So eisig die Nacht von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 4: Chapter 4 -------------------- Zwei Dinge kamen Tasha in diesem Moment in den Sinn, und keines davon passte objektiv betrachtet sonderlich gut zu dieser Situation. Das erste war die Frage, seit wann Kenneth eine derart vulgäre Ausdrucksweise an den Tag legte. Die zweite, wie es ihm gelang, in seinem Zustand des Betrunkenseins derart komplexe Sätze zu bilden, wenn er sie auch bloß undeutlich hervorbrachte. Undeutlich, aber doch klar genug, dass Tasha ganz genau verstanden hatte, was er gesagt hatte. Dass sie seit zwei Jahren tot wäre. Hatte zuvor doch bereits nichts mehr einen Sinn ergeben, so schien diese Sinnlosigkeit nun noch einmal gesteigert worden zu sein. Sie war nicht tot! Sie stand doch hier, ein Mensch aus Fleisch und und, sie atmete, sie… ihre Gedanken wurden von einem weiteren lauten Knall aus der Winchester unterbrochen, und dieses Mal schlug die Kugel in den Wohnzimmertisch, einen halben Meter von Tasha entfernt. Holz splitterte, es knirschte, und dann folgte ein stumpfer schlag und ein wütendes „Verdammte Scheiße“ – vermutlich, denn Kenneths Aussprache war wieder reichlich undeutlich geworden. Er lag auf dem Rücken, und die Waffe war ihm aus der Hand gerutscht und lag nun einen guten Meter von ihm entfernt. Mit stumpfem und zugleich verängstigtem Blick versuchte er, sich aufzurappeln, doch seine Bewegungen waren fahrig und ungelenk und seine Ellenbogen knickten unter seinem Gewicht weg, als er sich daraufstützte. Tasha betrachtete ihn. Sie spürte nicht das Geringste, obwohl sie doch im mindesten verunsichert, und im Extremfall vollkommen hysterisch hätte sein sollen. Kenneth hatte ihr gesagt, dass sie tot sei. Dass der Krebs sie umgebracht hatte, vor zwei Jahren bereits. Aber das war einfach nicht richtig. Sie hatten den Krebs bekämpft, hatten die Ärzte ihr gesagt; Dr. Armstrong hatte ihr die MRT-Aufnahme des Tumors gezeigt; die alte und die Neue, und es war deutlich zu erkennen gewesen dass das Gewächs von der Größe einer Zitrone auf die einer Erdnuss geschrumpft gewesen war. Noch immer da, und deshalb hatte sie auch bleiben sollen, aber kleiner. Und sie hatten ihr Hoffnungen in Aussicht gestellt… „Und das war auch die Zeit, in der Kenneth aufgehört hat, dich zu besuchen!“ Um ein Haar hätte Tasha geschrien. Sie hatte nicht erwartet, die Stimme des Wendigos zu hören, nicht , solange Kenneth da war, aus welchen Grund auch immer. Doch da war sie gewesen; dieser unmenschliche Klang, obgleich Tasha ihren Urheber nirgendwo ausmachen konnte. Und Kenneth schien ihn ebenfalls gehört zu haben. Sein Gesicht, zuvor gerötet, wurde bleich. Er riss die Augen auf, klappte den Mund auf und zu, was ihm ein für die Situation vollkommen unpassendes Lächerliches Aussehen verpasste. „Ich…“, krächzte er, dann musste er husten. Tasha betrachtete ihn stumm. Sie wartete darauf, dass da endlich etwas kam, eine Emotion, in welcher Form auch immer – Wut, Zorn, Trauer, Verzweiflung. Vollkommen gleich… Aber da war nichts. Nichts außer dieser betäubenden Kälte. Sie musste sich bewegt haben. Es war ganz ähnlich, wie zuvor, als sie plötzlich vor dem Lichtschalter gestanden hatte, und nun war sie Kenneth ein guten Stück nähergekommen, während der Wendigo von irgendwo hinter ihr unentwegt flüsterte: „Los, Tasha! Du weißt, was du tun musst! Du weißt, was sein Verhalten für ihn bedeutet! Du weißt es, Tasha!“ Und das stimmte. Sie wusste es. Später, in einem ihrer wenigen, klaren Momente, würde sie sich selbst sagen, dass sie nicht wirklich begriffen hatte, was sie tat. Dass sie unter irgendeinem Bann gestanden hatte, der sie dazu brachte, zu tun, was sie tat, dass sie es aus freien Stücken niemals getan, niemals gekonnt hätte… doch wahrscheinlich waren diese Ausflüchte nichts als reiner Selbstschutz. Hier und jetzt zögerte Tasha keine einzige Sekunde. Sie war Kenneth wieder nähergekommen, ohne es zu merken, und ein eisiger Luftzug fuhr über ihre Haut, ihre Härchen stellten sich auf, doch sie fröstelte nicht. Die Kälte schien im Augenblick alles zu sein, was sie umgab, schien ihren Körper auszufüllen, sie zu umarmen… die Kälte war alles was zählte. Die Kälte, und nicht Kenneth. Kenneth, der behauptete, sie wäre tot… Tashas Finger legten sich um die Vase, die auf der Anrichte an der Wand stand. Es war eine klobige, hässliche Vase, niemals hätte Tasha sich so etwas ins Haus gestellt. Kenneth, der offensichtlich das komplette Wohnzimmer, wenn nicht das gesamte Haus umgestaltet hatte… Ihr Mann starrte sie an, versuchte erneut, sich aufzurappeln, doch ohne Erfolg, zu benommen war er durch die Wirkung des Alkohols. Kenneth, der kein einziges Erinnerungsstück an Tasha zurückbehalten zu haben schien, kein Foto, nichts… „Tu es, Tasha!“, flüsterte der Wendigo. Kenneth, der sich nicht gefreut hatte, sie nach so langer Zeit wiederzusehen, kein Stück. Tasha hob die schwere Vase, stand nun direkt über ihrem Ehemann, der nun dalag wie er starrt, keinerlei Versuche mehr unternehmend, sich zu erheben. Kenneth, der versucht hatte, sie zu erschießen. „Tu es, Tasha!“, wiederholte der Wendigo, und nun schrie er, und Kenneths Augen weiteten sich, entsetzt im Angesicht seines offensichtlichen Todes. „Tu es, Tasha! Tu es! Tu es!“ Und Tasha schlug zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)