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[Operation Nautilus] Andara-House

Mein letztes Jahr
von

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"Die Sache mit der Selbstakzeptanz"

„So, wie versprochen; da bin ich wieder“, lächelte Divari, als er meine Zimmertür öffnete, nachdem er den Schwestern etwas Arbeit abgenommen und das Frühstücksgeschirr rausgebracht hatte. Dies war etwas, das ich an ihm bewunderte. Er war sehr wohlhabend und bewegte sich nur in den besten Kreisen, aber er war sich nie zu verlegen, sich die Hände schmutzig zu machen, wenn er anderen damit helfen konnte. Wenn alle nur ein Stückchen so wären, wie er, dachte ich versonnen, dann wäre diese Welt sicher ein ganz anderer Ort.

Freudig warf ich die Decke an das Bettende, wo sie fast nach hinten rausfiel und schwang etwas zu enthusiastisch die Beine über die Bettkante. Mir wurde zwar schwindelig, aber ich ignorierte es, denn ich würde endlich Jeffrey wiedersehen. „Können wir jetzt los?“ Ich war schon halb aus dem Bett, als mein Vormund mich mit einer raschen Handbewegung aufhielt. „Aber du hast gesagt, wir gehen nach dem Frühstück zu ihm!“, empörte ich mich. Böse und enttäuscht funkelte ich ihn an. Wie lange wollte man mich noch hier festhalten? Oder ging es Jeffrey etwa wieder schlechter?

„Jetzt mach doch nicht so ein Gesicht“, beschwichtigte Divari mich. „Wir gehen doch, aber eben nicht so.“ Er öffnete die Tür nun ganz und ich erkannte einen Rollstuhl, der vor dem Zimmer stand. „Sondern so.“

Skeptisch sah ich das unliebsame Gefährt an und zog ablehnend die Stirn kraus. „Muss das sein?“, fragte ich, während ich meinen schwankenden Körper an der Bettkante balancierte. Ich hätte genauso gut auf einem Drahtseil stehen können, aber trotzdem war mir das da einfach zu peinlich. „Aber ich kann doch laufen.“

„Ja?“, machte Divari zweifelnd und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann kannst du mir ja entgegenlaufen.“

Selbstsicher blickte ich ihm entgegen, nur um in den nächsten Sekunden hilflos den Boden zu betrachten. Denn auf den gut fünf Metern, die den Abstand zu meinem Vormund bildeten, gab es nichts, woran ich mich festhalten konnte. Stumm ließ ich mich wieder auf die Bettkante sinken und vermied es, ihn anzusehen, aber ich hörte ihn seufzen und das Scharren der Reifen auf dem Boden, als er zu mir kam.

„Du bist genauso stur, wie dein Vater und du siehst ihm immer ähnlicher. Weißt du?“ Er machte eine auffordernde Geste, woraufhin ich mich langsam in den Rollstuhl gleiten ließ. Nachdem ich meine Füße auf die Stützen gestellt hatte, wendete Divari den Stuhl. Es war mir unangenehm, so von ihm durch die Gegend geschoben zu werden, aber das wäre es wohl bei jedem gewesen. Ich machte mich nicht gerne abhängig, aber anscheinend gab es zurzeit eine Person, bei der es mir nichts ausgemacht hätte.

Im Gegenteil sehnte ich mich sogar danach, mich bei ihm fallen zu lassen. Jedoch würde keiner das verstehen und es war auch gefährlich. Meine Wünsche und Gedanken waren in der Lage, mich in große Schwierigkeiten zu bringen. Ich wusste nicht, wo mein Vormund stand und ob er zu mir halten würde, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Aber ich bezweifelte, dass er mich vor dem Gefängnis oder einer dieser Heilanstalten bewahren konnte. Eventuell würde er mich sogar persönlich dahinbringen, damit man seinen fehlgeleiteten Sprössling wieder geradebog.

„Nein, das weiß ich nicht“, antwortete ich geistesabwesend und erinnerte mich daran, wie er dies in meinem Traum auch zu dem Fremden gesagt hatte. „Ich weiß eigentlich gar nicht viel von meinem Vater. Warum erzählst du kaum von ihm?“

Divari schwieg, was ungewöhnlich für ihn war, denn eigentlich redete er gerne und in letzter Zeit bekam ich immer wieder das Gefühl, er könne etwas vor mir verbergen. Vielleicht sollte ich ihn fragen, ging es mir durch den Kopf. Er würde mich sicher vom Gegenteil überzeugen und ich konnte wieder beruhigt sein, denn eigentlich war der Gedanke absurd. Seit ich zwei Jahre alt war, lebte ich bei ihm und er war immer ein fairer und ehrlicher Erziehungsberechtigter für mich gewesen. Daher glaubte ich nicht, dass Divari mich bei etwas anlügen konnte.

„Es tut einfach zu sehr weh. Außerdem weiß ich auch nicht, was das bringen soll.“

Von Schuldgefühlen erfüllt biss mir auf die Unterlippe. Ich hatte noch vor wenigen Minuten so schlecht über ihn gedacht und dabei litt er genauso sehr unter dem Tod meines Vaters wie ich. Wobei er eigentlich mehr leiden musste, denn er hatte ihn gekannt. Wogegen ich einfach zu klein gewesen war und mich kaum an ihn erinnern konnte. Fast beneidete ich Divari für seine Erinnerungen und den Schmerz.

„Du hast wirklich kein Foto von ihm? Ich würde gerne wissen, wie er aussah. Und was ist mit den Briefen? Warum bekomme ich sie erst, wenn ich 21 bin und können wir nicht jetzt schon zu dem Anwesen fahren, das er mir vererbt hat?“

Die Worte sprudelten einfach so aus mir heraus und ich konnte selbst nicht sagen, wie ich den Sprung von meiner verkorksten Gefühlswelt zu meinem mysteriösen Vater gemacht hatte. Vermutlich war es der Traum, der mich komplett in die Irre trieb.

„Mike.“ Divari seufzte meinen Namen mehr, als dass er ihn sagte. „Wir haben doch schon einmal darüber gesprochen. Die Briefe gehören zu deinem Erbe und dein Vater wollte, dass du sie erst mit 21 bekommst. Ich werde mich ganz sicher nicht über seinen letzten Willen hinwegsetzen und wenn du wissen willst, wie er aussah, guck in den Spiegel.“

„Und das Anwesen?“, grummelte ich genervt. In den Spiegel blicken, toller Tipp! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich eine detailgetreue Kopie meines Vaters war. Was sollte mir das also bringen? Deswegen kam ich ihm auch nicht näher. Das würde ich nie, seufzte eine Stimme tief in mir.

„Die Reise ist zu weit und auch viel zu anstrengend, das weißt du doch.“

Ja, das hatte er mir schon gesagt, aber das war die Reise nach Indien auch und die machte ich, seit ich 14 war, alleine. Wo also sollte sich dieses ominöse Anwesen befinden? Auf dem Mond?

Wieder einmal fühlte ich diese ruhelose Wut in mir, bei der ich nicht genau wusste, auf was oder wen sie sich bezog. Da ich niemanden – außer vielleicht mich selbst – verletzten wollte, zog ich es vor zu schweigen und war froh, als Divari vor Jeffreys Zimmertür anhielt.

Er lächelte mir zu und zuckte mit den Schultern, als ich seinem Blick auswich und klopfte schließlich an. Es dauerte wenige Minuten, aber dann hörte ich Jeffreys gedämpfte Stimme durch die Tür und mein Puls beschleunigte sich automatisch.

Quälend langsam öffnete mein Vormund die Tür und ich musste mir ein Grinsen unterdrücken, als ich Jeffrey erblickte. Er schien sich tatsächlich bereits gut erholt zu haben und thronte, eingebettet von unzähligen Kissen, in seinem Bett, während er sich mit Pralinen vollstopfte. In seinen Augen glitzerte es, als er mich sah.

„Na, du lässt es dir ja ziemlich gut gehen“, stichelte ich, aber innerlich platze ich vor Freude, dass er so einen guten Eindruck machte. Ich hatte immer noch das Bild von einem mehr bewusstlosen, als lebenden und fiebernden Jeffrey vor Augen und hatte mich darauf eingestellt, ihn so ähnlich jetzt auch zu sehen.

„Das musst du gerade sagen.“ Seine Stimme hatte den gleichen spöttischen Ton wie sonst auch, aber man hörte ihr deutlich an, dass er geradeso dem Tod entronnen war.

Genervt blies ich die Wangen auf. Warum musste er nun auch noch kommentieren, dass mein Vormund darauf bestanden hatte, mich im Rollstuhl durch die Gegend zu kutschieren?

„Halt bloß deine Klappe“, hunzte ich ihn an. Nun konnte ich nicht mehr zurückhalten und grinste über das ganze Gesicht, womit ich Jeffrey ansteckte. Genüsslich schob er sich noch ein Stück Schokolade in den Mund und ich konnte seine nächsten Worte nur erahnen, als er mit vollem Mund sprach.

„Und was machst du, wenn ich' s nicht tue? Schmeißt du wieder mit Eisbeuteln um dich?“

Mein Vormund, der mich bis zu Jeffreys Bett gefahren und mich daneben abgestellt hatte, runzelte die Stirn.

„Ich dachte, ihr seid Freunde?“, fragte er verwirrt, über den ruppigen Ton, der zwischen uns herrschte und ich musste aufpassen, nicht gleich in schallendes Gelächter auszubrechen. „Naja, wie auch immer; ich bin ja nicht eure Anstandsdame. Wenn ihr mich dann entschuldigt. Ich habe noch einige Dinge zu erledigen.“

Er tippte sich mit der Hand an die nicht vorhandene Hutkrempe und ließ uns dann alleine. Zuerst wusste ich nicht, ob ich darüber froh war oder ob ich mir eher gewünscht hätte, dass Divari bei uns blieb. Denn jetzt, wo ich alleine mit Jeffrey war, schlugen meine Sticheleien in komplette Nervosität um und ich wusste nicht mehr, wie ich mich verhalten sollte.

Und dass, obwohl wir uns bereits so nahegekommen waren. Wir hatten in einem Bett gelegen, uns geküsst und Jeffrey hatte mir erzählt, dass er wegen mir am Internat bleiben wollte, auch wenn er es hasste. Und doch wusste ich nicht, wo ich stand und was wir nun waren. Mir ging einfach alles viel zu schnell. Erst der See und die Todesangst, die ich um ihn hatte und dann der Kuss ohne jede weitere Erklärung. Wie würde es nun für uns weitergehen?

„Was machst du denn für ein Gesicht? Ist jemand gestorben?“, hörte ich Jeffreys Stimme und fühlte seinen durchdringenden Blick auf mir. Als ich den Kopf hob, sah ich direkt in seine Augen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie nun grün oder blau sein wollten und mich immer wieder faszinierten. Sofort schlug mein Herz wieder schneller und ich kramte verzweifelt nach den richtigen Worten, als ich plötzlich seine Lippen auf meinen spürte. Mein erster Impuls war, den Kopf zurückzuziehen, doch beinahe automatisch erwiderte ich den leichten Druck auf meinen Lippen und seufzte, als ich seine Hand in meinem Nacken spürte. Jeffrey nutzte dies direkt aus und ließ seine Zunge zwischen meine geöffneten Lippen gleiten. Es fühlte sich zunächst ziemlich seltsam an. Aber es löste auch ein angenehmes Kribbeln in meiner Leistengegend aus und ich kam ihm schüchtern mit meiner Zunge entgegen.

Was wir hier taten, war jedoch riskant. Es konnte in jeder Sekunde eine der Schwestern oder Dr. Mason selbst hereinkommen und wir brauchten ihnen dann nicht erklären, was hier geschah, denn das war offensichtlich. Trotzdem schaffte ich es erst nach einigen Minuten, mich von Jeffrey zu lösen. Schwer atmend und mit einem leisen Vorwurf sah ich ihn an, aber er zuckte nur schief lächelnd mit dem Achseln.

„Ich habe gelernt, dass man mit Worten bei dir wenig erreicht und lieber Taten sprechen lassen sollte“, erklärte er vollkommen ernst. Schuldbewusst sah ich ihn an. Es stimmte, er hatte so oft versucht, mit mir zu reden, doch ich hatte einfach nicht zugehört.

„Tut mir leid“, murmelte ich, aber er schüttelte den Kopf.

„Das hatten wir doch schon.“ Er hielt mir die Schachtel mit der Schokolade hin, doch ich ignorierte sie und stemmte mich stattdessen aus dem Rollstuhl. Ich wollte ihm näher sein und wenn ich in diesem Stuhl saß, fühlte ich eine imaginäre Barriere zwischen uns. Daher setze ich mich zu ihm auf die Bettkante. Das gab vielleicht auch ein seltsames Bild ab, aber keiner würde sich groß Gedanken darüber machen.

„Ich bin froh, dass es dir besser geht“, murmelte ich schüchtern und griff nach seiner Hand, die sich warm in meiner anfühlte. Ohne dass ich es bemerkte, begannen meine Finger, ihn zu streicheln und ich sah überrascht auf, als ich Jeffreys Hand auf meinem Knie fühlte. Meine Wangen röteten sich und ich war mir sicher, dass auch meine Ohren in gleicher Farbe zu glühen begannen.

„Sieht so aus, als ob ich den Zettel aus dem Glückskuchen hätte ernst nehmen sollen. Ich hätte mich wirklich vor Wasser in Acht nehmen sollen. Vielleicht fange ich damit nun an?“

Ich musste lachen und lehnte mich in seine Hand, die nun meine Wange streichelte. Dann wurde mir jedoch bewusst, was ich hier tat und ich rutschte mit erschrockenem Gesichtsausdruck von ihm weg. Wie konnte es mir nur passieren, dass ich mich so gehen ließ und dabei total vergaß, was wir beide waren? Er war, wie ich, ein Junge und was wir taten, war einfach verrückt. Wir würden uns selbst ins Verderben stoßen und welche Zukunft sollte das haben? Ich fühlte mich schlecht, weil ich Jeffrey mit hineinzog. Reichte es nicht, dass ich so seltsame Sachen fühlte?

„Was ist los?“, fragte Jeffrey leise.

Überrascht blickte ich ihn an. Es war doch offensichtlich, was hier los war?

„Ich ...“ Ich brauchte noch einige Anläufe, bis ich in Worten formulieren konnte, was mir durch den Kopf ging. Trotzdem schien nur unverständliches Gestammel aus meinem Mund zu kommen, von dem ich hoffte, dass Jeffrey dessen Sinn verstand. „Findest du … Also denkst du, es ist richtig?“

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Jeffrey mich an und ich hätte mir am liebsten die Haare gerauft. Sollte ich noch näher ausführen, was ich meinte? Er musste es doch verstehen! Die Frage brannte so klar in meinem Kopf, aber alles in mir sträubte sich, sie auszusprechen. War es richtig, jemanden des eigenen Geschlechts zu lieben?

Bittend – nein, flehend – sah ich ihn an und suchte nach Verständnis in seinen Augen oder nach einem Hinweis, dass auch er zweifelte. Aber alles, was ich sah, war eine Sicherheit, von der ich nur träumen konnte.

„Du hast Angst“, stellte er fest, ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Beinahe hätte ich sofort genickt, doch ich wusste nicht, ob es so einfach war. Hatte ich Angst? War es nur das? Klar, mir graute es vor den Folgen, die uns heimsuchen könnten, aber da war noch etwas anderes. Etwas, das diese Angst überwog und für mich schlimmer war, weil es viel tiefer in mich griff.

Ich brachte es fertig, gleichzeitig mit den Schultern zu zucken, zu nicken und den Kopf zu schütteln. Außerdem hatte ich meine Hände so fest zu Fäusten geballt, dass sich meine Fingernägel schmerzhaft in meine Handflächen bohrten.

„Ich weiß nicht, ob ich das akzeptieren kann“, brachte ich mit erstickter Stimme hervor und ich schämte mich, als ich meine Augen brennen fühlte. „Und das Schlimme ist, dass ich die Zeit mit dir dennoch nicht missen will. Aber ich kann nicht sagen, ob ich mich wirklich so annehmen möchte.“ Nun weinte ich doch und ich wäre am liebsten im Boden versunken. Vor ihm wollte ich das eigentlich nicht, denn ich wollte nicht schwach wirken.

„Du kannst dich nicht akzeptieren“, stellte Jeffrey noch einmal klar, was ich gerade gesagt hatte und ich fühlte nun seine Hand auf meiner. Sodass sich meine Fäuste entkrampften und die Fingernägel die Haut schmerzhaft freiließen. Als ich hochblickte, erwartete ich, Verachtung oder Spott in seinem Gesicht zu sehen, aber nichts dergleichen las ich dort ab. Stattdessen musterten seine Augen mich mit solch einer Wärme und Stärke, dass es mich von innen heraus zu wärmen schien. „Ich verstehe das“, sagte er mit fester Stimme. Warum war ich nicht schon vorher auf die Idee gekommen, Jeffrey könnte einst so gedacht haben, wie ich jetzt?

Ich wusste ja gar nichts über ihn, was das betraf. Verlegen drehte ich den Kopf weg, doch sofort legte sich seine Hand wieder sanft an meine Wange und drehte ihn zurück.

„Wenn du dich jetzt noch nicht akzeptieren kannst, darf ich es für dich tun? So wie du bist“, fragte er und blickte mich liebevoll an. Sicher hatte ich mit allem gerechnet, aber damit nicht. Obwohl ich schlicht nicht wusste, was ich wollte, mich von meinen Gefühlen zerrissen fühlte und weit weg von emotionaler Stabilität war, würde Jeffrey mich nicht an seiner Seite missen wollen.

Er faszinierte mich immer mehr. Bisher hatte ich nur den Jeffrey gesehen, der sich lauthals in jeden Streit warf oder über alles und jeden dumme Scherze machte. Aber der, der mir jetzt gegenübersaß, war ernsthafter und erwachsener, als ich es je für möglich gehalten hatte.

Ich war froh, ihn getroffen zu haben und ich wollte mehr von ihm wissen. Nein, ich wollte alles von ihm in Erfahrung bringen. Vermutlich war es dieser Gedanke, der mir den Mut gab und mich nach vorne sinken ließ, wo mich bereits seine Lippen erwarteten.

Der Kuss dauerte nur wenige Sekunden, aber diesmal nicht, weil ich unsicher war, sondern weil es hier nach wie vor nicht sicher für uns war. Aber zu meinem Zweifel hatte sich ein kleines Körnchen von Zuversicht gesellt. Nur, weil zwei Personen mich annehmen konnten, wie ich war, auch wenn mir das noch misslang.

„Danke“, flüsterte ich gegen seine Lippen und ließ mich wieder von der Bettkante in den Rollstuhl gleiten. Ich brauchte diesen Abstand jetzt, damit der Sturm in mir wieder zur Ruhe kam und es war keine Minute zu früh, wie sich zeigte. Jeffrey verzog das Gesicht, wie ein Kind, dem man das Spielzeug weggenommen hatte, als es an der Tür klopfte und kurz darauf die Klinke heruntergedrückt wurde. Erschrocken sah ich die Tür an, die uns demonstrierte, auf welch dünnem Eis wir uns bewegten und mir fröstelte. Dann sah ich jedoch, wer hereinkam und sowohl ich, als auch Jeffrey, begannen vor Freude zu strahlen.

„Oh Mann“, sagte Stan Harris, der einen Korb in der Hand balancierte. „Wenn du hier entlassen wirst, muss ich wohl mein Café verkaufen.“ Er sah sich staunend um und schluckte schwer. „Wie soll das denn bezahlt werden, ohne deinen Vater miteinzubeziehen? Ich bin mir nicht einmal sicher, ob der das nötige Geld aufbringen kann.“

Hinter ihm stolperte Sally in das Zimmer, auch sie war beladen mit einem riesigen Korb. Es duftete verdächtig nach frischem Gebäck. Unsicher sah die junge Frau sich im Zimmer um, woraufhin Stan ihr den Korb abnahm und beide auf Jeffrey ablud. Sein dumpfes „Umpf“ brachte mich halb zum Kichern und sein Blick war göttlich. Ohne zu zögern, zog Stan einen kleinen Tisch sowie Stühle heran und forderte Sally auf, sich zu setzen, bevor er ebenfalls Platz nahm.

Die junge Frau lächelte mir und Jeffrey schüchtern zu, während ich sie neugierig musterte. Sie war mir vor einigen Wochen in Stans Café viel älter vorgekommen. Nun erkannte ich, dass sie höchstens zwei bis drei Jahre älter sein konnte als ich. Vermutlich lag es an dem grauen Kleid und dem streng zurückgebundenen Haar, welches sie an diesem Tag getragen hatte. In diesem Himmelblauen und strahlend weißen Halstuch, welches sie sich um den Hals gebunden hatte, wirkte sie wie das junge Mädchen, das sie eigentlich war. Ich konnte nicht umhin, zu bemerken, wie gut die Farbe ihres Kleides zu ihrem roten Haar passte, das ihr nun offen über die Schultern floss.

„Was habt ihr uns denn da mitgebracht?“, fragte Jeffrey neugierig und versuchte, unter das Tuch zu schauen, welches ihm die Sicht auf die Leckereien versperrte.

„Jetzt sei nicht so ungeduldig“, sagte Sally, die nun gar nicht mehr so zurückhaltend wirkte und die Körbe vor Jeffrey rettete, indem sie diese auf den Tisch stellte. „Es ist nicht alles für dich, weißt du? Ich habe es für deinen Freund gebacken.“

Ich errötete vor Scham, während Jeffrey sich offensichtlich für seine nächste Zankerei bereitmachte. Nervös glitt mein Blick zu Stan, der mit blassem Gesicht immer noch die Zimmereinrichtung studierte. Als er sich seufzend neben mir auf den Stuhl setzte, legte ich ihm eine Hand auf den Arm, worauf er mich mit einem leicht verlegenen Ausdruck ansah.

„Keine Sorge“, beruhigte ich ihn. „Mein Vormund hat gesagt, dass die Rechnung bereits beglichen ist.“

Stan wirkte jedoch noch immer besorgt. „Aber, hat er denn so viel Geld?“ Irritiert sahen wir beide zu Jeffrey und Sally, die unsere Unterhaltung gar nicht mitbekamen und sich stattdessen stritten, ob Jeffrey nun ein Vielfraß war oder nicht. Ich zuckte mit den Schultern. Ehrlich gesagt wusste ich nicht genau über die Vermögensverhältnisse meines Vormunds Bescheid. Alles, was ich wusste, war, dass es ihm an nichts fehlte.

„Naja, er hat gesagt, Dr. Mason würde ihm einen Gefallen schulden. Und damit sei dieser nun beglichen.“

„Hmm“, machte Stan, öffnete einen der Körbe und reichte mir ein Gebäckstück daraus. „Das muss ja ein verdammt großer Gefallen gewesen sein.“ Nachdenklich sah er mich an, dann nickte er. „Ich werde dir das nie zurückgeben können.“

„Aber das müssen Sie gar nicht, Mr. Harris“, warf ich ein, doch Stan fiel mir sofort ins Wort und schüttelte den Kopf.

„Sag bitte 'Du' oder 'Stan'. Außerdem bekommst du auf Lebzeiten gratis Kuchen und Kakao bei mir.“

Wahrscheinlich war ich puterrot angelaufen, aber dies bekam zum Glück keiner mit, da sich Jeffrey gerate lauthals beschwerte, dass er auch ein Stück Kuchen wollte.

„Du bist doch fast jeden Tag bei uns und futterst dich durch das Verkaufsregal“, warf Sally ein und grinste breit, während Stan nun die restlichen Leckereien aus dem Korb verteilte. Jeffreys maulende Antwort ging in dem Kuchenstück unter, welches er im Mund hatte und nun fingen alle an zu lachen – außer einer.

Auch ich musste grinsen. Ich konnte nicht anders, als an seinen Körper zu denken und mich zu fragen, wie er es machte, so auszusehen, wenn er immer so viel aß. Nachdem wir alle so viel gegessen hatten, dass beim besten Willen nichts mehr hineinpasste, stand Stan auf und griff sich den zweiten Korb.

„Wie konnte ich das nur vergessen?“, sagte er verlegen. „Die Schwestern und Dr. Mason freuen sich sicherlich auch über Kuchen.“ Er war schon halb zur Tür gegangen, als er sich noch einmal zu uns umdrehte. „Was haltet ihr von einem schönen Picknick, wenn ihr entlassen seid?“

Das war eine fantastische Idee und mein Blick ging direkt zum Fenster, hinter dem das Leben nur so zu erblühen schien.



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