Noch einmal mit Gefühl von 4FIVE ([Itachi x Ino | Sasuke x Sakura | modern AU]) ================================================================================ Kapitel 8: Heimkehr ------------------- . . ♦ —Konoha, Japan; 11 Jahre zuvor   »Du kannst mich nicht abhalten!« Inos Gesicht war hochrot, ihre Augenbrauen zornig verengt, ihr Puls durch die Decke gegangen. Eben noch hatte sie letzte Fotos mit ihren Schulfreunden gemacht, Nummern ausgetauscht und sich mit Sakura für einen Einkaufsbummel morgen verabredet. In einem Monat würden sie zusammen nach Tokio ziehen, dafür brauchten sie dringend passende Kleidung. Nun scheiterte sie daran, Worte zu finden, die ihre Wut und Enttäuschung beschrieben. Ihre Mutter betrachtete ihr aufgeregtes Äußeres, wusste sehr genau, was sich in ihrem Inneren abspielte. Tausend Mal hatten sie diese Diskussion geführt. Tausend Mal hatte sie ihrer Mutter klargemacht, dass sie den dämlichen Blumenladen nicht übernehmen würde. Sechste Generation – na und? Was konnte sie dafür, in diese Familie hineingeboren worden zu sein? Warum musste sie ihre Träume dafür aufgeben? Das hatte sie sich schon so oft gefragt.  Und dieses Mal würde das letzte sein. Sie stürmte hinauf in ihr Zimmer. Hörte sich nicht an, was ihre Mutter zu sagen hatte. Es war immer dasselbe; Ino hatte ein Talent für Blumen, für Ästhetik und für Farben. Es war ihre Pflicht und ihr Privileg, dieses Talent im Blumenladen der Familie fortzuführen. Als sie ihre Habseligkeiten in ihren Koffer warf, war ihr bewusst, dass sie eben eine selbstsüchtige Entscheidung getroffen hatte. Sie konnte ihre Mutter verstehen. Mit ihrer Weigerung, das Familienunternehmen weiterzuführen, zerstörte sie das Lebenswerk von fünf Generationen. Ein Stück Geschichte. Bei der Gründung war er eines der ersten Geschäfte Japans gewesen, das offiziell einer Frau gehört hatte. Der Stolz ihrer Familie. Ein Symbol für alles, was die Yamanakas waren. Unabhängig, stark, widerstandsfähig. Der Laden hatte den Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg überlebt, den Zweiten Weltkrieg, die Verlorene Dekade. Nach zweihundert Jahren stand er immer noch dort, wo ihre Urururgroßmutter ihn erbauen hatte lassen. Aber ihre Mutter machte sich keine Mühe, sie zu verstehen. Warum sollte Ino dann die Erwachsene sein? Sie war bereit, alles zu opfern. Nur nicht für eine Karriere als Floristin. »Wo willst du hin?« Der Blick ihrer Mutter bohrte sich in ihren Rücken. Ino stand vor der Haustür, den Koffer in der Hand, einen Rucksack um den Rücken. »Wenn du jetzt gehst, will ich dich nie wiedersehen.« Ino drehte sich nicht um. Wollte – konnte der Frau nicht in die Augen sehen, die sie vor eine derartige Wahl stellte. In Wahrheit war es keine Wahl. Es gab keine Alternative, gab es seit langem nicht mehr. Langsam fasste Ino in ihre Hosentasche und zog den Schlüsselbund heraus. Eine violette Blume aus Perlen bildete das Herzstück, rundherum waren Schlüssel für Haus, Gartentor und Briefkasten befestigt. Er wog kaum mehr als das Nagellackfläschchen, das sie gestern aufgebraucht hatte, und doch lag er so viel schwerer in ihrer Hand. Zu schwer. Sie streckte die Hand zur Seite aus. Ließ ihn zu Boden fallen. Und ging. ♦   —Konoha, Japan; Gegenwart   »Als du weit weg gesagt hast, hab ich nicht mit einer Reise ans Ende der Welt gerechnet«, seufzte Ino und lehnte sich tief in ihren Sitz zurück. Der Blick aus dem Zugfenster offenbarte hohe Berge und weite Wälder. Es war so kitschig ländlich wie auf einer Postkarte. Widerlich. Sie hatte ganz vergessen, was für ein Landei sie eigentlich war. Sakura sah von ihrer Zeitschrift auf. »Konoha ist doch nicht das Ende der Welt. Meine Eltern haben Sarada seit einem Jahr nicht mehr gesehen, während Mikoto-san ständig bei uns rumhängt. Sarada soll in dem Bewusstsein aufwachsen, dass sie zwei Großelternpaare hat.« »Wieso muss ich dafür büßen, dass Sasukes Mutter aufdringlich ist?« »Jetzt mach kein Drama«, sagte Sakura. Beiläufig gab sie Sarada ein Bilderbuch aus dem Rucksack. »Konoha ist meine Heimat. Und deine auch.« Ja. Genau das machte Ino Angst. Halbherziger Smalltalk beherrschte die restliche Fahrt. Sakura wollte ihren Streit mit Sasuke um keinen Preis ansprechen und Ino versuchte, ihre schlechte Laune in Zaum zu halten. Über Itachi wollte ebenfalls keine der beiden reden. Ino hatte zwar ihren Ausflug in sein Büro erwähnt, aber Sakura schien sich dazu nicht äußern zu wollen. Also begnügte sie sich damit, ab und an auf ihr Smartphone zu schielen, um ja keine Nachricht zu verpassen. Falls denn eine kam. Im Moment sah es nicht so aus. Konohas Bahnhof war klein, um nicht zu sagen winzig. Es gab einen Bahnsteig, auf dem im Dreistundentakt Züge in abwechselnden Richtungen hielten und die wenigen Fahrgäste ausspuckten, die sich hierher verirrt hatten. Und Verirrung war die einzige Möglichkeit, hier zu stranden. Tourismus gab es kaum, Import und Export hielten sich in Grenzen. Die flache Umgebung machte es leicht, das Dorf fast ausschließlich mit lokalen Produkten zu versorgen. Luxusgüter wie Autos und hochspezialisierte Güter wie Medizinprodukte oder Klimaanlagen waren die einzigen Dinge, die eingeführt wurden. Konoha hatte es nie notwendig gehabt, sich mit der Außenwelt zu verständigen. Vielleicht war das der Grund, warum die Architektur und die Kultur hier so untypisch waren für den Süden Japans. Neben einem Getränkeautomaten, der seit zwanzig Jahren nicht mehr funktionierte, hatte der Bahnhof nichts zu bieten. Darum fielen Sakuras Eltern am Bahnsteig auch sofort auf. Wie bestellt winkten Mebuki und Kizashi aufgeregt, nur für den Fall, dass Sakura vergessen hatte, wie sie aussahen, und umarmten sie freudig. Sie waren gerade einmal vier Erwachsene und ein Kleinkind, doch das Kuddelmuddel an Gliedmaßen und freudigen Ausrufen war Ino fast zu viel heimelige Herzlichkeit. Weder Mebuki noch Kizashi kümmerten sich darum. "Ino-chan!", rief Mebuki und zog sie in ihre Arme. Kizashi klopfte ihr kameradschaftlich auf die Schulter, »Es ist so schön, dich wiederzusehen.« Es war erdrückend. In L.A. hatte sie die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter niemals erwähnt. Sie hatte auch nie vom Heimweh erzählt, das jeder verpasste Anruf ihres Vaters in ihr auslöste. Hier wusste es jeder. Ino schluckte. »Auch schön, euch wiederzusehen. Es ist ewig her.« »Allerdings!«, lachte Kizashi. Mit seiner großen Hand nahm er sie ein paar Zentimeter zur Seite. »Seit Sakura uns gesagt hat, dass ihr kommt, diskutieren wir, welche Pose am besten für das Wiedervereinigungsfoto wäre. So vielleicht?« Er streckte einen Arm gen Himmel und hob den zweiten über seine Augenbrauen. »Oder wir könnten auch …« Mebuki ließ von Sakura ab und schüttelte den Kopf. »Jetzt kommt erstmal mit nach Hause. Ihr hattet bestimmt eine lange Fahrt und seid erschöpft. Ich habe Teppanyaki vorbereitet. Du kannst bei uns übernachten, Ino-chan.« Mist, daran hatte Ino gar nicht gedacht. Konoha verfügte über eine einzige Gästepension mit vier Zimmern, die ihren Ansprüchen ja sowas von nicht genügten. Ihr Elternhaus war ebenfalls keine Option. »Danke, das wäre toll«, meinte sie in vollem Bewusstsein, wie skurril es war, im Nachbarhaus ihres Elternhauses zu nächtigen. Sakura schnaubte. »Wehe du machst dich wieder so breit wie früher. Ich hab heute noch blaue Flecken von deinen Versuchen, mich aus meinem Bett zu werfen.« Die Fahrt zum Haus der Harunos über wurden sowohl Sakura als auch Ino ausgequetscht – wie ging es Sakura im Job, hatte sie endlich die fünf Schwangerschaftskilo verloren, wo wohnte Ino in Tokio, war sie mittlerweile liiert, wie lange gedachte sie in Japan zu bleiben? Auf die letzte Frage konnte Ino nur vage antworten. Sie war ein internationaler Star, hatte in Hollywood gedreht und war auf einem Dutzend Cover verschiedenster Hochglanzmagazine erschienen. Natürlich nahmen Mebuki und Kizashi an, dass sie lediglich für ein oder zwei Projekte auf der Durchreise war. Bis zum Abendessen hatte Ino von den meisten nennenswerten Dreherlebnissen und Pannen erzählt und Sakura hatte bewiesen, dass sie noch in ihre alten Hosen passte. Mit etwas Nachdruck zwar, aber niemand wollte kleinlich sein. Es animierte sie dazu, beim Teppanyaki doppelt zuzulangen. Mebuki hatte sich ihrer Enkeltochter angenommen, schnitt ihr Fleisch und Gemüse in mundgerechte Häppchen, während Kizashi das Kind mit allerhand Grimassen und Tiergeräuschen bespaßte. Die beiden waren so zuckersüß mit dem Mädchen, dass Ino fast das Herz aufgegangen wäre, hätte sie in ihrem Kopf Platz gehabt für einen positiven Gedanken. Denn mit all der heimeligen Heiterkeit kam die Realisation, dass ihre Mutter im Haus nebenan saß, wahrscheinlich in ein neues Blumenarrangement vertieft. Rüberzugehen und Hallo zu sagen, würde unangenehm werden. Doch sie aktiv zu meiden würde bedeuten, sich schuldig zu fühlen. Das tat sie nicht. »Sieh an«, sagte Sakura plötzlich mit Blick auf ihr Smartphone. »Naruto hat Wind davon bekommen, dass wir im Dorf sind. Er lädt uns auf ein Bier ein. Jetzt. Lust?« Oder floh einmal mehr wie der Feigling, der sie war. Die Entscheidung war viel zu einfach. ♥   Seit sie Sasuke gesagt hatte, dass er sich zum Teufel scheren konnte und ihn mit beiden Händen vor Inos Tür gesetzt hatte, herrschte Funkstille zwischen Sakura und ihm. Sie konnte nicht einmal mehr rekapitulieren, warum der Streit schon wieder eskaliert war. Inzwischen war es seine gesamte arrogante Art, die sie nicht mehr ertragen konnte. Diese Selbstverständlichkeit, mit der er ihr fast schon befohlen hatte, ihre kindische Rebellion sein zu lassen und nach Hause zu kommen. Sein komplettes Unvermögen, den Grund für ihre Unzufriedenheit zu verstehen. Als Sakuras Smartphone exakt vierundzwanzig Stunden später piepte, hoffte sie für einen Moment, dass es ihr Mann war. Sie hasste sich dafür. Aber es war nur eine Textnachricht von Naruto, der sie zum Ausgehen einlud. Mebuki hatte die Gelegenheit ergriffen und die beiden Frauen regelrecht aus dem Haus gescheucht, wahrscheinlich, um ihre Enkelin ohne die kritischen Augen ihrer Tochter verwöhnen zu können. Sakura achtete sehr darauf, wie viel Zucker Sarada am Tag aß und wie viel sie fernsah. Kein Zweifel, dass das Mädchen heute den Himmel auf Erden erleben würde. Auf dem Weg in ihre alte Stammkneipe versuchte Sakura, nicht allzu sehr darüber nachzudenken, wie hyperaktiv Sarada nach einer Schüssel Cornflakes am Abend sein würde. Das war offiziell das Problem von Oma und Opa. Sie versuchte auch nicht daran zu denken, wie sehr Sasuke es verurteilte, wenn Sakura ihr sinnfreie Kinderserien zeigte oder kitschigen Mädchenkram kaufte. Sie ist eine Uchiha, zieh sie nicht an wie eine Prinzessinnenpuppe, hatte er immer wieder gesagt. Diese Fixation auf seinen dämlichen Familiennamen war ihr unbegreiflich. Sie ist vor allem ein vierjähriges Mädchen!, hatte sie immer wieder geantwortet, wenn sie in einem Feenkostüm in den Kindergarten gehen will, dann soll sie! Sie schüttelte sich aus ihren Erinnerungen, ehe sie wütend werden konnte. »Sasuke?«, fragte Ino neben ihr. Sie waren einige Minuten schweigend Konohas enge Straßen entlangspaziert, Sakura in Gedanken und Ino in ihr Smartphone versunken. »So offensichtlich?« »Du schnaubst ohne direkt ersichtlichen Grund und hast eben deinen Mann verlassen. Ist nicht schwer zu erraten, meine ich.« »Ich hab ihn nicht verlassen …«, korrigierte Sakura. Sicher war sie sich nicht darüber. »Noch nicht. Denke ich. Ich weiß nicht.« Tat sie wirklich nicht. Seit sie in Konoha war, schwankte sie zwischen Wut und Traurigkeit. Um diese Uhrzeit waren die Straßen menschenleer und die Stille so ländlich verschlafen, dass es fast schon wehtat. Jede Sekunde schien hier ein bisschen langsamer zu vergehen als anderswo, ließ sie ein wenig intensiver nachdenken über alles, was vorgefallen war. Nicht gestern oder vor zwei Tagen oder vor einem Jahr, sondern sehr viel früher, in der Mittelschule, als Sasuke so unerreichbare gewesen war. Mittlerweile war sie seine Frau. Die Mutter seiner Tochter. Und er war es immer noch. Unerreichbar. Ino sah sie eine Weile ernst von der Seite an, teilte ihre rot geschminkten Lippen und schloss sie wieder. Seufzend sagte sie, »Tut mir leid, Sakura. Ich will dir echt gerne helfen, aber mir fällt nicht einmal ein dummer Spruch ein. Siehst du, Sasuke treibt auch mich an meine Grenzen. Wer hätte das gedacht?« Da war er mal wieder, dieser humorvolle Ernst, der so typisch Ino war und Sakura lachen ließ. Bis heute verstand sie nicht, wie Ino diese Gratwanderung schaffte. »Ehrlich gesagt will ich gerade nicht über ihn nachdenken. Wahrscheinlich feiert er seine neugewonnene Freiheit mit Überstunden.« »Mir scheint, das wäre eine allgemeine Krankheit in der Familie Uchiha.« »Meinst du Itachi-san?« Einmal hätte sie gerne gesehen, wie ihre selbstbewusste Freundin sich ertappt fühlte oder gar errötete. Nichts da. Ino grinste schief über einen privaten Gedanken und sagte, »Ich bin nicht gerade subtil, hm? Wer hätte auch gedacht, dass dieser zugeknöpfte Langweiler, der Sasuke manchmal nach der Schule abgeholt hat, so ein heißer Typ wird? Das Leben ist skurril.« Sakura verzog unschlüssig den Mund. In all den Jahren war sie mit Itachi nie warm geworden. Teilweise, weil sie nicht viel gemeinsam hatten. Teilweise auch, weil Sasukes ewiger Konkurrenzkampf mit ihm sie davon abhielt, ihn sympathisch zu finden. Itachi war ihr weniger wie ein zugeknöpfter Langweiler als ein berechnender Selbstdarsteller vorgekommen. Trotzdem schien Ino ihn zu mögen, sie waren alle erwachsen und Sakura hatte keine Intentionen, ihre Freundschaft schon wieder wegen einem Uchiha zu kippen. »Ist es in Ordnung, wenn ich das nicht kommentiere?« Ino zuckte die Schultern und schulterte ihre Handtasche neu. »Schon gut, ich kann’s mir denken. Falls es dich beruhigt, ich will ihn nicht heiraten. Nur ein bisschen harmlosen Spaß, wenn du verstehst, was ich meine.« »Danke. Das Bild meines nackten Schwagers beim Sex war genau das, was mir heute gefehlt hat.« Sakura schauderte. »Wenn ich ehrlich bin, überrascht es mich nicht einmal, dass er gerade bei dir seine Hormone wiederentdeckt.« »Was soll das denn heißen?« »Dass ich ihn noch nie habe flirten sehen, außer bei Saradas Geburtstag mit dir. Wie machst du das? Wieso schaffst du das mit so einer Leichtigkeit, wärhend …« »Du noch immer einem Typen hinterherschmachtest, der dich nicht verdient hat?«, vervollständigte Ino. Sakura wollte zustimmen. Doch das war es nicht; nicht wirklich zumindest. Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Lkws ließen sie den Kopf abwenden, vom Gehsteig vor ihr zum Sportplatz auf der anderen Straßenseite, den sie zuvor absichtlich ignoriert hatte. Wie oft war sie früher dort gewesen, um Sasuke beim Fußballtraining anzufeuern? Selbst nachdem er längst weggezogen war, hatte es sie dort hingezogen. Erst aus Melancholie, dann aus Nostalgie, und irgendwann, weil Naruto dort gewesen war. »Im Gegensatz zu Sasuke«, brachte sie schließlich heraus. Sie spürte Tränen in ihren Augen aufsteigen, diesmal nicht aus Wut oder Frust, sondern aus trauriger Nostalgie. »Erinnerst du dich, an das Match gegen Suna? Als wir uns die Kehlen rausgeschrieben haben wie bei einem Länderspiel?« Schon beim flüchtigen Gedanken daran grinste Ino. »Ich erinnere mich vor allem an Sasukes angepissten Gesichtsausdruck, weil er uns so peinlich fand.“ »Er war so leidenschaftlich damals.« »Und?« Es war eine berechtigte Frage. Sakura hatte keine Ahnung, was sie damit sagen wollte. Ob sie bereit war, sich zu fragen, ob Sasuke sie jemals geliebt hatte, sie aus eigenem Antrieb geheiratet hatte, mit ihr eine Familie gegründet hatte. Oder ob sie noch immer dasselbe Mädchen war wie damals. Etwas, mit dem er sich abgefunden hatte, weil sie immer da war und er sie sowieso nicht loswurde. Ob sie ihm ihren Traum aufgedrängt hatte. Ob das der Grund war, wieso sie beide unglücklich miteinander waren. »Keine Ahnung«, sagte Sakura schließlich, schob den emotionalen Mahlstrom in ihrem Kopf zur Seite. Die Bar kam in Sicht und sie wollte keine Trübsal mehr blasen. Mit ein wenig Überwindung zwang sie sich dazu, ihre Schultern hochzunehmen und zu lächeln. Während eines Psychologiscurriculums an der Uni hatte sie einmal gelernt, dass physisches Verhalten Emotionen provozieren konnte. Wer lachte, wurde ein wenig fröhlicher. Ob es tatsächlich ein psychologischer Effekt war, der ihr Herz leichter werden ließ, oder die ausgelassene Meute, die sich um einen Tisch ganz hinten geschart hatte, war schwer zu sagen. Es war auch vollkommen irrelevant. »Sakura-chan!«, hörte sie Naruto brüllen. Aufgeregt sprang er auf und lief auf sie zu. Seine Umarmung riss sie fast von den Füßen. Prüfend hielt er sie eine Armlänge von sich, um sie einmal von unten nach oben zu mustern. »Du hast dich gar nicht verändert.« »Du dich auch nicht«, stellte sie fest. Die restlichen Anwesenden erhoben sich ebenfalls zu abwechselnden Begrüßungen, Komplimenten und zu – »Hast du etwa zugenommen, Ino?« – den obligaten kameradschaftlichen Beleidigungen. Für die unüberlegte Frechheit kassierte Shikamaru einen Klaps auf den Hinterkopf inklusive einer ausführlichen Erläuterung von Inos strengem Diätplan. Obwohl nicht einmal die halbe Klasse gekommen war, dauerte die chaotische Begrüßung eine halbe Stunde, und mündete in einer noch chaotischeren Bestellung von Bier, Wein und Limonaden. Dann kamen endlich die Neuigkeiten. Dass Naruto zum Bürgermeister gewählt worden war und zwei Kinder mit Hinata hatte, war Allgemeinwissen. So ziemlich jeder hatte das Märchen der beiden mitbekommen. Dass er seinen Job als erster Mann des Dorfes, Ehemann und Vater ernst nahm und zur Zufriedenheit aller erledigte, war die eigentliche Überraschung. Andere Dinge waren weit weniger deutlich zu Sakura nach Tokio durchgedrungen. Chōji hatte um die Ecke ein Restaurant eröffnet und war ebenfalls Vater geworden, Kiba trug seine Haare lang und trainierte Drogenspürhunde für die Polizei, Hinata hatte neben ihrer Vollzeitbeschäftigung als Mutter einen gemeinnützigen Verein zur Unterstützung von Schulabbrechern gegründet, Tenten schickte liebe Grüße und ein Foto von den Leichtathletik-Staatsmeisterschaften in Fukuoka und Shikamaru war erst letzten Monat zum Kommissar befördert worden. »Er darf jetzt offiziell Leute festnehmen«, erklärte Naruto mit einer weitschweifigen Geste, die wohl Gefängnismauern darstellen sollten. Hinata wich in aller Seelenruhe seinen Armen aus, als hätte sie die Bewegung längst antizipiert. Kein Zweifel, dass die beiden ein Herz und eine Seele waren. »Das durfte ich auch schon vorher, Naruto«, berichtigte Shikamaru. »Außerdem vermeide ich es normalerweise, Personen zu verhaften. Zu viel Papierkram.« Ino knallte ihre Handfläche auf den Tisch. »Ich hab so gewusst, dass du das sagst! Das ist wie früher, als wir beim Schulturnier im Staffellauf nur den dritten Platz gemacht haben, weil du nicht auf das blöde Siegerpodest klettern wolltest!« »Das ist doch überhaupt nicht wahr. Wir haben verloren, weil Chōji immer den Sportunterricht geschwänzt hat, um danach beim Mittagessen der Erste in der Kantine zu sein.« Chōji zeigte sich schnell geständig und sie brachen in Gelächter aus. So ging der Abend weiter, ausgelassen und fröhlich. Anekdoten wurden erzählt, Erinnerungen rekapituliert, Details erfragt. Vor allem Ino wurde über ihre Filmkarriere ausgequetscht und scheute nicht davor zurück, ausgewählte Ausschnitte voluminös wiederzugeben. Zur Verwunderung aller war sie die erste, die sich verabschiedete. Die ganze Zeit über hatte sie ihr Smartphone überprüft und ein riesiges Geheimnis darum gesponnen, von wem sie eine Nachricht erwartete. Sakura hatte ihr den Spaß gelassen, selbst als sie Opfer der eingehenden Befragung zu diesem Thema geworden war. Mit Ino entschwanden auch Shikamaru und Chōji, Kiba folgte kurz darauf, als seine Frau ihn aufgeregt am Telefon darüber informierte, dass eine seiner Hündinnen dabei war, Welpen zu werfen. Hinata blieb noch eine halbe Stunde, in der sie sich vorwiegend über ihre Kinder unterhielten, dann ging auch sie, um die Babysitterin abzulösen. Es war weit nach Mitternacht und morgen war ein Arbeitstag. Zurück blieben Naruto und Sakura auf dem großen Tisch, der von leeren Gläsern und Tellern überquoll. Für sieben Leute hatten sie einen Haufen konsumiert. »Hoffentlich haben die mich nicht wieder auf der Rechnung sitzen lassen«, maulte Naruto in böser Vorahnung. »Bürgermeister haben echt ein läppisches Gehalt. Hätten die mich nicht mit überwältigender Mehrheit gewählt, hätte ich längst hingeschmissen. Diese Knauserer.« Sakura hob ihre Geldbörse. »Ich zahle. Das ist das Mindeste, wenn ihr euch schon alle Zeit nehmt.« »Ach ja, du bist ja jetzt reich. Wie viel Kohle hat Sasuke eigentlich? Arbeitet er immer noch so viel? Du kannst ihm ausrichten, dass ich immer noch sauer bin, weil er nicht auf meiner Hochzeit war.« Naruto lehnte sich auf seinem Sessel zurück und leerte den Rest seines Biers. »Sakura-chan?« Sie schluckte ihre aufquellenden Tränen, versuchte es zumindest, aber das Wiedersehen hatte sie emotional mürbe gemacht. Diese gelöste Stimmung, die vielen Erinnerungen. Es rief ihr ins Gedächtnis, wie einfach ihr Leben einmal gewesen war. Damals, als Sasuke in einer dieser schicken Privatschulen wichtige Dinge gelernt hatte und sie in der staatlichen Oberschule vom Erwachsenwerden geträumt hatte. Niemals hätte sie mit fünfzehn gedacht, sich später in diese Zeit zurück zu sehen, wo ihre Tage ohne Sasuke so trist und trübe erschienen waren. Und dass sie sich Sasuke heute, wo sie eine Familie mit ihm hatte, kein Stück näher fühlte als früher. »Ehrlich gesagt, Naruto«, sagte sie mit belegter Stimme und lachte flach, »bin ich froh, dass Sasuke auf unserer Hochzeit war.« Er lachte mit so viel kompromisslosem, aufrichtigen Mitgefühl, dass sie nicht anders konnte, als ihn zu umarmen. »Soll ich ihn verprügeln?« »Lieber nicht. Die letzten Male hast du immer gegen ihn verloren.« »Ich würd’s für dich versuchen. Vielleicht hilft Hinata mir. Sie kann echt gruselig sein, wenn sie will. Iss niemals den Kuchen, den sie für ein Schulfest gebacken hat und neben dem definitiv keine entsprechende Notiz war, egal wie oft sie das behauptet!« Sakura setzte sich wieder auf. Der Themenwechsel war willkommen und die minimale Eifersucht gut in den Griff zu kriegen. Nach dem Verlust seiner Eltern und dem exzessiven Mobbing an ihm in der Grundschule hatte er es verdient, glücklich zu sein. Sie legte den Kopf schief. »Das ist sehr … spezifisch.« »Das ist vor allem Verleumdung!«, rief Naruto. »Wir diskutieren das seit einem Jahr und ich schwör’s dir, sie ist nicht von der Wahrheit zu überzeugen. Diese Frau hat einen rechten Haken, das kannst du dir nicht vorstellen. Und Himawari kommt ganz nach ihr.« Er schauderte. »Himawari ist ein Baby.« »Na und? Hab ich dir übrigens schon das Foto von Boruto gezeigt, als wir letzten Sommer angeln waren und …« Sakura lachet. Wenigstens irgendetwas war in dieser Welt noch in Ordnung. ♦   Ino bezweifelte, dass sie es eine Sekunde länger in der Bar ausgehalten hätte. Das Wiedersehen war humorvoll und nostalgisch gewesen, aber etwas war mitgeschwungen. Etwas, das nur sie wahrgenommen hatte. Es war vage gewesen, so wie bei Sakuras Eltern, als diese beim Abendessen begierig nach den interessantesten Drehorten gefragt hatten. Der Spaziergang durch die Nacht klärte Inos Kopf, wenn schon nicht ihr Herz, das sich seit ihrer Ankunft in Konoha nervös zusammengezogen hatte und nicht mehr lockerlassen wollte. Niemals hätte sie gedacht, als erwachsene Frau noch einmal herzukommen. Jede Ecke barg so viele emotionale Verbindungen, dass ihr übel wurde. Dort drüben bei der Ampel hatte ein Modelscout sie angesprochen, gleich daneben am Eisstand waren sie vor ihrem vorletzten Schulfest zusammengekommen, um einen Racheplan für die Nebenklasse zu schmieden, nachdem diese ihre Idee einer Hüpfburg als Klassenattraktion fürs Schulfest geklaut hatten. Und dort vorne, wo das Schultor zum Parkplatz hinausging, war vor fünfzehn Jahren Sasuke in Itachis schwarzen Mercedes gestiegen, den dieser zum achtzehnten Geburtstag oder zur bestandenen Führerscheinprüfung oder einfach so bekommen hatte, um ihn ein allerletztes Mal abzuholen und Ino hatte keine Traurigkeit verspürt, sondern nur Sehnsucht. Ja, verpisst euch aus diesem verfluchten Kaff, hatte sie gedacht, ich bleib hier auch nicht mehr lange. Ihr Smartphone vibrierte in ihrer Hand. Den ganzen Tag über hatte sie es immer wieder überprüft und sich selbst eingeredet, dass sie auf ein Zeichen von Itachi wartete. Nun, wo sie alleine auf den dunklen Straßen stand, konnte sie die Lüge nicht länger aufrechthalten. Ihre Finger begannen zu zittern, ihr Herz zog sich noch weiter zusammen, ihre Knie wurden weich, weil sie ganz genau wusste, wer sie anrief. Die Nummer war nicht eingespeichert, aber sie kannte sie auswendig. Früher hatte sie sie gewählt, um ihren Eltern auszurichten, dass sie spontan bei Sakura zu Abend aß oder länger als geplant wegblieb. Heute ging sie ran und die Stimme am anderen Ende klang so fremd und falsch. »Ino.« Nur ihr Name. Einfach nur ihr Name, natürlich. »Mutter.« »Mebuki hat mir erzählt, dass du hier bist.« »Und?« »Ich habe …« Sie unterbrach sich selbst. »Komm vorbei, wenn du Zeit hast. Es wird nicht lange dauern. Gleich, wenn du kannst. Ich habe eben Feierabend gemacht.« »Meinetwegen.« Das hatte Ino davon, in die Bar geflohen zu sein. Nun hatte ihre Mutter sie eingeladen, auf ein Heimspiel noch dazu. Den ganzen Weg zu ihrem Elternhaus versuchte sie, sich eine Ausrede auszudenken, und, als sie keine fand, sich zu wappnen für was auch immer kommen wurde. Sie hatte keine Ahnung. So nahe sie ihrem Vater gewesen war, so schwierig und undurchsichtig war das Verhältnis mit ihrer Mutter immer schon gewesen. Zehn Minuten später bahnte sie sich ihren Weg durch den dunklen Vorgarten. Die Pflanzen waren perfekt gepflegt, aber das Bewegungslicht war immer noch kaputt, so wie vor drei Jahren, als ihr Vater ihr auf dem Weg zum Baumarkt davon erzählt hatte, bevor er wegen eines Hustenanfalls hatte auflegen müssen. Nur paar Wochen später war er gestorben. Mit einem tiefen Atemzug verscheuchte sie das beklemmende Gefühl, als ihre Mutter die Tür öffnete. »Ino. Da bist du ja.« »Hab ich doch gesagt.« »Ja.« Ihre Mutter trat zur Seite, um ihre Tochter einzulassen. Sie schien gleich zur Sache kommen zu wollen, denn sie wies den Weg durch das Haus in eines der Gästezimmer, das Inoichi über die Jahre zum Museum für seine Modellflugzeugsammlung umfunktioniert hatte. Ino kannte den Weg noch, würde ihn niemals vergessen. Wie hätte sie auch können, wo sie ihn als Kind doch so oft auf und ab gelaufen war, um ihrem Vater an seinen freien Tagen beim Basteln zuzusehen. Es traf sie wie ein Schlag ins Gesicht, als ihre Mutter die einfache Holztür nach innen aufmachte, langsam und andächtig, um das Knarzen der Scharniere nicht zu laut werden zu lassen. Das Haus war alt und seit ihr Mann gestorben war, schien dem Verfall niemand mehr entgegen zu wirken. Die einzige Veränderung, die sie vorgenommen hatte, war ein geschmückter Schrein inmitten der alten Modellflugzeuge. Orchideen, Lilien, Zebragras und Astern schlangen sich um die Ecken und Kanten und bildeten einen bunten Rahmen für das Foto in der Mitte, das Yamanaka Inoichi zeigte. Er saß auf einem Hocker in seiner Stammkneipe, einen halbleeren Bierkrug in der Hand. »Gutes Foto«, sagte Ino. »Von allen, die ich von ihm habe, ist es dieses, das mich am meisten an ihn erinnert.« Ihre Mutter trat neben sie. »Ich möchte ihm gemeinsam mit dir gedenken, wenigstens ein Mal. Er hätte es so gewollt.« Sie hatte recht. Streits mochten häufig gewesen sein im Hause Yamanaka, aber Inoichi hatte seine beiden Mädchen gleich vergöttert. Ino nickte. Gemeinsam zündeten sie Räucherstäbchen an, falteten andächtig die Hände. Und schwiegen. Das erste Geräusch, das Ino hörte, war ihre Mutter, die sich erhob und eine knarzende Schublade aufschob. Als sie die Augen öffnete, fand sie ein kleines Kästchen am Boden vor ihren Knien. Es war geöffnet, darin lag ein dünnes Silberkettchen, an dem der Schriftzug Los Angeles hing. »Dein Vater hat es vor ein paar Jahren auf einem Jahrmarkt am Hauptplatz entdeckt. Sowas findet seinen Weg normalerweise nicht nach Konoha, darum hat er es als Zeichen gesehen. Er hat es immer in seinem Portemonnaie mitgehabt. Es ist nur billiger Tand, aber ich dachte, du würdest es haben wollen.« Ino nickte, hob das Kettchen aus der Schatulle. Das Material war leicht und rostete an den meisten Stellen, weil es von billiger Qualität war, vermutlich legierter Messing. Und doch fühlte es sich kostbar an. »Danke.« Damit war alles gesagt, alles gegeben. Ino lehnte die Einladung zum Tee ab, verließ den Schrein, ließ das Foto zurück, wo es hingehörte. Erst im Vorgarten zögerte sie, als ihre Mutter nicht sofort die Tür hinter ihr schloss. Sie drehte sich um. »Was?« »Nichts.« Ihre Mutter sah sie an, wartete ab – nein, rang sich durch. »Ich frage mich nur, ob es das wert war.« Ino verschränkte die Arme. »Was willst du von mir hören? Dass ich es bereue?« »Nein. Ich will nur ehrlich wissen … wenn schon mein Mann so sinnlos gestorben ist, ob ich meine Tochter wenigstens aus gutem Grund verloren habe.« Ino schluckte. Die Frage war unmöglich zu beantworten, nicht jetzt, nicht hier, nicht vor ihrer Mutter. »Ja.« Aber war es das wirklich? . . Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)