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[Operation Nautilus] Andara-House

Mein letztes Jahr
von

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"Kakao und andere Vorhersagen"

Die Woche verging tatsächlich ohne größere Vorkommnisse, was auch daran lag, dass Juan sich deutlich zurückhielt. Ben und die anderen Jungen hatten nach dem Ärger, den der junge Spanier bekommen hatte, auch nicht sonderlich Lust, sich mit Jeffrey oder mir anzulegen und somit Gefahr zu laufen, ebenfalls bei McIntire vorsprechen zu müssen. Ich genoss zwar die Ruhe, aber ich gönnte Jeffrey keinesfalls den Triumph, denn anders als der Amerikaner war ich trotzdem nicht der Meinung, dass eine Schlägerei die richtige Lösung sei.

Was mir dennoch mit großem Erstaunen aufgefallen war, war, dass Jeffrey sich sogar im Unterricht mehr bemühte. Er war zwar nicht direkt zum Musterschüler mutiert, dennoch war er mehr bei der Sache und suchte nicht mehr so oft die Konfrontation.

„Hatte es etwas mit dem Streit zwischen Jeffrey und mir zu tun?“, fragte ich mich im Stillen, aber Jeffrey wirkte an diesem Tag weder einsichtig, noch hatte ich den Eindruck, dass er darüber nachdenken würde. Ich errötete und ohne, dass ich es steuern konnte, glitten meine Gedanken zu den Ereignissen an diesem Nachmittag zurück. Sofort sah ich ihn wieder vor mir und schlimmer noch, ich hörte die Geräusche, die er von sich gegeben hatte, während er…

Nein! Stopp!

Nicht darüber nachdenken, rief ich mich zur Vernunft und nahm schnell wieder das Buch in die Hand, das ich Minuten zuvor achtlos auf den Nachttisch geknallt hatte. Seufzend sah ich den Einband an und musste der Tatsache ins Auge sehen, dass die Mitglieder der Familie Winterfeld seltsame Geschenke machten. Ich hatte das Buch von Pauls Vater, Hieronymus Winterfeld, der Kapitän der kaiserlichen Kriegsmarine war, bekommen und auch wie Pauls Geschenk rief es mulmige Gefühle in mir hervor. Auch wenn diese etwas anderer Natur waren.

„Leitfaden für den tugendhaften jungen Mann“, las ich die deutsche Überschrift des Buches und ein erneutes tiefes Seufzen verließ meine Brust. Zaghaft schlug ich es auf, überblätterte dabei immer wieder einige Seiten und überflog den Inhalt nur grob. Es war ein Sammelsurium von Ratschlägen, Verhaltensrichtlinie und wichtigen Tugenden, die ein Mann vorweisen sollte, um auch als solcher zu gelten. Ehrlich gesagt wurde mir schlecht vom Inhalt des Buches, denn ich stellte einmal wieder fest, dass ich so ganz und gar nicht in das Bild passen wollte, dass man mir hier vorgab. Warum sollte ich mich in irgendwelche Muster pressen lassen? Konnte ich nicht einfach ich sein?

Wobei ich irgendwie nicht wusste, wer ich war.

Hm, na immerhin würde ich mit dem Buch meine Deutschkenntnisse verbessern können.

Die Zimmertür wurde geöffnet und ich sah einen voll und ganz entspannten Paul hereinkommen, dessen Haare noch nass und zerzaust waren. Ich lächelte ihm zu und war froh, von dem Buch und meinen Gedanken abgelenkt zu werden. Auch wenn es mit Paul in letzter Zeit auch nicht einfach war, besonders seit letztem Wochenende.

Paul war kurz nach der Sache mit Jeffrey zurückgekommen und ich musste wohl noch einen recht verwirrten Eindruck gemacht haben, denn er fragte mich sofort aus, was denn gewesen sei. Da es mir einfach zu peinlich war, ihm davon zu erzählen und ich ja selbst komplett von meinen Empfindungen überrollt war, war ich ihm so gut es ging ausgewichen. Dies führte schließlich dazu, dass Paul dachte, ich sei sauer auf ihn, weil er alleine mit seinem Vater in das Café gegangen war. Ich versicherte ihm immer wieder, dass das nicht der Fall war, aber da ich ihm keinen zufriedenstellenden Grund für mein Verhalten geben konnte, entstand doch eine ziemliche Anspannung zwischen uns.

„Hey“, grüßte er mich beinahe schüchtern, als ich ihm aber weiter freundlich zulächelte, schien er mutiger geworden und grinste zurück. „Was liest du da?“, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern und zeigte ihm wortlos den Einband, wobei ich nicht verhindern konnte, dass meine Augenbrauen nach oben wanderten. Paul stieß ein glucksendes Lachen aus, als er mein bedröppeltes Gesicht sah.

„Willkommen in der Familie“, sagte er lachend. „Tut mir leid, Mike. Aber wenn dich das tröstet, ich habe es auch zu meinem 16ten bekommen. Vater sagte, und ich zitiere: Es sei ein wichtiger Leitfaden, um ein ehrenwertes Mitglied der Familie Winterfeld zu werden.“

Paul stand da, stramm wie ein deutscher Soldat mit erhobenem Zeigefinger und nur die Pickelhaube hätte noch gefehlt. Ich brach in schallendes Gelächter aus, sodass mir sogar die Tränen kamen und mir wurde bewusst, wie angespannt ich gewesen war. Es war unglaublich befreiend.

„Was kommt als nächstes?“ Ich wischte mir lachend die Tränen von den Wangen und hielt mir den Bauch. „Adoptiert er mich demnächst?“

Paul grinste, wahrscheinlich erschien ihm die Idee gar nicht so mies oder er heckte schon heimlich Pläne aus. Immerhin waren wir fast schon so etwas wie Brüder. Jedenfalls wollte ich ihn nie missen und konnte mir nicht vorstellen, jemals ohne ihn durch die Welt zu gehen.

„Das ist eine gute Idee. Ich spreche gleich beim nächsten Mal mit meinem Vater, dann müssen wir nur noch deinen Vormund in Indien überzeugen. Ich wollte ja schon immer mal nach Indien.“ Paul sprudelte nur so über von tollkühnen Plänen, aber natürlich war ihm und mir bewusst, dass es eben nur das war – lustige Hirngespinste, die wir uns machten. Ich lebte gerne bei meinem Vormund in Indien, der ein enger Bekannter meines Vaters gewesen war und durch den ich das Gefühl bekam, nicht ganz meine Wurzeln verloren zu haben. Auch, wenn ich mich wirklich nicht als Inder fühlte. Zwar war diese Nationalität auf meinem Pass eingetragen, aber ich sah überhaupt nicht so aus und fühlte mich diesem Volk auch kaum zugehörig. Ich hatte schwarzes Haar und braune Augen, aber meine Haut war viel zu hell; wenn überhaupt, dann war ich minimal dunkler als meine englischen Mitschüler.

Die gelöste Stimmung tat mir wirklich gut, aber leider hielt sie nur an, bis die Tür erneut aufging und Jeffrey hereinkam. Verkrampft sah ich in eine andere Richtung und ich war froh, dass Paul sich seinen Schularbeiten zugewandt hatte und so meinen Stimmungswechsel nicht allzu deutlich wahrnahm. Ich spürte Jeffreys Blick auf mir und ebenso, dass er versuchte, meine Aufmerksamkeit zu bekommen, aber nicht genau wusste, wie er es anstellen sollte. Aber etwas in mir sperrte sich davor, ihm etwas entgegenzukommen, also tat ich so, als würde ich es nicht bemerken.

Zum Glück gab er relativ schnell auf und tat es Paul gleich, setzte sich an den Schreibtisch und begann, sich Notizen aus einem Buch zu machen. Ich hatte meine Schularbeiten schon längst erledigt und entschied mich, einfach einmal gar nichts zu tun, also saß ich nur da und beobachtete ihn unauffällig. Nach relativ kurzer Zeit riss er einen Zettel aus seinem Notizbuch, legte ihn in das Buch und klappte es schwungvoll zu. Ich nahm an, dass er es einfach als Lesezeichen benutzte und maß dem keine Bedeutung zu. Erst als er aufstand und mir das Buch hinhielt. sah ich ihn fragend an.

„Danke, dass du mir das Buch ausgeliehen hast.“, sagte er knapp und warf mir einen beschwörenden Blick zu. Verwirrt nahm ich das Buch entgegen und sah es zweifelnd an. Ich hatte Jeffrey gar nichts ausgeliehen und das Buch war mir ebenso völlig unbekannt.

„Kein Problem“, erwiderte ich stirnrunzelnd. Jeffrey nickte knapp und setzte sich wieder an den Schreibtisch, aber ich bemerkte, dass er mich heimlich musterte. Einige Minuten hielt ich das Buch einfach nur in der Hand und starrte auf den Einband hinab, während Jeffrey unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte.

Neugierig schlug ich es an der Stelle auf, an der Jeffrey den Zettel hineingelegt hatte und erstarrte. Kurz blickte ich zu ihm auf und dann wieder zu dem knappen Text. Ich las ihn mindestens drei Mal, wusste aber trotzdem nicht, was ich davon halten sollte.

„Tut mir leid mit deinem Geburtstag. Ich schulde dir Apfelkuchen. Morgen Nachmittag?“, las ich still. Unschlüssig schloss ich das Buch und legte es auf den Nachttisch ab, wo sich schon einige andere Bücher stapelten. Ich musste dringend einen klaren Kopf fassen und da bald Nachtruhe sein würde, beschloss ich, duschen zu gehen.
 

Ich lag noch eine ganze Weile wach und starrte immer wieder auf das Buch, welches nach wie vor unangerührt auf meinem Nachtschränkchen lag. Paul und Jeffrey schliefen schon seit einer ganzen Weile, wobei Paul hin und wieder ein kleines Grunzen ausstieß, das mir pausenlos ein Grinsen aufs Gesicht brachte. Prüfend glitt mein Blick weiter zu Jeffrey, der vollkommen ruhig schlief und einen so entspannten Gesichtsausdruck hatte, dass ich mich fragte, wie er sich im wachen Zustand ständig in Ärger reiten konnte.

Mit seinem Anblick gingen meine Gedanken zurück zu seiner Nachricht und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Immerhin hatte er mich ziemlich beleidigt, als wir uns das letzte Mal so richtig unterhalten hatten und dann die Sache, die danach passiert war. Ich wusste daher nicht, wie ich mit seiner Einladung umgehen sollte.

Tat es ihm wirklich leid oder würde er mich bei der erstbesten Gelegenheit wieder kritisieren oder einfach stehenlassen, wenn ich etwas Falsches sagte oder tat?

Aber er hatte so bedrückt ausgesehen, als ich seine Nachricht ignoriert und stattdessen das Zimmer verlassen hatte. Und wer weiß, vielleicht war es das ja wert, ihm eine Chance zu geben?

In der Dunkelheit langte ich nach dem Buch und tastete so leise wie möglich den Schreibtisch, auf der Suche nach einem Bleistift, ab. Beinahe blind schrieb ich ein einfaches ‚Ja‘ auf den Zettel, klappte das Buch geräuschlos zu und legte es auf Jeffreys Nachttisch.

Komplett müde tapste ich zu meinem Bett zurück, das mich mit einer wohligen Wärme empfing und schlief fast augenblicklich ein, nachdem ich mich in meine Decke gewickelt hatte.
 

Ich traf Jeffrey zum vereinbarten Zeitpunkt am Tor des Andara-House Anwesens. Als er mich kommen sah, hob er kurz die Hand zum Gruß und auf seinen Lippen erschien ein leichtes Lächeln. Unsicher vergrub ich die Hände tiefer in meiner pelzgefütterten Jacke. Es war wirklich eisig kalt und erste Schneeflocken tanzten bereits vom Himmel. Aber die Luft war angenehm klar und auch, wenn ich eine tiefe Nervosität in meinem Bauch fühlte, war ich froh über diese Gelegenheit, den Schlossmauern von Andara-House zu entkommen. Außerdem war ich auch erleichtert gewesen, dass Paul heute bereits mit einigen anderen Jungen verabredet war und er mich daher nicht nach meinen Plänen für den Tag gefragt hatte. Ich wusste nicht, warum, aber es wäre mir schwergefallen, ihm zu sagen, dass ich mit Jeffrey auf einen Besuch im Café verabredet war.

Eine ganze Weile liefen wir schweigend und jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend durch die Straßen und ich fragte mich, wie das aussehen würde, wenn wir erst einmal im Café waren. Würden wir uns gegenübersitzen, still unseren Kuchen essen und den Kakao oder Tee trinken und dann gehen? Wie zwei Fremde, die nur rein zufällig an einem Tisch saßen?

Warum lud Jeffrey mich ein und sagte dann die ganze Zeit nichts?

Unruhig sah ich zu Jeffrey, der in diesem Moment ebenfalls aufblickte und dann aber etwas absolut Spannendes auf dem Weg gefunden haben musste. Jedenfalls heftete er seinen Blick auf das Kopfsteinpflaster, als hinge sein Leben davon ab, jede Rille zu zählen.

„Lassen die eigentlich zwei Jugendliche ohne Erwachsenen in so ein Café?“, fand ich schließlich eine Frage, die ich ihm stellen konnte und es war nicht nur so daher gesagt. Ich begann wirklich, mir darüber Sorgen zu machen, denn immerhin waren diese Caféhäuser der neueste Schrei und man traf zuweilen nur die Wohlhabendsten dort an, die sich wahrscheinlich von zwei Sechzehnjährigen ohne Erziehungsberechtigten gestört fühlten.

Das erste Mal seit zwanzig Minuten hob Jeffrey den Kopf und lächelte mich selbstsicher an.

„In diesem ist das kein Problem“, erklärte er. „Es gehört meinem Onkel und ich bin relativ oft dort, vor allem dann, wenn es mir nicht so gut geht.“

„Du hast einen Onkel hier?“, fragte ich erstaunt und freute mich gleichzeitig, mehr von ihm zu erfahren.

„Ja, er ist der Bruder meiner Mom. Sie stammte aus London.“

Und wieder eine Gemeinsamkeit; seine Mutter war nicht nur tot, wie meine, sie hatten auch die gleiche Herkunft. Was mich aber am meisten rührte, wurde mir bewusst, war, dass Jeffrey mir seinen persönlichen Rückzugsort offenbart hatte und mich sogar mit dahin nahm.

Nach weiteren fünf Minuten Gehweg, der sich nun nicht mehr so unangenehm gestaltete, erreichten wir unser Ziel und Jeffrey öffnete mir lächelnd die Tür.

Das Klingeln kleiner Glöckchen und eine wohltuende Wärme begrüßten uns. Ich merkte erst jetzt, wie durchgefroren ich war. Mit einem zufriedenen Seufzer atmete ich die süße Luft ein, welche allmöglichen Leckereien versprach. Lächelnd nahm Jeffrey mir die Jacke ab und brachte sie, zusammen mit seiner eigenen, zur Garderobe, dann gab er mir einen Wink, ihm zu folgen und lief zum Verkaufstresen.

„Jeffrey!“, begrüßte ihn ein hochgewachsener Mann, etwa Mitte 40 mit dunklem, braunen Haar, der hinter dem Tresen stand. Sein Lächeln war das erste, das mir auf Anhieb gefiel, denn es wirkte absolut ehrlich und war definitiv ansteckend.

„Hallo, Onkel Stan“, grüßte Jeffrey zurück und lehnte sich gegen den Tresen. Er wirkte dabei so entspannt, wie ich ihn nur gesehen hatte, wenn er schlief.

„Wen hast du denn da mitgebracht?“, fragte Jeffreys Onkel und musterte mich neugierig. Bei jedem anderen wäre mir das unangenehm gewesen, jedoch nicht bei ihm. Ich konnte von Jeffrey denken, was ich wollte, aber sein Onkel war mir auf Anhieb sympathisch.

„Das ist mein Freund Mike. Wir teilen uns ein Zimmer.“

Hatte ich mich verhört? Hatte Jeffrey mich gerade als seinen Freund bezeichnet? Auch wenn ich bis vor wenigen Stunden noch so sauer auf ihn gewesen war, ich freute mich darüber, nur war mir nicht bewusst gewesen, dass Jeffrey mich so sah.

„Freut mich sehr, Mike. Ich bin Stan Harris, Jeffreys Onkel“, schüttelte er mir die Hand und lächelte mich weiter mit diesem unergründlichen Lächeln an. „Sucht euch einen schönen Platz, ich schicke gleich Sally für eure Bestellung.“

Jeffrey ging zu einer kleinen, gemütlichen Sitzecke im hinteren Teil des Lokals, die aus einer ledernen Eckbank, einem runden Tisch und zwei dazu passenden Stühlen bestand. Es sah mit dem dunkelbraunen Leder und den samtenen Vorhängen vor dem Fenster wirklich einladend aus; und als ich mich setzte, bemerkte ich, dass es auch unglaublich gemütlich war.

Mit einem entspannten Seufzen ließ Jeffrey sich ebenfalls auf das Möbelstück nieder, lehnte sich an und schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, knöpfte er sein Jackett auf, zog die Jacke aus und warf sie achtlos zwischen uns in die Mitte der Bank. Seine Krawatte folgte sogleich und Jeffrey wirkte direkt wie ein anderer Mensch.

„Schon besser“, seufzte er.

Interessiert musterte ich ihn; Jeffrey hatte bisher nie den Eindruck gemacht, dass ihm der Kontakt zu mir etwas bedeutete. Nach der vergangenen Woche, in der ich ihn überwiegend gemieden hatte, schien es aber so, dass es ihm auch nicht passte, wenn ich mich von ihm fernhielt. Ich war verwirrt und wusste ehrlich gesagt nicht, wie ich mich nun verhalten sollte.

„Wir sind also Freunde?“, fragte ich gerade hinaus und wieder reagierte Jeffrey so, wie ich es nicht von ihm gewohnt war. Seine Wangen bekamen einen leichten roten Schimmer und er sah betreten auf die Tischplatte.

„Nun ja, also...“ Jeffrey stammelte vor sich hin und nahm sich dann die Speisekarte, da seine Finger verzweifelt nach einer Beschäftigung suchten. „Wenn du... Wenn du es denn willst.“

Ich nahm mir ebenfalls eine Karte und studierte sie eingehend, bevor ich Jeffrey antwortete. Zum einen wollte ich ihn etwas zappeln lassen und auf der anderen Seite brauchte ich wirkliche ein paar Minuten, um mir zu überlegen, was ich sagen sollte.

„Und ich bin dir nicht zu angepasst, um dein Freund zu sein?“ Die Frage stellte ich in einem sanfteren Tonfall, als ich es beabsichtigt hatte und doch sah ich Jeffrey leicht zusammenzucken. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch wieder als eine junge Frau, etwa Anfang 20, nach unseren Wünschen fragte.

Es musste sich um Sally handeln, von der Stan gesprochen hatte. Obwohl sie in dem schlichten grauen Kleid mit der weißen Schürze und dem streng zurückgebundenen roten Haar wie ein Mauerblümchen aussah, glitzerte es verschmitzt in ihren Augen, als sie Jeffrey und mich ansah.

Mich musterte sie besonders neugierig, was mich dazu veranlasste, erneut die Speisekarte zu begutachten, obwohl ich schon wusste, was ich wollte.

„Habt ihr euch schon entschieden?“, fragte sie und zückte Block und Bleistift.

„Wie immer“, sagte Jeffrey knapp. Sally nickte und sah mich dann freundlich lächelnd an. Mein Gesicht verzog sich zu einem missglückten Lächeln, als ich mir Apfelkuchen und heiße Schokolade bestellte. Eigentlich war ich ja Teetrinker, aber der hereinbrechende Winter hatte dafür gesorgt, dass es mir eher nach etwas Süßem verlangte.

Fleißig eilte Sally wieder davon und wir waren wieder alleine, was in meinem Sinne war, Jeffrey jedoch sichtlich Unbehagen bereitete. Nun war er es einmal, der dieses Gefühl verspürte; auch wenn ich mich schon etwas schlecht dabei fühlte, bemerkte ich eine gewisse Genugtuung bei mir.

Jeffrey sah mir in die Augen und ich bereute alles, was ich zuvor gedacht hatte. Wie machte er das nur?

Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, dass er mich verhext hatte.

„Also, ich würden mich freuen, wenn du mein Freund wärst und es tut mir leid, was ich über dich gesagt habe.“

Er machte eine Pause und schien nach Worten zu suchen, aber ich spürte auch, dass das, was er bisher gesagt hatte, die Wahrheit war.

Dennoch war ich nicht unbedingt enthusiastisch über seine Entschuldigung. Denn das, was er mir während unseres Zimmerarrestes an den Kopf geworfen hatte, war ebenso nicht nur so daher gesagt gewesen. Ich spürte es einfach.

„Warum hast du es dann erst gesagt, wenn dir doch so viel daran liegt, mit mir befreundet zu sein?“

Bevor Jeffrey mir antworten konnte, kam Sally mit unserer Bestellung und so langsam nervten mich die ständigen Unterbrechungen. Aber zumindest hielt Sally sich nicht lange an unserem Tisch auf, denn die Türglocke kündigte einen neuen Gast an.

Vorsichtig nippte ich an meiner heißen Schokolade, die ungelogen die beste seit Jahren war, und sah Jeffrey auffordernd an.

Als wäre Kakao etwas, womit man sich Mut antrinken könnte, stürzte Jeffrey die halbe Tasse herunter. Klirrend stellte er sie auf die Untertasse zurück und räusperte sich.

„Das ist nicht so einfach zu erklären“, meinte er und errötete erneut. „Ich war so sauer darüber, wie Juan mit dir umgegangen war und dass du es dir einfach so gefallen lässt. Aber das war nicht der Grund, warum ich es gesagt hatte. Es... Ich glaube wir sind uns in einigen Punkten sehr ähnlich und ich hatte das Gefühl, dass du manchmal nicht der bist, der du sein willst und ich... Ach verdammt, ich wäre einfach gerne dein Freund!“

Jeffrey überschlug sich fast in seinem Monolog und sah immer wieder verzweifelt zu mir. Von seiner Selbstsicherheit war nichts mehr zu sehen und ich war mir nicht ganz sicher, ob dieser Jeffrey der Wahre war.

„Ich verzeihe dir“, sagte ich daher schnell. Jeffrey wollte gerade zu einer erneuten Beteuerung seiner Reue ansetzen, als er begriff, was ich gesagt hatte.

„Ja?“

„Ja“, versicherte ich ihm, lächelte ihm zu und machte mich freudig über meinen Apfelkuchen her. Auch Jeffrey wirkte deutlich gelöster und wir unterhielten uns angeregt, besonders über das neueste winterfeld‘sche Geschenk.

„Ich bin wirklich froh, dass du mir verziehen hast“, sagte Jeffrey plötzlich, obwohl ich dachte, wir hätten das Thema seit Stunden durch. „Ich bin mir ja nicht sicher, ob du mit deinem Stalker unter einer Decke steckst. Wer weiß, was der mit mir macht, wenn du dich bei ihm ausheulst.“

Jeffrey grinste, aber ich verstand seinen seltsamen Scherz absolut nicht.

„Hä?“, machte ich verständnislos. „Was für ein Stalker?“

Verschwörerisch beugte Jeffrey sich zu mir herüber.

„Dreh dich jetzt nicht gleich um. Der Typ da hinten mit der Zeitung, ich könnte schwören, dass der vorhin die ganze Zeit hinter uns herlief.“

Zweifelnd sah ich ihn an, war aber doch neugierig. Nur einfach hinsehen ging wirklich nicht. Kurz dachte ich nach und ließ dann einfach meine Gabel fallen, um mich beim Aufheben so zudrehen, dass ich in die beschriebene Richtung sah.

Erkennen tat ich nicht viel, eigentlich sah ich nur eine Zeitung, die von zwei dunklen Händen gehalten wurde.

„Du spinnst doch!“, grinste ich Jeffrey an, der eindeutig eine seltsame Art von Humor hatte, doch in Jeffreys Gesicht fand ich nicht das verräterische Grinsen, das ich da erwartete.

„Na, alles in Ordnung bei euch?“, hörte ich jemanden fragen, sah auf und erkannte Jeffreys Onkel, der uns freundlich anlächelte. Er balancierte ein Tablett in der Hand, zog mit der anderen einen Stuhl heran und setzte sich rittlings darauf, während er das Tablett abstellte.

„Was hast du da? Hast du schon wieder etwas 'ausprobiert'?“, fragte Jeffrey mit einem gequälten Ausdruck im Gesicht und sah zweifelnd auf die Gebäckstücke vor uns. Stan schien seinen zweifelnden Blick vollkommen zu ignorieren und grinste uns stolz entgegen. Neugierig sah ich mir die kleinen Küchlein an, erkannte aber nicht, was daran so besonders sein sollte. Sie waren nicht sonderlich groß, bestanden aus einem hellen Teig, der recht fluffig aussah und waren auch nicht übermäßig dekoriert. Aber da Stan so geheimnisvoll vor sich hin grinste, hatte er meine Neugier geweckt.

Wortlos stellte er je einen Teller vor uns ab und sah dabei aus wie ein kleiner Junge zu Weihnachten, der es kaum erwarten konnte, seine Geschenke auszupacken.

„Jetzt sei nicht so negativ“, maßregelte er Jeffrey gespielt beleidigt. „Das wird ganz sicher ein Erfolg! Du könntest deinem Onkel ruhig mal etwas zutrauen, undankbarer Bengel.“

Ich grinste, Jeffreys Onkel wurde mir immer sympathischer und ich wollte jetzt wirklich wissen, was es damit auf sich hatte.

„Was ist so besonders daran?“, fragte ich und schnupperte an dem Küchlein, das wirklich köstlich roch, jedoch glaubte ich nicht, das Stan deswegen so von seinem Gebäck überzeugt war.

„Siehst du!“, sagte Stan an Jeffrey gewandt und zeigte dabei auf mich. „Er versteht mich!“ Noch immer vollkommen geheimnisvoll nahm er seinen Kuchen in die Hand und brach ihn in zwei Teile. Überrascht sah ich, dass ein kleines Zettelchen daraus hervorkam und runzelte die Stirn.

„Was soll das denn?“, fragte Jeffrey entrüstet. „Beschäftigst du Sklaven in der Backstube, die so nach Hilfe suchen, damit sie deiner Sklavenherrschaft entkommen können?“

Stan brach in lautes Gelächter aus, sodass sich einige der Gäste fragend zu ihnen umdrehten und schüttelte dann den Kopf.

„Nein, in jedem Kuchen befindet sich eine kleine Botschaft, die dem Kunden die Zukunft voraussagen soll. Na los, jetzt probiert schon. Aber brecht sie vorher in zwei, sonst esst ihr den Zettel mit und ihr erfahrt nie, was die Zukunft für euch bereithält.“

Ich fand die Idee total lustig und Jeffreys Onkel schien sich so über seine neueste Kreation zu freuen, dass ich nun auch total euphorisch war. Fast gleichzeitig brachen wir unsere Kuchen durch; ich steckte mir eine Hälfte in den Mund, bevor ich mir den Zettel nahm, um seine versteckte Botschaft zu lesen.

„Was soll das denn?!“, fragte Jeffrey erneut, diesmal mit überschnappender Stimme. „'Nimm dich in Acht vor Wasser'?! Was soll denn das für eine Botschaft sein? Hast du dir das ausgedacht?“

Stan zuckte mit den Achseln, konnte aber ein Grinsen nicht unterdrücken. „Nicht alle. Einige hat Sally geschrieben.“

„Was soll mir das denn jetzt über meine Zukunft sagen? Soll ich nie wieder duschen oder wie?“

Ich rümpfte die Nase, konnte nun aber selbst ein Lachen kaum noch unterdrücken und irgendwie fand ich es süß, wie Jeffrey sich aufregte.

„Dann suchst du dir aber bitte ein anderes Zimmer“, brachte ich prusten hervor.

„Ha ha!“, machte Jeffrey beleidigt. „Jetzt sag schon; Was steht bei dir? Sollst du dich vor Kleidung in Acht nehmen?“

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich ja noch gar nicht auf meinen Zettel gesehen hatte und nahm mir das kleine Stück Papier in die Hand. Mein Lachen blieb mir augenblicklich im Hals stecken, als ich las, was darauf stand.

'Du wirst Liebe finden'

„Und?“, drängte Jeffrey. „Jetzt sag schon! Was steht da?“

Mit hochrotem Gesicht sah ich ihm entgegen und schüttelte langsam den Kopf, dabei faltete ich den Zettel so zusammen, dass keiner aus Versehen den Text darauf lesen konnte.

„Ach, das ist doch nicht so wichtig“, meinte ich herunterspielend, doch Jeffrey sah das leider ganz anders.

„Doch, ich will es wissen!“ Auch wenn Jeffrey jammerte wie ein Kind, ich hatte nicht vor, ihm das zu zeigen. Warum genau, wusste ich selber nicht. Aber besonders Jeffrey sollte das nicht sehen, also schüttelte ich den Kopf.

„Komm, gib her!“, jaulte er auf und versuchte, mir das Papier aus der Hand zu nehmen. Schnell zog ich sie zurück und brachte die geheime Botschaft so in Sicherheit, aber ich hatte nicht mit Jeffreys Hartnäckigkeit gerechnet. Immer wieder griff er danach, sodass ich den Zettel von der einen in die andere Hand nehmen und sogar aufstehen musste. Irgendwann wurde mir das Spiel jedoch zu blöd.

„Na gut! Du hast gewonnen!“, sagte ich resigniert und Jeffrey lächelte zufrieden. Wäre er ein Hund, hätte er sicher mit der Rute gewedelt, schoss es mir durch den Kopf. „Da hast du‘s“, sagte ich seufzend und warf das kleine Zettelchen in Jeffreys Kakao, in dem es sich sofort mit der Flüssigkeit vollsog.

Ich lächelte gequält, während Stan eine Augenbraue hochzog und Jeffrey ein Gesicht machte, als hätte ich gerade sein gesamtes Vermögen in Brand gesetzt.



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