[Operation Nautilus] Andara-House von MarySueLosthername (Mein letztes Jahr) ================================================================================ Kapitel 16: "Auf in die Ferien" ------------------------------- Wieder einmal saß ich an einem Tisch und musterte Paul heimlich von der Seite. Nicht, dass ich das zu meiner neuen Lieblingstätigkeit auserkoren hatte. Es war nur so, dass sich neben der Sache mit Sally, bei der ich mehr wusste als er, durch die letzte Nacht eine Situation ergeben hatte, dank der ich mich fragte, wie viel er über mich wusste. Immer noch war ich erstaunt über mich, dass ich es letzte Nacht so weit hatte kommen lassen. Wo ich vorher noch so dagegen gewesen war, es in unserem Zimmer zu tun, wo Paul es jederzeit mitbekommen könnte. Aber eines führte zum anderen und schließlich war ich nicht mehr in der Lage, es aufzuhalten – nein, ich wollte es nicht mehr stoppen. Es war wunderschön gewesen und um nichts auf der Welt wollte ich diese Erfahrung missen. Zumal sie mich Jeffrey so nahe wie noch nie gebracht hatte. Aber sie hatte meinen Morgen auch unheimlich kompliziert gemacht, wie ich mich mit flauem Gefühl im Magen erinnerte. Helles Sonnenlicht drang durch einen Spalt im Vorhang, den wir wie unüblicherweise am Abend zuvor nicht komplett zugezogen hatte. Leise murrend versuchte ich, mich zu erinnern, wer für dieses Verbrechen verantwortlich war. Entschied mich dann aber dagegen, das genauer auseinanderzunehmen. Ich war viel zu müde und wahrscheinlich würde ich herausfinden, dass ich der Übeltäter war. Daher kuschelte ich mich in mein Kissen, schlang die Decke fest um mich und genoss, wie sehr alles nach Jeffrey roch. Lächelnd tastete ich neben mich und erstarrte kurz, als ich keinen weiteren Körper vorfand. Mir waren die Ereignisse der vergangenen Nacht wieder in den Sinn gekommen und ich fragte mich, wo er war. Ich hatte ihn losgeschickt, damit er ein Tuch holte, mit dem wir beide uns säubern konnten und dann – Dann erinnerte ich mich an nichts mehr. Weder daran, dass er wieder zu mir kam, noch, dass ich mich von den Überresten der gemeinsamen Nacht befreit hatte. Ich musste wohl eingeschlafen sein. In übler Vorahnung hob ich die Bettdecke an und glaubte, dort alles verschmutzt vorzufinden. Sicherlich würde ich nun mehr Wäsche wechseln müssen, als nur das Laken, dachte ich genervt. Als ich jedoch auf meinen nackten Körper schielte, fand ich diesen – und die Bettdecke – sauber vor. Jeffrey musste das getan habe, bevor er sich dann in sein Bett gelegt und geschlafen hatte. Selbst meine Wäsche hatte er säuberlich über das Fußende des Bettes gelegt, stellte ich mit einem Lächeln fest. Diese Geste ließ mein Herz vor Freude höherschlagen, weil sie mir zeigte, dass er an mir nicht einfach seine Lust befriedigte, sondern für mich sorgte. Eine Weile hing ich noch meinen freudigen Gedanken nach und schwelgte in Erinnerungen an die vergangene Nacht, bis ich Paul laut im Schlaf seufzen hörte. Das Geräusch holte mich sofort wieder in die Gegenwart zurück und ließ mich fahrig nach meiner Unterhose suchen, die ich schließlich auch am Bettende fand. Ich wusste ja nicht, ob Paul etwas von den Geschehnissen in der Nacht mitbekommen hatte. Wenn dem nicht so war, wollte ich ihn nicht auch ich auf die richtige Spur bringen, indem er mich nackt im Bett sitzen sah. Schnell fischte ich mir meine Hose und zog dann ebenfalls das Hemd wieder an. Kurz wägte ich ab, was ich als nächstes tun würde. Die Versuchung, mich einfach wieder für ein paar Minuten hinzulegen, war groß, aber wahrscheinlich war es besser, die gewonnene Zeit für eine Dusche zu nutzen. Die Nacht war wunderschön gewesen, trotzdem fühlte ich mich jetzt verschwitzt und etwas unwohl in meinem Körper. Auf leisen Sohlen lief ich zu meinem Schrank, holte frische Wäsche sowie Hemd und Hose, hervor und kramte dann nach meinen Waschutensilien. „Guten Morgen!“, hörte ich Pauls für diese Uhrzeit viel zu fröhliche Stimme. Erschrocken fuhr ich herum und hätte die Dinge, die ich nun fest an mich gepresst hatte, fast fallenlassen. Wie kam es, dass Paul jetzt schon wach war und warum war er so gut gelaunt?, schoss es mir durch den Kopf. Hatte er vielleicht doch etwas mitbekommen? „Ähm … Guten Morgen?“, stotterte ich und hätte mir fast gegen den Kopf gehauen, warum sich das wie eine Frage anhörte. Ich verhielt mich viel zu verdächtig! Das war ein ganz normaler Morgen – so wie immer – ermahnte ich mich. Ein Morgen nach der Nacht, in der ich das erste Mal Sex gehabt hatte und das mit einem Mann. Ich spürte deutlich wie ich errötete und leider sah Paul das auch. „Alles in Ordnung mit dir? Du bist so seltsam“, fragte er mich mit deutlicher Verwirrung in der Stimme. Heftig nickend ermahnte ich mich, mich nun weniger verdächtig zu benehmen. „Aber ja“, stotterte ich. „Ich wollte nur schon mal duschen gehen. Du weißt ja: Mir ist es lieber, wenn nicht so viel los ist.“ Ich überprüfte noch einmal, ob ich alles hatte und machte mich dann auf zur Tür. Dabei achtete ich gar nicht weiter auf Paul, weil ich annahm, dass er sich noch etwas hinlegen würde. Immerhin war es wirklich noch sehr früh. Daher blickte ich ihn mehr als irritiert an, als er plötzlich voll ausgerüstet neben mir stand. „Was soll das werden?“, fragte ich alarmiert und auch etwas misstrauisch. Ja, ich war in den letzten Monaten wirklich etwas paranoid geworden. „Duschen ist eine gute Idee.“ Paul lächelte mich strahlend an. Normalerweise hätte dieses Lächeln mich angesteckt, nun aber suchte ich nach einem Hinweis, ob er etwas von der letzten Nacht mitbekommen hatte. Warum kam er gerade heute auf die Idee, mich zu dieser frühen Stunde zu begleiten. Es war nicht so, dass es mir sonst etwas ausmachte, wenn Paul und ich zur selben Zeit duschten. Aber gerade heute? „Bist du nicht noch müde?“, wagte ich einen Versuch, Paul doch zum Hierbleiben zu bewegen. Der jedoch war so munter wie ein junges Reh. „Ein bisschen“, gab er zu, während er gleichzeitig durch die Tür hüpfte, als gäbe es eine Note dafür. „Aber heute beginnen die Ferien und ich kann es kaum erwarten!“ „Wir haben aber noch einen halben Tag Unterricht“, erinnerte ich ihn. „Spaßbremse!“ Verwundert blickte ich Paul, der mir die Zunge herausstreckte und die Tür zum Duschsaal mit seinem Hinterteil aufschob, hinterher. „Du glaubst doch nicht, dass einer von denen auf den Tag Lust hat.“ Ich zuckte nur mit den Achseln und begann, Pauls Beispiel zu folgen, indem ich mich von meiner Schlafkleidung befreite. Anders als sonst stellte ich mich dabei in die hinterste Ecke und ließ die Hüllen nur zögerlich fallen. Dabei konnte ich ein leises Seufzen nicht unterdrücken. Mir hatte es sonst nie etwas ausgemacht, mit Paul duschen zu gehen. Aber nun befürchtete ich, dass ein Blick auf meinen Körper reichen würde, damit klar war, was ich damit letzte Nacht getan hatte. Skeptisch blickte ich zwischen meine Beine. War er etwa größer als sonst? Prompt lief ich knallrot an und wickelte mir fast schon hektisch das Handtuch um die Hüfte. So ein Quatsch! Der sah natürlich aus wie immer! Nur weil Jeffrey und ich gestern miteinander geschlafen hatten, würde er sich nicht gleich derartig verändern. Unwillkürlich musste ich an das Gefühl denken, als ich Jeffreys Erektion zwischen meinen Beinen gespürt hatte. Auch die Laute, die wir beide von uns gegeben hatten, waren nun wieder allzu deutlich in meinem Kopf. Es war so wunder... Geschockt blickte ich nach unten. Jetzt war er eindeutig größer! Panisch lief ich in den Duschraum. Wobei ich penibel darauf achtete, dass Paul nur meinen Rücken zu sehen bekam. Dabei fühlte ich seinen irritierten Blick an meiner Kehrseite, doch ich ignorierte das so gut ich konnte. Zu meinem Glück war der Raum leer und ich suchte mir die erstbeste Dusche aus. „Was versteckst du denn da?“, hörte ich Pauls Stimme hinter mir. Ich zuckte zusammen und versuchte irgendwie, das Kunststück fertigzubekommen, gleichzeitig mein Gemächt zu verstecken, während ich mein Handtuch vor dem Strahl der Dusche in Sicherheit brachte. „N...nichts“, stotterte ich peinlich berührt und dankte noch einmal dem gesamten indischen Götterpantheon, dass hier sonst niemand war. Und das, obwohl ich nicht einmal daran glaubte. Kaltes Wasser! Ich brauchte kaltes Wasser! Zwar war die Wahrscheinlich hoch, dass mir davon das Herz stehen bleiben würde, aber alles war besser, als hier mit einem heftigen Ständer zu stehen. Ich presste die Kiefer fest zusammen und stellte mit Stolz fest, nicht einige Oktaven höher geschrien zu haben, als es für mich üblich war. Stattdessen entrang sich meiner Kehle ein tiefes Fluchen, in das sich bald Pauls Lachen mischte. Grimmig blickte ich ihn über meine Schulter hinweg an. „Kann es sein, dass ich die Watte nicht umsonst getragen habe?“, riet er immer noch lachend ins Blaue. Ich zuckte nur mit den Schultern, konnte aber nicht verhindern, dass sich nun doch ein Grinsen auf meine Lippen stahl. Paul hatte tatsächlich Recht gehabt: Bis auf Mr. McIntire nahm absolut niemand diesen Tag ernst. Daher konnte ich auch an meinem Pult sitzen und gefahrenlos meinen Gedanken nachhängen, während ich Paul beobachtete. Selbst Mr. Wilson war es heute absolut egal, dass seine Schüler unkonzentriert waren. Lustlos schrieb er einige mathematische Formeln an die Tafel, die es zu lösen galt. Träge wurden diese abgekritzelt, die teuren Füllfederhalter oder Bleistifte danach motivationslos fallengelassen und darauf gewartet, dass Mr. Wilson die Lösung murmelte. Einige hatten sogar die Köpfe auf den Tischen liegen und als Juan einen dämlichen Scherz gemacht hatte, wurde dieser nur mit einem grimmigen Blick, anstatt von Schlägen, bedacht. Das Schlimme daran war, dass die Zeit einfach nicht voranging und mir nun auch die Augen schwer wurden. Die Chancen, den Ferienbeginn zu verschlafen, waren groß und wurden mit jeder Minute größer. Zum Glück rettete mich schließlich das Läuten der Schulglocke davor, den Tod der Langeweile zu sterben. Kaum erscholl der erste Ton, sprangen alle auf und stürmten davon. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Mr. Wilson noch etwas sagen wollte, sich aber stattdessen seine Pfeife anzündete. Ein wildes Gemurmel und Getümmel herrschte auf den Gängen von Andara-House. Alle versuchten, so schnell wie möglich auf ihre Zimmer zu kommen, nur, um dann vollbeladen mit ihren Koffern wieder davonzustürmen. Eigentlich deprimierten mich die Osterferien immer. Sie waren zu kurz für die Reise nach Indien und es wartete niemand am Schultor auf mich. Während also alle ihren Eltern um den Hals fielen, saß ich daher sonst einsam auf meinem Zimmer und schaute dem Schauspiel von da aus zu. Manchmal verbrachte ich zwar ein paar Tage bei Paul und seinem Vater, da dieser es fast immer so einrichten konnte, dass sein Schiff zur Ferienzeit vor der Themsemündung vor Anker lag und er so in London Urlaub machen konnte. Diese Tage rissen mich dann immer aus der Monotonie des leeren Internats, dennoch füllten sie nicht das Loch in meinem Inneren. Auch wenn die Beiden sich sehr bemühten und mir auch nahestanden: Es fühlte sich nicht nach Familie an. Ich musste der Realität ins Auge sehen: Ich hatte keine Familie. Heute aber würde das anders sein! Und daher teilte ich zum ersten Mal an diesem speziellen Datum die Aufregung der Masse. Als wir schließlich mit unseren Koffern auf den überfüllten Schulhof traten, hatten wir einiges an Mühe, uns zu orientieren. Es wimmelte nur so von bekannten und unbekannten Gesichtern, dass wir im ersten Moment nicht sagen konnten, ob sich jemand für uns darunter befand. Wir beschlossen einfach, in der Nähe der Tür zu bleiben und zu warten, bis sich der schlimmste Trubel aufgelöst hatte. „Hast du deinen Onkel schon gesehen?“, fragte ich Jeffrey, der sich – obwohl er nicht klein war – auf die Zehenspitzen gestellt hatte und so versuchte, etwas zu erkennen. Vermutlich wäre es besser gewesen, auf dem Zimmer zu warten, aber wie alle anderen auch konnten wir es kaum erwarten, von hier wegzukommen. „Michael!“, hörte ich eine erwachsene Stimme und ohne den Mann sehen zu müssen, der sich durch die Menge auf uns zuarbeitete, wusste ich, wer es war. „Vater!“ Paul ließ seinen Koffer neben uns achtlos stehen und rannte auf den Mann zu, der niemand anderes als Hieronymus Winterfeld war. Ich brauchte weder seine Stimme, noch sein Äußeres zu erkennen, um zu wissen, dass er es war. Allein die Art, wie er meinen Namen aussprach, reichte vollkommen aus. Er wählte nicht etwa die englische Aussprache, wie es üblich war, sondern benutzte stets die deutsche Form des Namens. Wenn ich ehrlich war, nervte mich das ziemlich. Meine Versuche, ihm das einfache 'Mike' anzugewöhnen, waren bisher leider gescheitert. Kapitän Winterfeld lächelte sowohl Paul, als auch Jeffrey und mir freundlich zu. Wobei sein Lächeln für eine Sekunde gefror und einem Stirnrunzeln Platz machte, als sein Blick erneut auf mich fiel. Sein Stimmungsumschwung ging jedoch so schnell vonstatten, dass ich hinterher meinte, es mir nur eingebildet zu haben. „Ich freue mich, euch wohlauf zu sehen“, begann er, als er direkt vor uns stand. Obwohl Kapitän Winterfeld ein äußerst zuvorkommender, freundlicher und humorvoller Mensch war, schüchterte sein Anblick mich immer etwas ein. Nicht etwa, weil er Furcht ausgestrahlt hätte, sondern, weil er absolut beeindruckend aussah. Wie sonst auch bei diesen Gelegenheiten trug er seine Paradeuniform und darüber einen dünnen, weißen Mantel. Abgerundet wurde dieser Anblick durch die Kapitänsmütze mit dem goldenen Emblem seines Schiffes, dem Offizierssäbel unter seinem Mantel und dem sorgsam gezwirbelten Schnurrbart, der wie Draht steif von seinem Gesicht abstand. „Danke“, murmelte ich kaum hörbar und versuchte, mich von seinem einnehmenden Anblick abzuwenden, während ich nervös von einem Bein auf das andere trat. Kapitän Winterfeld nickte mir wohlwollend zu, wurde jedoch etwas reservierter, als sein Blick auf Jeffrey fiel. Ich konnte absolut nicht sagen, warum, aber zwischen den beiden schien vom ersten Augenblick an eine Art Feindseligkeit zu herrschen. Verwirrt stieß ich Jeffrey, der Winterfeld unverfroren in die Augen starrte, an, aber dieser schien es kaum zu bemerken. Schließlich drehte er jedoch den Kopf wieder weg und suchte die Menge erneut nach seinem Onkel ab. Erleichtert atmete ich aus und auch Winterfeld schien diesen Affront nicht weiter zu beachten. Was jedoch nichts daran änderte, dass ich mir Gedanken machte, warum Jeffrey so unfreundlich zu Pauls Vater war. Dieser hatte in den vergangenen Monaten nichts getan, das so etwas rechtfertigte und war im Gegenteil immer freundlich gewesen. Ja, er brachte sogar zu jedem Besucht kleine Andenken von seinen Reisen für uns alle mit. Die Jeffrey im hintersten Eck seines Schrankes verstauben ließ, wohlgemerkt. „Es klang ziemlich ernst, was Paul mir geschrieben hat“, nahm Kapitän Winterfeld das Gespräch mit mir wieder auf und ignorierte Jeffrey jetzt ebenfalls. „Ich bin wirklich überaus froh, dich so munter wie eh und je hier zu sehen. Da habt ihr ja wirklich noch einmal Glück gehabt, dass dieser Mann in der Nähe war. Hast du denn mittlerweile in Erfahrung bringen können, wer euer Retter ist? Es ist wirklich schade, ihm nicht persönlich danken zu können.“ Endlich!, schoss es mir durch den Kopf. Das erste Mal seit dem Vorfall am See verstand mich jemand und konnte nachvollziehen, warum mich dieser Unbekannte so beschäftigte. Ich schüttelte den Kopf, wobei ich ein Lächeln nicht unterdrücken konnte – jetzt, da ich einen Verbündeten gefunden hatte. „Nein, leider nicht. Selbst die Lehrer wissen nichts.“ „Schade. Wirklich schade“, murmelte Winterfeld, wobei sein Blick immer wieder abschweifte und sich auf einen Punkt neben mir am Boden richtete. Irritiert folgte ich seinen Augen ein bis zwei Mal, konnte aber nichts anderes als meinen Koffer entdecken. Ich glaubte kaum, dass er dieses einfache Gepäckstück derart spannend fand und es deswegen genauerer Musterung bedurfte. Sonst war da aber nichts. Als sich unsere Blicke trafen, geschah noch etwas Seltsames. Für den Bruchteil einer Sekunde legte sich ein verlegener Ausdruck auf sein Gesicht. Bevor ich mir aber zu hundert Prozent sicher war, es wirklich gesehen zu haben, verschwand es wieder. „Entschuldige mein Starren“, bestätigte mir Kapitän Winterfeld nun, dass ich mir das alles nicht eingebildet hatte – was die Situation nicht weniger seltsam machte. „Ist dein Vormund etwa auch da?“ Suchend sah er sich in der Menge um, während sich seine Stirn in Falten legte. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gesagt, dass er besorgt aussah. Aber das war natürlich ausgemachter Unsinn. „Nein“, beantwortete ich wahrheitsgemäß. „Er war ja erst hier und es lohnt sich auch kaum für die Osterferien.“ Nickend zwirbelte sich Pauls Vater den Schnurrbart. Ich hatte das schon öfter gesehen und meist tat er es, wenn etwas ihn sehr beschäftigte oder er angestrengt nach einer Lösung für ein schweres Problem suchte. Nun war ich es, der sich Sorgen machte. „Ist alles in Ordnung?“ „Aber natürlich!“, lachte Winterfeld sofort und ich fand, dass es sich ehrlich anhörte. „Es ist nur: Der Koffer. Verreist du?“ Wieder folgte ich seinem Blick, der sich nun eindeutig auf meinen Koffer gerichtet hatte. Ich hatte mich vorhin also nicht getäuscht. Zwar kam mir sein plötzliches Interesse an meinem Koffer merkwürdig vor, aber ich dachte mir nichts weiter dabei. „Ich – also, nicht wirklich. Aber ich werde die zwei Wochen bei Jeffrey verbringen“, erklärte ich daher freimütig und strahlte nun über das ganze Gesicht, da mir endlich spannende Osterferien bevorstanden. Nun wandte sich auch Jeffrey wieder unserem Gespräch zu und grinste Winterfeld breit ins Gesicht, wofür er sich einen leichten Tritt auf die Zehenspitzen von mir einhandelte. Ich verstand absolut nicht, was mit ihm los war. Aber ich nahm mir fest vor, ihn nachher auf sein kindisches Verhalten anzusprechen. War er etwa eifersüchtig auf Kapitän Winterfeld? Allein die Vorstellung war absurd! Er war viel zu alt, nicht mein Typ und außerdem Pauls Vater! Davon einmal abgesehen, dass ich ihn auch direkt darum bitten konnte, mich in eine Klinik zu fahren, wenn ich irgendetwas in der Richtung bei ihm versuchte. „Hm“, machte Winterfeld. „Ich verstehe …“ Zerknirscht sah er erst mich und dann Paul an, der seinen Blick ebenso ratlos wie ich erwiderte. „Ist wirklich alles in Ordnung, Vater?“, sorgte sich nun auch Paul und mir kam Winterfelds Verhalten immer komischer vor. „Ja, ja – Ach, es war nur so ein Gedanke. Ich hätte etwas sagen sollen, aber es sollte nun mal eine Überraschung sein.“ Winterfeld rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Punkt zwischen den Augen und seufzte dann tief. „Die Wahrheit ist: Ich hab für dich im Carlton mit reserviert. Ich hätte das wirklich mit Paul und dir absprechen müssen, aber ich wollte dich überraschen, Michael.“ Erstaunt sah ich ihn an, während mein Herz einen erfreuten Hüpfer machte und Jeffreys Gesicht sich gefährlich verdüsterte. Ich konnte es nicht glauben. Das Carlton war eines der teuersten und angesagtesten Hotels in ganz London und Pauls Vater hatte mal eben für mich dort ein Zimmer reserviert? Nun fühlte ich mich fast schlecht, dass ich ihm absagen musste und die Zeit lieber bei Jeffrey verbrachte. Ich konnte mir nicht im Ansatz vorstellen, was Kapitän Winterfeld das gekostet haben musste und hoffte, dass man das ohne Probleme stornieren konnte. Auf keinen Fall wollte ich, dass er sich wegen mir in Unkosten stürzte. Aber ich konnte auch nicht einfach meine Pläne über den Haufen werfen. Es war doch absolut verrückt! All die Jahre, die ich nun in London war, versauerte ich im Internat während der Osterferien und nun hatte ich sogar zwei Angebote, um dieses Jahr unvergesslich zu machen. „Es tut mir leid“, stammelte ich. Mir war die Sache mehr als unangenehm, daher suchte ich verzweifelt nach Worten. Nur leider kamen mir nur diese vier leeren über die Lippen. Nur zu gerne hätte ich nun die Fähigkeit besessen, mich zu zerteilen, denn das Carlton war natürlich auch eine reizvolle Vorstellung. Da mir einfach nichts mehr einfiel, senkte ich den Blick auf meine Schuhspitzen und diesmal war es Paul, der mir beisprang. „Du hättest mir wirklich was sagen sollen!“, sprach Paul seinen Vater geradezu respektlos an und erneut bewunderte ich, wie progressiv Kapitän Winterfeld war, indem er seinem Sohn dieses Verhalten durchgehen ließ. Bei anderen hätte Paul sich sicherlich schon Schläge eingefangen. Nicht so aber bei Hieronymus Winterfeld. Dieser begrüßte es sogar, wenn sein Sohn offen seine Meinung vertrat. „Mike hat diese Wochen schon so lange geplant! Hätte ich gewusst, was du vorgehabt hast, dann hätte ich dir gleich davon abraten können.“ „Ich freue mich wirklich sehr darüber!“, sprang nun auch ich wieder in das Gespräch ein. „Jedoch hat Paul Recht: Jeffrey und ich hatten das schon länger geplant und ich kann nun nicht einfach unsere Pläne umwerfen. Es tut mir wirklich leid! Aber ich freue mich wirklich sehr, dass Sie an mich gedacht haben und sowieso immer so viel für mich tun.“ Ich hätte mich vermutlich noch weiter um Kopf und Kragen geredet und mich dabei immer mehr mit meinen Worten im Kreis gedreht, aber Sallys aufgeregtes Rufen und Winken erlöste mich in der nächsten Sekunde aus dieser peinlichen Situation. Auch Jeffrey wirkte erleichtert, auch wenn er es auf eine andere Art war, als ich. Mit schwungvollen Schritten lief er auf seinen Onkel zu, der ihm sofort den Koffer abnahm und dann lächelnd zu unserer kleinen Gruppe dazustieß. „Hallo Mike. Paul“, begrüßte er uns herzlich, bis sein Blick fragend auf Kapitän Winterfeld zur Ruhe kam. „Und Sie sind?“ „Kapitän Hieronymus Winterfeld. Ich bin Pauls Vater“, erklärte dieser. Er lächelte. Aber ich fand, dass es ungewohnt gezwungen aussah. Normalerweise war Winterfeld ein sehr offener und lustiger Mensch – und diesen Eindruck hatte ich bisher auch von Stan Harris gehabt – nun aber wirkte die Energie zwischen den beiden geradezu feindselig. Und das, obwohl sie sich doch gar nicht kannten. Erst Jeffrey und jetzt benahmen sich sowohl Stan, als auch Kapitän Winterfeld äußerst seltsam. „Sehr erfreut“, gab Stan zurück. Wobei seine Augen seinen Worten Lüge strafte und ich eher erwartet hätte, dass sie sich schlugen, anstatt sich die Hände zu reichen. „Stan Harris – Jeffreys Onkel. Und Sie sind Kapitän von-? „Der deutschen kaiserlichen Kriegsmarine. Aber natürlich liege ich nicht mit der Leopold vor Anker, sondern bin wie jeder andere Besucher auch hierhergekommen.“ „Natürlich“, kommentierte Stan, wobei dieses eine Wort mehr Ablehnung enthielt, als jedes andere zuvor. Es zerging wie Gift auf der Zunge. Als Kapitän Winterfeld die Leopold – den Schlachtkreuzer, den er kommandierte – erwähnte, bekam ich langsam eine Ahnung davon, was hier los sein könnte. Zum ersten Mal seit Monaten kamen mir wieder die politischen Spannungen in den Sinn, von denen alle Zeitungen berichteten und von denen auch mein Vormund gesprochen hatte. Konnte es sein, dass die beiden sich nicht mochten, ohne sich dabei zu kennen, weil sie zwei unterschiedlichen Nationen angehörten? Allein die Vorstellung war verstörend für mich. Vor allem vor dem Hintergrund, dass beide eigentlich so sympathische Menschen waren. Aber auch Paul war Deutscher und den schien Stan sehr zu mögen. Sonst hätte er direkt Sally von ihm ferngehalten und er war auch in keiner Minute unfreundlich zu Paul gewesen. „Nun, dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Wir müssen dann los. Ich kann das Café nicht so lange geschlossen halten. Sie entschuldigen uns“, hörte ich Stan sagen, womit er mich aus meinen Gedanken riss und ich ihn einige Sekunden verwirrt anblinzelte. „Lasst uns gehen, Jungs.“ Er wandte sich schon zum Gehen um, wobei Sally und Jeffrey ihm auf dem Fuß folgten. Ich jedoch war wegen all dem so perplex, dass ich mich keinen Zentimeter von der Stelle rührte. Zumal ich mich wegen Winterfelds Überraschung immer noch unwohl fühlte. „Ich verstehe Ihre Eile“, erhob nun dieser seine Stimme und veranlasste Stan, sich widerwillig umzudrehen. „Es kam jedoch zu einer etwas unangenehmen Situation und ich hatte gehofft, wir könnten uns im Sinne von Michael einigen.“ „Welche unangenehme Situation?“, fragte Stan lauernd und blickte erst ihn und dann Jeffrey fragend an. Kapitän Winterfeld folgte seinem Blick und lächelte dann gewinnend. Von Feindseligkeit war von seiner Seite aus plötzlich nichts mehr zu spüren. „Oh, es ist absolut nichts Schlimmes vorgefallen, falls Sie das denken. Es geht nur darum, dass ich Michael eine Freude machen wollte und für ihn ein Zimmer im Carlton reserviert habe. Wie Sie sicher wissen, sind mein Sohn Paul und Michael sehr gute Freunde. Daher hatte ich mir gedacht, es wäre schön, wenn sie die Ferien zusammen verbringen könnten.“ Stans Gesicht verdunkelte sich, während er wieder einige Schritte näher kam und mein Herz begann, etwas schneller zu klopfen. Dass Sally und Jeffrey Abstand hielten, machte es nicht besser. „Das war mit Sicherheit nur Ihre beste Absicht. Jedoch ist es so, dass Mike bereits verplant ist und sich die Jungen da schon sehr drauf gefreut hatten.“ Winterfeld nickte und ich atmete unmerklich erleichtert aus, da sich Stans Stimme wider Erwarten weniger aggressiv angehört hatte. „Das bezweifle ich nicht und es ist mir auch sehr unangenehm. Es sollte eine Überraschung sein, daher hatte ich nichts gesagt. Das war nicht ganz richtig – da hat Paul schon Recht – aber vielleicht können wir trotzdem eine passende Lösung finden. Was halten Sie davon, wenn wir die zwei Wochen aufteilen? Michael verbringt die erste bei Ihnen und dann die zweite zusammen mit mir und Paul?“ Ich fand die Idee eigentlich sehr gut. Denn ich konnte absolut nicht verleugnen, dass mich beides reizte und ich mochte Kapitän Winterfeld. Stans Augen verengten sich jedoch zu Schlitzen und er sah aus wie jemand, dem man gerade angeboten hatte, mich für unmoralische Handlungen zu kaufen. „Als Vater müssten Sie wissen, dass ich Ihrem Vorschlag nicht zustimmen kann“, gab er eisig zurück. „Mikes Vormund hat mir sein Vertrauen geschenkt, indem er mir seinen Schützling für diese zwei Wochen anvertraut hat. Was denken Sie, welches Bild das abgibt, wenn ich ihn jetzt in die Hände eines mir unbekannten Mannes gebe?“ Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde Winterfeld etwas erwidern wollen. Dann presste er jedoch die Lippen fest aufeinander, nur, um im nächsten Moment zu lächeln wie immer. Ganz verstand ich Stan jedoch nicht. Paul Vater war doch kein Fremder? Enttäuscht seufzte ich und spürte im nächsten Moment Kapitän Winterfelds Hand auf meiner Schulter. „Wir holen das nach, in Ordnung? Und dann planen wir das vernünftig.“ Enthusiastisch nickte ich und verabschiedete mich kurz angebunden von Paul und seinem Vater, da Stan und Jeffrey bereits ungeduldig warteten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)