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[Operation Nautilus] Andara-House

Mein letztes Jahr
von

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"In der Schusslinie"

Schläfrig streckte ich mich, als sanftes Sonnenlicht und leise Geräusche aus einem der Nebenräume mich weckten. Im ersten Moment war ich verwirrt und sogar etwas sauer darüber. Denn zu gerne hätte ich noch etwas geschlafen, bevor der eintönige Schulalltag mich einholte. Dann jedoch begriff ich, dass ich gar nicht im Internat war und außerdem Ferien hatte.
 

Das Bett war auch viel weicher und gemütlicher als das auf Andara-House. Mit großer Freude drehte ich mich noch einmal herum und kuschelte mich wohlig seufzend an den Körper, den ich auf der anderen Seite des Bettes fand. Schon bald wurde mein Geräusch des Wohlbehagens mit einem schläfrigen Brummen beantwortet und kräftige Arme schlangen sich um mich.
 

„Gut geschlafen?“, fragte Jeffrey, als er träge die Augen öffnete. Die Antwort war eindeutig ‚Ja‘, aber ich war noch nicht bereit, die wohlige Wärme des Bettes zu verspielen, indem ich eine verständliche Erwiderung von mir gab. Daher zog ich mir die Decke über den Kopf und drückte mich näher an Jeffrey. So schliefen wir beide tatsächlich noch einmal ein, bis der Duft von frisch gebackenem Brot und ein leises Klopfen an der Zimmertür uns erneute weckten.
 

„Frühstück ist fertig“, hörte ich Stan gedämpft durch die Tür rufen. „Von mir aus könnt ihr noch liegen bleiben, aber das Brot schmeckt am besten, wenn es noch warm ist.“
 

Diesmal war es Jeffrey, der nur ein Murren von sich gab. Wohin gegen ich schon halb aus dem Bett und auf dem Weg zur Kommode war, um mich kurz frisch zu machen und dann in meine Kleidung zu springen. Die Aussicht auf ein leckeres Frühstück, nach so erholsamem Schlaf, war mehr als verlockend. Nur Jeffrey schien der frische Duft nach Brot nicht zu locken. Vermutlich war er es so gewohnt, dass er gegen eine derartige Verlockung schon immun war. Mein Magen reagierte jedoch aufs Brutalste darauf: Nämlich mit einem solch lauten Knurren, dass Stan es auf der anderen Seite der Tür sicher auch hören konnte.
 

Und nun erfüllte auch noch ein anderer Duft die Luft. Ich schnupperte übertrieben und ein noch lauteres Knurren erfüllte unser Zimmer. Das war …
 

„Speck!“, rief Jeffrey aus und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Verwundert schaute ich ihm zu, wie er sich innerhalb von wenigen Minuten angezogen hatte und dann zur Tür herausstürmte. Wobei er Stan fast umgerannt hätte.
 


 

„Sagt mal: Bekommt ihr auf dem Internat nichts zu essen?“, fragte Stan, nachdem er uns einige Zeit schweigend zugesehen hatte, wie wir einen Teller nach dem anderen leerten. Stan und Sally waren schon lange mit dem Frühstück fertig und blickten mit großen Augen zu uns herüber. Auf den Lippen von Jeffreys Onkel zeichnete sich jedoch ein leichtes Lächeln der Belustigung ab.
 

Es war natürlich nicht so, dass wir auf dem Internat verhungerten. Jedoch war das Frühstück hier so auffallend lecker, dass ich einfach nicht aufhören konnte, zu essen. Allein das frisch gebackene Brot war schon unglaublich köstlich. Dazu gab es aber auch noch gebratenen Speck, Rühreier und die Butter war so lecker, wie ich es noch nie zuvor geschmeckt hatte. Ich nahm mir noch eine Scheibe des dick abgeschnittenen Brotes, bestrich sie reichlich mit Butter und gab anschließend noch eine gute Portion Ei darauf.
 

„Na klar gibt es da Essen, aber es schmeckt eben nicht so gut wie hier“, kommentierte Jeffrey, da ich schon wieder den Mund voll hatte und man so ja nicht sprach. Heftig nickend stimmte ich ihm zu. Zwar konnte ich gerade nicht reden, aber irgendeine Reaktion zum Sachverhalt wollte ich dann doch geben.
 

„Mike, wir sind hier unter uns“, sagte Stan mit einem fürsorglichen Ton in der Stimme und legte seine Hand kurz auf meine. Fragend hob ich eine Augenbraue, bevor ich mir eine weitere Gabel des leckeren Frühstücks in den Mund stopfte. „Du kannst ehrlich zu mir sein und mir sagen, dass Jeffrey dir im Internat die Haare vom Kopf frisst.“
 

„Hey!“, beschwerte sich Jeffrey, während ich damit beschäftigt war, das Lachen zu unterdrücken, an dem ich mich sicher verschluckt hätte. „Das ist echt gemein von dir!“
 

„Aber es ist doch die Wahrheit! Der arme Junge muss sicher jeden Tag zusehen, dass er schnell fertig isst, bevor du ihm den Teller wegziehst!“, meckerte Stan zurück. Ich kannte die beiden mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie ihre Streitereien nicht ernst meinten. Sonst wäre das schon ziemlich unangenehm für mich gewesen. So löste es aber absolute Heiterkeit bei mir aus und ich stimmte in das Lachen von Sally und Stan mit ein.
 

„Lachst du mich jetzt etwa auch aus?“, kam es beleidigt von Jeffrey und ich erntete einen halbherzigen Stoß in die Rippen.
 

„Tut mir leid“, brachte ich kichernd hervor, während ich mir den Bauch hielt und schon jetzt bereute, so viel gegessen zu haben.
 

„Haha! Das war jetzt auf meine Kosten sehr witzig! Wenn dann alle mit Lachen fertig sind, kannst du mir dann ja sagen, zu welcher Entscheidung du gekommen bist, Onkel.“
 

Die Stimmung schwang so plötzlich um, dass man meinen konnte, jederzeit Eiskristalle am Fenster zu sehen – im beginnenden Sommer.
 

Mit einem ernsten Gesichtsausdruck, den ich noch nie gesehen hatte, maß Stan Jeffrey. Wobei, ich hatte ihn schon so gesehen. Es war erst gestern gewesen, als ich das Gefühl hatte, Stan würde sich gleich mit Pauls Vater schlagen. Seine Lippen pressten sich fest aufeinander, sodass nur ein blutleerer Strich zu sehen war. Dann atmete er hörbar aus und wirkte bereits wieder viel ruhiger.
 

„Jeffrey“, begann er langsam und ich fand, dass es sich wie eine Warnung anhörte. „Ich habe dir gestern schon gesagt, dass ich darüber nachdenke und das ist nicht in einer Nacht getan. Also lässt du mich jetzt damit in Ruhe oder du kannst es direkt vergessen.“
 

Jeffrey antwortete nichts darauf. Ja, er murrte nicht einmal als Erwiderung, sondern blickte nur geschlagen auf seinen Teller. So, als hätte er da etwas sehr Interessantes gefunden. Verstohlen musterte ich Stan und musste gestehen, wie sehr mich die Autorität, die er ausstrahlte, in seinen Bann zog. Zumal er den aufmüpfigen Jeffrey mit einem Blick in seine Schranken weisen konnte und dabei trotzdem so sympathisch wirkte.
 

„Lasst uns lieber überlegen, was wir heute mit meinem freien Tag so anfangen. Habt ihr irgendwelche Ideen?“
 

„Freier Tag?“, echote Jeffrey, der sich nun doch von seiner Abfuhr erholt hatte. „Seit wann gibt’s bei dir einen freien Tag? Lässt du deine Angestellten“ – Er schielte dabei auf Sally – „nicht normalerweise schuften bis zum Umfallen?“
 

„Vielleicht solltest du mal schuften bis zum Umfallen, dann weißt du jedenfalls wovon du sprichst!“
 

Ich nippte an meinem Tee und ließ mich dabei etwas tiefer in den Stuhl sinken. Zwar war mir bewusst, dass die beiden es meist nicht ernst meinten, wenn sie sich ankeiften, aber dann die ganze Zeit dazwischen zu sitzen war doch irgendwie unangenehm. Kurz überlegte ich, ob Jeffrey mit mir wohl den Platz tauschen wollte. Dann brauchte er nicht permanent über mich hinweg schreien.
 

„Das Café läuft so gut, dass wir uns jetzt einen geschlossenen Tag pro Woche leisten können“, erklärte Sally an mich gewandt, während Stan und Jeffrey noch damit beschäftigt waren, sich böse anzufunkeln. „Und trotzdem haben wir ein so gutes Einkommen, dass einige Extras drin sind. Ich glaube, so gut wie in den letzten Monaten ging es uns noch nie.“
 

Sally lächelte so herzerfrischend, dass ich nicht anders konnte, als es zu erwidern. Und tatsächlich, nicht nur das volle Café, das neue Auto oder die wunderschöne Wohnung zeugten von Stans Erfolg. Sondern vor allem Sally, die geradeso mit all den neuen Dingen um die Wette strahlte.
 

„Da hast du Recht“, pflichtete nun Stan, der sein Starrduell mit Jeffrey unterbrochen hatte, ihr bei. „Aber ab jetzt müssen wir wieder etwas zurückstecken. Du weißt, warum. Also, worauf habt ihr Lust?“
 

Neugierig blickte ich zu Sally, die eifrig genickt und danach direkt rot angelaufen war, aber dann fühlte ich ebenfalls einen Blick auf mir und beeilte mich, eine Antwort auf die Frage zu finden. Ich hatte ehrlich gesagt absolut keine Idee, bis mir plötzlich doch ein absurder Gedanke in den Sinn kam. Aus welchen Untiefen meines Kopfes sich diese Idee losgerissen hatte, konnte ich nicht sagen, denn ich hatte seit Wochen nicht mehr daran gedacht. Auch wenn ich mir bei dem Gedanken, die Ferien mit Jeffrey dafür auszunutzen, etwas schäbig vorkam. Aber immerhin hatte es ja auch mit ihm zu tun und ich konnte mir vorstellen, dass er es genauso spannend finden würde. Warum genau ich da hinwollte, musste ich ihm ja nicht auf die Nase binden.
 

„Ich … ähm … also“, begann ich unsicher, meinen Vorschlag vorzubringen, aber erst Stans aufmunterndes Nicken brachte mich endgültig dazu. „Ich habe vor längerer Zeit von diesem Lichtspieltheater gehört und also, das würde mich wohl interessieren.“
 


 

Das Filmtheater im Herzen Londons machte zunächst einen recht unscheinbaren Eindruck. Von außen wirkte es fast wie ein normales Wohnhaus, dessen Backsteinwände nichts Besonderes vermuten ließen. Von den Dingen, die es hier zu entdecken gab, zeugten nur einige Poster und gerade einmal ein hell erleuchtetes Fenster. Hinter diesem konnte man aber auch nicht wirklich viel erkennen. Es war absolut fraglich, ob ich diesem Ort alleine jemals Beachtung geschenkt hätte. Jedenfalls war ich froh, neben Jeffrey auch Stan und Sally dabei zu haben. In der lustigen Runde, die wir bildeten, hätte ich mich wohl in der übelsten Spelunke wohlgefühlt.
 

Als wir das Haus jedoch betraten, merkte ich, wie sehr einen der erste Eindruck täuschen konnte. Und ich musste mir eine neue Erklärung suchen, warum Stan am Anfang alles andere als begeistert von meiner Idee erschien. Nachdem ich meinen Vorschlag geäußert hatte, wirkte er, als würde ein eisiger Schauer durch seinen gesamten Körper laufen. Die Kiefer hatte er fest aufeinandergepresst und schwer geschluckt, wodurch sein Adamsapfel deutlich dieser Bewegung folgte. Bevor ich mich jedoch fragen konnte, ob ich etwas Falsches gesagt hatte, trat das gewohnte Lächeln wieder auf sein Gesicht und er pflichtete meiner Idee bei.
 

Nachdem ich das von außen recht enttäuschende Haus gesehen hatte, dachte ich, es läge wohl daran. Aber etwas Anderes musste der Grund sein. Vielleicht war etwas Unangenehmes passiert? Stan konnte auch nicht wirklich auf meine Frage antworten, ob sich der Besuch gelohnt hatte. Er meinte, er sei zu beschäftigt gewesen, als dass er dem Geschehen so wirklich folgen konnte. Womit, wollte er mir jedoch nicht verraten. So, wie er geguckt hatte, konnte es aber nichts Erfreuliches gewesen sein.
 

Ich zuckte mit den Schultern, um mich selbst von meinen Gedanken zu befreien und betrat direkt hinter Jeffrey und Stan das Lichtspieltheater.
 

Die Eingangstür führte in einen kleinen Vorraum, der mit roten Samtbändern notdürftig vom Rest des Raums abgetrennt war. Hier kaufte Stan vier Karten, die er dann an jeden von uns weiterreichte und ein Mann im schicken Anzug ließ uns herein, indem er eine der Absperrungen öffnete.
 

Der restliche Raum und auch der Teil davor mussten einmal ein Café, ähnlich dem von Stan, gewesen sein. Nur dass daran nur noch der Tresen und wenige kleine Sitzgruppen erinnerten. Die eigentliche Filmvorstellung musste einen Raum weiter, der durch einen schweren, blickdichten Vorhang verschlossen war, stattfinden. Trotz dessen, dass die Räumlichkeiten einmal etwas Anderes gewesen waren, war es hier durchaus gemütlich. Die restlichen Fenster waren mit roten Samtvorhängen, die bis auf den Boden reichten, verhangen und ein fast zu groß wirkender Kronleuchter tauchte den gesamten Raum in warmes, gelbes Licht. Die wuchtigen Sitzmöbel an den kleinen Tischen luden während der Wartezeit zwischen den Vorstellungen zum Verweilen ein. Dazu ein warmes Getränk und einem würde sicher nicht langweilig werden. Am angenehmsten aber war der Duft nach Popcorn, das am Tresen frisch hergestellt wurde.
 

„Kommst du?“, fragte Jeffrey. Als ich mich umdrehte, fand ich ihn direkt vor mir – mit einem riesigen Eimer Popcorn in den Armen. Ich zog belustigt eine Augenbraue hoch, während er mit vollem Mund weitersprach. „Wir können schon rein. Wird sicher bald losgehen.“
 

Er wirkte so aufgeregt wie ein kleines Kind, das soeben seinen ersten Lolli erhalten hatte und das Lächeln auf meinem Gesicht wurde noch breiter.
 

„Geh doch schon mal vor. Ich müsste noch mal wo hin“, stellte ich klar, nahm mir etwas Popcorn und schob es mir in den Mund. Es schmeckte wirklich wahnsinnig gut und ich musste dem Drang widerstehen, direkt ein zweites Mal zuzugreifen.
 

Ohne eine Antwort von Jeffrey abzuwarten, lief ich in die Richtung, in der die Toiletten waren. Dabei starrte ich wie gebannt auf meine Eintrittskarte hinab. Es war die gleiche Karte, wie die, die ich in der Jacke des Fremden gefunden hatte. Nur dass meine auf der Rückseite keine Notiz enthielt.
 

Ich fühlte mich etwas schlecht dabei, dass ich diesen Ausflug mit Hintergedanken gewählt hatte. Denn ich war nicht wirklich wegen des Films oder des Popcorns hier. Ich hoffte …
 

Ja, was denn? Den Fremden hier zu treffen?
 

Nein, das sicher nicht. Und ich wusste ja gar nicht, wie er aussah. Sollte ich nun jeden dunkelhäutigen Menschen ansprechen mit: „Hallo, ich bin Mike. Kann es sein, dass sie mich aus einem vereisten See gezogen haben?“
 

Wohl kaum!
 

Also was wollte ich dann hier? Vielleicht sollte ich jetzt einfach in den Saal gehen, die Vorstellung genießen und fertig. Dennoch spürte ich, dass ich ihm noch nie so nahe war.
 

Unschlüssig musterte ich das Eintrittskärtchen erneut. Vielleicht konnte ich doch etwas herausfinden. Was hatte ich schon zu verlieren?
 

Vorsichtig öffnete ich die Toilettentür, die ich gerade erst verschlossen hatte, erneut. Im Vorraum des Kinos sah ich weder Jeffrey, noch Stan oder Sally. Also gut, wenn es eine Gelegenheit für mich gab, dann war es jetzt diese. Entschlossen trat ich hinaus und lief zu dem Mann, der uns vorhin das rote Samtband geöffnet hatte. Als ich ihm erklärte, ich müsse noch etwas an der Kasse klären, ließ er mich ohne weitere Fragen durch.
 

An der Kasse war gerade nicht viel los, jedoch war ich mir nicht ganz sicher, ob ich mich darüber freute. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass es nun kein Zurück gab und dennoch war ich dankbar dafür, es jetzt durchziehen zu müssen.
 

„Entschuldigen Sie, Sir“, sagte ich nach einem kurzen Räuspern, um den Kloß im Hals loszuwerden. Die Augen des Kartenverkäufers richteten sich langsam und vollkommen desinteressiert auf mich. Ich schluckte schwer, da sich der Kloß schon wieder neu zu bilden begann.
 

„Was kann ich für dich tun, Junge?“
 

Die Frage war freundlich gestellt, aber in einem solchen Ton, der klarwerden ließ, dass er keine Lust hatte, mir bei irgendetwas zu helfen. Obwohl es mich vollends irritierte, ließ ich mich nicht von meinem Vorhaben abbringen und lächelte gewinnend.
 

„Verkaufen Sie hier immer die Karten?“, stellte ich meine Frage geradeheraus und schluckte erneut schwer. Der Mann maß mich mit einem stechenden Blick, als hätte ich ihn soeben gebeten, die Kasse zu leeren.
 

„Na, da ich noch auf keinen Goldesel gestoßen bin, muss ich das wohl!“
 

„Also sind Sie immer hier? Das ist gut“, hörte ich mich sagen und ignorierte seinen rauen Ton. Dennoch schrillten zahlreiche kleine Alarmglöckchen in meinem Kopf.
 

„Ach ja?“, brummte der Mann, verengte die Augen zu Schlitzen und beugte sich zu mir herüber. „Was willst du, Jungchen? Willst mich jetzt etwa jeden Abend besuchen?“
 

„Nein! Nein!“, warf ich schnell ein und hoffte nicht rot anzulaufen. „Ich suche jemanden.“
 

Jetzt fing der Mann heiser zu lachen an und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er im Durchschnitt wohl eine Pfeife zu viel rauchte.
 

„Suchst nen Weiberrock, hm? Ihr Jungspunde und eure Affären. Aber pass auf.“ Er beugte sich noch weiter zu mir, sodass ich seinen rauchigen Atem roch. „Wenns schief geht, musst sie heiraten und gehst von früh bis spät ackern. Hängst in ner miesen Arbeit fest bisde ins Grab fällst.“
 

Perplex blickte ich ihn an, bis auch jeder Winkel meines Kopfes begriff, was er gesagt hatte und wie er über mich dachte.
 

„Was?“, entfuhr es mir empört. „Nein! Sie verstehen das vollkommen falsch! Ich suche einen Mann.“
 

Der Satz war schneller draußen, als ich mir auf die Zunge beißen konnte. Was ich jetzt gesagt hatte, konnte man mit dem vorangegangenen Kontext sehr falsch verstehen. Und das vor dieser unangenehmen Person!
 

Außerdem entsprach es der Wahrheit, aber das durfte eben keiner wissen. Schon gar nicht hier: Mitten in der Öffentlichkeit!
 

„Ach, so einer bist du“, kommentierte der Kartenverkäufer ohne jedes Gefühl in der Stimme und musterte mich, als hätte er eben eine neue Spezies entdeckt. Wenn ich nicht selbst so davon betroffen gewesen wäre, hätte ich wohl bewundert, wie dieser Mann so viel richtig verstehen konnte, indem er eigentlich alles missverstand, was ich von mir gab.
 

„N…nein“, stotterte ich und diesmal konnte keine Macht der Welt verhindern, dass ich rot anlief. „Was … was reden Sie da für einen Unsinn?!“
 

Meine Stimme überschlug sich fast und ich war lauter geworden, als ich es beabsichtigt hatte. Der Mann am roten Band warf einen fragenden Blick zu uns herüber. Ich erwartete schon, dass er herkommen und ich mich gleich auf der Straße wiederfinden würde. Mit einer ordentlichen Backpfeife links und rechts. Aber der Kartenverkäufer winkte ab und machte einen derben Scherz auf meine Kosten, sodass der andere lachte und schon deutlich entspannter aussah.
 

Nur mit Mühe widerstand ich dem Drang, einfach wegzulaufen und nahm all meinen Mut zusammen, um doch noch zu herauszufinden, was ich in Erfahrung bringen wollte.
 

„Hören Sie: Ich suche hier keine Liebelei und ich bin schon gar nicht das, was Sie mir vorwerfen! Ich suche einen Mann, der vor einigen Wochen hier war. Er hat mir das Leben gerettet!“
 

Der Blick des Kartenverkäufers wurde etwas weicher, aber der Spott darin wich nicht ganz. Dennoch schien er nun gewillter zu sein, mir zu helfen.
 

„Also gut. Ich weiß zwar trotzdem nicht ganz, wie ich dir da helfen soll. Ist ja nicht so, dass ich jeden, der herkommt, nach Name und Adresse frage.“
 

„Aber die Leute reden viel und so ein Mann wie er fällt sicher auf“, warf ich ein. Ich wusste selbst, dass es nicht viel war. Aber was sollte ich sonst machen?
 

„Hm“, kam es abschätzig von ihm. Ehe sich jedoch Enttäuschung in mir breitmachen konnte, sprach er weiter. „Wie sieht er denn aus, dein Retter in der Not? Und wann will er denn hier gewesen sein?“ Brummend stopfte er sich seine Pfeife, zündete sie an und nahm einen kräftigen Zug.
 

„Das muss so im Februar gewesen sein“, antwortete ich, nachdem ich die Ereignisse im Kopf überschlagen hatte. Die Augen des Kartenverkäufers wurden groß und für einige Sekunden verschlug es ihm die Sprache, bis es aus ihm herausplatzte.
 

„Das war vor über acht Wochen!“, entfuhr es ihm und er hustete mir den Rauch seiner Pfeife entgegen. „Du erwartet von mir, dass ich mich an eine Person erinnere, die vor über acht Wochen hier war?!“
 

„Es ist ja nicht irgendeine, sondern eine bestimmte Person“, sagte ich kleinlaut, woraufhin er mich noch fassungsloser anblickte.
 

„Weißt du, wie viele Leute hier täglich herkommen?“
 

Wenn ich ehrlich war, wusste ich das nicht und zuckte daher mit den Achseln. Wie sich herausstellte, war das auch keine Frage, auf die ich ihm eine Antwort geben sollte und daher hätte ich mir das Folgende wohl eher sparen sollen.
 

„Naja, ich bin mir nicht sicher, ob sich das so viele Leute leisten können“, riet ich ins Blaue. „Außerdem ist der Mann, den ich suche, recht auffällig. Dunkelhäutig; vermutlich ein Inder.“
 

„Du würdest dich wundern, wie viele von diesen Kaffern hier herumlaufen! Da musst du mir schon etwas mehr geben.“
 

Angewidert durch diese Beleidigung verzog ich das Gesicht, blieb aber stumm. Mehr wusste ich über ihn einfach nicht, abgesehen davon, dass er schwarze Haare hatte. Aber die hatte so gut wie jeder Inder. Selbst ich, der nur ein halber war. Und die braune Wildlederjacke? Ich wusste nicht, wie mir die hier jetzt weiterhelfen sollte. Anscheinend sah man mir meine Ratlosigkeit deutlich an, denn das Gesicht des Kartenverkäufers verdunkelte sich deutlich.
 

„Willst du mir sagen, du weißt nicht, wie er aussieht? Du kennst den Typen nicht und schnüffelst trotzdem hinter ihm her? Weißt du, wie seltsam das ist, Junge?“
 

Ich wollte etwas erwidern, doch er schnitt mir schroff das Wort ab, schüttelte energisch den Kopf und kam mir näher, als mir lieb war. „Weiß dein Vater da drinnen, dass du schwarzen Schwänzen hinterhersteigst?“ Er deutete mit einem Kopfnicken zu dem dunklen Vorhang, hinter dem sich der Vorführsaal befand. „Vielleicht sollten wir ihn dazu holen und das hier mit ihm klären. Glaub mir Junge, das rückt dir den Kopf wieder zurecht.“
 

Verschlagen grinste er mich an, während ich schockgelähmt in die Richtung blickte, in die er gedeutet hatte.
 

„Nein!“, begehrte ich auf und schüttelte heftig den Kopf. „Ich bin nicht so, wie Sie denken!“
 

Während ich mich so vehement selbst verleugnete, musste ich an Jeffrey denken und mir wurde beinahe schlecht. Abzustreiten, wie ich war, tat unglaublich weh, aber es war nun einmal die einzige Möglichkeit, mich selbst zu beschützen.
 

Ich hatte noch immer nicht ganz realisieren können, wie es plötzlich soweit gekommen war. Lediglich nach einem Mann hatte ich gefragt und nun lief ich Gefahr, in aller Öffentlichkeit das Gesicht zu verlieren!
 

Jemand berührte mich am Arm und als ich den Kopf drehte, erwartete ich den anderen Mann zu sehen. Jetzt würde es richtig Stress geben und ich vielleicht noch Schläge kassieren, nachdem ich schon mein Gesicht verloren hatte. Aber es war Jeffrey, der aus spöttisch funkelnden Augen den Kartenverkäufer musterte.
 

„Mann! Das war letztens ne Nummer!“, feixte er so laut, dass nun auch der Typ am Einlass zu uns sah. „Hätte ja nicht gedacht, dass du das durchziehst. Hast die Kleine ja echt so richtig durchgenommen. Ist das nicht seine Schwester?“ Nun lachte Jeffrey noch lauter und deutete auf den Mann am Band, dem prompt die Zornesröte ins Gesicht stieg.
 

Mit offenem Mund starrte ich Jeffrey an, der noch einen draufsetzte und ich wusste nicht, ob ich mich mehr über die Worte, die aus ihm hervorsprudelten oder die Tatsache, dass er plötzlich da war, wundern sollte.
 

„Solche Stellungen hätte ich so nem Mauerblümchen ja gar nicht zugetraut. Respekt, Mann!“
 

Der Mann am Einlass hatte seine Position mittlerweile aufgegeben und stapfte wutentbrannt auf uns zu. Vor Schreck zog ich den Kopf zwischen die Schultern. Aber Jeffrey und mich ignorierte er völlig.
 

„Du hast mit meiner Schwester geschlafen?!“, donnerte er an uns vorbei. Der Kartenverkäufer wusste nicht, wie ihm geschah und wehrte sich lauthals gegen die Anschuldigung.
 

Während ich wie zur Salzsäule erstarrt dastand und die groteske Szene bewunderte, zog Jeffrey mich am Arm davon.
 

„Komm!“, zischte er energisch bis ich aus meiner Starre erwachte. Kurz warf ich noch einen Blick zurück zu den beiden Streitenden, die sich wohl jederzeit an die Gurgel gehen würden. Dann folgte ich Jeffrey so schnell ich konnte. Ich war so erleichtert, nicht mehr in der Schusslinie zu stehen, dass ich gar nicht darauf achtete, wo wir hinliefen. Jeffrey hatte nicht etwa den Vorführsaal, sondern die Toilette angesteuert. Jedoch merkte ich dies erst, als er die Tür mit wütend blitzenden Augen hinter uns schloss.



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