Something Strange von ReptarCrane (Vanished) ================================================================================ Kapitel 5: Chapter 5 -------------------- Der Wind, der diesem kalten, grauen Oktobermorgen durch die Straßen fegte und dabei eine noch größere Kraft zu besitzen schien als in der vergangenen Nacht, in der nicht wenige der Bewohner von Clover Rock die Befürchtung gehabt hatten, am nächsten Tag bei einem Blick aus dem Fenster abgeknickte Bäume und heruntergerissene Dachziegel entdecken zu müssen, war so eisig, dass es niemanden gewundert hätte, wenn plötzlich dicke Schneeflocken vom Himmel gewirbelt wären. Das Thermometer in der Eingangshalle des Rathauses zeigte eine Temperatur von sagenhaften 4C°, und es gab keinen Zweifel daran, dass es nicht bis zum meteorologischen Winter Anfang dauern würde, bis die Straßen, die Hausdächer und überhaupt alles in der Umgebung mit einer glitzernden, weißen Decke überzogen werden würde. Hätte Randall die Zeit gehabt, diese doch recht offensichtliche Tatsache zu erkennen, so wäre ihm wahrscheinlich schon bei dem bloßen Gedanken daran übel geworden. Doch diese Zeit hatte er nicht, nicht, um über den bevorstehenden Wintereinbruch nachzudenken und über den damit zusammenhängenden Schnee, und auch nicht, um sich vor Verlassen des Hauses zu vergewissern, dass er seine Naturkundehausaufgaben, an denen er am Vorabend beinahe verzweifelt war, auch wirklich in seine Tasche gepackt hatte. Es war dreizehn Minuten vor acht, als er die Haustür hinter sich zuzog und währenddessen noch dabei war, sich seine Jacke halbwegs vernünftig anzuziehen, und damit hatte er noch genau dreizehn Minuten, um die Strecke von seinem Haus bis zur Rosalin-Parson-High School zurückzulegen - eine Strecke, für die ihm normalerweise mehr als die doppelte Menge an Zeit zur Verfügung stand. Nicht jedoch an diesem Tag. Als er, aus purem Zufall wahrscheinlich, was eine reichlich beunruhigende Vorstellung war, aus seinem, nach der nächtlichen Unterbrechen, traumlosen Schlaf erwacht war und auf die Uhr geblickt hatte, war es halb acht gewesen. Er hatte um mehr als eine halbe Stunde verschlafen. Das war nicht unbedingt verwunderlich, wenn man bedachte, wie unfassbar müde und kraftlos er sich jetzt fühlte, als er den verwittertes Gehweg an der Main Street entlanglief; der Vorrübergehende Adrenalinschock, der beim Anblick der viel zu weit fortgeschrittenen Uhrzeit durch seinen Körper geschossen war, hatte längst wieder nachgelassen. Was geblieben war, waren die Nachwirkungen des Schlafmangels von mehr als nur einer einzigen Nacht, die jeden Tag aufs Neue immer gieriger ihren Tribut forderten. Am liebsten wäre er überhaupt nicht aufgestanden. Hätte sich einfach wieder unter der Decke verkrochen, so getan, als wäre er krank, und so elend wie er sich fühlte, wäre das noch nicht einmal wirklich gelogen gewesen...doch nein. Er hatte ohnehin bereits unheimlich viel verpasst in diesem Schuljahr. Kam kaum noch wirklich mit, und Alpträume, Schlafmangel und, milde ausgedrückt, nur gering vorhandene Konzentration trugen nicht gerade dazu bei, dass ihm das Ganze leichter fiel. Davon abgesehen hatte er keine große Lust, Mr. Lamb, seinem, wenn man höflich sein wollte, exzentrischem Englischlehrer, dem er gleich in den ersten beiden Stunden bei seinen Ausschweifungen zu Charles Dickens "Große Erwartungen" würde zuhören dürfen, sein Fernbleiben zu erläutern. Das war der eigentliche Grund dafür, dass er nun, bereits vollkommen außer Atem, noch immer rennend in die Chamber Lane abbog, eine mit hübschen Einfamilienhäusern gesäumte Nebenstraße, auf der man durch selten ein Auto entlangfahren sah, und dann nach nur knappen zehn Metern nach rechts auf die Nixon Street, ohne sein Tempo zu verringern, obwohl er zu spüren glaubte, wie sein Herz vor lauter Protest kreischend gegen seine Rippen schlug und die Seitenstechen ihm auch das letzte bisschen Atem raubten, das ihm noch blieb. Die bloße Vorstellung von Mr. Lambs überheblichen, selbstgefälligen Gesichtsausdruck, in dem man seine Gedanken lesen konnte wie in einem offenen Buch, Dinge wie Mir egal, was du für Probleme hast, wenn du nicht sparst wirst du sehen, was du davon hast., oder Wenn du wirklich glaubst, dass ich mir so etwas gefallen lasse, wirst du schon noch merken, wie sehr du dich da irrst!, war es, die ihn unvermindert immer weiter laufen ließ. Einen eben dieser abwertenden Blicke in Verbindung mit dem unvermeidlich folgenden Gesichtern seiner Mitschüler wäre das letzte, was er an diesem Morgen über sich ergehen lassen wollte. Und wenn er aus Atemmangel im vollen Lauf tot umkippte - in diesem Moment erschien ihm das als eine ernsthaft in Betracht zu ziehende Alternative. Er sah kaum, wohin er eigentlich lief. Sein Körper schien vollkommen automatisch zu funktionieren, wie ferngesteuert, ohne dabei auf bewusste Befehle zu reagieren; Randall merkte nicht einmal, wie er über die Fahrbahn und weiter auf die Cotton Lane lief, eine ruhige, in einem sanften Bogen verlaufene Straße am nordöstlichen Rande der Stadt, an dessen Ende die Letrice Street lag - und damit auch das alte, schon seit Jahren renovierungsbedürftige Fachwerkgebäude der Rosalin-Parson-High School. Ein Blick auf die Uhr ließ zumindest für einige Sekunden zu, dass sich ein warmes Gefühl der Erleichterung in seinem Magen breitmachte, das den Schmerz seiner schmerzenden Rippen und der brennenden Lunge einen angenehmen Moment lang Linderung verschaffte. Es war sieben Minuten vor acht. Wie auch immer er es geschafft hatte, den Weg, für den er normalerweise gute zwanzig Minuten brauchte, trotz seiner schlechten Kondition und der Erschöpfung, die ihn so oft lähmte und seine Gliedmaßen wie Blei wirken ließ, in lediglich einem Viertel dieser Zeit zurückzulegen...Er hatte es geschafft. Das Wie war dabei vollkommen nebensächlich. Noch fünfzig Meter ungefähr betrug die Entfernung bis zu dem alten verwitterten Schild, das Passanten und Autofahrern den Namen der Schule und großen, grell roten Lettern gnadenlos ins Gesicht knallte, als Randall sein Tempo endlich verringerte und vom Rennen in einen schnellen Gang wechselte, dabei das angsteinflößende Gefühl habend, dass seine Lungenflügel jede Sekunde platzen würden. Es hatte vorher schon geschmerzt, doch jetzt, wo er langsam wieder das Gefühl bekam, auch wirklich die Kontrolle über seinen Körper zu besitzen und nicht wie automatisiert geradezu blind die Straße entlang zu hetzen, schien sich dieser Schmerz noch einmal um ein vielfaches zu steigern. Ihn beinahe um den Verstand zu bringen. Er hatte nicht stehenbleiben wollen, bevor er nicht die riesige doppelflüglige Eingangstüre der High School erreicht hatte, das hatte er sich bereits beim Verlassen des Hauses geschworen, hatte ohne Unterbrechung durchlaufen wollen, um bloß keine Minute zu spät unter Mr. Lambs bösartige, funkelnde Augen treten zu müssen, doch jetzt, wo ihn nur noch wenige Meter von seinem Ziel trennten, erschien ihm dieser zuvor gefasste Plan als ein absolut unmöglich umzusetzendes Unterfangen. Keuchend blieb er stehen und lehnte sich gegen die Stäbe eines billigen Aluminiumzaunes mit Eisenoptik, der einen der Häusergärten vom Gehweg der Letrice Street abgrenzte. Selbst, wenn er in diesem Moment ernsthaft versucht hätte, seinen Weg fortzusetzen...Er hätte es nicht geschafft. Es ging einfach nicht. Seine Beine fühlten sich weich an wie Pudding und zitterten so sehr, dass Randall fürchtete, jeden Augenblick zusammenzubrechen und auf dem harten Asphalt aufzuschlagen. Sein Atem klang als litte er an Asthma und hätte trotz dessen gerade einen Marathon hinter sich, und was seine Seitenstechen anbelangte, so hatte er allmählich das ernsthafte Gefühl, dass seine Rippen es sich zur Aufgabe gemacht hatten, all seine sich in ihrer Reichweite befindenden inneren Organe zu erdolchen. Er sank zu Boden, ohne es wirklich zu bemerken. Mit Rücken und Schultern gegen den kalten Gartenzaun gelehnt krümmte Randall sich zusammen wie ein verletzten Tier im Todeskampf, wissend, dass diese zusammengekauerte Haltung nicht im Geringsten dazu beitrug, dass ihm das Atmen leichter fiel, und stattdessen dahingehend reichlich kontraproduktiv wirkten, doch jeder noch so kleine Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, wurde im Keim mit einer Welle unfassbaren Schmerzes erstickt. Und noch über das laute Pfeifen des Oktoberwindes glaubte er, obwohl er sehr wohl wusste, dass das nicht möglich war, das stete Ticken seiner Armbanduhr zu vernehmen. Tick. Tick. Tick. 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