[Operation Nautilus] Andara-House von MarySueLosthername (Mein letztes Jahr) ================================================================================ Kapitel 5: "Die Geister, die ich (nicht) rief" ---------------------------------------------- Noch nie hatte ich mich so auf das neue Jahr und damit auf das Ende der Weihnachtsferien gefreut, wie in diesem Jahr. Obwohl ich dem Internatsleben eigentlich gerne entkam und die Freiheiten auf dem Anwesen meines Vormunds in Indien sehr genoss, war ich regelrecht glücklich, wieder in England zu sein. Das lag nicht etwa daran, weil es mir in Indien zu heiß war oder ich mich als hellhäutiger Inder wie ein Außenseiter fühlte, sondern, dass ich es kaum erwarten konnte, Jeffrey wiederzusehen. Neben Paul war er einer meiner engsten Freunde auf Andara-House geworden und wir verbrachten fast jede freie Minute zu dritt. Jedoch spürte ich auch, dass es dieses Jahr anders war als sonst. Natürlich hatte ich mich sonst auch immer gefreut, Paul nach den Ferien wiederzusehen, doch dieses Mal war es so, dass ich am liebsten gar nicht erst nach Indien gefahren wäre. Ich wusste, dass Jeffrey die Weihnachtstage und das Neujahr bei seinem Onkel verbracht hatte und am liebsten hätte ich das auch getan. Die Erkenntnis verwirrte mich ungemein. Auch mein Vormund wirkte äußerst besorgt und fragte mich immer wieder, was denn los sei, doch so sehr er sich auch bemühte, mir mit diversen Ausflügen zu einer besseren Stimmung zu verhelfen, es half einfach nichts. Erst, als die letzte Woche sich dem Ende zuneigte, begann ich, mich zusehends besser zu fühlen und hatte beinahe ein schlechtes Gewissen. Denn nun war es mein Vormund, der bedrückt wirkte. Immerhin musste ich ihm das Gefühl gegeben haben, dass sein Ziehsohn seiner Gesellschaft überdrüssig war. Wir saßen alle zusammen beim Frühstück und im gesamten Saal herrschte noch eine ausgelassene Stimmung, denn der eigentliche Schulalltag würde erst morgen beginnen. Die meisten Schüler waren gestern eingetroffen, doch einige würden heute erst ankommen und so war dieser Tag dazu da, sich wieder an England und den strengen Regeln im Internat zu gewöhnen. „Weißt du, was mich wundert?“, fragte Jeffrey, stopfte sich einen riesigen Löffel Porridge in den Mund und sprach nuschelnd weiter, als Paul und ich ihn fragend ansahen. „Mike hat gar nicht diesen niedlichen Akzent, wie man ihn immer bei Indern hört.“ Stirnrunzelnd sah ich ihn an und ließ den Löffel sinken, den ich gerade zum Mund führen wollte. „Wie kommst du da denn jetzt drauf?“ Ich wurde einfach nicht schlau aus Jeffrey; er hatte die Angewohnheit, die seltsamsten Dinge zu sagen und das völlig aus dem Nichts. Selbst bei den simpelsten Sachen, die er von sich gab, spürte ich ein Kribbeln in mir, als läge eine versteckte Botschaft darin und ich müsste nur richtig zuhören, um sie zu verstehen. Aber leider schienen wir nicht die gleiche Sprache zu sprechen. „Och, ist mir nur so aufgefallen“, sagte Jeffrey und kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich dachte nur, nach ein paar Wochen da würdest du dich so anhören. Ich hätte es süß gefunden.“ Ich errötete noch mehr und fragte mich, warum Jeffrey wollte, dass ich mich süß anhörte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Paul mit einem fragenden Blick zwischen uns hin und her sah. Dann zuckte er mit den Achseln und ich war ihm so dankbar, dass er diesen seltsamen Moment aufbrach und unser Tischgespräch in eine andere Bahn lenkte. „Habt ihr schon das mit dem Westflügel gehört?“, raunte Paul und beugte sich verschwörerisch über den Tisch. „Du meinst, das mit den Bauarbeiten?“, fragte ich und hob wegen Pauls seltsamen Tonfalls eine Augenbraue. Anscheinend war Jeffrey ansteckend und nun benahm sich auch Paul sonderbar. Oder aber es war so, dass ich die seltsame Variable war und mir daher alle so erschienen. „Bauarbeiten?“, echote Paul mit leuchtenden Augen. „Ich glaube, das erzählen sie uns nur, damit sie einen plausiblen Grund haben, uns den Zutritt zum Westflügel zu verbieten.“ Zweifelnd sah ich Paul an und zu meinem Leidwesen hatte auch Jeffrey Interesse an dieser Spukgeschichte gefunden. Zu seiner Verteidigung konnte ich jedoch sagen, dass Jeffrey nicht wusste, auf welche Art von Geschichte er sich da einließ. Da ich schon länger das Zimmer mit Paul bewohnte, hatte ich da so eine Ahnung. „Oh Paul“, seufzte ich. „Wird das wieder so eine Geschichte?“ Beinahe beleidigt sah Paul mich an. „Ich bin mir sicher, dass diesmal etwas dran ist“, sagte er selbstsicher. „Gestern Abend, als ich angekommen bin, habe ich ein interessantes Gespräch von Miss McCrooder mitbekommen.“ Paul beugte sich noch ein Stück weiter über den Tisch, sodass er fast auf seinem leeren Frühstücksteller lag und senkte die Stimme. „Es sollen sich seltsamste Dinge im Westflügel ereignet haben und selbst die Lehrer trauen sich da nicht mehr hin!“ Jeffrey hing gebannt an Pauls Lippen, aber ich stieß nur verächtlich die Luft zwischen meinen Zähnen aus, sodass es zischte. Ich verstand noch nie, was Paul so an diesen übernatürlichen Dingen fand. Mit Begeisterung las er jede Gruselgeschichte, die er finden konnte und nahm es vollkommen ernst, wenn man über Geister oder ähnliches sprach. Ich konnte das absolut nicht verstehen und war der Meinung, dass es hinter jeder dieser Geschichten eine wissenschaftliche Erklärung gab. In den meisten Fällen steckten wohl irgendwelche Spinner dahinter, die das alles nur erfanden und vortäuschten. Jahrmarktgaukler, die mit Licht und Spiegeln Illusionen schufen, welche mit der Realität nichts zu tun hatten. „Du meinst, es spukt da?“, hörte ich Jeffrey begeistert fragen und stöhnte innerlich auf. Nun hatte ich zwei von dieser Sorte auf dem Zimmer. Ungläubig schüttelte ich den Kopf und sah die beiden ernst an. „Das glaubt ihr zwei doch nicht wirklich, oder? Der Westflügel ist gesperrt, weil dies ein altes Schloss ist und mit der Zeit nun mal einiges an Renovierungsarbeiten getan werden muss. Mehr steckt da sicher nicht hinter.“ Paul öffnete den Mund, um mir zu widersprechen, obwohl wir schon einige dieser Gespräche hinter uns hatten. Egal, wie oft, er versuchte mich davon zu überzeugen, dass es Geister und dergleichen gab. Ich wich nicht von meiner Meinung ab, dass dies total unwahrscheinlich war. Und im Fall von Andara-House waren Pauls Geister eher der Wind, der sich an den Erkern brach oder das Knacken von alten Holzvertäfelungen. So etwas war in solchen alten Gebäuden vollkommen normal und zeugte nicht von übernatürlicher Aktivität, auch wenn es einem ab und zu Angst machen konnte. Gerade als ich im Alter von zehn Jahren auf das alte Schlossinternat kam, verbrachte ich viele Nächste vor Angst zitternd in meinem Bett. Jedoch lernte ich schnell, dass es hier nichts gab, das mir gefährlich werden konnte – außer vielleicht einige der anderen Jungen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, mir das Leben schwer zu machen. Zu meiner Verwunderung war es jedoch nicht Paul, sondern Jeffrey, der mich von den Gerüchten um den Westflügel überzeugen wollte. „Bist du dir da sicher?“, fragte Jeffrey provokativ zurück und lächelte mich verschmitzt an. „Ich halte es für nicht unwahrscheinlich und dass selbst die Lehrer da nicht hinwollen, ist doch verdächtig.“ „Genau!“, pflichtete Paul ihm bei und war sichtlich froh, jemanden auf seiner Seite zu wissen. „Du hättest sehen müssen, wie verängstigt Miss McCrooder aussah, als sie über den Westflügel sprach, Mike. Wegen Bauarbeiten kriegt doch keiner so eine Angst!“ Ich zuckte mit den Schultern und konnte das Ganze nach wie vor nicht ernst nehmen. Sicher war Miss McCrooders Verhalten sonderbar, aber sie war bekannt dafür, nicht gerade die mutigste Zeitgenossin zu sein. „Sicher hat sie nur Angst, dass es dort Ratten geben könnte“, gab ich daher ungerührt zurück. Ratten, auch noch eine gute Erklärung für Pauls Spukgeschichten. „Ratten?“, sagte Jeffrey zweifelnd. „Du glaubst, die machen so ein Aufhebens wegen ein paar Ratten?“ „Nein, weil da gebaut wird.“, wiederholte ich nun schon etwas genervter. Paul sah regelrecht enttäuscht aus, dass ich seinen Enthusiasmus nicht teilte, doch Jeffrey lehnte sich nur locker in seinem Stuhl zurück und grinste mich an. Ich ahnte bereits, dass das nichts Gutes versprach und rieb mir entnervt die Stirn. „Ich habe eine Idee“, sagte Jeffrey und senkte die Stimme, wodurch wir uns näher zu ihm beugen mussten, um ihn überhaupt noch zu verstehen. „Lasst uns einfach nachsehen, was da los ist.“ Genervt schob ich mein Tablett weg; Appetit hatte ich nun sowieso keinen mehr und eigentlich hätte ich einfach aufstehen und gehen sollen, aber da die beiden meine besten Freunde auf dem Internat waren, wollte ich sie nicht einfach so sitzen lassen. „Aber du weißt schon, dass es verboten ist?“, gab ich giftig zurück. Mittlerweile hatten Pauls Augen zu leuchten begonnen und er schien von Jeffreys Idee sehr angetan zu sein. Es machte mich in diesem Moment schlicht sauer und ich wollte nicht, dass Paul sich in Schwierigkeiten begab. Er war nicht der beste Schüler und hatte daher des Öfteren Stress mit einigen der Lehrer; sich über klare Regeln hinwegzusetzen, war daher etwas, das er sich nicht leisten konnte. „Komm schon, Mike. Die werden uns schon nicht erwischen! Wir gehen einfach hin, wenn es dunkel wird und das noch vor der Ruhezeit.“ „Also gut“, seufzte ich. Paul strahlte mich regelrecht an und wäre mir fast um den Hals gesprungen, doch ich brachte ihn mit einer kurzen Handbewegung wieder zur Ruhe. „Unter einer Bedingung.“ Erwartungsvoll sah Paul mich an und nickte schließlich, als er meinem Blick nicht mehr standhalten konnte. „Jeffrey und ich gehen alleine deine Geister suchen und du hältst dich fern von diesem Ärger“, fuhr ich fort und ich sah deutlich Pauls Unmut. Kurz sah dieser zu Jeffrey, erhielt jedoch diesmal keinerlei Unterstützung von ihm und ich war einfach nur froh, nicht auch noch mit Jeffrey diskutieren zu müssen. Als Paul sah, dass es wohl Zwei gegen Einen stand, gab er grummelnd auf und stimmte schließlich zu. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihr das ohne mich machen wollt!“, jammerte Paul nun schon zum gefühlt tausendsten Mal und ich beschloss, einfach nicht mehr darauf einzugehen. Es war nun kurz vor neun Uhr abends. Jeffrey und ich wollten uns jeden Moment auf den Weg machen. Paul sah schon seit einer Stunde im Minutentakt auf die Uhr und je mehr wir uns 21 Uhr annäherten, desto mehr nahm sein Jammern zu. Am Anfang hatte ich ihm noch erklärt, dass ich dies nicht tat, um ihn zu ärgern, sondern nur wollte, dass er Stress mit McIntire vermied. Denn leider war es nicht unbekannt, dass Pauls Leistungen derart in den Keller gegangen waren, sodass er es nur noch dem Einfluss seines Vaters verdankte, nicht schon vor Monaten nett zur Tür herausgebeten worden zu sein. Dennoch ließ Paul es sich nicht nehmen, ihnen immer wieder zu sagen, wie unfair er es fand, von diesem Abenteuer ausgeschlossen zu werden. „Sieh es doch mal so“, versuchte nun Jeffrey, Paul zu beschwichtigen. „Wenn Mike und ich nicht zurückkommen, dann hast du den Beweis für deine Theorie und dich nicht mal selbst in Gefahr gebracht.“ Jeffrey grinste in meine Richtung, aber mir war nun absolut nicht nach Lachen zumute. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich nur zu gerne auf diesen kleinen Ausflug verzichtet. „Was ist los?“, fragte Jeffrey in meine Richtung und grinste breit. „Du bist ja ganz blass geworden. Hast du nun doch Angst vor den Gespenstern?“ „Du spinnst doch!“, zischte ich zurück, öffnete den Schrank und kramte nach der kleinen Öllampe, die wir brauchen würden. Es war immerhin noch Winter und mittlerweile schon tiefe Nacht draußen. Zwar brannte im bewohnten Teil von Andara-House noch das elektrische Licht, im Westflügel würde das jedoch mit Sicherheit nicht so sein und ich hatte keine Lust, in vollkommener Dunkelheit durch einen unbekannten Teil des Schlosses zu wandern. „Lass uns endlich gehen, damit ihr mir mit dem Blödsinn nicht mehr auf die Nerven geht“, sagte ich genervt und warf mein Handtuch über die Lampe, um unangenehme Fragen darüber zu vermeiden. So würde es aussehen, als wäre ich unterwegs zur Dusche und niemand würde die Lampe sehen. „War schön, dich gekannt zu haben“, scherzte Jeffrey in Pauls Richtung, als er mit mir das Zimmer verließ und ich verdrehte die Augen. Wir liefen den Gang hinab in Richtung der Gemeinschaftsdusche und als wir den Flur vollkommen ruhig vorfanden, bogen wir nach den Duschen nach links ab. Damit verließen wir den belebten Teil von Andara-House. Normalerweise war vor der wuchtigen Eichentür Schluss für die Schüler des Internats und es begann ein Teil, der seit Ewigkeiten von keinem mehr genutzt wurde. Angeblich war dieser Bereich des Schlosses so baufällig, dass es daher zu gefährlich war, ihn zu betreten und ich verfluchte mich selbst dafür, diesem Irrsinn zugestimmt zu haben. Wenn wir Glück hatten, würden wir von einem der Lehrer erwischt werden. Sollte es aber eher zum Pech tendieren, dann brachen wir vielleicht durch den Boden und brachen uns alle Knochen. „Ich finde nicht, dass wir das tun sollten“, flüsterte ich Jeffrey zu, doch dieser stieß ein leises Lachen aus, das mir aufgrund des dämmrigen Lichts hier eine Gänsehaut einbrachte. „Ich wusste es; du hast Angst. Ich dachte, du glaubst nicht an Geister?“ „Das tue ich auch nicht, aber die Vorstellung von mehreren Tonnen Bauschutt begraben zu werden, ist nicht gerade beflügelnd“, zischte ich zurück. Jeffrey nahm mir die Öllampe ab und legte sich mein Handtuch um den Hals. Er sah damit vollkommen bescheuert aus, aber immerhin musste ich es nicht mehr die ganze Zeit tragen. Jeffrey machte noch ein paar Schritte in den dunkler werdenden Gang hinein und mein Herz begann, gegen meine Brust zu hämmern. Denn schon nach wenigen Schritten erahnte ich ihn mehr, als dass ich ihn wirklich sah. Es erschreckte mich einfach, wie dunkel es hier wirklich war und irgendwie beschlich mich das seltsame Gefühl, dass das nicht nur am fehlenden Licht lag. Vielmehr war es, als würde die Dunkelheit aus den Wänden und dem Boden direkt in mein Herz kriechen und brachte mich innerlich zum Frösteln. Aber nein, das war Quatsch; ich glaubte nach wie vor nicht an Pauls Geister und die Angst, die ich verspürte, war vollkommen normal. Es war natürlich, sich Dinge in den Schatten einzubilden und ich war sicher nicht der Einzige, der sich in der Dunkelheit fürchtete. Gerade, als es drohte, wirklich unangenehm zu werden, entzündete Jeffrey die Lampe und ich sah, dass er gar nicht so weit von mir entfernt stand. Wir standen in einem Lichtkreis, der mir ein trügerisches Gefühl von Sicherheit gab und ich war unglaublich froh über Jeffreys Anwesenheit. Natürlich hätte ich ihm das nie gesagt und schon, als er mich hämisch angrinste, wünschte ich mir auch, ich hätte es nie gedacht. „Das sieht doch gar nicht so schlimm aus“, sagte Jeffrey und seine Stimme brach sich seltsam an den Wänden, dass sich mir schon wieder die Härchen im Nacken aufstellten. Aber er hatte Recht. Nach den Erzählungen über den Westflügel hatte ich mir vorgestellt, dass es hier aussehen musste, als seien Dschingis Kahn und seine Horde hier durchgelaufen, aber eigentlich sah alles recht intakt aus. Es roch zwar recht muffig und sicher hatte hier seit Jahren keiner mehr gelüftet, aber die unglaublich hässlichen Tapeten und der weiche Teppichboden waren vollkommen intakt. Renovierungsbedürftig war das schon, da alles so eine Düsternis ausstrahlte – aber lebensgefährlich war sicher etwas anderes. Vielleicht verstand ich aber einfach nichts davon und mahnte Jeffrey daher, aufzupassen, wo er hintrat. „Du kannst ruhig zugeben, dass du Angst hast“, stichelte er wieder, aber ich ging nicht darauf ein und beschloss, lieber zu schweigen. Wir setzten unseren Weg fort, das hieß, eigentlich irrten wir ziellos durch die Gänge und ich hoffte inständig, dass wir uns nicht hoffnungslos verirrten. Dabei blieb das Bild relativ gleich. Alles, was dieser Teil des Schlosses zu benötigen schien, waren ein paar offene Fenster und eine Truppe Freiwilliger, die sich der Mammutaufgabe annahmen, den Staub hier zu beseitigen. Ich wollte es nicht zugeben, aber je weiter wir in die unzähligen Zimmer und Gänge vorstießen, desto mulmiger wurde mir. Mir gruselte es wirklich vor diesem Flügel des Schlosses, denn mehr als einmal glaubte ich, Schritte hinter mir zu hören und ein Blick in Jeffreys Gesicht machte mir klar, dass ich da nicht der Einzige war. Vielleicht hatte es Paul doch nicht eingesehen, alleine auf dem Zimmer zurückzubleiben und war uns gefolgt. Für ein paar Minuten starrte ich angestrengt in die Dunkelheit hinter uns und erwartete, Paul jeden Moment zu sehen, doch der Gang blieb vollkommen leer. Wir zuckten mit den Schultern und liefen weiter, als ich plötzlich eine Berührung an der Hand verspürte. „Was soll das?! Findest du das lustig?“, blaffte ich Jeffrey an, der zu meiner Überraschung zusammenzuckte. „Was soll ich lustig finden?“ Natürlich stellte Jeffrey sich dumm, sonst würde ja sein blöder Scherz nicht funktionieren, aber er brauchte nicht glauben, dass ich darauf anspringen würde. „Lass den Mist mit meiner Hand! Du kannst es vergessen, dass ich dir diesen Spuk abkaufe!“, klärte ich ihn daher auf und hoffte, er würde in Zukunft solche Scherze unterlassen. Außerdem hatte ich beschlossen, dass ich genug vom Westflügel gesehen hatte. Die Ruhezeit würde bald anbrechen und ich wollte dann wirklich nicht mehr in den Gängen des Schlosses unterwegs sein. Es reichte aus, dass ich das Verbot bezüglich des Westflügels gebrochen hatte. „Lass uns zurückgehen“, sagte ich und drehte mich, ohne auf Jeffrey zu achten, um. Schon nach wenigen Metern bemerkte ich, dass ich aus dem Lichtkreis herausgetreten war und wandte mich zu Jeffrey um, um ihn zu fragen, warum er stehengeblieben war, doch ich konnte ihn nirgends entdecken. „Jeffrey?“ Meine Stimme hallte von den Wänden wider, doch ich erhielt keine Antwort. „Jeffrey! Hör auf mit dem Mist!“, rief ich zornig und konnte doch das leichte Zittern in meiner Stimme nicht unterdrücken. „Verdammt! Wo bist du? Lass den Scheiß!“ Das Blut begann, in meinen Ohren zu rauschen, als ich erneut keine Reaktion erhielt und nun machte ich mir doch Sorgen. Aber er konnte ja nicht verschwunden sein; Jeffrey war direkt hinter mir gewesen und ich war doch nur ein paar Schritte vorausgegangen. Was sollte ich tun, falls ihm etwas zugestoßen war? Würde ich überhaupt alleine hier herausfinden, um Hilfe zu holen? „Jeffrey!“, rief ich nun schon etwas verzweifelter seinen Namen und lief zurück in die Richtung, in der er noch vor wenigen Minuten gestanden hatte. Ich fand die Öllampe auf dem Boden, die nur noch ein leichtes Glimmen von sich gab, aber von Jeffrey fehlte jede Spur. Die Gedanken in meinem Kopf rasten und ich beschloss, noch ein kleines Stück weiter zu gehen, vielleicht fand ich Jeffrey nach ein paar Metern. Vor Entsetzen schrie ich auf, als etwas mein Handgelenk packte, riss mich los und stürzte durch die Wucht dieser Bewegung zu Boden. Ich sah einen großen Umriss, der langsam auf mich zukam und konnte einen weiteren, angsterfüllten Schrei nicht unterdrücken. Dann hörte ich es: Lachen. Und ich kannte auch die Stimme. Jeffrey stand nun direkt vor mir, sodass ich erkannte, wie er sich vor Lachen den Bauch hielt und immer wieder japsend nach Luft schnappte. Das war der Moment, in dem ich rotsah. Ich sprang auf die Füße und rannte Jeffrey einfach um, sodass wir beide das Gleichgewicht verloren und zu Boden stürzten. „Du findest das also lustig!“, schrie ich ihn an und versuchte, nach ihm zu schlagen, aber er fing meine Faust einfach auf und durch die Wucht meines eigenen Angriffs landete ich neben ihm auf dem Rücken. Bevor ich auch nur irgendetwas tun konnte, spürte ich sein Gewicht auf mir und erwarte, jeden Moment seinen Schlag zu spüren. Doch der Schmerz, den ich erwartete, kam nicht und so öffnete ich langsam wieder die Augen, die ich fest zusammengepresst hatte. Schwer atmend sah ich zu ihm hoch und konnte mich nicht von seinen Augen lösen, die sich geradezu in meinen verfangen hatten. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, doch ich verspürte keine Angst mehr. Dieses Gefühl wurde durch etwas anderes ersetzt, aber ich wusste nicht, was; ich wusste nur, dass ich nicht wollte, dass dieser Moment endete. Kurz tauchte der Gedanke auf, dass es mir hätte unangenehm sein müssen, so hilflos auf dem Boden zu liegen und ihn so nahe an meinem Körper zu spüren. Doch er verschwand so schnell, wie er gekommen war und ich leckte mir über die Lippen, da mein Mund plötzlich unglaublich trocken war. Jeffrey schluckte schwer, dann begann sich sein Gesicht meinem zu nähern und ich spürte eine nie gekannte Hitze in meinem Gesicht aufsteigen; oder ging sie von Jeffrey aus, der nun nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt war? Ich hätte nur den Kopf etwas anheben müssen und unsere Nasenspitzen hätten sich berührt. Noch immer sah Jeffrey mir in die Augen. Was ich darin sah, gefiel mir und ließ einen Teil von mir vor Freude hüpfen. Ohne jeden Zweifel wusste ich, dass ich wissen wollte, wie sich seine Haut anfühlte und schreckte daher nicht zurück, als seine Lippen kurz vor meinen verharrten und ich so seinen warmen Atem spüren konnte. Beinahe quälend langsam legte sich sein Mund auf meinen und das Gefühl war um einiges schöner, als ich es mir vorgestellt hatte. Sinnlich ließ er meine Unterlippe durch seine Lippen gleiten, nur um sie direkt wieder gefangen zu nehmen. Ohne dass ich groß darüber nachdenken musste, öffnete sich mein Mund einen kleinen Spalt weit und ich fühlte Jeffreys Zungenspitze, die sanft meine Unterlippe entlangfuhr und sich dann den Weg in meinen Mund bahnte. Zuerst war es seltsam, aber ich wollte mehr von ihm, als gut für mich sein konnte und bevor ich begriff, was geschah, stieß meine Zunge gegen seine. Ein gedämpftes Seufzen verließ Jeffrey und meine Gefühlswelt schwankte für eine Sekunde zwischen Erschütterung und Stolz, bis ich mir wieder erlauben konnte, mich komplett in diesen Kuss fallen zu lassen. Ich konnte schwer sagen, wie lange wir so auf dem Boden lagen und nichts taten, außer uns zu küssen, aber irgendwann löste Jeffrey sich von mir und brachte wieder Abstand zwischen uns. Mit vor Schrecken geweiteten Augen sah Jeffrey mich an und ich war verwirrt, denn ich spürte genau, dass mein Gesichtsausdruck ein ganz anderer war und ich es eigentlich sein sollte, der ihn so ansah, wie er mich. Was wir getan hatten, war schön und mich beschlich auch nicht der Gedanke, dass es vielleicht falsch gewesen war. Ganz anders schien das bei Jeffrey zu sein. Als ich mich schwer atmend aufrichtete, sah er aus, als hätte er einen Geist gesehen. Dann sprang er so heftig auf die Füße, dass ich erschrocken zurückprallte und ihm vollkommen sprachlos hinterher sah. Es dauerte eine Weile bis mir in mein vernebeltes Hirn sickerte, dass Jeffrey mich nun tatsächlich alleine hier zurückgelassen hatte und das Verlangen nach ihm, welches ich noch vor Minuten gefühlt hatte, verwandelte sich wieder in Zorn. Mit Genugtuung stellte ich jedoch fest, dass er zumindest die Lampe zurückgelassen hatte. Auf dem Rückweg, den ich alleine gehen musste, bemerkte ich, dass wir gar nicht so weit in den Westflügel gelaufen waren, wie ich es gedacht hatte. Aber ich war auf jeden Fall sehr froh darüber, denn schon der kurze Weg mit der Lampe hatte mir alleine eine höllische Angst eingejagt. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie es für Jeffrey gewesen sein musste, der den ganzen Weg ja im Dunkeln gegangen war. „Der ist selbst schuld!“, sagte ich mir selbst und beschloss, kein Mitleid mit ihm zu haben. Wie konnte er das nur tun? Erst sein blöder Streich, dann der Kuss und danach ließ er mich einfach sitzen. Gehörte vielleicht auch der Kuss zu seinem Streich und er bemerkte erst danach, dass er damit zu weit gegangen war? Aber es hatte sich so echt angefühlt und nicht wie etwas, was man dem anderen nur vorspielte. Oder konnte Jeffrey das so einfach? Mich glauben lassen, dass mehr dahintersteckte, nur, um mich dann mit meinem Gefühlschaos sitzen zu lassen? Egal, was es war; ich war so verletzt wie noch nie in meinem Leben und eigentlich ging es mir gar nicht um den Kuss. Es ging darum, was er mir gezeigt hatte: Ich war kein Spätzünder und durchaus in der Lage, Liebe und Lust zu verspüren, aber eben nur nicht für Frauen. Wahrscheinlich hatte Jeffrey erkannt, wie sehr ich es genossen hatte und damit, wie anders ich war. Ich wusste nicht, woher die nüchterne Erkenntnis kam, aber ein schales Gefühl blieb. Es musste ihn erschreckt haben, dass sich sein dämlicher Scherz in so etwas Absonderliches verwandelt hatte. Zu sehen, wer ich wirklich war und was ich wirklich wollte, musste ihn verstört haben. Jetzt wo Jeffrey es wusste, wie würde es jetzt weitergehen? Je näher ich meinem Zimmer kam, desto mehr beschlich mich die Angst, wie jetzt mein Leben auf Andara-House aussehen würde. Was sollte ich tun, wenn er es jemandem erzählte? Vermutlich noch einem der Jungen, die es eh schon auf mich abgesehen hatten oder, schlimmer noch, einem der Lehrer. Man würde mich von der Schule werfen und wenn ich Pech hatte, würde ich in einer dieser schrecklichen Heilanstalten landen. Jeffrey hatte es nun in der Hand mein gesamtes Leben zu zerstören und ich konnte absolut nicht abschätzen, was er tun würde. Da stand ich nun, vor meinem Zimmer und wusste absolut nicht welches Gefühl die Oberhand bekommen würde. Die Angst, alles zu verlieren, oder der Zorn, von Jeffrey so benutzt worden zu sein. Die Uhr schlug zehn Uhr abends, als ich entschlossen die Klinke herunterdrückte und eintrat. „Mike! Was ist denn passiert?!“, stürmte Paul mir entgegen und er sah eindeutig mehr als besorgt aus. Ich ignorierte seinen Redeschwall und suchte mit abschätzigem Blick Jeffrey, der auf seinem Bett saß und mir direkt auswich. „Verdammt Mike! Jeffrey wollte mir auch nichts sagen. Was ist denn los?“ Paul verstummte plötzlich und wurde blass, dann sah er Jeffrey und mich durchdringend an. „Oh nein, ich hab's geahnt“, murmelte er dann und gewann damit doch meine Aufmerksamkeit. „So?“, fragte ich lauernd. War es so offensichtlich, was zwischen uns passiert war? Auch Jeffrey sah betroffen zu Paul, schien dann aber etwas Interessantes auf seiner Bettdecke gefunden zu haben, als er meinen Blick kreuzte. Es war befremdlich, ihn so defensiv zu sehen, aber ich konnte trotzdem nichts anderes, außer blanke Wut auf ihn zu fühlen. „Es spukt wirklich im Westflügel und ihr habt einen gesehen oder? Ihr habt einen Geist gesehen.“ Ich schnaubte wütend, ging mir schnell die Zähne putzen und warf mich auf mein Bett. „Ich will nicht drüber reden“, nuschelte ich und war froh, dass Paul mich tatsächlich in Ruhe ließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)