Now You See Me von Morwen (Thor & Loki) ================================================================================ Tony hatte ihm ein kleines Haus auf dem Land zur Verfügung gestellt, nur wenige Dutzend Meilen vom Avengers-Hauptquartier entfernt. Zwei Schlafzimmer, ein Bad, ein geräumiges Wohnzimmer und eine Küche verteilten sich über zwei Etagen. Der Keller war zum Bersten mit Vorräten gefüllt, und sollte es ihm dennoch an etwas mangeln, so hatte Tony es ihm versichert, dann musste er lediglich die künstliche Intelligenz des Hauses darüber in Kenntnis setzen. – Denn natürlich hatte das Haus eine eigene Intelligenz; wie hatte er bei seinem Besitzer auch jemals etwas anderes erwarten können? Ihr Name war J.U.N.E., sie sprach mit einer tiefen, rauchigen Stimme und manchmal fing sie völlig unerwartet damit an, Rocksongs aus den 60er und 70er Jahren zu singen. Thor mochte sie auf Anhieb. Er mochte auch das Haus, die Schlichtheit, mit der es eingerichtet war, den Mangel an moderner Technologie – sah man von J.U.N.E. einmal ab – und die Abgeschiedenheit der umliegenden Wälder. Bis zu dem Moment, in dem er über die Schwelle getreten war, hatte er nicht gewusst, wie sehr er diese Auszeit gebraucht hatte. „Bleib so lange hier, wie du möchtest“, hatte Steve zu ihm gesagt. „Und mach dir um uns keine Sorgen, wir werden schon klarkommen.“ „Danke“, hatte Thor erwidert und dem anderen Mann zugenickt. „Für alles, was ihr für mich tut und getan habt – für uns beide getan habt.“ „Keine Ursache.“ Tony hatte nur mit den Schultern gezuckt. „Nehmt euch alle Zeit, die ihr braucht, um eure... Angelegenheiten zu klären. Wenn du bereit bist, dich erneut der Welt zu zeigen, sag entweder J.U.N.E. Bescheid oder ruf mich einfach an, dann werden Steve und ich deinen Namen bei der Presse reinwaschen und dich wieder als Avenger etablieren.“ „Danke, meine Freunde.“ Thor war der Abschied mit einem Mal sehr schwergefallen, doch es war zu spät gewesen, um Rückzieher zu machen. „Ich denke, ihr werdet eine Weile nicht von mir hören.“ Steve hatte jedoch nur gelächelt, als hätte er nichts anderes von ihm erwartet. Das war vor zwei Tagen gewesen. Ohne Fernsehen oder Internetzugang im Haus hatte er keine Ahnung, was in der Welt vor sich ging, und vielleicht war das auch am besten so. Er wusste, dass Steve überzeugende Arbeit leisten würde, um ihn als möglichen Schwachpunkt im sonst so zuverlässigen Avengers-Team darzustellen, und er zweifelte nicht daran, dass sich die Medien das Maul über ihn zerreißen würden, so waren die Menschen nun mal. Aber es ging bei der ganzen Sache auch nicht um ihn. Als Thor am Vormittag des dritten Tages ins Haus zurückkehrte – er hatte für eine Weile in der Sonne auf der Veranda gedöst – erwartete ihn J.U.N.E. mit Neuigkeiten. „Elf Anrufe in Abwesenheit, Sir“, teilte sie ihm mit. „Von Ihrem Bruder.“ Plötzlich war Thor wieder hellwach. „Loki...!“, stieß er leise hervor. Und dann: „Wo ist er?“ „Der Quelle der Anrufe nach zu urteilen in Seattle“, entgegnete J.U.N.E. „Seattle?“ „Ein Ort an der Westküste, Sir. Etwa 2800 Meilen von hier.“ Weit entfernt also. Mit Sturmbrecher jedoch nur wenige Minuten. „Ist er noch immer dort?“, fragte Thor. „Es ist mir leider nicht gelungen, seinen momentanen Aufenthaltsort zu lokalisieren, Sir“, erwiderte J.U.N.E. „Es ist, als wäre er nach seinem letzten Anruf urplötzlich verschwunden.“ Thors Schultern sackten herab. Natürlich. Wie hatte er auch nur einen Moment lang glauben können, dass sein Plan funktionieren und Loki das ewige Katz-und-Maus-Spiel aufgeben würde? Sein Bruder musste sofort gewusst haben, dass etwas nicht stimmte, und hatte zweifellos beschlossen, erneut zu verschwinden, dieses Mal vielleicht sogar für immer. Thor fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und seufzte. „Danke“, sagte er dann. Loki war fort. Welchen Grund hatte er nun noch, an diesem Ort zu bleiben...? „Die Neuigkeiten scheinen Sie nicht sehr glücklich zu machen, Sir“, meinte J.U.N.E. mit überraschender Ehrlichkeit und erstaunlich viel Mitgefühl in ihrer künstlichen Stimme. „Ich hatte auf eine andere Entwicklung gehofft, das ist alles“, gestand Thor. Und das hatte er. Innerlich hatte er sich bereits darauf eingerichtet, für einen sehr viel längeren Zeitraum in diesem Haus zu bleiben. Doch er hatte auch nicht erwartet, dabei allein zu sein... Nein. Er würde trotzdem noch für eine Weile bleiben. Loki hin oder her, Thor brauchte die Pause, und außerdem war J.U.N.E. ihm in den letzten Tagen mehr ans Herz gewachsen, als er gedacht hätte. Er ließ sich schwerfällig auf die große Couch im Wohnzimmer sinken und schloss die Augen. „Kannst du mir etwas vorsingen?“, fragte er. „Mit Vergnügen, Sir“, erwiderte sie enthusiastisch. Und während das Geräusch prasselnden Regens das Haus erfüllte und J.U.N.E. wenig später die erste Strophe von Riders on the Storm zu singen begann, fragte Thor sich, ob er tatsächlich seine einzige Chance verpasst hatte, seinen Bruder jemals wiederzusehen.   Noch am selben Abend sollte er seine Antwort erhalten.   Die Sonne war bereits untergegangen und Thor war gerade dabei, sich etwas zu essen zu machen, als von der Veranda her ein dumpfes Geräusch ertönte. Es klang fast, als wäre etwas darauf umgefallen – oder als wäre jemand über die Stufen gestolpert und gestürzt. Sofort war das Abendessen vergessen und Thor zur Tür geeilt. „Hallo?“, rief er in die Abenddämmerung hinaus. „Schrei doch nicht so“, erklang eine vertraute Stimme zu seiner Rechten. „Was sollen die Nachbarn sonst denken?“ Thor starrte die schwarzgekleidete Gestalt an, die in diesem Moment aus den Schatten trat und Federn aus ihren Ärmeln schüttelte. „... Loki?“, stieß er ungläubig hervor. „Der einzig Wahre“, entgegnete sein Bruder spöttisch. „Oder wie viele Gestaltwandler kennst du sonst noch?“ Anstatt ihm eine Antwort zu geben stieß Thor nur ein von Herzen kommendes Lachen aus und trat auf Loki zu, um ihn in die Arme zu schließen. Für einen Moment war sein Bruder stocksteif und wie erstarrt, doch dann stieß er ein Seufzen aus und ließ sich gegen ihn sinken. „Du Narr“, sagte er leise, aber nicht ohne Zuneigung und schlang seinerseits die Arme um Thor. „Du verdammter Narr...!“ Sie standen für lange Zeit so da und genossen die Wärme und Nähe des jeweils anderen, ohne die Stille mit überflüssigen Worten zu füllen. Als sie sich nach einer Weile wieder voneinander lösten, sah Thor, dass er nicht der einzige war, der Schwierigkeiten hatte, seine Gefühle in Worte zu fassen. „Oh Thor“, murmelte Loki schließlich. „Was hast du nur getan?“ Thor musste nicht erst fragen, wovon er sprach. „Du hast davon gehört.“ „Die ganze verdammte Welt hat davon gehört!“, erwiderte Loki. „Was hast du dir dabei gedacht? Wie kannst du nur zulassen, dass sie Lügen über dich erzählen?“ „Seltsam.“ Thor lachte leise. „In der Vergangenheit hattest du nie Probleme damit, Bruder...“ Doch seine Bemerkung ließ Lokis Augen nur zornig aufblitzen. „Du hast mir damals mit sehr deutlichen Worten klar gemacht, wo deine Prioritäten liegen!“, entgegnete er wütend. „Ich dachte, die Avengers wären dein Zuhause! Wären deine... deine...“ Lokis Stimme brach an dieser Stelle für einen Moment und er musste kurz schlucken. „... deine Familie!“, fuhr er dann fort. „Und du wirfst es alles einfach so weg? Offenbar bist du ein größerer Narr, als ich dachte!“ Thor starrte ihn an. Jegliche Belustigung war mit einem Mal aus seinem Gesicht verschwunden, als er Lokis verletzte, enttäuschte Miene sah und die Tränen, die in seinen Augen schimmerten. Als sein Bruder damals beschlossen hatte, die Avengers zu verlassen, und Thor zu ihm gesagt hatte, dass es bei dieser Entscheidung allein um ihn ging und um das, was er sich für sein Leben wünschte, war ihm nicht klar gewesen, wie sehr Loki sich diese Dinge zu Herzen nehmen würde. Dass er so weit gehen würde zu denken, Thor würde ihn von sich stoßen oder ihn gar aus seinem Herzen verdrängen. Denn das war ganz sicherlich nicht der Fall. „Du hast Recht“, sagte Thor leise und senkte den Blick. „Ich bin ein Narr gewesen.“ Er konnte spüren, wie Loki scharf die Luft einsog, doch sein Bruder schwieg und wartete darauf, dass er fortfuhr. „Ich bin ein Narr, weil ich dachte, es würde reichen, dich zurückzuholen“, sprach Thor. „Weil ich dachte, ich könnte alle Herausforderungen ertragen, mit denen mich diese Welt konfrontiert, solange ich nur weiß, dass du darin existierst. Egal, ob wir zusammen sind oder nicht. Denn ich wollte dich nie einengen oder dir deine Freiheit nehmen, die Erfahrungen der Vergangenheit haben mir schließlich oft genug gezeigt, dass das eine schlechte Idee ist.“ Er nahm Lokis Gesicht in die Hände und sah ihn voller Wärme an. „Aber am Ende habe ich mich nur selbst belogen“, fuhr er fort. „Ich werde bei den Avengers immer ein Zuhause haben, das mag sein... aber meine Heimat bist in erster Linie du. Du warst es schon, als Asgard vernichtet wurde und Thanos unser Volk auslöschte. Ich habe es nur nicht wahrhaben wollen und dachte, die Distanz wäre besser für uns. Doch das war sie nicht. Denn du bist alles, was mir von meinem alten Leben geblieben ist, Loki, und ich kann dich nicht auch noch verlieren. Ich kann es einfach nicht.“ Loki starrte ihn lange Zeit an, ohne etwas zu erwidern. Doch schließlich entdeckte Thor eine Emotion in den grünen Tiefen seiner Augen, mit der er nicht gerechnet hatte. Hoffnung. „Meinst du das wirklich ernst?“, fragte Loki leise. „Willst du meinetwegen tatsächlich dein bisheriges Leben aufgeben...?“ „Nun“, meinte Thor und lächelte, „wenn wieder jemand versucht, die Welt zu erobern, und die Avengers mich brauchen, dann werde ich für sie da sein. Doch in der restlichen Zeit?“ Er warf demonstrativ einen Blick über die Schulter zurück zum Haus. „Ich denke, wir können dies zu einem Ort machen, an dem man zu zweit gut leben kann. Was meinst du?“ „Thor.“ Loki hob seine Hand und schloss seine Finger warm um Thors Handgelenk. „Du weißt, dass ich versuchen werde, dich zurückzulassen, sobald ich kann.“ „Dann werde ich dich festhalten“, erwiderte Thor mit rauer Stimme. „So oft und so lange, wie es nötig ist, bis du begriffen hast, dass du eine Heimat hier hast.“ Ein Lächeln wie die aufgehende Sonne breitete sich auf Lokis Gesicht auf und endlich entdeckte Thor wieder eine Spur des altbekannten Schalks in den Augen seines Bruders. „Versprichst du es mir?“, fragte Loki. Thor lachte und lehnte die Stirn an die des anderen. „Ich verspreche es“, schwor er. Und sicher, es war nicht perfekt, und ja, vielleicht würden sie sich mit der Zeit wieder verlieren. Doch für den Moment war es genug. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)