Astarys von Nephele (Die ewige Stadt) ================================================================================ Prolog: Die Rückkehr -------------------- Lescale öffnete die Augen. Das Licht blendete ihn, zwang ihn , sofort wieder in die Dunkelheit zurückzukehren, aus der er gekommen war. Sein Körper fühlte sich eisig an. Eiskalt wie der Tod. Und dann spürte er seinen Herzschlag. Unbeeindruckt fing sein Herz an zu schlagen, als hätte es das schon immer getan, im steten Rhythmus, voller Kraft und Ungeduld. Er schnappte einmal nach Luft wie ein Ertrinkender. Die Wärme kehrte prickelnd in seinen Körper zurück, während seine Lungen keuchend nach Sauerstoff lechzten und nach einiger Zeit öffnete er erneut die Augen, diesmal langsam, damit sie sich an das Licht gewöhnen konnten. Er war zurück. Mit tauben Fingern tastete er nach dem Amulett um seinen Hals. Wie lange war er fort gewesen? War Selys noch in Astarys? War sie noch immer Ratsvorsitzende? Viele Fragen, auf die er Antworten finden musste. Schleunigst. Lescale versuchte aufzustehen, kämpfte einen Moment mit dem Gleichgewicht und fiel vornüber auf die Knie. Seine Muskeln krampften und zitterten vor Anstrengung. Er fluchte innerlich. Die lange Zeit, die er fort gewesen war, hatte ihn nicht nur seiner Koordination beraubt. Sein Atem ging schnell und unregelmäßig. Er brauchte Energie, sein Körper war völlig erschöpft. Mit reiner Willensanstrengung rollte er sich auf den Rücken und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Hier in den Bergen war kaum freie Magie zugänglich; Natürlich, deswegen hatte er diesen Ort schließlich gewählt. Lescale biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf das reifbedeckte Gras, auf dem er lag. Es war Winter und die Mitternachtssonne folgte ihrer gleißenden Schwester als schwacher Schatten. Die grünen Halme hatten kaum Lebenskraft, aber während sie unter seiner Berührung verwelkten, ließ das Zittern in Lescales Gliedern ein wenig nach. Er verstärkte den unsichtbaren Sog, der ihm zu neuen Kräften verhalf, und als er sich erneut aufrichtete, kam er schließlich taumelnd an die Felswand gestützt zum Stehen. Er brauchte mehr. Er wollte leben. Eine Krähe flatterte über seinen Kopf hinweg und schien ihn mit ihrem Krächzen zu verhöhnen, als sie ein paar Schritt entfernt auf einem Felsbrocken landete. Eine dumme Entscheidung; auch wenn sein Körper Lescale momentan nutzlos war, sein Geist war blitzschnell. Der Vogel kippte leblos zur Seite und rollte den Felsen hinunter, als er ihm den Lebensfunken raubte. Als Lescale mit fahrigen, unbeholfenen Schritten zurück zu seinen Waffen schlurfte, die im nun toten Gras lagen, fühlten sich seine Gliedmaßen bereits um einiges angenehmer an. Er kniete sich hin und befestigte die schlanken Rakanaschwerter an seinem Waffengurt, was längst nicht so einfach war, wie er es gewohnt war. Seine Finger widersetzten sich störrisch seinen Befehlen, sodass es eine Ewigkeit dauerte, bis sämtliche Riemen und Schnallen an ihrem richtigen Platz verzurrt waren. Wie lange es wohl her war, dass seine Hände sie das letzte Mal geführt hatten? Als er das kleine Plateau endlich halb gehend, halb stolpernd verließ, dämmerte es bereits. Die steinige, unebene Berglandschaft, machte es Lescale nicht gerade einfach. Oft musste er sich mit den Händen abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und mehr als einmal verlor er an den abschüssigen Hängen den Halt und rutschte unkontrolliert den Hang hinunter, wobei er sich Hände und Knie blutig schürfte. Je tiefer er kam, desto öfter begegneten ihm unvorsichtige Tiere, die er ohne weitere Gedanken ihrer Lebenskraft beraubte. Hier unten war auch mehr freie Magie zu spüren, die wie ein stetiges Rinnsal in seinen Körper sickerte, seine abgeschürfte Haut heilte und ihn mit neuer Kraft versorgte. Lescale konnte nicht abschätzen, wie lange er für den Abstieg zur Ebene brauchte, doch es war längst dunkel, als er den alten Handelsweg fand, der sich am Fuß des Gebirges entlang schlängelte und Astarys mit den östlichen Provinzen verband. Seine Schritte waren nun sicherer und die Verlässlichkeit des ebenen Weges unter seinen Füßen ermutigte ihn, das Tempo nach und nach zu erhöhen, bis er in einen regelmäßigen Trab fiel, der seine Reserven nicht mehr erschöpfte, als die freie Magie ihm nachliefern konnte. Der Handelsweg bog bald in einer sanften Kurve nach Südwesten ab und die flüsternde Graslandschaft am Fuß der Berge wich nach und nach kleinen Birkenwäldern, die auf dem sandigen Boden der Ostebene gediehen. Die Nacht wurde bereits alt, als er den Nordostausläufer des gewaltigen Stadtbergs von Astarys erreichte. Das Tor zur Stadt stand offen, doch Lescale konnte von weitem die magischen Funken zweier Soldaten im Dunkel unter dem Torbogen wahrnehmen. Er verließ die Straße und setzte seinen Weg im Schutz der Hecken zwischen den weitläufigen Feldern vor der Stadt fort. Sein Ziel befand sich in der Beuge zwischen dem nordöstlichen und dem östlichen Bergrücken. Von einem starken Bann vor neugierigen Blicken geschützt befand sich ein Tunneleingang in den steil abfallenden Felswänden, der geradewegs in das Labyrinth der unterirdischen Gänge von Astarys führte, von dem nur Auserwählte wussten. Lescale vergewisserte sich, dass er allein und unbeobachtet war, dann legte er die Hand auf einen unscheinbaren Felsvorsprung und trat durch den schmalen Durchgang, der sich ihm offenbarte. Das Labyrinth hieß ihn mit einem leisen Luftzug und tiefer Schwärze willkommen. Er rief sich in Gedanken den Plan der Treppen und Ebenen vor Augen und suchte sich sicheren Schrittes seinen Weg durch die Gänge, deren unnatürlich glatte Wände verrieten, dass sie nicht natürlichen Ursprungs waren. Seine Schrittlänge hatte sich leicht verkürzt, stellte er fest, als er bei einer Abzweigung zu früh die Richtung wechselte und sich die Schulter an der Felskante stieß. Mehrere Abzweigungen später kam die erste Treppe nach oben, Lescale stolperte bei den ersten Stufen, fing sich aber und verfluchte erneut seine mangelhafte Koordination. Die zweite Treppe fiel ihm leichter, und bald schon fanden seine Füße ihren Weg als wäre er nie fort gewesen. Er brachte die letzte Abzweigung hinter sich und – etwas war falsch. Etwas fehlte. Lescale hielt inne. Da war kein Luftzug. Er streckte die Hand aus und trat vorsichtig nach vorne. Seine Hand stieß gegen ein grobes Mauerwerk. Das war neu. Seine Magie war kaum stärker als dass er einen schwachen Lichtfunken zustande brächte; die Mauer zu durchbrechen war keine Option. Seufzend drehte er sich um und besann sich auf die anderen Ausgänge des Labyrinths. Diesmal wanderte er vorsichtshalber mit nach vorne gestreckten Händen durch die Dunkelheit, was sich aber als unnötig herausstellte. Der Rest auf dieser Ebene war unverändert, und so kam Lescale ohne weitere Zwischenfälle im Südwestwinkel der Stadt an. Der Ausgang befand sich in einem von dichtem Gebüsch verdeckten Bereich eines Parks vor dem Hauptgebäude der Granida. Die selbst im Dunkel der Nacht hell schimmernde Marmorfront des Hauses sah unverändert aus, jedoch waren rechts und links vom Park weitere Nebenflügel gebaut worden, deren Marmor ebenso im Licht der Sterne schimmerte. Lescale trat aus dem Gebüsch hervor und wandte sich nach Südwesten, wo der breite Kiesweg durch den Park hinführte. Die breite Steintreppe am Ende des Parks, die auf das untere Plateau führte, war noch wie früher, doch die Zahl der Häuser auf dem Plateau hatte sich deutlich vermehrt. Sein Ziel lag an der Spitze des Bergplateaus, dort wo die alten Mentorenhäuser standen. Die Stille zu dieser frühen Stunde war vollkommen. Ein schwacher Glanz am östlichen Horizont kündigte den Sonnenaufgang an. Lescale folgte dem Weg, der schnurgerade durch die Meisterhäuser und Institute führte, an den Trainingsplätzen vorbei bis in die Spitze des Winkels, wo der Weg schließlich von Unkraut übersät an einem rostigen, metallenen Zauntor endete, das von Ranken überwuchert war. Zuhause. Der Ort, an dem er glücklich gewesen war. Bevor das Unheil über ihn und die Vandor hereingebrochen war. So viele Erinnerungen waren an diesen Ort gebunden. Nächte unter dem Sternenhimmel, das leise Lachen einer Frau... das vor Freude und Energie pulsierende Leben der Aszendenten, die in den Seitenflügeln gewohnt hatten, die Schildkröten, die in stoischer Ruhe am Ufer des unterirdischen Bachs, der unter dem Haus an die Oberfläche trat und durch den Garten im Innenhof floss, ihrem langsamen Leben folgten. Lescale drückte leicht gegen das Tor. Es gab quietschend nach, als Pflanzen unter dem Zug zerrissen. Das Haus stand noch. Düster erhob sich die Front des dreistöckigen Hauptflügels in den heller werdenden Nachthimmel. Der Stein war nicht verwittert und zeigte kein Anzeichen des Verfalls, doch die Natur hatte krampfhaft versucht, sich den Fremdkörper zurückzuerobern und so war die Treppe zum Eingang mit Moos und Flechten bedeckt, und an der Westecke krallten sich dunkle Ranken an der Mauer fest. Noch ehe er das dunkle Holz der Haustür berührte, wusste er, dass dort drinnen nichts war. Das Haus war leer, keine Möbel, keine Erinnerungsstücke, nichts. Lescale legte die Hand auf den Türknauf und drehte leicht. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür und gab den Blick in die Eingangshalle frei. Rechts führte eine geschwungene Treppe zu den oberen Stockwerken, während geradeaus ein leerer Raum mit schwarz und weiß gefliestem, staubigem Boden seinen einsamen Besucher empfing. Langsam durchquerte Lescale die Leere. Auch die Zimmer hinter den Durchgängen zu den Seiten, wo sich einst Kaminzimmer, Gemeinschaftsräume und der Speisesaal befunden hatten, waren leer und die Wände waren kahl und warfen seinen Blick unbarmherzig zurück. In den Ecken hingen Spinnweben und auf den Türklinken der halboffen stehenden Zimmertüren lag eine Staubschicht. Er trat zu der Tür gegenüber vom Eingang, die hinaus in den Innenhof führte, und strich behutsam den Staub von den silbernen Beschlägen, bevor er die Türflügel mit einem Ruck öffnete und in den Säulengang trat. Fünf breite Stufen führten von dem überdachten Umgang hinunter zu dem, was einst eine grüne Wiese gewesen war mit kleinen Inseln von blühenden Pflanzen und Sträuchern, durch die sich ein plätschernder Bach seinen Weg suchte. Der Bach im Innenhof war noch immer da, doch die ehemals grüne Fläche war graubraun und verdorrt, von den Sträuchern waren nicht mehr als ein paar verkohlte Überreste übrig. Kraftlos ließ Lescale sich auf die oberste Treppenstufe sinken. Hier war eine Wüste, kein Zuhause. Lescales Augen suchten den Garten nach etwas Lebendigem ab und blieben schließlich an der dunklen Silhouette des Carabaumes hängen, in dessen Laub der morgendliche Wind flüsterte. Er war unversehrt. "Sie wollte dir alles Schöne nehmen, auch den Baum. Aber ich bin älter als ihre Rache." Lescale spürte den sanften Druck einer Hand auf seiner linken Schulter. Er atmete tief ein und legte seine Hand auf die feingliedrigen Finger, die über seine Schulter strichen. "Selys", flüsterte er tonlos. Die hochgewachsene Frau ließ sich neben ihm auf der Treppe nieder. Ihre Haut schimmerte im gedämpften Licht des anbrechenden Tages und das weiße, bodenlange Kleid, dessen Saum nun im staubigen Schmutz der Treppe lag, brachte den goldenen Karamellton umso stärker zur Geltung. Während das Tageslicht die grauen Schatten mit Farben anfüllte, saßen die beiden Vandor schweigend auf der Treppe und beobachteten den Carabaum, dessen Blätter im Licht eine karminrote Färbung annahmen. "Was ist geschehen?", fragte Lescale nach einer Weile. Seine Stimme klang rau, noch etwas, das Koordination und Übung erforderte. Selys verlagerte das Gewicht und zog ihre Hand zurück. "Sie hat alles auf die Wiese geschafft und verbrannt. Hat den Boden vergiftet. Seitdem wächst hier nichts mehr." Mit Ausnahme des Baumes, fügte Lescale in Gedanken hinzu. Er nickte langsam, ballte seine Finger zur Faust und streckte sie wieder. "Sie hatte genug Zeit dafür. Ich war lange fort." "Über hundert Mitternachtssonnen." Selys wandte den Kopf und sah ihn mit ihren durchdringenden hellgrauen Augen an. "Jetzt bist du wieder hier. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis das Leben auch in dieses Haus zurückkehrt. Und Zeit", sie lächelte, "hast du mehr als genug." Lescale nickte langsam. Selys erhob sich graziös und bot ihm ihre Hand an. "Deine Kleider sehen schrecklich aus." Das taten sie tatsächlich, der Stoff war vom Wetter im Gebirge und Lescales unsanftem Abstieg arg in Mitleidenschaft gezogen worden und hing in fadenscheinigen Fetzen an seinem Körper. Er ergriff die Hand und ließ sich auf die Füße ziehen. "Ich nehme an, du hast gefunden, wonach du gesucht hast. Scayes' Funke ist also wieder im Spiel." Mit einer Kopfbewegung deutete Selys an, dass er ihr folgen sollte. "Deswegen bin ich zurück. Ich muss sie wiederfinden." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)