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[Operation Nautilus] Andara-House

Mein letztes Jahr
von

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"Das Geschenk"

Andara-House - Mein letztes Jahr
 

Teil I - London
 

Heute war er, dieser eine Tag. Und wie immer verbrachte ich ihn recht still und für mich alleine – naja fast. Seit das mit mir und Singh begonnen hatte, war ich nicht mehr so alleine mit meiner Trauer. Ich konnte sie zumindest rauslassen. Zwar hätte ich das so oder so gekonnt, aber vor den Augen der anderen auf der Nautilus konnte ich meinen Gefühlen einfach keinen freien Lauf lassen. Bei Singh war das vollkommen anders; bei ihm konnte ich weinen und schluchzen, bis ich mich so ausgetrocknet fühlte wie die Wüste Gobi.

Und doch war ich nicht ganz ehrlich zu ihm. Ich log ihn zwar nicht direkt an, aber er wusste nicht die ganze Wahrheit darüber, warum mich der Tod meines besten Freundes so mitnahm.

Paul Winterfeld war nun schon seit drei Jahren tot und jedes Jahr an diesem Tag überrollen mich die Trauer und Wut über sein sinnloses Ableben erneut. Ebenso die Sehnsucht nach unserer gemeinsamen Zeit – und besonders die Erinnerungen an das letzte Jahr auf Andara-House ließ mir immer wieder ein Lächeln auf den Lippen erscheinen.
 

„Hey, aufwachen“, hörte ich eine gedämpfte Stimme dicht neben meinem Ohr, beschloss jedoch, dass es mir viel zu früh war und drehte mich grummelnd von der störenden Geräuschquelle weg. Paul jedoch schien das nicht wirklich zu beeindrucken, denn er war weiter bemüht, mich wach zu bekommen. Vermutlich hätte er damit auch schneller Erfolg gehabt, aber da außer uns noch ein weiterer Junge in dem Zimmer schlief, konnte er es sich nicht erlauben, lauter mit mir zu sprechen.

„Mike, wach auf! Heute ist dein Geburtstag.“

„Hmmm“, machte ich und zog mir die Decke über den Kopf. „Schön, dass du mich weckst und mir das sagst“, nuschelte ich und hatte absolut nicht vor, eher als nötig aufzustehen. Da heute Donnerstag war und damit ein normaler Schultag, würde es eh früher losgehen, als mir lieb war. Ausgerechnet an meinem 16ten Geburtstag beschloss Paul dann, mich um nicht ganz halb fünf zu wecken?!

Was sollte das?

Es war eine Frage, auf die ich nicht wirklich eine Antwort wollte, aber Paul gab sie mir doch.

„Ich will dir aber jetzt dein Geburtstagsgeschenk geben! Komm, es geht nur jetzt!“

Paul war so aufgeregt, dass er die letzten Worte recht laut gesprochen hatte und drehte sich erschrocken zu Jeffrey herum, der jedoch noch tief und fest schlief. Erleichtert atmete er auf, als er das feststellte und wandte sich wieder mir zu.

„Warum kann das nicht bis später warten?“, fragte ich und hatte mich aufgesetzt, da Paul leider Erfolg hatte und ich nun wach war. Verschwörerisch beugte er sich zu mir herüber und grinste mich an, sodass ich lieber etwas von ihm zurückwich. Mein bester Freund benahm sich heute Morgen wirklich merkwürdig.

Anstatt meine Frage zu beantworten – auf diese wollte ich schon eine Antwort – sprang er auf, rannte zu seinem Bett zurück und begann wie ein Irrer, das Laken herunterzureißen. Eine Weile beobachtete ich ihn dabei, überlegte dann sogar kurz, mich wieder hinzulegen und weiterzuschlafen. Das war alles so komisch, dass die Vermutung nahelag, ich würde tatsächlich noch schlafen und hätte einen verdammt irren Traum.

„Ah, du schenkst mir dein Bettlaken. Äh, danke?“, kommentierte ich seine Aktion mit hochgezogener Augenbraue. Paul schüttelte energisch den Kopf, öffnete an einer kleinen Stelle die Naht seiner Matratze und förderte einen Stapel Spielkarten hervor. Nachdem er sein Bett provisorisch wieder bezogen hatte, lief er freudestrahlen zu mir zurück und hielt mir die Karten hin.

„Spielkarten?“, fragte ich, als ich automatisch danach griff und sah ihn zweifelnd an. „Warum versteckst du Spielkarten in deiner Matratze?“

Paul grinste nun noch breiter.

„Jetzt sieh sie dir schon an!“, drängte er mich feixend und langsam glitt mein Blick zu dem Stapel in meiner Hand. Seufzend öffnete ich den Pappkarton und ließ die Karten auf meine Hand gleiten, die mit der Rückseite nach oben aus der Schachtel fielen. Sie sahen aus wie ganz gewöhnliche Karten, die Rückseite war in einem roten Karomuster gehalten und ich erkannte absolut keinen Grund, warum man die Karten verstecken musste. Wenn sie nun golden gewesen wären, okay. Aber so?

„Danke?“, machte ich erneut und wusste nicht genau, wie ich mich verhalten sollte. Paul wusste doch, dass ich Kartenspiele hasste. Warum schenkte er mir die dann?

„Du sollst sie dir ansehen!“, sagte Paul schon wieder und rutschte grinsend hin und her. Fragend sah ich ihn an, aber er würde mir wohl nicht sagen, was so besonders an den Karten war, daher nahm ich eine vom Stapel und drehte sie um.

Entgeistert sah ich auf die Karte; sie zeigte eine leicht bekleidete Frau in eindeutiger Pose. Ich schluckte schwer, nahm weitere Karten und auch hier blickten mir Frauen entgegen, die kaum Kleidung trugen und wohl nur das Eine im Sinn hatten.

„Und? Wie findest du es? Ich konnte es dir nicht so geben, du weißt ja wie die hier sind. Wenn die meinem Vater das erzählen, dann ist was los. Du musst sie auf jeden Fall auch verstecken!“, sprudelte Paul nur so los, während ich wortlos die Karten wieder in die Packung steckte und nun wirklich keine Ahnung hatte, was ich ihm sagen sollte.

„Wow“, entfuhr es mir. „Das ist… wow… Sowas habe ich noch nie … geschenkt bekommen.“ Was ich eigentlich sagen wollte war, dass ich sowas eigentlich gar nicht haben wollte. Aber Paul freute sich so sehr, dass ich ihm nicht wehtun wollte. Die Frage war nur: Was sollte ich nun damit machen?

Auf der anderen Seite wollte ich meinen besten Freund auch nicht anlügen.

„Also weißt du Paul…“, begann ich daher und dieser sah mich so voller freudiger Erwartung an, dass ich den Rest lieber herunterschluckte. Stattdessen hörte ich mich sagen: „Du hast Recht, das sollte man hier im Internat nicht so herumliegen lassen und ich habe noch nicht so ein tolles Versteck wie du. Könntest du die vielleicht für mich verstecken?“

Paul nickte eifrig, nahm mir die Karten wieder ab und stopfte sie in seine Matratze zurück. „Klar, kein Problem!“

„Was ist kein Problem?“, kam es müde aus dem dritten Bett, während sich Jeffreys verstrubbelter Kopf unter der Decke hervorarbeitete. „Seid ihr jetzt unter die Frühaufsteher gegangen?“

Ich beschloss, Jeffreys letzte Frage zu ignorieren, zuckte mit den Achseln und schwang die Beine aus dem Bett.

„Ach nichts“, sagte ich, während ich meine Kleidung und meine Waschsachen zusammensuchte. „Ich gehe mal duschen, bevor es im Waschsaal zu voll ist. Wir sehen uns später im Unterricht.“

„Kann ich verstehen!“, rief Paul mir grinsend hinterher, während Jeffrey ihn fragend ansah und ich ihm ein schiefes Lächeln zuwarf.

Seufzend stand ich unter der Dusche und da der Saal zu dieser Morgenstunde wirklich so gut wie leer war, nahm ich mir sogar etwas Zeit. Was ich sonst nie tat, da es mir einfach zu unangenehm war, von jedem, der hereinkam, nackt gesehen zu werden und auch die anderen so zu sehen.

Wieder einmal fragte ich mich, ob ich einfach prüde war. Aber irgendwie machten mich die nackten Körper der anderen Jungen nervös, auch wenn sie ja nichts hatten, was ich nicht auch hatte. Ich verstand es selbst nicht, hatte aber beschlossen, mir nicht weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Mein Plan war, einfach alles zu meiden, was ein komisches Gefühl in mir auslöste – was auch auf Pauls Spielkarten zutraf.

Wobei, das war etwas anderes, wurde mir klar. Es war mir nicht nur unangenehm, die Karten anzusehen; ich konnte absolut nichts damit anfangen und war auch sicher nicht aus dem Grund duschen gegangen, den Paul vermutete.

Verdammt. Warum hatte Paul das gemacht? Ich würde den ganzen Tag das schlechte Gewissen nicht loswerden, dass ich mich absolut nicht über dieses Geburtstagsgeschenk freute und ihn angelogen hatte. Seufzend lehnte ich mich gegen die Wand, während das heiße Wasser weiter über meinen Körper lief und schloss die Augen.

„Du hättest lieber noch was schlafen sollen, anstatt den Morgen tuschelnd mit dem Kohlkopf zu verschwenden“, hörte ich Jeffreys Stimme hinter mir, stellte hastig das Wasser ab und schlang das Handtuch um meine Hüfte. Vorsichtig wagte ich einen Blick über meine Schulter und stellte fest, dass Jeffrey ebenso nackt war wie ich. Was nicht verwunderlich war, wenn man sich in der Dusche befand, mich aber absolut nervös machte.

„Er heißt Paul!“, stellte ich eine Spur zu schroff fest und bereute meinen Tonfall direkt wieder. Aber warum musste Jeffrey gerade jetzt hier aufkreuzen? Er wusste doch, dass ich duschen wollte?!

Gemeinschaftsdusche, kam es mir wieder in den Sinn und schämte mich für meinen Egoismus, zu denken, dass Jeffrey sich nicht hier aufhalten sollte, wenn ich es tat. Immerhin hatte er mir etwas Zeit gelassen und ich war so gut wie fertig.

„Dann eben Paul“, seufzte Jeffrey in einem resignieren Tonfall, der klarmachte, dass es ihm total egal war. „Aber was gab‘s denn so Spannendes?“

Ich verdrehte die Augen und begann, mich abzutrocknen. Eigentlich hatte ich gar keine Lust auf ein Gespräch. Das lag nicht unbedingt an Jeffrey, sondern an dem Ort, an dem wir uns befanden. Auch wenn ich wahrscheinlich kein Problem gehabt hätte, wenn, anstatt von Jeffrey, Paul ein Gespräch in der Dusche aufbauen wollte.

Doch – es lag an Jeffrey. Immer wenn ich ihn sah, fragte ich mich, ob die Gerüchte um ihn wahr waren. Jeffrey Harris war nun seit vier Monaten auf Andara-House, dem angesehensten Jungeninternat in London und soweit ich gehört hatte, hatte sein Vater ihn als Strafe hierhergeschickt. Jeffrey war der Sohn eines erfolgreichen Geschäftsmannes in Amerika und man erzählte sich, er habe mit der Tochter eines wichtigen Kunden geschlafen und so einen Skandal ohnegleichen ausgelöst.

Ob ich den Erzählungen glauben sollte, wusste ich nicht. Immerhin war Jeffrey gerade mal ein Jahr älter als ich und ich konnte mir das absolut nicht vorstellen.

„Nichts“, murmelte ich, als mir klar wurde, dass Jeffrey mich fragend ansah. Kurz erwiderte ich seinen Blick im Spiegel und schlug dann peinlich berührt die Augen nieder. Der junge Amerikaner war das komplette Gegenteil von mir und das galt auch für seine Position beim Duschen. Während ich mich zur Wand hinstellte, damit nicht gleich jeder alles von mir sah, stand Jeffrey breitbeinig da und streckte munter nach vorne, was er hatte.

Ich schüttelte den Kopf, ließ Jeffrey einfach stehen und machte mich auf den Weg in den Vorraum, um mir meine Schuluniform anzuziehen. Es war schon recht spät und wenn ich noch etwas Frühstücken wollte, musste ich mich beeilen.

Pauls Aktion von heute Morgen rächte sich auch, als ich schließlich im Unterricht saß und das, obwohl noch gar nicht viel passiert war.

Mr. Wilson hatte gerade den Klassenraum betreten und auch er schien eine ziemlich schlimme Nacht gehabt zu haben. Denn der eigentlich recht geduldige Lehrer – und davon gab es auf Andara-House nur sehr wenige – wirkte äußerst gereizt, als er seine lederne Tasche mit einem Knall auf das Pult fallen ließ. Missmutig kramte er darin herum und holte schließlich die Klassenliste mit all ihren Namen hervor, räusperte sich und begann, die Namen darin vorzulesen.

„Benjamin Brown“, hörte ich ihn sagen und sah abwesend, wie Ben aufstand und ein knappes „Hier“ von sich gab.

Egal, wie ich mich bemühte, meine Gedanken drifteten immer wieder zu Jeffrey und den Geschehnissen von heute Morgen ab. Warum hatte mich sein Anblick so nervös gemacht und warum fühlte ich absolut nichts bei diesen Bildchen, für die jeder der Jungen hier wohl sein rechtes Bein gegeben hätte? Was zum Teufel war falsch mit mir? War ich etwa das, was man einen Spätzünder nannte?

„Juan del Gato.“ – „Hier!“

„Michael Kamala.“

Was aber am schlimmsten war, ist, dass ich mir ausgerechnet an meinem Geburtstag darüber den Kopf zerbrechen musste. Oh, Paul; er hatte es nur gut gemeint und damit aber das totale Chaos bei mir ausgelöst.

„Michael Kamala!“

Verwundert sah ich hoch und blickte direkt in beinahe alle Gesichter meiner Mitschüler, die mich zum Teil geschockt und andere mit einem Grinsen im Gesicht ansahen.

„Ja?“, fragte ich abwesend und hätte mir am liebsten in der gleichen Sekunde eine runtergehauen. Mr. Wilson sah mich mit einem Ausdruck an, der zwischen vollkommender Fassungslosigkeit und schwer unterdrücktem Zorn aussah. Ich war mir sicher, er würde mich im nächsten Moment nach vorne bitten, um mir dann den Rohrstock zum Fühlen zu geben.

Gerade, als der Lehrer den Mund öffnete, fing Jeffrey schallend an zu lachen und beruhigte sich auch nicht, als Mr. Wilson ihn anherrschte, den Mund zu halten.

„Mr. Harris, könnten Sie mir erklären, was so lustig ist?!“

Mit offenem Mund starrte ich Jeffrey an, der vollkommen irre erschien, bis mir klar wurde, dass Mr. Wilson mich nun vollkommen vergessen hatte. Jedoch geriet er immer mehr in Rage über den jungen Amerikaner und ich fragte mich kurz, ob Jeffrey das so beabsichtigt hatte. Allerdings verwarf ich den Gedanken dann aber wieder. Es war verrückt, zu glauben, einer der Jungen würde sich freiwillig die Strafe eines anderen aufbürden.

„Mr. Harris, kommen Sie nach vorne!“, sagte Mr. Wilson mit vor Zorn zitternden Stimme. Ich schluckte schwer, als Jeffrey augenblicklich verstummte und sich ohne Widerwort vor der Tafel aufstellte. Fast mit Bewunderung stellte ich fest, wie unerschrocken Jeffrey seine Hände ausstreckte, als der Lehrer es verlangte und für einen kurzen Moment sah es aus, als würde er mich direkt ansehen.

In seinen Augen sah ich jedoch keine Angst, oder gar Zorn auf mich, stattdessen erschien ein kurzes Lächeln auf seinen Lippen, als sich unsere Blicke trafen.

Bevor Mr. Wilson es jedoch sehen konnte, wurde Jeffrey wieder vollkommen ernst und kassierte die ersten Schläge. Bei den ersten zwei verzog er kaum das Gesicht und ich hatte Angst, das Mr. Wilson noch mehr in Rage geraten würde, wenn er glaubte, dass Jeffrey die Strafe nicht ernst nahm. Bei den folgenden dreien biss er sich jedoch zusehends auf die Lippe und konnte schwer einen Schmerzenslaut unterdrücken. Ich konnte kaum hinsehen, aber irgendwie fühlte ich mich schuldig, wenn ich wegsah und Jeffrey mit der Strafe, die er wegen mir kassierte, alleine ließ.

Zum Glück reichten Mr. Wilson die fünf Schläge und nachdem Jeffrey sich für sein ungebührliches Verhalten entschuldigt hatte, durfte er sich wieder setzen.

„Mr. Kamala, Mr. Harris, als abschließende Disziplinarmaßnahme werden Sie beide heute Nachmittag den Klassenraum putzen“, verkündete der Lehrer.

„Jawohl, Mr. Wilson!“, riefen Jeffrey und ich synchron.

Der Rest des Vormittags verlief ohne große Vorkommnisse, aber für mich war der Tag – und damit mein Geburtstag – so gut wie gelaufen. Ich war zumindest nach den ersten zwei Stunden Unterricht wacher geworden und handelte mir auch keine neuen Strafen ein; was aber auch daran lag, dass ich mit dem Großteil der Fächer kein Problem hatte und daher die Lehrer in den meisten Fällen zufrieden stellen konnte.

Aber ich hatte sonst wirklich absolut keine Lust mehr auf den Tag und es würde auch nicht besser werden. Anstatt nach den nächsten fünf Minuten Freizeit zu haben, musste ich den Nachmittag mit Jeffrey im Klassenzimmer verbringen. Böden fegen und schrubben, die Tafel auf Hochglanz polieren und hoffen, dass Mr. Wilson dann zufrieden war.

Als die Schulglocke ertönte, sprangen die Jungen auf und drängten sich lachend und in anregenden Gesprächen zum Ausgang. Genervt stand ich auf und packte schon einmal meine Bücher zusammen, als jemand mich von hinten anstieß und ich etwas unsanft von meinem Tisch gebremst wurde.

„Tut mir leid!“, hörte ich Ben feixen, der sich an mir vorbeigedrängt hatte. „So ein Verlierer wie du ist leider leicht zu übersehen!“

Wütend funkelte ich an und hätte ihm sicher ein paar Takte dazu gesagt, aber eine Hand auf meiner Schulter hielt mich davon ab. Darauf gefasst, dem nächsten, der meinte, mich beleidigen zu müssen, ins Gesicht zu sehen, drehte ich mich herum und sah Paul vor mir stehen.

„Scheiße Mike, es tut mir voll leid!“, sagte Paul Winterfeld derart bedrückt, dass ich es als Pflicht ansah, ihm ein entspanntes Lächeln zu schenken.

„Schon gut“, sagte ich. „Du kannst ja nichts dafür.“

„Aber es ist dein Geburtstag!“, protestierte Paul und fuchtelte wild mit den Armen. „Das ist nicht fair! Weißt du was? Ich helfe euch!“

„Nein. Kommt gar nicht in Frage!“, lehnte ich bestimmt ab. Nicht etwa, weil ich seine Hilfe nicht wollte, aber wenn Mr. Wilson sah, dass Paul uns half, würde er es so auslegen, dass wir uns vor unserer Arbeit drückten. Das ergab zwar absolut keinen Sinn, aber das tat vieles nicht, was an einem Jungeninternat um 1912 passierte.

„Schwirr ab, Kohlkopf! Wir machen das hier schon“, mischte sich nun auch Jeffrey in das Gespräch ein. Paul sah ihn irritiert an, öffnete dann den Mund, schloss ihn sofort wieder und verließ fast fluchtartig den Raum.

Nun waren wir alleine, wurde mir bewusst und ich stellte überfordert fest, dass es mir irgendwie Unbehagen bereitete. Vielleicht ja, weil Jeffrey Schläge wegen meiner Unachtsamkeit kassiert hatte.

„Ähm, deine Hände…“, begann ich stocken und sah ihn fast schüchtern an. „Ist es sehr schlimm?“

„Nicht der Rede wert“, antwortete Jeffrey mit einem Grinsen und lief zur Tafel.

Ich schüttelte den Kopf und lief ihm hinterher.

„Aber es ist ja irgendwie meine Schuld. Wenn ich nicht vor mich hingeträumt hätte, dann…“

„Dann war es immer noch meine Entscheidung, deswegen einen Lachanfall zu bekommen“, unterbrach Jeffrey mich ernst, doch im nächsten Moment grinste er mich wieder an. „Und du siehst mir nicht aus, als ob du so ein paar Schläge aushalten würdest.“

Mit offenem Mund sah ich ihn an, immerhin war es ja fast eine Beleidigung, aber die Antwort blieb mir im Hals stecken, als er vollkommen ernst fortfuhr. „Ich dagegen habe so viele kassiert, dass es fast schon wieder anregend ist.“

Ich konnte fühlen, wie mir das Blut in den Kopf schoss und mein Gesichtsausdruck musste vollkommen dämlich aussehen. Das wurde mir noch bestätigt, als Jeffrey erneut in schallendes Gelächter ausbrach. Überhaupt schien er stets so gut gelaunt und selbstsicher zu sein, dass ich tief in mir Eifersucht wachsen spürte.

„Jetzt komm, lass uns anfangen, damit du noch etwas von deinem Geburtstag hast“, riss Jeffrey mich aus meinen Gedanken und griff enthusiastisch nach dem nassen Schwamm. Nur um in der nächsten Sekunde schmerzerfüllt aufzustöhnen, als das kalkige Wasser auf den Striemen in seiner Hand brannte.

„Mist! Lass mal sehen!“, entfuhr es mir, griff ohne zu zögern nach seiner Hand und betrachtete die roten Striche. An kleinen Stellen war die Haut verletzt und ich konnte mir kaum vorstellen, welche Schmerzen Jeffrey den ganzen Tag beim Schreiben gehabt haben musste. Die eigentlich ich hätte haben sollen, dachte ich schuldbewusst. „Wasch dir die Kreide aus. Ich mache die Tafel und vielleicht geht es, wenn du den Besen übernimmst.“

Jeffrey nickte, lief dann zu dem kleinen Becken neben der Tafel und ließ das Wasser mit zusammengebissenen Zähnen über seine Hände laufen. Während ich den Schwamm gründlich über die Tafel gleiten ließ, konnte ich kaum den Blick von ihm abwenden und wünschte, es gäbe irgendwie einen Weg, ihm seine Schmerzen zu nehmen.

Er hatte die Schläge tatsächlich für mich eingesteckt, auch wenn mich seine Begründung, ich würde es nicht aushalten, etwas kränkte. Aber vermutlich hatte Jeffrey recht, während er, ohne sich zu beklagen, das Klassenzimmer fegte – obwohl seine Hände höllisch schmerzen mussten. Ich hätte ich wohl das eine oder andere Wimmern nicht unterdrücken können.

Jeffrey hob den Kopf und lächelte mich an, wodurch mir bewusstwurde, dass ich ihn anstarrte und mich schnell wieder der Tafel zuwandte.

„Ich glaube das reicht“, sagte Jeffrey, stellte den Besen weg und lehnte sich locker gegen das Lehrerpult.

„Meinst du?“, fragte ich und betrachtete kritisch die Tafel. Jeden Kreiderest würde man uns anlasten und ich wollte nicht schon wieder eine Strafe bekommen.

„Hmm“, machte Jeffrey. „Ich glaube, links oben musst du noch mal ran.“

„Ja?“, fragte ich. Ich konnte da absolut nichts erkennen, streckte mich aber trotzdem an das äußere Ende der Tafel und wischte was das Zeug hielt. „Besser?“

„Hmm“, hörte ich Jeffrey erneut. „Nee, also oben rechts ist auch nicht wirklich sauber.“

Prüfend sah ich die Tafel an und runzelte die Stirn. „Ich seh da nix“, sagte ich, tat dann aber doch mein Bestes und drehte den Kopf zu Jeffrey, der mit einem dümmlichen Grinsen vor sich hinstarrte. Ich fragte mich, was er so anstarrte, bis mir klar war, dass es aus seiner Position nur mich und die Tafel zu sehen gab.

„Idiot!“, blaffte ich ihn gespielt sauer an und warf ihm den Schwamm ins Gesicht.

„Du hast es herausgefordert“, lachte Jeffrey, worauf ich ihm einen säuerlichen Blick zuwarf.

„Einen Scheiß habe ich! Das kannst du deiner Mutter erzählen!“

Ein Schatten huschte über Jeffreys Gesicht und das erste Mal, seit er auf Andara-House war, sah er bedrückt aus.

„Meine Mom ist tot“, hörte ich ihn murmeln und hätte mich sehr gerne wieder selbst geschlagen. Natürlich konnte ich das nicht wissen, aber in diesem Moment fühlte ich mich wie das größte Arschloch auf der Welt.

„Meine auch“, vertraute ich ihm daher an. Wobei ich nicht wusste, ob es deswegen war, aber es fühlte sich einfach richtig an, ihm das zu sagen. „Es ist wirklich nicht leicht, aber immerhin hast du noch deinen Vater.“

„Mhm, das ist echt ein Glück“, sagte Jeffrey sarkastisch.

Ich war in einen weiteren Fettnapf getreten und spürte immer mehr, wie die Stimmung kippte. Angestrengt überlegte ich, was ich tun könnte, bis mir in den Sinn kam, warum mir das so wichtig war. Es war ja nicht so, dass ich für Jeffreys Wohlbefinden zuständig war und unsere Strafarbeit war erledigt.

Warum ging ich dann nicht einfach?

Wie Jeffrey schon sagte, ich hatte ihn zu nichts gezwungen und musste mich nicht schuldig fühlen. Schweigend standen wir da und ich war regelrecht froh, als ich Mr. Wilson sah. Prüfend begutachtete er das Klassenzimmer, wobei er sich jede noch so kleine Ecke ansah und mit dem Zeigefinger über die Tafel fuhr. Es quietschte regelrecht – so sauber war sie.

Zufrieden nickte der Lehrer, nicht ohne uns noch einen warnenden Blick zuzuwerfen.

„Sie haben Ihre Arbeit gut gemacht“, sagte er sachlich. „Ich erwarte in Zukunft mehr Aufmerksamkeit von Ihnen Mr. Kamala und von Ihnen Mr. Harris ein respektvolleres Verhalten. Haben Sie beide mich verstanden?!“

„Jawohl, Mr. Wilson!“, sagten wir erneut im Chor, woraufhin er uns entließ. Nachdem Mr. Wilson gegangen war, drehte Jeffrey sich um und lief mit strammen Schritten den Flur entlang. Ich musste fast rennen, um ihn einzuholen und konnte kaum glauben, dass ich es war, der ihm die nächste Frage stellte.

„Hättest du Lust noch etwas um den See zu spazieren?“

Jeffrey blieb abrupt stehen, drehte sich zu mir um und sah mich mit einem so finsteren Blick an, dass ich zusammenzuckte. Doch im nächsten Moment stahl sich wieder das selbstsichere Lächeln auf Jeffreys Gesicht.

„Vielleicht ein anderes Mal“, sagte er ausweichend und ließ mich auf dem Gang stehen.



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