr und kann mir meine Zukunftspläne abschminken! Und was hab ich davon? Du tust den ganzen Tag lang nichts außer herum zu schmollen und dich bedienen zu lassen, oder wirfst in aller Öffentlichkeit dein Pausenbrot nach mir, nur weil du deinen Willen nicht kriegst! Denkst du vielleicht ich hab ‚Bimbo‘ auf der Stirn stehen? Ich bin deine Schwester, nicht dein Dienstmädchen! Und ich hab die Schnauze gestrichen voll von dir deinem ‚Ich-ich-ich‘ -gehabe!“   Chloe hatte inzwischen angefangen zu brüllen und stand mit geballten Fäusten vor ihrer kleinen  Schwester da, die inzwischen kreidebleich geworden war und zusammen zu schrumpfen schien. Ein Anblick der einen kleinen, düsteren Teil von Chloe zutiefst befriedigte. Der Rest von ihr jedoch herrschte sie entsetzt an sich zu beruhigen. Sie wollte nicht wirklich das Lucy Angst vor ihr bekam. Oder?  „Du musst gerade reden!“ quickte Lucy, offensichtlich selbst in ihrem Schock noch fest entschlossen auf ihrem hohen Ross sitzen zu bleiben.  „Du wirfst mir vor dich herum zu scheuchen. Dabei machst du doch hier immer einen auf Chefin und willst alles bestimmen!“   „Ja. Fragt dich mal, wieso!“   „HÖR AUF SO ZU TUN, ALS WÄHRST DU MUM!“ kreischte Lucy mit Tränen in den Augen und pfefferte den Teller zu Boden, der in hunderte Scherben zerbrach Dieser Satz lies Chloe aus allen Wolken fallen. Wie konnte Lucy es wagen diesen Vergleich anstellen? Chloe mit ihrer Mutter gleich zu setzen war wie Mutter Teresa mit Jack the Ripper zu vergleichen. Sie mochte ja nicht perfekt sein aber das… Ihre nächste Antwort kam erst nach einigen Herzschlägen und war zwischen den Zähnen hervor gepresst.   „Oh, ich tue nicht im Ansatz so als wäre ich Mum. Würde ich das tun, hätte ich mich längst, ohne Lebwohl, nach weis-der-Geier-wo verabschiedet!“   Einen kurzen Moment lang breitete sich Schweigen im Raum aus und Chloes abebbende Wut wurde von einem luftabschnürenden, wiederwertigen Gefühl der Klaustrophobie ersetzt. Sie war sich plötzlich jedes einzelnem ihrer Atemzüge, jedes Pulsierens ihrer Venen bewusst und auf ihren Ohren baute sich ein unerträglicher Druck auf. Weswegen sich das krachen des Stuhls den Tommy umwarf, als er vom Tisch aufsprang und aus der Küche rannte, sich für sie anhörte wie ein Schaumstoffball der auf dem Teppich aufprallte. Dumpf und leise.   Irgendwie setzte ihr Gehirn aus. Sie musste hier raus! Nicht gleich, jetzt sofort!   Sie machte auf der Stelle kehrt und rannte aus dem Haus. In ihrem Drang zu entkommen, von diesem  Trauerspiel weg zu kommen, nahm sie sich nicht mal die Zeit ihre Jacke an zu ziehen. Oder ihre Schuhe. Gott sei Dank, waren Little Welshares Straßen üblicherweise schön sauber und gut gepflastert. Das Risiko in die Scherben einer zerbrochen Flasche zu treten war also gering. Nicht dass  das Chloe gerade groß gekümmert hätte.   Mit vor Tränen brennenden Augen rannte sie ziellos durch die Straßen und Gassen, bis sie an einem verwaisten Spielplatz ankam. Ein heruntergekommenes Gelände, mit einem kaputten Klettergerüst und einer rostigen Affenschaukel.   Als Chloe noch jünger gewesen und sie gerade erst hergezogen waren, waren Chloe und die damals noch ganz kleine Lucy oft zum Spielen hergekommen. Es waren schöne, aber schon sehr verblichene Erinnerungen. Erinnerungen an eine Zeit wo ihre kaputte Familie noch ganz gewesen war und Chloe sich noch um so belanglose Dinge wie ihren Geburtstag sorgen machen konnte. Der, wie ihr gerade erst wieder einfiel, in neun Tagen war. Jetzt vergaß sie schon ihren eigenen Geburtstag! Aber wie soll man auch groß an etwas denken, das sie schon seit Jahren nicht mehr richtig feierte. Sie konnte sich nicht mal mehr erinnern was sie letztes Jahr geschenkt bekommen hatte. Hatte sie überhaupt ein Geschenk bekommen? Hatte überhaupt jemand an sie gedacht? Würde dieses Jahr jemand an sie denken?   Vom rennen erschöpft und inzwischen ohne Zurückhaltung heulend, ließ Chloe sich auf der bedenklich quietschenden Schaukel nieder.   Durch den Schleier ihrer Tränen hindurch, begannen sich ihre rosigen Kindheitserinnerungen vor ihrem geistigen Auge abspielten.  ~~~~Chloe und Lucy krallten sich lachend und kreischend an den Verstrebungen der Affenschaukel fest, während ihr Vater sie anschupste.  Auf der Bank gegenüber saß ihre Mutter und sah dem treiben lächelnd zu.   Sie sah so schön aus. Mit ihren makellosen Zügen, dem dezent aufgetragenen Makeup, ihrem langen schwarzen Haar, der Kapposhino- braunen Haut, dem eleganten Sommerkleid das sie trug, den dunklen Augen.~~~~~  Gegenwart-Chloe starrte ihrer Erinnerungs-Mum lange und hasserfüllt in die Augen und fragte sich wie jemand der äußerlich so schön war, im Inneren so kalt und verrottet sein konnte.   „Ich hasse dich!“ Rief Chloe ihrer Erinnerung nach einem scheinbar endlosen Blickduel schließlich zu.   „Du hast mich, Dad, Lucy  und Tommy verraten! Du hast uns weggeworfen wie Müll! Wieso? Wieso waren wir dir plötzlich nicht mehr gut genug?“   Natürlich blieb die Erinnerung stumm. Sie starrte nur gefühlslos und ungerührt.   Chloe schlug die Hände vor die Augen und ließ sich nach hinten in den Korb der Schaukel fallen.   Es spielte keine Rolle wie sehr sie eine Antwort auf ihre Fragen wollte, sie würde nie eine bekommen.  Also warum war sie überhaupt hier und brüllte die Luft an, als wäre sie aus der Klapse ausgebrochen?   ‚Hoffentlich hat das keiner Mitbekommen.‘ dachte sie und rieb sich die Augen, um die Tränen schneller aus zu quetschen. Chloe hasste es zu weinen.  Als nach einer Ewigkeit der Fluss an flüssigen Gefühlen endlich versiegte, war die Sonne schon komplett hinter dem Horizont verschwunden und am dunkel blauen Himmel trauten sich die ersten Sterne hervor. Chloe blieb trotzdem im Korb liegen und starrte in die endlose Weite über ihr.  Als kleines Mädchen, hatte sie sich immer vorgestellt, dass die Sterne Engel wären, die Nachts auf die Menschen aufpassten. Eine schöne Vorstellung. Das es da draußen jemanden gab, der auf sie aufpasste und einfach immer zuhörte… Ihr Handy vibrierte.  Überrascht holte Chloe das Gerät, kein Smartphone, sondern ein altmodisches Klapphandy mit dem man wirklich nur telefonieren und SMS schreiben konnte, aus ihrer Hosentasche, wo es den ganzen Tag unbenutzt verbracht hatte hervor. Sie hatte eine Nachricht von Jack bekommen.  Vor ein paar Stunden noch, hätte sie sich vermutlich unbehaglich dabei gefühlt, so mit einem Jungen zu schreiben. Aber jetzt kam ihr die Ablenkung wie gerufen.  Sie öffnete die Nachricht, und las:  >Hey Chloe. Habe ein paar brauchbare Bücher bei mir gefundenen. Krieg die aber unmöglich alle allein gewälzt. Bock morgen bei mir vorbei zu kommen?<  Chloe spürte sich, wie schon am Vormittag, rot anlaufen. Sie? Alleine zu einem Jungen nach Hause? Unwillkürlich wollte sie schon >Auf keinen Fall!< oder >Keine Zeit!< tippen, aber sie zögerte als ihr Daumen die erste Taste berührte. Was währe denn schon so verkehrt daran, mal einen Abend nicht daheim zu sein? Gerade jetzt, wo sie ihre Geschwister, hart gesagt, nicht sehen wollte?  Trotzdem konnte sie sich nicht dazu durchringen, gleich anzunehmen.  >Vielleicht. Muss gucken ob ich kann.< tippte sie und schickte die Nachricht schnell ab, bevor sie es sich doch noch anders überlegen und stattdessen >Nein< schreiben konnte. Dabei schlug ihr das Herz bis zum Hals. Als ob sie gerade etwas ganz freches und unanständiges getan hätte.  Könnten Fremde in ihren Kopf gucken, würden sie sofort merken, dass Chloe absolut keine Erfahrung mit Jungs hatte. Dabei war das hier noch nicht mal eine Einladung zu einem Date, oder ähnlichem. Zumindest glaubte Chloe nicht dass es das war…  Heiliger Herr Jesus im Himmel!  Chloe kam sich, für diesen flüchten Gedanken, selten dämlich vor. War sie sozial wirklich schon so verkümmert, dass jede Konversation die ein Junge freiwillig mit ihr führte, für sie schon anbaggern war? Jack war kein schüchterner Bubi! Wenn er in den letzten Jahren, seit sie beide in diesem Alter waren, kein Interesse an ihr gezeigt hatte, dann hatte er auch keins! Ende der Fahnenstange!  Jack antwortete und unterbrach ihre mentale Abwärtsspirale.  >Cool. Gleich nach der Schule? Wenn du kannst, mein ich?<  Chloe schluckte den nutzlosen Kloß im Hals herunter und antwortete, todesmutig:  >Ok<  Danach klappte sie das Handy schnell zu und erhob sich aus dem Korb.  Dad würde bald zuhause sein.  Es war Zeit für sie sich, wortwörtlich, auf die Socken zu machen. Ob sie nun nach Hause wollte, oder nicht. Gerade als Chloe ihr Haus erreichte und bemerkte das sie durch das angelehnte Küchenfenster würde klettern müssen, weil sie mit ihrer Jacke auch ihren Schlüssel drinnen vergessen hatte, bog der alte Toyota ihres Vaters in die Einfahrt ein.  “Und ich dachte immer, in dieser Nachbarschaft gäbe es keine Einbrecher.” Scherzte Jakob Graham, als er aus dem Auto ausstieg und auf seine Tochter zu ging, die hastig den Arm wieder aus dem Spalt zwischen Fenster und Ramen zog.  “Abend, Dad.” Grüste Chloe, gequält lächelnd. “Hab mich ausgesperrt.”  “Nein, sowas.” Sagte er lächelnd und warf einen Blick auf ihre Füße. “Und deine Schuhe hast du auch da gelassen?”  Chloe wischte sich verlegen eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht.  “Lange Geschichte.” Ihr Vater grunzte amüsiert und zog seine eigenen Hausschlüssel aus der Tasche seiner Arbeisjacke.  “Es ist kalt heute Abend. Ich lasse dich wohl besser rein, bevor du dich erkältest. Oder das Fenster aufbrichst. Du kannst mir diese ‘lange Geschichte’ beim Essen erzählen.” “E..es gibt Pizza.” Haspelte Chloe während sie, erleichtert, in den Flur schlüpfte.  Die Küche sah noch genau so aus, wie sie aussah, als sie das Haus verlassen hatte.  Die zwei Pizzaboxen lagen noch auf dem Tisch, die Scherben des zerbrochenen Tellers noch immer auf dem Boden.  Ihr Dad zog eine Augenbraue hoch.  “Eine wirklich lange Geschichte, wie es aussieht…”  Chloe seufzte und begann zu erzählen, während sie anfing die Scherben zu entsorgen. Wobei sie das Hilfsangebot ihres Vaters ausschlug.  Als sie endlich fertig mit ihrer Erzählung war, saß Chloe neben ihm am Tisch, den Kopf hinter den verschränkten Armen versteckt, auf der Tischplatte.  Er hatte die ganze Zeit schweigend zugehört, und nun lag seine Stirn in tiefen Sorgenfalten.  “Wenn es dir zu viel ist, dich um deine Schwester und deinen Bruder zu kümmern, hättest du mir dass ruhig sagen können.” Sagte er schließlich.  Chloe seufzte noch einmal und hob den Kopf.  “Ich weiß. Aber hab ich denn eine Wahl? Du kannst nicht deine Arbeit vernachlässigen, nur um mir welche abzunehmen.”  “Lass das mal meine Sorge sein, Engelchen.” Antwortete ihr Vater entschieden und begann sich endlich über die noch unberührte, zweite Pizza herzumachen, die die ganze Zeit über auf dem Tisch gelegen hatte und mittlerweile wohl schon kalt war. Aber er beschwerte sich nicht, sondern legte Chloe die freie Hand auf die Schulter und fuhr fort.  “Du bist noch jung und als dein Vater, ist es meine Aufgabe dafür zu sorgen, dass du dich ruhig einmal zurückhalten kannst, wenn du zu gestresst bist.”  Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu; “Hattest du nicht etwas in Richtung einer Einladung erwähnt?”  “Ah ja. Ein Klassenkamerad hat mich gefragt,  ob ich ihm beim Recherchieren für unser Geschichtsprojekt helfen kann.”  Chloe merkte dass sie beim sprechen knallrot geworden war. Ihr Vater begann zu lachen und warf ihr einen Blick zu der deutlich sagte; ‘Er, hm?’  “Was gibt es da zu lachen?” entrüstete sie sich und wurde noch röter. “Jack ist bloß ein Junge!”  Er lachte zuerst noch lauter und Chloes Kopf fing an einer überreifen Kirsche zu gleichen. Doch dann wurde sein Lachanfall von einem rasselnden Husten unterbrochen.  “Dad?” fragte Chloe erschrocken. All das Blut, das sich in ihrem Kopf angesammelt hatte, verließ diesen schlagartig und sie wurde kreidebleich.  Er winkte sie ab und schaffte es, zwischen zwei Hustern, “Hab mich verschluckt.” hervor zu krächzen.  Sie fing wieder an zu atmen und stand von ihrem Stuhl auf.  “Ich hol dir ein Glas Wasser.”  Während sie das Glas aus dem Küchenschrank nam und am Hahn mit frischem Leitungswasser füllte, bemerkte Chloe erst wie ihr Herz raste.  ‘Wenn Dad etwas passieren würde…’  Sie brachte es nicht fert fertig, den Gedanken zu Ende zu denken. Das wäre das Schlimmste was ihr passieren könnte. Ihr Vater war die einzige Bezugsperson die Chloe noch hatte. Ihre Großeltern waren schon vor Jahren gestorben. Mutter und alte Freunde vielen bekanntlich aus. Sie würde mit ihren Geschwistern ganz alleine da stehen und hätte niemanden mehr, dem sie sich anvertrauen konnte. Auch wenn Chloe sich zumeist prinzipiell weigerte ihn mit ihren Schwierigkeiten zu belasten, hörte ihr Dad immer zu. So wie heute. Der Gedanke eines Tages ohne ihn da zu stehen, war unerträglich.  Sie ging zurück zum Tisch und reichte ihrem, immernoch leicht hustendem, Vater das Glas. Er nam es dankend an und lehrte es in zwei Zügen, während Chloe sich zurück auf ihren Stuhl fallen ließ.  “Also.” Begann ihr Vater wieder zu sprechen, nachdem er das Glas gelehrt hatte. “Was hast du morgen vor? Willst du zu diesem Jack hin, meine ich.”  Chloe schaute zur Seite. Von wollen konnte genau genommen keine Rede sein. Aber sie hatte, in mehr als einer Hinsicht, keine wirkliche Wahl. Sie wollte dises Schulprojekt möglichst schnell hinter sich bringen und es war die einfachste Gelegenheit, Lucy und Tommy aus dem Weg zu gehen. Also nickte sie.  Er lächelte und tätschelte ihr erneut die Schulter.  “Also gut. Und mach dir wegen Lucy und Tommy keine Sorgen. Ich komme früher nach Hause, bis sich die Wogen hir etwas geglättet haben und rede mal mit ihnen. Ich glaube mein Chef wird sowieso ganz erleichtert sein, wenn er mir für die nächsten paar Tage keine Überstunden anrechnen muss. Und ich hatte sowieso vor mir in den Ferien eine Woche Urlaub zu nehmen. Wir könnten nochmal für ein Wochenende ans Meer fahren.”  Chloe spürte kurz eine Welle der Nostalgie über sich herein brechen. Als sie und ihre Familie das letzte Mal in Urlaub gefahren waren, war Tommy noch ein Baby gewesen. Wieso nicht? Wenn das Wetter in nächster Zeit so gut blieb? Da war nur der übliche finanzielle Haken… “Können wir uns das denn leisten? Wir müssten ein Hotel mieten und…”  Ihr Vater unterbrach sie, schmunzelt. “Das schaffen wir schon. Und notfalls meine ich mich zu erinnern, dass wir auf dem Dachboden noch zwei gemütliche Zelte von unserer Campingtour,  vor fünf Jahren haben.”  Stimmt. Chloe betrachtete ihre Finger und dachte nach. Dad hatte recht, sie brachte dringend eine Abwechslung. Etwas Entspannung. Genau das hatte sie sich doch vorhin gewünscht, oder? Vielleicht gab es tatsächlich einen Gott, und er hatte sie erhört.  “Also gut. Machen wir es so.”  Sie umarmte ihren Vater und fing selbst an zu lachen. Wie hieß es noch gleich? Wenn du am Boden bist, gibt es nur noch den Weg nach oben.  Mit diesem Vorsatz begab sich Chloe nun verspätet an ihre Hausaufgaben und ging sogar einigermaßen optimistisch zu Bett.  Vielleicht hatte sie endlich das Licht am Ende des Tunnels gefunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)