Noch einmal mit Gefühl von 4FIVE ([Itachi x Ino | Sasuke x Sakura | modern AU]) ================================================================================ Kapitel 3: Drama ---------------- . .   ♦   —Konoha, Japan; 12 Jahre zuvor   »Fein! Danke für gar nichts!«, brüllte Ino ins Handy und klappte es so hart zu, dass das Gehäuse bedrohlich knarzte. Ihr Gesicht war feuerrot vor Wut, ihre Kiefer mahlten aufeinander. Hätte Sakura ihr die Teetasse nicht aus der Hand genommen, hätte sie sie vermutlich gegen die Zimmerwand geschleudert und damit auf eines der Boygroup-Poster, die dort seit einigen Monaten residierten. Nicht viele Trends kamen pünktlich nach Konoha, die Boygroup hatte sich schon längst wieder aufgelöst. »Was ist denn los?«, wollte Sakura wissen. Ihre Nachbarin und beste Freundin war vor fünf Minuten hereingestürmt, hatte einen Anruf angenommen und seitdem ins Handy geschrien. Sie machte eine Ecke auf ihrem Bett frei und platzierte Ino dort hin. In ihrer emotionalen Rage würde sie beim zornigen Herumgehen noch die Einrichtung demolieren. »Meine Mutter«, fauchte Ino. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schlug auf ein überlebensgroßes Pinguinkissen ein. Sie blinzelte die kleinen Tränen in ihren Augen weg. »Die wollen mich wirklich für die Modenschau haben und sie regt sich auf, weil ich ihr nicht beim Blumenbinden helfen kann! Wer interessiert sich für dämliche Hyazinthenkörbe?« »Du bestimmt nicht. Kannst du nicht beides machen?« »Nein. Selbst wenn – ich hab keine Lust, mich mit sowas zu beschäftigen!« Aufgebracht strangulierte sie das Kissen zwischen ihren Beinen. »Sie versteht einfach nicht, was das für mich bedeutet. Die haben mich aus achthundert Mädchen ausgewählt, das Hochzeitskleid vorzuführen. Das ist keine Schulmodenschau oder sonst irgendein Quatsch. Das ist offiziell und echt und ich bekomme Geld dafür. Das ist ein Job!« Nachdem sie sich zumindest motorisch beruhigt hatte, wagte Sakura, sich neben sie zu setzen und einen Arm um ihre Schulter zu legen. »Kannst du ihr nicht erklären, wie wichtig dir das ist?« »Sie will es nicht verstehen.« Ino zog die Beine an. »Aber ich werde das durchziehen. Sie wird mir meinen Traum nicht zerstören. Nicht sie, nicht dieses Kaff. Sobald ich den Schulabschluss hab, zieh ich nach Tokio.« »Was ist mit Sai?«, fragte Sakura. Ino stockte. Schüttelte den Kopf. Sie war zu aufgebracht, um darüber nachzudenken. »Sai unterstützt mich.« »Tun wir alle, Ino«, versicherte Sakura ihr. »Wenn ich wirklich einen Studienplatz an der Tōdai bekomme, zieh ich mir dir mit. Dann sind wir beide nicht alleine. Okay?« »Danke, Sakura.« ♠   —Tokio, Japan; Gegenwart   Uchiha Itachi hatte ein festes Morgenritual. Um halb sechs stand er auf, brühte einen Espresso, joggte exakt fünf Kilometer und einundvierzig Meter in einer Zeit zwischen siebenundzwanzig und achtundzwanzig Minuten, duschte, trank seinen kalten Espresso während er die Morgenzeitung auf seinem Tablet durchscrollte und fuhr dann je nach Verkehrslage zwischen vierzig und fünfzig Minuten mit dem Auto zur Arbeit. Nicht so heute, an diesem Dezembertag, an dem ein kleiner, eher unbedeutend wirkender Artikel seine Aufmerksamkeit etliche Minuten mehr beansprucht hatte als er für gewöhnlich einräumte. Er setzte ein Lesezeichen darauf, nahm das Tablet samt dem restlichen Aktenberg von der Ablage im Vorzimmer und verließ seine Wohnung. Itachi wohnte im sechzehnten Stock eines Apartmentkomplexes außerhalb des Zentrums. Die Fahrt in die Stadt war um diese Uhrzeit erträglich, zumal er heute ausnahmsweise eine Autobahnausfahrt früher nahm. Sein kleiner Bruder wohnte wesentlich näher bei der UCHIHA Corp. und war bereits wach und in Hemd und Anzughose, als Itachi klingelte. Die Begrüßung fiel knapp aus, so wie morgens in der Firma. Es war auch ein rein geschäftlicher Besuch. »Hier«, sagte Itachi und reichte Sasuke den Stapel, den er gestern zusammengesucht hatte. Es waren Überbleibsel der Jahre, in denen er fünf Tage die Woche im Büro geschlafen und am Wochenende die Arbeit mit nach Hause genommen hatte. »Das ist alles, was ich zu FPN noch habe. Die meisten Unterlagen sind bestimmt fünf oder sechs Jahre alt, die Marktforschungsergebnisse kannst du bestimmt wegwerfen. Wieso brauchst du das überhaupt?« Er ließ sich an der freistehenden Küchentheke nieder und beobachtete Sasuke dabei, wie er die Ordner durchblätterte. »Einer der Programmierer hat erwähnt, dass ihr damals für dieses FPN-Projekt ein Zertifizierungskonzept ausgearbeitet habt. Wahrscheinlich funktioniert das für synCOM nicht, aber ich möchte es mir ansehen.« »Investier nicht zu viel Zeit, wir haben bald bemerkt, dass FPN so nicht funktioniert. Wir sind nie über die Konzeptphase hinausgekommen.« Sasuke schloss den Ordner und wandte sich dem Teekessel zu, der zu pfeifen begann. »Ich seh’s mir trotzdem an. Wofür steht FPN überhaupt? Niemand hat mir das bisher sagen können.« Amüsiert erinnerte Itachi sich an die Wochen, in denen er mit seinen damaligen Kollegen in der Entwicklungsabteilung über dem ersten Konzept gebrütet hatte. Er hatte die Stelle des Teamleiters im Innovationsteams eben erst übernommen gehabt. »Fuck Project Names. Niemand von uns im Team hatte es sonderlich mit Namensgebung. Übrigens habe ich heute Morgen das hier gefunden.« Er öffnete den Artikel von vorhin und schob Sasuke das Tablet entgegen. Der Text war kurz, sodass er in nur zwei Minuten gelesen war und Sasukes Mund offenstehen ließ. »Das ist nicht wahr«, sagte er in nahender Fassungslosigkeit. Er las den Artikel noch einmal, diesmal langsamer. »Wie konnten die an diesen Auftrag kommen? Die haben doch kaum mehr als zwanzig Mitarbeiter.« »Es reicht offenbar, um das Universitätsklinikum zu einem Vertrag zu bringen.« »Taniyama hatte mir zugesichert, synCOM in der Pilotierungsphase zu testen. Und jetzt kaufen sie die Konkurrenz? Das ist …« Die Geschäftswelt. Das wussten sie beide sehr gut. Itachi war auch nicht hier, um seinem Bruder Vorwürfe zu machen. Absprachen wurden öfter geändert und das Universitätsklinikum war aufgrund deren Kapitalknappheit von jeher ein instabiler Interessent. Es war beeindruckend gewesen, dass Sasuke sie überhaupt so lange bei der Stange hatte halten können. »Vater wird denselben Artikel gelesen haben«, vermutete Itachi. »Ich fliege heute nach Malaysia und werde bis Ende der nächsten Woche dort sein, also bin ich bei etwaigen Notfallmeetings nicht dabei.« »Ich krieg das schon hin.« Sasuke schob das Tablet und den Artikel von sich. »Warte, was machst du in Malaysia? Warum weiß ich davon nichts?« »Es betrifft keines deiner Projekte. Ich bin in Absprachen mit potenziellen Zulieferern für Leiterplatten.« »In Malaysia?« Skeptisch runzelte Sasuke Stirn. »Hältst du mich für einen Idioten? Die haben doch gar nicht die Kapazitäten für unsere Auftragsvolumina. Du führst doch was im Schilde.« »Ich führe gar nichts im Schilde«, beteuerte Itachi. Er hatte seinen Bruder schon so oft angelogen, dass es ihm fast schon natürlich über die Lippen kam. »Ich arbeite.« Sasuke war nicht überzeugt. Er gab sich selbst etwas Zeit, während er die Küchenschränke nach einem Isolierbecher und Matchapulver durchsuchte. »Das ist die Arbeit von unseren Produktionsmanagern und Einkäufern, nicht von unserem gepriesenen COO. Dein Gehalt ist viel zu teuer für sowas. Vater würde das nicht erlauben. Also, was soll das?« Gerne hätte Itachi ihm eine befriedigendere Antwort gegeben, überhaupt eine sinnvolle Antwort gegeben. »Die Geißel des All-In-Vertrages.«  »Witzig. Mach nur deine Späße. Und stell dich drauf ein, dass Vater dich bei synCOM wieder verstärkt einsetzen will, nachdem ich das Projekt ja in den Sand setze – diese dämliche Kanne!«, unterbrach Sasuke sich selbst, als kochendes Wasser am Isolierbecher vorbei auf seine Hand spritzte. Reflexartig zog er sie weg, stieß den Becher um und fluchte erneut über das überall verteilte Matchapulver. »Kein Wunder, dass Sakura in letzter Zeit schlecht drauf ist, wenn sie diese Tortur jeden Morgen erträgt.« Itachi verbat sich strikt, zu lachen. Die Szene war fast schon komödiantischer Natur, allerdings wollte er seinen kleinen Bruder nicht noch mehr gegen sich aufbringen. »Du siehst nicht so aus, als hättest du dir jemals in deinem Leben selber Tee gemacht.« »Halt die Klappe«, brummte Sasuke sauer. Die Suche nach einem Wischtuch dauerte erneut. Insgesamt wirkte er wie ein Fremder in seiner eigenen Designerküche. »Sakura steht normalerweise früher auf –« Ein leidendes Raunen unterbrach ihn und eine Blondine tastete sich mit zusammengekniffenen Augen an der Wand im Flur entlang in die offene Wohnküche. Obwohl sie alles andere als gesund aussah, war sie außerordentlich hübsch. Ihr blonder Pferdeschwanz hing halb gelöst über ihre nackten Schultern, ihr verrutschter Einteiler gab einen flüchtigen Blick auf den Rand ihres roten BHs frei und einer ihrer riesigen Ohrringe hatte sich um ihr Ohrläppchen geschlungen. Außerdem hatte sie eine Hand gegen den Mund gepresst und sah sich hilfesuchend nach etwas um. Ohne Mitleid deutete Sasuke auf die Badezimmertür, durch die schnell verschwand. Itachi sah ihr nach, verwundert und überaus interessiert. Sein Bruder war kaum der Typ für Affären – oder? – und auf den gertenschlanken Modeltyp hatte er noch nie gestanden. Wenig später drangen Würgegeräusche aus dem Bad, laufendes Wasser, dann tapste die Blondine bloßfüßig und unsicher auf die Küchentheke zu. Sie musste sich an Itachis Schulter festhalten, um sich auf den Barhocker neben ihm zu stemmen. Gemessen an ihrem qualvollen Ausdruck war es die Herausforderung ihres Lebens. Endlich in halbwegs festem Sitz, brach sie über der Theke zusammen. »Sasuke, du musst mir Kaffee machen«, murmelte sie erschöpft von ihrer Odyssee. »Ich muss gar nichts. Und wage es nicht, meine Kaffeemaschine anzurühren.« Verzweifelt blickte sie auf, Tränen in den Augenwinkeln, die ihr Make-up weiter verwischten. Mit ihren langen Fingern langte sie nach Sasuke, verfehlte kläglich und drehte sich nach links. »Dann eben dein Bruder. Irgendjemand. Ich brauche Koffein, sonst bewege ich mich hier nicht vom Fleck.« Dramatisch ließ sie sich zurück auf die Theke fallen, den Arm nach der Espressomaschine lechzend. »Das hättest du dir überlegen müssen, bevor du meine Frau verführt hast«, entgegnete Sasuke eiskalt und wischte ihren Arm weg. »Ertrag deine Strafe.« »Itachi!«, rief sie plötzlich und riss ihn am Kragen rum. Perplex starrte er in ihr fahles Gesicht, das ihm mit aller Intensität entgegenblickte. »Sei mein Retter.« Direkt mit ihr konfrontiert, erkannte er sie endlich. Bei ihrer letzten Begegnung war sie wesentlich adretter gewesen, weniger übernächtigt und er hatte sie für eine Empfangsdame gehalten. Sakuras Freundin, wie war ihr Name noch gleich gewesen? »Yamanaka Ino?« »Ist doch egal!« Theatralisch zog sie die Augenbrauen zusammen. »Namen sind Schall und Rauch für den Fluch unserer Existenz verdammt nochmal ich brauch Koffein sonst rede ich noch mehr Scheiß!« Die Szene war absurd und sie offenbar betrunken, sodass er sich nicht anders zu helfen wusste, als ihre Finger von seinem Hemd zu lösen, in ihren Schoß zu legen und die Kücheninsel zu umrunden. Der Freundin seiner Schwägerin konnte er diesen Gefallen tun. Im Gegensatz zu Sasuke hatte er in seinem Leben schon genügend Heißgetränke zubereitet. Zwei Augenpaare beobachteten ihn dabei, wie er ihr ein Wasserglas hinstellte und einen Tasse Kaffee hinunterließ. »Milch und Zucker?«, fragte er. »Schwarz«, entgegnete sie mit aufleuchtenden Augen. Das Koffein schien sie etwas runterzubringen und sie trank die nächsten Minuten überwiegend schweigend, während Sasuke und Itachi die letzten Projektdetails austauschten. Vor Drittpersonen Firmenangelegenheiten zu diskutieren war eigentlich nicht sein Stil, aber es war nicht anzunehmen, dass eine Schauspielerin etwas mit den vielen Finanzbegriffen anfangen konnte. Sie interessierte sich auch nicht dafür, ihre Aufmerksamkeit galt ihrem Smartphone, mit dem sie offensichtlich Schnappschüsse der Partynacht gemacht hatte. Wenig später ging die Schlafzimmertür auf und Sakura trat in die Küche. Sie sah weniger elend aus als ihre Freundin, wenn auch nur, weil sie sich die Zeit genommen hatte, sich abzuschminken und frische Kleidung anzuziehen. Ihr Teint war ebenso fahl wie Inos. »Himmel ist mir schlecht«, jammerte sie und gesellte sich mit einer Flasche Orangensaft zu ihrer Freundin. »Das kommt davon, wenn man Alkohol trinkt«, kommentierte Sasuke. »Wann bist du überhaupt nach Hause gekommen?« Sakura versuchte angestrengt zu überlegen. »Keine Ahnung. Ino?« Die Angesprochene machte eine wegwerfende Geste. »Ich weiß nicht mal, wie wir heimgekommen sind.« »Wie wäre es das nächste Mal mit einem Zettel oder einer Nachricht, wenn du wegbleibst?«, schlug Sasuke vor. Selbst Itachi konnte den feindseligen Unterton hören, der Sakura aufsehen ließ. »Ach«, brummte sie. »So wie deine ganzen Zettel oder Nachrichten, wenn du ewig im Büro bleibst und das Essen kalt wird? Du und deine Doppelmoral.« Itachis letzte ernsthafte Beziehung war sechs Jahre her, verheiratet war er noch nie gewesen, insofern konnte er sich nicht beurteilen, was bei Eheleuten als Streit galt oder nicht. Fakt war, dass es ihn nichts anging. Ino hatte denselben Gedanken. Sie standen synchron auf. »Seit wann trinkst du überhaupt? Nur weil deine Freundin von Welt wieder da ist, wirst du plötzlich unzufrieden mit deinem Leben?«, warf Sasuke seiner Frau entgegen, als Ino Itachi abseits fragte: »Du musst nicht zufällig Richtung Yoyogi-Park und hättest Platz, mich mitzunehmen?« Er musste so zirka in die entgegengesetzte Richtung, aber sie sah nicht aus, als könnte sie hundert Meter in einer geraden Linie gehen – schon gar nicht in den hohen Schuhen, die sie sich überstreifte – und der Umweg war vertretbar. Sein Flieger ging erst zu Mittag. Die Verabschiedung wurde vom Ehepaar kaum wahrgenommen, dann fand Itachi sich in seinem Wagen wieder, eine blonde Schauspielerin auf dem Beifahrersitz. Er aktivierte die Spracherkennung des Navis und ließ sie die Adresse sagen. Die technische Spielerei ließ sie erheitert die Hände zusammenschlagen. »Dass ihr Wirtschaftsheinis auch immer so ausgefallene Luxussportkarren habt«, meinte sie, während sie die restlichen Elemente des Cockpits inspizierte. »Das ist kein Sportauto, es ist ein Coupé. Bitte fass die Knöpfe nicht an, Yamanaka-san.« Lachend hob sie die Hände hoch. »Sorry. Ich hab jahrelang einen kotzgrünen Kleinwagen gefahren. Schicke Autos faszinieren mich. Außerdem, Ino, bitte. Einfach Ino. Kein san, chan oder kun. Sama, wenn du willst, muss aber nicht sein.« »Großzügig von dir.« Er bog beim Konnō-zaka Slope links ab, um dem aufkommenden Berufsverkehr zu entgehen, und hielt an der nächsten Ampel. Ihm war nicht entgangen, dass Ino zuvor auch bei seinem Vornamen das Suffix weggelassen hatte. Das war … ungewöhnlich. Es erinnerte ihn an seine Zeit in Amerika und Europa, als er nicht Uchiha-sama gewesen war, sondern einfach Itachi, ein hart arbeitender Kollege, vor dem man keinen übertriebenen Respekt oder gar Angst haben musste. »Großzügig ist mein zweiter Vorname. Da vorne nochmal links, den Rest kann ich zu Fuß gehen.« »Sicher?« »Nicht im Entferntesten«, sagte sie sich lachend. »Aber ich hab mal fast einen Hindernisparcours gegen einen Otter gewonnen, wie schlimm können da schon hundert Meter in einer geraden Linie sein? Da kannst du rechts ranfahren.« Die Gegend war ihm gut bekannt, die UCHIHA Corp. war nicht weit entfernt. Sie hatte sich eine interessante Ecke zum Wohnen ausgesucht, umgeben von kleinen Cafés und einem Plaza, auf dem man häufig junge Künstler ausgefallene Instrumente spielen sah. Er setzte den Blinker und hielt bei nächster Gelegenheit am Kundenparkplatz eines Supermarktes, auf dem zu dieser Uhrzeit noch gähnende Leere herrschte. Ino bedankte sich mit einem breiten Grinsen, dann war sie um die nächste Ecke verschwunden, schnell und nicht zu fassen wie ein Blatt im Wirbelwind. Itachi schüttelte den Kopf und fuhr wieder vom Parkplatz ab. Im Zentrum ihrer aufdringlichen Art fühlte er sich eher wie das Blatt. Nicht, dass er Zeit hatte, über die Freundin seiner Schwägerin und deren Hang zur Dramaturgie nachzudenken, der vermutlich eines dieser Schauspiel-Dinger war. In ein paar Stunden ging sein Flieger und er musste sich bis dahin noch Gedanken machen, wie er seinem Vater die Reise nach Malaysia glaubhaft als geschäftlich relevant verkaufen würde. Fugaku hatte den Hang, jeden seiner Mitarbeiter zu kontrollieren, und machte auch vor seinen Söhnen nicht Halt. Keinem von beiden. ♦   Erschöpft und erledigt versuchte Ino noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, ehe Mabuchi sie anrief und daran erinnerte, dass sie heute ein Casting hatte. Nun ja, mehr oder weniger. Der Produzent wollte sie, nun ging es darum, wie viel er bereit war zu zahlen. Ihre Wohnung war nicht allzu billig und sie brauchte nach wie vor Möbel. Bislang schlief sie auf einem Futon, das Wohnzimmer bestand aus einem Couchsessel und das winzige Gästezimmer war komplett leer. Würde es auch bleiben. Ino brauchte es nicht, hatte die höhere Miete aber ob der hervorragenden Lage in Kauf genommen. Die nächstbessere Wohnung wäre viel zu weit weg vom Zentrum gelegen. Alles in Ordnung?, hatte sie Sakura geschrieben, sobald Itachi sie abgesetzt hatte. Keine Ahnung, antwortete Sakura am frühen Nachmittag. Ino überlegte, anzurufen, doch Sakura war eine erwachsene Frau und Sasuke war noch nie auch nur handgreiflich geworden. Also entschied sie, die beiden ihren Disput alleine ausfechten zu lassen. Ein paar Fitnessübungen und einen Blaubeeren-Chia-Smoothie später – ein Mixer war ihr erstes und letztes Küchengerät – gerade als sie twitterte, dass nach dem Konsum von Chiasamen auf jeden Fall eine Zahnbürste zu empfehlen war, kam der antizipierte Anruf ihrer Agentin. »Ich bin in zwanzig Minuten da, warte vor der Tür«, befahl sie ihr und legte auf, ehe Ino antworten konnte. Mabuchi hatte wohl gelernt, dass Inos freche Kommentare nur vermieden werden konnten, wenn Ino erst gar nicht zu Wort kam. Das war auch das Kredo des Verhandlungstermins. Er fand in einem gut beleuchteten Besprechungsraum des Filmstudios statt und Ino hatte die erste halbe Stunde nicht viel zu tun. Der Produzent, der Regisseur und ein paar andere Mitwirkende hatten ihre Tapes zuvor eingehend studiert und waren überzeugt, dass die Rolle perfekt auf sie passte. Die eigentlich dafür vorgesehene Schauspielerin hatte aufgrund einer besseren Rolle abgesagt, sie standen unter Zeitdruck. Mabuchi stimmte ihnen zu, zählte Inos Schauspielerfahrungen noch einmal auf und war erleichtert, dass ihre nervenaufreibendste Klientin die Klappe gehalten hatte. Weitere zehn Minuten später hatten sich die Parteien auf eine nicht zu verachtende Gage geeinigt. Doch Ino hatte eine Frage. »Also, nochmal wegen dem Drehbuch.« Mabuchis Kopf fuhr herum, in ihren mandelförmigen Augen eine einzige Warnung. Ino ließ sich nicht beirren, ließ sie sich nie. Sie hatte das Drehbuch in den vergangenen Tagen aufmerksam gelesen und ein paar Szenen geprobt. Die Figur würde sie schon hinbekommen, leicht sogar. Aber, »verstehe ich es richtig, dass die emotionale Entwicklung meines Charakters damit endet, dass sie den Arzt heiratet?« »Ja«, sagte die Drehbuchautorin. Sie war eine schlanke junge Frau, die sich nach einer kurzen Vorstellungsrunde vorwiegend im Hintergrund gehalten hatte. Takahashi Ayase sagte ihre Visitenkarte. »Der Grundgedanke dieses Nebenhandlungsstrangs ist, die Intensität der ambivalenten Beziehung zwischen den Hauptcharakteren auszubalancieren. Chiwa und Chiaki sind über drei Viertel der Handlung emotional zu unreif, um sich wirklich aufeinander einzulassen, was in Missverständnissen und Streits resultiert. Im Kontrast dazu sind ihre jeweiligen älteren Geschwister von Anfang an bereit, den anderen zu akzeptieren und zu unterstützen.« »Mag sein«, wandte Ino ein. Sie blätterte zu der Szene, in der ihr Charakter den emotionalen Durchbruch erlangte. »Aber sie hat schwere psychische Probleme. Liebe löst das nicht.« Unter dem Tisch trat Mabuchi gegen ihr Schienbein. Sie ignorierte es. Psychisch labile Charaktere waren ihre Spezialität. Dieses Drehbuch war Mist. »Ich habe ein Problem mit der Kernaussage dieses Handlungsbogens.« »Wir bemühen uns um Nuancen –«, begann die Autorin. Der Produzent unterbrach sie, »wir befinden uns seit zwei Monaten in Vorproduktion, Änderungen am Drehbuch sind nicht möglich, Yamanaka-san. Es tut mir leid, aber wir erwarten von Ihnen, die Rolle wie vorgesehen zu spielen.« »Wieso? Es bräuchte zwei oder drei zusätzliche Szenen, in der sie in einer Therapie ihre Ängste aufarbeitet. Das würde dem Charakter mehr Tiefe verleihen und nicht suggerieren, dass–« »Yamanaka«, zischte Mabuchi. Sie versuchte das Ruder rumzureißen, entschuldigte sich mehrfach beim Filmteam, boxte ihre aufmüpfige Klientin in die Seite, aber Ino diskutierte weiter und weiter und weiter, bis der Produzent sein Bedauern ausdrückte, keine Einigung gefunden zu haben, und sie beide höflich gebeten wurden, das Gelände zu verlassen. Ino hatte nichts unterschrieben und Mabuchi war sauer. »Du hast dieser Agentur verdammt viel Geld gekostet, Yamanaka«, sagte sie betont ruhig, sobald sie wieder im Auto waren. Hinter ihrer geschminkten Fassade tobte ein Orkan. »Das ist nicht tragbar. Willst du hier wieder Fuß fassen, oder legst du es einfach darauf an, die Leute in der Szene zu verärgern?« »Das Drama ist große Scheiße und das weißt du, Mabuchi«, entgegnete Ino. Sie war mit verschränkten Armen in den Autositz gesunken und stierte durch die Windschutzscheibe auf das Werbeplakat, vor dem sie geparkt hatten. »Meine Figur ist ein eindimensionaler Charakter und ihr Selbstmordversuch dient nur dazu, die kleine Schwester mit dem Bruder des Arztes zusammenzubringen. Das hat weder Tiefgang noch Sinn. Ich weigere mich, eine Frau zu spielen, deren gesamte psychische Probleme durch einen Heiratsantrag gelöst werden.« Mabuchi schlug gegen das Lenkrad – eine ungewöhnlich emotionale Geste. »Jetzt hör zu Yamanaka, ich hab dich wieder aufgenommen, weil dein Name in der Industrie etwas wert ist. Dein Erfolg in Amerika ist ein Sprungbrett. Aber das bricht, wenn du zu viel Gewicht drauflegst und dich nicht endlich mal abspringst.« Schwer ausatmend drehte sie den Zündschlüssel um und fuhr los. Zu lange am Parkplatz des Studios zu bleiben, würde nur Aufmerksamkeit erregen. Die Hälfte der Fahrt über schwiegen sie sich an. Mabuchi konzentrierte sich auf den dichten Abendverkehrt, Ino versuchte nicht darüber nachzudenken, was eben geschehen war. Es funktionierte nicht. Raunend schlug sie ihre Handflächen gegen ihr Gesicht. Sie kam immer ungeschminkt zu Castings, um den Filmemachern ihr Gesicht als Leinwand zu präsentieren, andernfalls hätte sie eine Geste mit weniger Augenkontakt gewählt. So wie es war, presste sie die Finger gegen ihren Haaransatz und atmete ein paar Mal in ihre Hand. »Es tut mir leid, okay?«, sagte sie schließlich, als Mabuchi in die Parkgarage der Agentur gebogen war. »Ich hab ja versucht, meinen Kopf abzuschalten. Aber diese Oberflächlichkeit meiner Figur regt mich auf.« »Kann sie ja auch. Aber stumm und unbemerkt von der Außenwelt. Reiß dich zusammen, Yamanaka. Bist du ein Profi oder nicht?« Mabuchi stieg aus und wartete ungeduldig, bis auch Ino sich erhoben hatte, dann warf sie die Fahrertür zu. Etwas schwungvoller als notwendig. »Du gehst nach Hause und verhältst dich brav. Ich bügle das aus. Die sind unter extremem Zeitdruck, wen anderen als dich bekommen die nicht so schnell.« »Fantastisch«, grummelte Ino. Vier Tage später klingelte ihr Smartphone. Sie konnte die Rolle immer noch haben, wenn sie sich förmlich bei allen Beteiligten entschuldigte und sie für die Dauer der Dreharbeiten ihren Mund hielt. Fleiß, Gehorsam, Klappe halten. Die Arbeitsmoral in der japanischen Schauspielindustrie. Sie war dabei, Mabuchi diese Meinung deutlich zu sagen, und hätte es auch getan, wären ihr aus dem Briefkasten nicht vier Rechnungen entgegengefallen. Ja, das Drama war sinnlos und kitschig. Aber sie konnte es sich auf Dauer nicht leisten, diese Rolle zu verweigern. Also fuhr sie in ihrem züchtigsten Hosenanzug mit Mabuchi zum Studio, verbeugte sich so tief man es von ihr verlangte, schob ein paar leere Floskeln über ihre Lippen und fand sich mit ihrer Situation ab. Drehbeginn war in acht Wochen, bis dahin wurde sie zur Aufnahme von Werbematerial und zu Kostümproben erwartet. Wenigstens würde die Gage für ein paar Möbel reichen. Sie war nur für die notwendigste Einrichtung an ihr Erspartes gegangen, der Rest hatte auf ihren ersten großen Auftrag in Japan warten müssen. Das war drei Monaten her. Ihr Bekanntheitsgrad in ihrem Heimatland war durch ihre früheren Erfolge in Amerika offenbar weniger stark gestiegen als erhofft. ♥   »Ich meine, die Filme dort haben Millionen in die Kinokassen gespült! Und jetzt haben sie nicht mal eine ordentliche Hauptrolle für mich?«, beschwerte Ino sich an einem verregneten Wintersamstag inmitten Dutzender Schauküchen. Sakura hatte sie zufällig bei den Wochenendeinkäufen auf der Straße getroffen und war kurzerhand von ihr zum Möbelkaufen mitgenommen worden. »Früher hab ich depressive Studentinnen mit Sinnkrisen gespielt, jetzt wird mein Suizid durch einen Goldring geheilt. Ist doch scheiße.« »Würdest du in der Gegenwart meiner Tochter bitte nicht fluchen?«, bat Sakura, doch Sarada war viel zu beschäftigt damit, vom Einkaufswagen aus die vielen hübschen Dinge um sie herum zu bestaunen. »Ist die Rolle wirklich so mies?« »Mieser als mies. Schau mal.« Ino hob ein Preisschuld hoch. »Ist das viel für ein Hängeregal? Ich hab keine Ahnung mehr von japanischen Preisen – und von Japan allgemein und dem japanischen Verständnis von Höflichkeit.« »Höflichkeit war ja noch nie deine Stärke.« »Ach ja, darum bin ich aus Japan abgehauen. Ich erinnere mich vage an das enthusiastische Mädchen von damals.« Sakura lachte. Da sie in derselben Nachbarschaft wohnten, waren sie sich in letzter Zeit öfter über den Weg gelaufen. Es fühlte sich fast so an wie früher, als sie sich nach der Schule gegenseitig die Nägel lackiert hatten. Bloß dass sie heute ihre Tochter vor sich her schob und sich über Karrieren und Ehe unterhielten. »Ich werde übrigens keine Hilfe sein. Ich hab noch nie Möbel gekauft. Nach dem Uniabschluss bin ich vom Studentenwohnheim gleich zu Sasuke gezogen. Saradas Kinderzimmer hat Mikoto als Geschenk eingerichtet.« Ino seufzte mitleidig. Sie waren auf der Höhe der Sofas und visierten die Couchtische an. »Die Uchihas kommandieren dich ganz schön rum. Warum hast du Sasuke überhaupt geheiratet?« Ertappt wandte Sakura den Blick ab. Die Frage war nicht neu, die Antwort einfach. Seit ihrer Nacht im Club hatte Sakura darüber nachgedacht. »Als er mir den Antrag gemacht hat, waren wir sehr verliebt.« Sie passierten einen unfassbar hässlichen Couchtisch, über den Ino eine Grimasse schnitt. Sie blähte die Wangen auf, als sie das Preisschild sah. »Und wieso bleibst du mit ihm verheiratet?« Das war die wahrhaft schwierige Frage. Ino war immer schon gut darin gewesen, mit ihren direkten Fragen den Kern einer Problematik zu treffen. Sakuras Ehe lief suboptimal, so viel war sicher. Aber war es nur eine Phase, die sie überwinden mussten, oder hatte sie mit Sasuke einen Endpunkt erreicht? Sie wusste nur eines. »Weil ich ihn liebe.« »Ist Liebe genug?«, fragte Ino, als ob es so einfach wäre. Für sie war es das. Ihr rigoroser Blick auf menschliche Beziehungen war fast schon sarkastisch. Für sie war Liebe niemals genug, für gar nichts. Eine Beziehung war Arbeit, Kompromisse und Verständnis. Liebe brachte einen nur bis zum ersten Hindernis. Aber Ino war nicht Sakura, sie war nicht mit Sasuke verheiratet und hatte kein Kind mit ihm. Nichts daran war einfach. »Vielleicht will ich mehr als ich verdiene«, sagte Sakura nach einer halben Ewigkeit. Nachdenklich strich sie Sarada übers Haar. »Blödsinn.« Ino ließ das Preisschild fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kein Wunder, dass Sasuke dich als Standardeinstellung seines Lebens hält. Du bist ihm ja auch immer nachgelaufen. Willst du das wirklich weiterhin machen?« Sakura seufzte. »Frag mich das bitte nicht. Zumindest nicht in der Tischabteilung.« Ino schüttelte den Kopf, ließ das Thema aber fallen. In den nächsten Stunden suchten sie stilvolles Mobiliar aus, das Ino ein halbes Vermögen kostete. Wie viel die furchtbare Nebenrolle ihr einbrachte, hatte sie nicht gesagt, aber sie schien generell ein gutes Einkommen zu haben, das es ihr erlaubte, eine der hässlichsten und überteurtsten Stehlampen der Welt zu kaufen. Es wurde ein ausgelassener Nachmittag, an dem sie über Teppichmuster, Rabatte und Holzmaserungen sprachen. Doch der Nachmittag ging vorbei, und was abends blieb, war die schmerzhafte Realisation, dass Sakura diese Erfahrung gerne mit Sasuke gemacht hätte. Kastenhöhen abmessen, Sarada im Bällebad verlieren, über Lampenschirme streiten, die kitschigsten Zierkissen der Abteilung finden und die Plastikbaguettes in der Küchenabteilung als Schwerter missbrauchen. Sasuke war nicht da. Arbeitete wie jeden Samstag bis spät in die Nacht. Beschäftigte sich mit seinem Projekt und damit, seinen Bruder zu übertrumpfen und dieses sinnlose Lob seines Vaters zu bekommen, nach dem er seit bald drei Jahrzehnten erbittert strebte. All das tat er, anstatt mit ihr gemeinsam den neuen Bilderrahmen auszupacken, den sie erstanden hatte. Sie wollte es nicht zugeben, wollte es nicht wahrhaben, aber Uchiha Sakura fühlte sich in dieser Ehe alleine. Und sie wusste nicht, wie lange sie noch so weitermachen konnte.   . . Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)